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Zeit der Kolibris

von

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Kapitel 3

„Mein Sohn … mein Sohn!“, rief Simone, ließ sich neben Matthias auf die Knie fallen. Sie spürte den Schmerz kaum, den der harte Aufprall verursachte, schlug die Hand des Mannes, der Matthias an der Schulter berührt hatte, weg und rief erneut – nun jedoch mit unterdrückter, fast gepresster Stimme: „Das ist mein Sohn, mein Sohn“, ehe sie sich ihrem Sohn zuwandte, der sich vor ihr krümmte, als habe er Schmerzen und dazu dies durchdringende: „Sterben bald, sterben …“
 

„Nicht sterben“, nuschelte sie ihm entgegen, berührte ihn an der Wange, zog ihn alsbald auf ihre Knie, beugte sich zu ihm hinab. „Nicht sterben“, flüsterte sie, nun unter Tränen. „Matthias, nicht sterben.“
 

Matthias regierte nicht, sah sie nur, wie sie fand, aus glasigen Augen an. Eine Welle der Angst packte sie und verwandelte sich blitzschnell in Panik, die über ihr zusammenschlug.
 

„Matthias!“, rief sie und rüttelte ihn. Er öffnete den Mund, schien nach Luft zu schnappen.
 

„Einen Arzt, schnell einen Arzt, wo bleibt der Arzt“, bellte sie, hob den Kopf. „Wo bleibt der Arzt?“
 

Einen Moment lang war ihr so, als werde ihr selbst schwarz vor den Augen.
 

„Ist schon gerufen“, kam es von irgendwoher, dann spürte sie eine Berührung an der Schulter. Sie wollte sie abschütteln, doch war sie dazu nicht fähig.
 

Erst im Krankenhaus, da sie sich in einem Arztzimmer befand, traten ihr wieder Bilder dieser Szene vor Augen. Ihr Sohn, vor ihr auf dem Boden liegend.
 

„Matthias!“
 

Wo war er? Sofort sprang sie auf, sah sich um, doch wurde sie von zwei Händen zurück in den Stuhl gedrückt.
 

„Frau Falkenstein, bitte“, hörte sie die Stimme des Arztes.
 

„Was ist mit Matthias? Was …“ Sie unterbrach sich, schluckte, dann traten ihr wieder Tränen in die Augen.
 

„Derzeit wird er noch untersucht.“
 

„Untersucht? Ja weiß man denn noch nicht, was ihm fehlt?“, herrschte sie den Arzt an. Der schüttelte mit dem Kopf. „Wir sind sehr gründlich.“
 

„Gründlich“, schnappte sie. „Sie? Hier? Wie denn?“, brauste sie auf.
 

„Frau Falkenstein, ich versichere Ihnen, dass wir alles nur Erdenkliche tun, um ihrem Sohn …“
 

„Das“, unterbrach sie den Arzt, dessen Namen sie gar nicht kannte. Hatte er sich ihr zuvor überhaupt vorgestellt? Wenn ja, dann hatte sie ihn wohl vergessen, da unwichtig. Wichtig war nur, dass ihrem Sohn endlich geholfen wurde. „Das“, setzte sie wieder an und begann die Lehnen des Stuhls zu umklammern, „hat man mir schon so oft gesagt. So oft. Und nie wurde etwas gefunden.“
 

Wieder traten ihr Tränen in die Augen und der Arzt reichte ihr ein Papiertaschentuch, das sie ihm fast aus der Hand riss. „Nie“, schniefte sie. „Wissen Sie, wie das ist, wenn der eigene Sohn zusammenbricht und dann wird einem gesagt, dass er nichts habe?“
 

Sie sah auf und dem Arzt zum ersten Mal direkt in die Augen. Vor ihr stand ein älterer Mann von leicht untersetzter Gestalt. Klingbeil stand auf seinem Namensschild.
 

„Wir wollen die Ergebnisse erst einmal abwarten“, versuchte er sie zu beruhigen, dann legte er ihr die Hand auf die Schulter und wieder war sie versucht, diese Berührung abzuschütteln. Doch wiederum fühlte sie sich zu schwach und ließ ihren Blick zum Fenster gleiten, durch das die Abendsonne ihre Strahlen schickte. Doch noch ehe sie sich auf diesen Anblick einlassen konnte, durchzuckte es sie wieder.
 

„Ich will sofort zu Matthias“, herrschte sie und funkelte den Arzt an. „Sofort!“
 

„Beruhigen Sie sich, Frau Falkenstein, er wird doch noch untersucht“, entgegnete ihr der Arzt mit ruhiger, ja geradezu gelassen wirkender Stimme, doch seinem Blick meinte sie Besorgnis zu entnehmen. Und gerade das peitschte sie wieder auf.
 

„Das kann doch aber nicht so lange dauern!“, rief sie und wollte auf, doch wurde sie Klingbeil zurück in ihren Stuhl gedrückt.
 

„Bitte bewahren Sie Ruhe. Die Untersuchungen haben dort gerade erst begonnen.“
 

„Was heißt das, gerade erst? Was?“, schnappte sie und sah den Arzt wieder an. „Und warum soll ich Ruhe bewahren?“
 

„Weil sie viel zu aufgeregt sind. Und die Untersuchungen haben gerade erst begonnen.“
 

„Aber er ruft doch nach mir … ganz sicher ruft er nach mir. Er ist doch … er ist doch geistig …“
 

Klingbeil nickte.
 

„Er braucht mich doch. Ohne mich …“
 

„Sie sind allein mit ihm?“, fragte sie Klingbeil da plötzlich. Sie sah ihn einen Moment lang an, dann runzelte sie die Stirn, nickte.
 

„Ich weiß, was in ihnen vorgeht“, fuhr der Arzt fort.
 

„Wie?“, schnappte sie und er lehnte sich an seinen Schreibtisch, nickte seinerseits. „Ich kenne es aus der Familie. Mein Bruder und meine Schwägerin ... sie haben ein Mädchen im Alter Ihres Jungen. Ebenfalls, nun ja, verzeihen Sie mir die Offenheit, geistig beeinträchtigt …“
 

„Aber dann können Sie doch gar nicht ermessen, was ich durchmache“, platzte es aus Simone heraus.
 

„Freilich nicht, jedes Schicksal ist ja individuell“, erwiderte er und verschränkte die Arme vor der Brust, „aber ich sehe doch, wie sich das Familienleben meines Bruders gestaltet. Ist Matthias ihr einziges Kind?“
 

Wieder sah sie ihn einen Moment lang an, dann nickte sie. „Ja“, sagte sie leise und senkte den Blick, „mein einziger.“
 

„Mein Bruder hat auch nur diese eine Tochter.“
 

„Und was wollen Sie mir jetzt damit sagen?“, fuhr Simone ihn an. „Hat sie auch solche Aussetzer und Anfälle? Spricht sie auch davon, dass sie bald sterben werde? Ja?“
 

Sie funkelte den Arzt an, der jedoch blickte ihr weiterhin in die Augen, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, das nicht.“
 

„Sehen Sie, dann wissen Sie doch gar nicht …“
 

„Ich weiß aber, wie schwer es manchmal sein kann mit einem Kind, das geistig beeinträchtigt ist. Das sich nicht adäquat äußern und weder seine Gefühle noch seine Gedanken mitteilen kann. Wie fremd einem dadurch das eigene Kind manchmal wird.“
 

„Aber da ist die Liebe“, flüsterte sie zischend und schlug sich mit der Faust gegen die Brust. „Liebe, nichts als Liebe. Tiefste Verbundenheit.“
 

„Wie viel Stress es aber auch bedeutet, dieses Leben …“, fuhr der Arzt fort.
 

„Was reden Sie da?“ Wieder wollte Simone auf, besann sich dann jedoch und sagte nur: „Das ist doch kein Stress.“ Sie hatte es überzeugender hervorbringen wollen, spürte jedoch selbst, wie hilflos es sich anhörte und umklammert die Stuhllehnen nur umso mehr. „Das ist kein Stress. Ich liebe meinen Sohn. Ich liebe ihn …“
 

„Mein Bruder und meine Schwägerin tun das auch. Sie lieben Julia. Aber sie sind sich selbst gegenüber auch ehrlich, wenn sie sich eingestehen, dass ihr Leben in gewisser Weise sehr beeinträchtigt ist, ja, dass es geradezu Stress bedeutet, bei all dem Schönen, das sie gemeinsam erleben dürfen.“
 

„Bei allem Respekt“, stieß Simone hervor, „aber Sie spinnen. Sie spinnen!“
 

Klingbeil blieb vollkommen ruhig, strich sich mit der Hand über die Brust, sagte dann – fast sachlich: „Es ist sicher leichter, sich in einer Partnerschaft eingestehen zu können, dass es schwer ist, als wenn man die Verantwortung allein hat. Ich verstehe das. Sich Schwäche einzugestehen, bedeutet Gefahr zu laufen, dass man strauchelt und gar nicht mehr kann.“
 

Wieder funkelte sie ihn an, schwieg aber.
 

„Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten“, fuhr der Arzt einen Moment später fort.
 

„Das sind Sie schon längst. Und nun will ich endlich zu meinem Sohn. Was soll das überhaupt? Warum hat man uns getrennt?“ Sie war wieder lauter geworden und erhob sich nun auch. „Bringen Sie mich sofort zu ihm. Sofort.“
 

„Frau Falkenstein, Sie sitzen hier, weil Sie selbst zusammengebrochen sind und gar nicht fähig waren, bei ihrem Sohn zu sein.“
 

„Jetzt bin ich es aber wieder. Also bitte – oder nein, ich verlange von Ihnen, dass Sie mich zu ihm bringen!“
 

Klingbeil verschränkte die Arme vor der Brust, nickte schließlich. „Aber nur, wenn Sie mir versprechen, ruhig zu bleiben.“
 

„Wieso ruhig bleiben, was ist denn?“, fauchte sie. „Vermuten Sie irgendetwas?“



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