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Zeit der Kolibris

von

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Kapitel 2

Matthias aß mit solchem Appetit, dass es Simone freute. Ihr wurde gar leicht ums Herz, ihn so essen zu sehen, wenn er sie mit vollem Mund zwischen zwei Bissen anlachte und sich dann wieder über seinen Teller beugte, so tief, dass er beinah mit der Nasenspitze ans Essen stieß. Wann immer er dies tat, so wusste, Simone, war er zufrieden – dann existierte kein Wölkchen an seinem Himmel. Und wenn er dazu beim Kauen die Augen schloss, sich dann ruckartig nach hinten lehnte und ein Hmmm ausstieß, war ihm wohlig zumute. Durchdrungen war er von positiven Gefühlen, von wunderbaren Gefühlen, von Gefühle, die sie ihm als Mutter immer wieder wünschte. Und so berührte sie ihn an der Hand, begann ihn zu streicheln. Er öffnete daraufhin die Augen, sah sie an.

 

„Mama“, sagte er mit seinem leicht verschmierten Mund. Und noch einmal: „Mama.“

 

Sie lächelte. „Matthias.“ Dann hob sie die Hand, berührte ihn an der Wange. Sie hoffte so sehr, dass es ihm gut ginge, dass er diese Phase überwinden und was immer ihn dazu trieb, so etwas zu sagen, vergessen würde.

 

Sie presste die Lippen fest aufeinander, griff dann zu ihrem Glas Rhabarbersaftschorle, nahm einen Schluck – all das, ohne ihren Blick von ihrem Sohn zu lassen, der da vor ihr saß und sie anstrahlte mit seinen hellgraublauen Augen, den Augen eines Kindes – ihres Kindes, ihres Sohnes, ihres einzigen.

 

Später im Kahn – sie saßen nun ganz vorn, ein Mann hatte ihnen den Platz angeboten – schmiegte sich Matthias wieder an sie und sie legte ihren Arm um ihn, hielt ihn ganz fest – so fest sie nur konnte, schloss kurz die Augen, Ja, er war ihr Sohn, ihr Matthias. Ihm durfte nichts Böses geschehen und er sollte keine bösen Gedanken haben, die ihn traurig machten. Sie als eine Mutter würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn glücklich zu machen.

 

Und so glitten sie weiter ins Grün hinein, links und rechts von sich Wiesen, auf denen Rinder und Schafe grasten, vorbei an einem uralten Bauernhaus, auf dessen Hof, sich zwei Hühner jagten. Matthias lachte und deutete mit dem Finger auf die beiden Tiere. Es gefiel ihm, denn er lachte noch immer, als sie diese Szene schon längst hinter sich gelassen hatten. Bisweilen kam es ihr so vor, als zeigte sich ihnen all das wie auf einer Drehbühne im Theater – und sie die Zuschauer in ihrem Kahn, nahmen teil an der Schönheit und Anmut, aber auch an der verträumten Urtümlichkeit dieser Landschaft, die die letzte Eiszeit geformt hatte und vom Menschen seit über 700 Jahren bewohnt war. Der Tourismus allerdings setzte erst vor rund 160 Jahren ein. Heute war es eines der bekanntesten Urlaubsgebiete.

 

Sich diesen Gedanken hingebend, begann sie Matthias zu streicheln, auch küsste sie ihn schließlich auf den Kopf. Sie tat das beinahe schon unbewusst, wurde sich dessen gewahr und küsste ich noch einmal, hob dann den Blick bis hinauf in die tiefgrünen Kronen der uralten Bäume. Wunderbar. Wie wunderbar das war, sich gleiten lassen zu können. Und wenn sich die Menschen um sie herum nicht immer wieder in Gesprächen ergangen wären, hätte Stille auf diesem Kahn geherrscht. Eine tiefe Stille, die vom Land herkommend, sich wie Nebel heranschob und in die sie nun hineinfuhren. Immer mal wieder war es ihr möglich, dieser Stille zu lauschen, dann nämlich, wenn alle schwiegen. Wie frisch, erquickend sie wirkte, diese Stille – einer Quelle gleich, die den Tiefen des Erdbodens entsprungen, nun an die Überfläche trat. Und sie trank, trank mit begierigen Schlucken, ehe sie wieder von Stimmen gestört, die Verbindung verlor.

 

Eine Fahrt ganz allein – wenn das möglich wäre. Sie begann zu träumen, während sie Matthias, der sich an sie schmiegte, zu streicheln begann. Sie schloss die Augen, holte tief Luft und streckte die Beine aus. Ja, wenn es doch immer so sein könnte – so fern der eigenen Gedanken, im Augenblick ausharrend, nicht wieder wegmüssend und ohne böse Gedanken, die sich wie schwere Wolken am Himmel auftürmten. Simone seufzte leise, dann sah sie auf Matthias hinab. Vielleicht waren seine Worte tatsächlich dem geschuldet, dass er Zeuge eines Verkehrsunfalls geworden war und nun fürchtete, ebenfalls sterben zu müssen. Wenn sie sich recht überlegte, war auch sie als Kind eine Zeitlang davon überzeugt, dass der dritte Weltkrieg beginnen würde. Eine richtige Angst hatte sich in ihr breitgemacht damals. Da hatte sie ganze Nächte lang wachgelegen und auf Geräusche gelauscht, vornehmlich auf die von Flugzeugen, die sie aus kommunistischen Propagandafilmen als Bomber kannte. Schuld daran hatte ihre Lehrerin in der 2. Klasse, die ihnen von der ständigen Bedrohung durch den Westen erzählte. Die da drüben haben die Atombombe, und wenn der rite Knopf gedrückt wird, dann … Dass auch die Sowjets über Atombomben verfügten, hatte sie ihnen verschwiegen. Ja, eine Zeitlang hatte sie Angst, es könne etwas Furchtbares geschehen. Auch zog sie sich, wann immer sie Fluggeräusche vernahm, die Decke über den Kopf und machte sich ganz klein. Vielleicht war es bei Matthias ähnlich?

 

Am Abend dann, die Fahrt war seit einigen Stunden schon vorbei, saßen sie beide auf der Terrasse des Schlosses Lübbenau. Obwohl Matthias müde war, hatte er noch einmal losgehen wollen und ein Restaurant besuchen. Sie hatte gezögert und schließlich hatte er ihre Hand gepackt und sie in Richtung des Schlosses gezogen. Dazu hatte er sie immer wieder angelächelt. Was hätte sie dem entgegenhalten können? Sie wollte es ihm doch so schön wie möglich machen – und da auch sie hungrig war. Ein kleinwenig essen. So ließ sie sich treiben und spürte wieder diese Leichtigkeit wie zuvor schon im Kahn. Warum nicht schwebend den Moment genießen, da alles in Ordnung zu sein schien? Ja, hatte sie denn kein Recht darauf? Überdies versprach es ein lauer Sommerabend zu werden. Warum denn nicht? Sie lächelte Matthias an, der ihr die Speisekarte hinschob, damit sie sie ihm vorlas. Schon legte sie ihm den Arm um die Schultern, er schmiegte sich an sie und sie begann ihm vorzulesen, bis er plötzlich: „Will ich!“, rief und sie mit großen Augen ansah.

 

„Was möchtest du?“

 

„Will ich!“, widerholte er und patschte mit der Hand auf die Karte.

 

„Ja, was?“

 

„Fannkuchen … Mittag …“

 

Sie verstand, dass er das Gleiche wie am Mittag haben wollte. „Also Plinsen?“

 

„Fannkuchen“, widerholte er und patschte wieder auf die Karte.

 

Sie lächelte. „Und trinken?“

 

„Prause“, kam es von ihm. Sie nickte, lächelte erneut, wissend, da es doch sein Lieblingsgetränk war.

 

„Klo“, kam es da von ihm plötzlich und er zuckte hoch. „Klo!“

 

Auch sie zuckte zusammen, vom Schreck leicht übermannt. „Musst du?“, fragte sie und deutete sich auf den Unterbauch. Er nickte und stieß die Luft geräuschvoll aus. „Muss.“ Auch er deutete sich auf den Hosenbund.

 

„Muss.“

 

„Dann gehen wir“, erwiderte sie und wollte sich schon ihre Handtasche greifen, doch er schüttelte den Kopf.

 

„Allein“, stieß er hervor. „Allein“, und deutete auf das Schloss.

 

Sie aber schüttelte den Kopf.

 

„Doch“, beharrte er und zog die Augenbrauen zusammen. „Doch. Klo allein.“ Schon hatte er sich erhoben. „Klo allein“, rief er beinahe, dann wandte er sich zum Gehen.

 

„Aber du musst fragen, wo das Klo ist“, rief sie ihm hinterher, wollte ihm nach, hielt sich dann jedoch zurück. Er

war alt genug, sagte sie sich. Alt genug. Konnte ja auch allein zur Arbeit fahren. Aber wenn er das Klo nun nicht finden würde, wenn er sich verirrte? Manchmal waren es Kleinigkeiten, die ihn ins Straucheln geraten ließen. Beunruhigt sah sie ihm hinterher und so, als hätte sie es geahnt, drang plötzlich ein lauter Schrei aus dem Schloss an ihr Ohr. Sie wusste sofort, dass es sich um Matthias handelte, sprang auf, hastete zur Tür, in der er verschwunden und hörte, wie er rief: „Sterben, bald sterben.“ Er rief es, brüllte es und dann sah sie ihn auf dem Boden des Foyers liegen, sich wälzend und zuckend. Schon hatte sich eine Menschentraube um ihn herum gebildet.

 

„Das ist mein Sohn“, hörte sie sich wie von ferne sagen. „Das ist mein …“

 

Sie sah, wie sich ein fremder Mann über Matthias beugte und ihm die Hand auf die Schulter legte.

 

„Mein Sohn“, schnappte sie unter Herzrasen und drängelte sich an den Umstehenden vorbei.

 

„Sterben, bald sterben!“, rief er.



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