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Dilector Diaboli

von

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Outtake 1: Was noch am Heiligen Abend geschah


 

Was noch am Heiligen Abend geschah
 

(zwischen 2. und 3. Kapitel)
 


 

Manchmal gaukelte einem sein Unterbewusstsein die merkwürdigsten Dinge vor. Des Nachts ließ es ab und an Traum und Realität ineinander fließen, bis man selbst nicht mehr wusste, wo sich die Grenze zwischen diesen beiden Komponenten zog. Bisweilen erlaubte es einem gar, das nur im Kopf lebende Geschehen zu beeinflussen, mittels purer Willenskraft, was es einem noch schwerer gestaltete, schlafen und wachen zu unterscheiden. Doch ebenso kam man sich hin und wieder wie einem Traum ausgeliefert vor, wenn man eigentlich gar nicht in seinen Gedanken dahinschwebte, sondern mitten im Schnee stand, den kalten Wind spürte, der einem ins Gesicht biss und sich ebenso lebendig wie der Protagonist einer fiktiven Wirklichkeit vorkam, einer Wirklichkeit, die solch einem luziden Traum anhaftete. Allerdings wusste ich, so wie ich in der Nacht nach mir selbst suchte, dass das Geschehene kein beeinflussbarer Traum gewesen sein konnte. Denn einem beeinflussbaren Traum war man nicht hilflos ausgesetzt. Man vermochte ihn zu steuern, die Welt nach seinem Belieben zu verändern - doch alles, was ich in den letzten Minuten erlebt hatte, war durch einen anderen gezeichnet worden, während ich mich einfach durch meine Wirren hatte führen lassen, von einer Hand, die genau zu wissen schien, was sie tat.

Und wahrscheinlich war dem auch so. Nur fühlte ich mich dabei so blind, wie einer, dem man die Augen verbunden hatte und der nun unsicher durch seine Welt tappte, tastend nach einem Anhaltspunkt, einem winzigen Fünkchen Sicherheit.

Alles, was ich zu sein geglaubt hatte, hatte ich in diesen dekadenten Stunden verloren. Die Schuld klebte an mir, ekelhaft und zäh und doch so erfüllend und unvergleichlich erhebend.

Mein Verstand war der Blinde in diesem Spiel. Und meine Begierde diejenige, die mich geführt hatte. Direkt in die Fänge des Teufels, derer ich mich nicht mehr zu entziehen vermochte.

Ich wusste es. Und dennoch wollte ich es nicht wahrhaben, in der Hoffnung, dass es sich bei all dem um den süßesten Albtraum gehandelt haben mochte, den meine Hirnströme je produziert hatten.

 

Die Nacht barg bloße Einsamkeit für mich, nachdem ich mich angekleidet hatte und gegangen war, den Ort der Perversion hinter mir lassend. Vor der geschändeten Kirche sandten die Wolken unbekümmert dicke Schneeflocken auf mich hernieder, während ich zugleich fröstelnd meine Arme um mich schlang und mich nach der Wärme sehnte, die mir hier draußen nicht gegeben war. Hier nahm die Wirklichkeit ihren Lauf, unbarmherzig und gnadenlos. Und für mich gab es nur die Fluchtmöglichkeit nach vorn. Zurück in die Kirche zog es mich ohnehin nicht.

Jetzt, wo mich die Sinnlichkeit ausgespien und die Realität wiedererlangt hatte, kehrten meine Gedanken auch zu Emilie zurück, zu ihren im Gegensatz zu meinen so geschockten Augen, als sie dem Teufel persönlich ins Antlitz geblickt hatte. Und im Gegensatz zu mir hatte sie alles richtig gemacht. Sie hatte die Flucht ergriffen, war dem Bösen erfolgreich entkommen, während ich mich von der Sünde hatte verführen lassen, mich dankbar in Caris Obhut begeben hatte, um dort-

Nein, nicht, um mich auszuleben. Oder etwa doch? Sollte meine Seele sich tatsächlich derart in meinen homosexuellen Gelüsten verloren haben?

Diese schmerzhafte Frage verdrängend fischte ich mit klammen Fingern mein Mobiltelefon aus der Hosentasche und suchte Emilies Nummer in der Kontaktliste. So wie ich mir das Gerät an das Ohr hielt, ergriff das schwere, dumpfe Gefühl in meiner Magengegend erst so richtig Besitz von mir, und so, wie sie schließlich abnahm, hätte ich ihr am liebsten beteuert, wie Leid mir das alles tat. Wie Leid mir die Dinge taten, von denen sie nicht einmal etwas ahnte.

 

"Hallo..."

Ihre Stimme drang äußerst leise und zaghaft an mein Ohr. Womöglich hatte sie sich noch immer nicht von ihrem Schreck erholt und starrte gerade ins Leere, nicht in der Lage, das Gesehene zu verarbeiten. Und ich hätte dies verstanden. Denn ich fühlte nicht anders.

"Das vorhin...das tut mir leid", entschuldigte ich mich nun doch, während ich tapfer den Schneeflocken trotzte, die sich auf meinem Haupt niederlegten und versuchten, die Schwärze zu verdecken, die mich umhüllte. "Ich wollte nur wissen, wo du jetzt bist."

"Zu Hause", erwiderte sie und wurde noch leiser. "Komm doch auch heim. Bitte."

Dies versprach ich ihr selbstverständlich, obwohl ich bereits ahnte, dass mir ihre Nähe in dieser Nacht nicht guttun würde. Dass es allerdings auch morgen nicht anders wäre. Morgen oder in einer Woche, in einem Jahr. Doch sie hatte es nicht verdient, dass sich ihr Freund als bi oder gar schwul outete. Ihr gebührte etwas Besseres als solch ein Scheißkerl. Jemand, der sie wirklich lieben konnte. Ohne Befangenheit.

Aber dieser Jemand war nicht ich. Und der würde ich nie sein.

Das gesamte Leben besteht darin, an sich selbst und seinen Erfahrungen zu wachsen, wozu es allerdings vonnöten ist, seine Komfortzone zu verlassen und sich für neue Erfahrungen zu öffnen.

Hin und wieder gelangen wir an Punkte, an denen alles zusammenzubrechen scheint.

Ich sträubte mich dagegen, mich auf Caris Worte zu besinnen. Aber sie fielen einfach so über mein Hirn her, und wieder einmal stand ich dem komplett machtlos gegenüber.

 

 
 

*
 

 
 

Sie würde etwas bemerken, dachte ich bitter, so wie ich in den Flur schritt und die Tür so leise wie möglich hinter mir schloss.

Dass sich zwischen uns etwas geändert hatte, würde ihr nicht entgehen. Denn vor dieser Nacht hatte ich es noch zu verbergen gewusst. Nun allerdings war meine Maske von mir abgefallen; ich vermochte meine Rolle nicht mehr zu spielen. Und doch wollte ich genau das versuchen. In der Hoffnung, dass alles tatsächlich nur ein böser Traum war, dass ich dem Teufel nie gegenübergestanden hatte und es keinen Cari gab, nicht einmal in der Gestalt eines ganz normalen Mannes. Denn selbst dieser hätte mich zu verführen gewusst, womöglich nicht derart effektiv und unabdingbar wie es nur ein magisches Wesen zu tun in der Lage war, aber wenn ich der Wahrheit ins Gesicht sah und darüber nachdachte, was ich war, so wusste ich, dass ich ihm nicht auf ewig hätte widerstehen können. Ganz im Gegensatz zu ihm, der lediglich mit mir spielte und sich einen Spaß daraus machte, meinen schwachen, verzweifelten Geist zu erpressen.

Warum fühlte man sich stets zu den Personen hingezogen, die einem die Klinge an die Kehle hielten und keinerlei Skrupel gehabt hätten, einem den Garaus zu machen?

Ich verstand es nicht. Ich verstand mich selbst nicht mehr.

 

Mit einem mulmigen Gefühl stieß ich die Tür zum Wohnzimmer sachte an, woraufhin sie zugleich in mein Blickfeld fiel, die auf der Couch vor dem Fernseher hockende Emilie, welche die Beine schützend an ihren Körper gezogen hielt. Kein einziges Wort brachte sie hervor, doch ihre Augen verrieten mir ebenso gut, wie es in ihrem Inneren aussah, so wie sie mir einen Blick über ihre Schulter hinweg zuwarf. Nun erinnerte sie mich an ein verschrecktes Reh, das gerade noch so dem großen, bösen Wolf entkommen war, allerdings gesehen hatte, wie das Raubtier einen Artgenossen riss und sich an ihm gütlich tat. Angst und Verstörung. Panik und Beunruhigung. Äußerste Beunruhigung.

Ich kannte meine Freundin gut genug um zu wissen, dass sie sich nach Nähe sehnte, wenn sie etwas bedrückte, sie Kummer hegte oder ihr Sorgen das Leben schwer machten. Nähe und etwas Fürsorge halfen ihr meist, über ihre sich im Kreis drehenden Gedanken hinwegzukommen, weswegen ich zugleich weiter in die Küche ging und dort schnell etwas heiße Milch aufkochte, in die ich ein paar Löffel Kakaopulver gab. Mit der Tasse in der einen und einer Decke in der anderen Hand gesellte ich mich schließlich samt schwerem Herzen und flimmernden Eingeweiden zu ihr auf das Sofa und spürte zugleich, wie die Erinnerungen an die Begebenheiten in der Kirche immer unrealistischere Züge annahmen, bis ich mir endgültig einzureden versuchte, dass es sich dabei um nichts mehr als um eine Illusion gehandelt hatte. Was meine Nerven etwas zu beruhigen wusste. Und doch hielt mich das beklemmende Gefühl der noch immer in mir schwelenden Schuld davon ab, irgendetwas zu sagen.

 

Wir hockten schließlich gemeinsam unter der Decke und starrten gleichsam auf das flimmernde Fernsehprogramm, wobei dieses genauso an Emilie vorbei zu rauschen schien wie an mir. Lediglich die fröhlichen Gesichter der Menschen sowie deren unbeschwertes Gelächter fielen mir auf, die einem einmal mehr vorzugaukeln versuchten, dass wir in einer Spaßgesellschaft lebten, frei von jeglichen schwerwiegenden Sorgen und ohne Gedanken an das Morgen. Ich hasste Sendungen wie diese, die nur eine alternative Realität erfanden. Emilie stand dem Ganzen allerdings etwas liberaler gegenüber. Heute jedoch verabscheute sie diese Unbeschwertheit sicherlich ebenso sehr wie ich.

"Lass uns das vergessen", hörte ich mich irgendwann zu meiner eigenen Überraschung sagen und erntete dafür einen fragenden Blick von meiner Freundin. Natürlich, ich hätte das Thema genauso gut totschweigen können, so, wie sie es womöglich angedacht hatte, aber in diesem Falle hätte es für immer zwischen uns gestanden. Obwohl es das ohnehin tun würde.

"Was...was war das überhaupt?"

Sie suchte nach einer Erklärung für das, was sich uns offenbart hatte. Genau wie ich. Obwohl ich doch so viel mehr wusste als sie.

"Es war nichts", säuselte ich beruhigend und legte den Arm um sie, was sich zum ersten Mal auf so seltsame Weise falsch anfühlte. Ich musste mich zwingen, nicht sofort wieder auf Abstand zu gehen. "Es war nur Einbildung."

"Aber du hast es doch auch gesehen", wendete sie ein und starrte bitter geradeaus. Das vom Fernseher ausgehende Licht erhellte ihr fein geschnittenes Gesicht. Das Gesicht, von welchem ich mir eingeredet hatte, das es das Schönste auf der ganzen Welt sei. Doch nun gab es da in meinen Gedanken ein so viel Schöneres...ich hasste mich. Und versuchte, ihn ebenfalls zu hassen, doch das war schwer.

"Ja..."

"Da war dieser...dieser Mann in einer schwarzen Kutte...all diese gleich aussehenden Menschen...und diese schwarzen Kerzen..." Sie sah mich an. "Alles war so...schwarz. Ich weiß nicht, ich..."

Kurz schwieg sie und betrachtete ihre Hände, die sich in die Decke gekrampft hatten.

"Ich hatte da so ein seltsames Gefühl. Und ich kann es nicht erklären."

Jeder gute Mensch hätte sich von dieser Zeremonie abgeschreckt gefühlt, überlegte ich. Sie war ein gutes Mädchen. Und ich, ich war nur ein Sünder.

"Es war nur eine Illusion", erwiderte ich erneut mit sanfter Stimme.

"Aber du hast es doch auch gesehen!"

"Ja, habe ich."

Sie ließ den Kopf hängen.

"Also sind wir beide verrückt."

"Nein, du bist nicht verrückt", widersprach ich zugleich und wandte meinen Blick ab. Nur ich bin verrückt geworden. Nur ich allein. "Vielleicht passiert es ja hin und wieder, dass man am Heiligen Abend so einer Art...Erscheinung begegnet. Vielleicht will sie einem ja nur etwas mitteilen..."

Den letzten Satz hätte ich mir besser verkniffen, führte er doch zu weit und offenbarte meinen Glauben an diesen esoterischen Kram...aber mittlerweile war ich der Meinung, dass ihm doch ein Körnchen Wahrheit zugrunde lag. Genau wie der Sache mit Gott und Teufel, von denen es zumindest den einen gab...

"Die Erscheinung hat sich allerdings aufgelöst, nachdem du geflüchtet warst", log ich mit trockener Zunge. "Plötzlich war alles normal. Mit Krippenspiel und ganz gewöhnlichen Menschen auf den Kirchenbänken..."

"Komisch."

"Ja, in der Tat."

Ich ahnte, dass sie das Ganze allmählich verdrängen wollte. In irgendeinen Teil ihres Gedächtnisses, den sie selten ankratzte. In den Teil, in dem die schlimmen Erinnerungen hausten.

Sie stellte ihre Tasse auf den Couchtisch und machte Anstalten, sich unter der Decke hervorzuschälen. Ungewollt kollidierten ihre Blicke mit meinen.

"Kommst du mit ins Bett?"

Bereits dieses Minimum an Nähe hier auf dem Sofa hatte mich vollends zu überfordern gewusst, nicht nur aufgrund der endgültigen Gewissheit, was meine Sexualität darstellte, sondern vor allen Dingen wegen all der Schuld, die ich auf mich geladen hatte in dieser verhängnisvollen Nacht unter Caris Blicken. Unter Caris Manipulationen, die mich meines Verstandes beraubt hatten. Und wenn ich mich nun auf sein Gesicht besann, auf seine glühenden Augen...dann wollte ich ihn erneut, dann wollte ich ihn hier bei mir wissen und mir all das von ihm geben lassen, was meinen letzten Rest Würde komplett in sich zusammenfallen lassen ließe. Er hatte verlangt, dass ich mich für ihn opferte. Und ich war bereit, ihm alles von mir zu schenken, meine Sinne, mein Bewusstsein, meine ganze, große Lust.

Ich wollte ihn. Ich wollte endlich mit ihm schlafen...

"Geh schon mal vor", brachte ich mit belegter Stimme heraus und rang um einen kleinen Rest Beherrschung, damit ich mich nicht einmal mehr in Gedanken in ihm verlor. "Ich komm dann gleich. Okay?"

Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu nicken, auch wenn ich ihr anmerkte, dass sie es lieber anders gehabt hätte. Dass wir den Heiligen Abend eng aneinandergeschmiegt hätten ausklingen lassen, vielleicht gar mit etwas intimerer Zärtlichkeit. Doch ich hätte es nicht geschafft, ihr diese in meinem Zustand zu geben.

Ich dachte nur noch an ihn. An ihn, meinen Traum, der real geworden war, sich jedoch so unwirklich und befremdlich und schlecht anfühlte. Wie eine Illusion, von der man sich dennoch nicht loszureißen vermochte. Weil sich der Geist stets an seinem Verderb festklammerte und ihn nach und nach zum Leben erweckte.

 

 
 

*
 

 
 

Für mich stand fest, dass ich die Nacht auf der Couch verbringen würde. Emilie würde ich sagen, dass ich einfach eingeschlafen war vor dem miesen Weihnachtsprogramm, das über den Bildschirm flimmerte, obwohl ich in Anbetracht meiner nicht enden wollenden Grübeleien, die mich hektisch von einem Gedanken zum Nächsten springen ließen, ahnte, dass ich kein Auge zu tun würde. Deshalb versuchte ich mich gar nicht erst am Einschlafen (das mir auf der engen Couch ohnehin nicht möglich gewesen wäre), sondern schlurfte träge in die Küche, holte mir ein schönes, kaltes Bier aus dem Kühlschrank und haute mich anschließend wieder vor den Fernseher, wo ich es köpfte und mir hastig in den Rachen kippte.

So wie ich gierig schluckte, ganz ohne den Weizen wirklich zu genießen, lachte mir erneut diese hässliche Fratze von Moderator entgegen, dem die Zuschauer im Studio wild applaudierten, obwohl ich dafür keinerlei Anlass sah. Selbstverständlich sonnte er sich in seiner nicht verdienten Anerkennung, und als seine Fresse endlich vom Schirm verschwand und irgendeiner mehr doofen als witzigen Comedyshow Platz machte, griff ich gnadenlos zur Fernbedienung und zappte weiter.

Hier sang ein Kinderchor Weihnachtslieder, da trat eine Möchtegern-Rocksängerin auf einer Open-Air-Bühne auf und schmetterte tausend Mal gehörte und ebenso verhasste Coversongs von ABBA und natürlich Wham!. Nein, mit solch einer Lady würde ich meine Nacht nicht verbringen wollen, entschied ich und drückte beharrlich auf die Taste, die mich in den Kanälen vorwärts brachte.

Schon bald suchte ich gar nicht mehr nach einem erträglichen Programm, sondern interessierte mich in meiner Langeweile viel mehr dafür, wie viele Sender ich eigentlich empfangen konnte. Nicht alle Kanäle waren belegt, doch irgendwann stieß ich auf eine einschläfernde Verkaufsshow, bei der ich kurz verweilte, bis ich mich wieder meine Fernbedienung betätigte und nichts ahnend und genauso wenig erwartend den darauf folgenden Kanal einstellte.

Kanal 386. Und so, wie das Bild sich auf dem Schirm manifestierte, war nichts mehr von der leisen Ruhe in mir übrig, die jener Shoppingkanal auf mich aufgestrahlt hatte.

Von der Flimmerkiste aus schaute mich ein Gesicht an. Aber bei Weitem nicht nur irgendeines, nein, keineswegs. Es war ein mir äußerst bekanntes Antlitz, das ich da vor die Linse bekommen hatte und dessen Besitzer hinter einem Tisch saß, vor sich ein paar Karten ausbreitend. Die schwarze Kutte sowie die Form seiner Augen erkannte ich sofort wieder, hatte ich doch heute Nacht genügend Gelegenheiten gehabt, um sie zu studieren.

Fassungslos schnaubte ich und schüttelte meinen Kopf. Also zählte sich Cari doch zu jener dämlichen Gattung von Fernsehwahrsagern, welche die größten Schwindler aller Zeiten darstellten. Aber für Geld tut womöglich selbst ein Teufel ziemlich viel, wenn nicht sogar alles.

Nun begann ich doch, ernsthafte Zweifel an seiner Vorhersage, die er bezüglich mir getätigt hatte, zu hegen. Und für einen kurzen Augenblick fragte ich mich gar, ob es denn sein konnte, dass er tatsächlich den Satan in Person darstellte. So, wie ich ihm auch nun wieder bei seinen Legungen zuschaute, erschien er mir wie ein ganz normaler Mann - zumindest für mein Empfinden war er komplett gewöhnlich. Tim, Rikki und ich trugen schließlich auch vornehmlich schwarz, hatten lange Haare und wirkten nicht gerade wie die netten Jungs von nebenan. Cari reihte sich nur in diese Folge ein. Natürlich, für mich und meine Gelüste war er ohne Frage etwas ganz Besonderes, verkörperte er doch das Objekt meiner dunkelsten Begierden und Sehnsüchte. Aber ein Teufel war er deshalb noch lange nicht. Allerhöchstens ein Verrückter, ein Kerl mit multiplen Persönlichkeiten, der sich einbildete, die Reinkarnation des Bösen zu sein. Oder?

 

Nun hatte ich allen Anscheins nach den Sender gefunden, mit dem ich mir die Zeit bis zum Morgen vertreiben wollte. Selbstverständlich tat es mir ganz und gar nicht gut, Cari für eine halbe Ewigkeit derart ungeniert betrachten zu können und zudem seiner tiefen Stimme zu lauschen, die dem jeweiligen Anrufer, der durch Zufall die richtige Leitung getroffen hatte, ein paar Ratschläge mit auf den Weg gab. Und oh Mann - schon nach wenigen Sätzen aus seinem Mund wurde mir klar, um was für eine Art der Weissagung es sich hierbei handelte. Zu Recht hatte seine Show einen Sendeplatz mitten in der Nacht erhalten. Denn bei den Themen handelte es sich für wahr um nichts, was Kinderohren gut getan hätte.

"Du sehnst dich ganz offenbar nach dem Geschlechtsverkehr mit zwei Partnern zur gleichen Zeit", verkündete Cari seine weisen Worte seinem unsichtbaren Gegenüber. "Denn es entspricht deiner Natur, nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben. Und diese zweite Komponente könntest du mit einer weiteren Frau erfüllen, vielleicht mit einer Unbekannten, die deinem Mann ebenfalls gefällt. Ich kann nämlich spüren, dass du zu mindestens zwanzig Prozent homosexuell veranlagt bist, und dass du dich lediglich im sexuellen Sinne zu Frauen hingezogen fühlst, nicht aber im emotionalen."

Ich musste zugeben, es beeindruckte mich ganz schön, was er so vom Stapel ließ. Es verwunderte mich nicht, dass er derart viel über die Sexualität des Menschen wusste, beschäftigte sich ein Teufel doch wahrscheinlich rund um die Uhr lediglich mit Sünden schaffenden Praktiken, aber ein derartiger Doktor Sommer wurde man dennoch nicht zwingend, auch wenn man all seinen Gelüsten offen gegenüberstand. Theoretisches Wissen musste man sich mittels Literatur oder Ähnlichem aneignen, so zumindest die Meinung eines Typen, der sich noch nicht einmal selbst richtig kennengelernt hatte, was seine Neigungen betraf. Aber desto länger ich Caris Weissagungen lauschte und umso mehr Kunden zufrieden auflegten, verspürte ich den Wunsch, dies zu ändern und mehr über mich selbst und meine ureigenen Triebe zu erfahren, als mir bereits jene Träume verraten hatten, die Cari mir Nacht für Nacht schickte. Durch sie hatte sich mir längst einiges offenbart, was ich nie an die Oberfläche hatte dringen lassen wollen, aber nun wollte ich die ganze Wahrheit hören. Ich würde schon irgendwie mit ihr fertig werden. Und wer wusste schon, ob Cari mich nicht dezent beschiss mit dem, was er mir in den Kopf gesetzt hatte. Ja, womöglich hatte er mich lediglich zu seinen Gunsten manipuliert, weil er der Meinung war, dass ich ein schönes Spielzeug für ihn abgeben würde. Einen hübschen, gefallenen Engel, der mit sich selbst nicht im Reinen war und für den etwas aus dem Spiel stand, nämlich das Leben seiner Mutter. Solche Menschen waren leicht manipulierbar, doch ich wollte einmal seine Meinung bezüglich mir und meiner Sexualität hören, wenn er nicht wusste, wer ich war; wenn ich mich ihm nicht zu erkennen gab, sondern ihm einfach meinen Namen verschwieg. Ich war mir sicher, auf diese Weise seine eventuelle Willkür zu überlisten. Und vielleicht gab es ja noch ein wenig Hoffnung für meine Beziehung. Wenn dem so wäre, hätte mir Cari das niemals ins Gesicht gesagt. Das wusste ich ganz genau.

 

Mich hatte das Glück in meinem Leben noch nie sonderlich leiden können, weswegen ich mir auch jetzt keine großen Chancen ausmalte, die richtige Leitung zu treffen und mit Cari kommunizieren zu können. Da ich jedoch nichts zu verlieren hatte (außer ein wenig Geld, an dem ich aber ohnehin nicht sonderlich hing), wählte ich die am Bildschirmrand durchlaufende Nummer und hielt mir mein Handy ans Ohr. Zunächst tutete es drei, viermal, und ich wollte die Hoffnung schon fast aufgeben, als mir Caris Stimme plötzlich zweifach entgegenschallte! Einmal durch den noch immer laufenden Fernseher und einmal durch das Telefon. Ich war tatsächlich durchgekommen.

"Hallo? Mit wem spreche ich hier?"

Vor Überraschung hatte ich ganz vergessen, das Gespräch überhaupt zu beginnen. Ich warf Caris Bild im Fernseher einen raschen Blick zu, ehe ich mich auf meine im Voraus zurechtgelegten Worte besann.

"Ähm...ich bin Raven", stotterte ich noch immer leicht verwirrt, da mir die Situation schrecklich obskur vorkam und meine Worte zudem hunderte von Menschen im Fernsehen mithören konnten. Ein paar Biere mehr hätten meinem Selbstbewusstsein natürlich nicht geschadet.

"Hallo Raven", grüßte Cari mich und lächelte mich vom Fernseher aus an, sodass das ungute Gefühl in mir emporkroch, er könnte mich tatsächlich sehen, was selbstverständlich Schwachsinn war. "Wie kann ich dir behilflich sein?"

Das alte Spiel, das mich an die Diagnosefindung in einer Arztpraxis erinnerte. Nun würde der intime Part des Gesprächs beginnen, und ich wusste mit einem Mal nicht mehr, ob ich das tatsächlich durchziehen wollte. Weswegen ich wahrscheinlich etwas zu lange schwieg.

"Du brauchst dich nicht wegen dem zu schämen, was dir auf dem Herzen liegt", redete Caris Stimme mir gut zu. "Wir alle tragen hin und wieder Sorgen und Probleme mit uns herum, die unser Liebes- und Geschlechtsleben betreffen. Im Alltag schweigt man sich diesbezüglich gern aus, gibt vor, dass alles in Ordnung sei, aber bei mir bist du in guten Händen, Raven. Und ich spüre, dass du nicht ohne Grund anrufst. Ja, von dir gehen sogar sehr große negative, aber auch positive energetisch pulsierende Kräfte aus, die sich allesamt in deinem Intimbereich konzentrieren, dort, wo deine Begierde wohnt und wo die Sexualhormone ihren Ursprung haben. Soll ich dir vielleicht zunächst die Karten legen?"

"Ja", sagte ich ohne nachzudenken, da auf meinem Kopf schon jetzt viel zu viel anderer Input zugekommen war. "Befragen wir die Karten."

Mit steigender Nervosität sah ich ihm dabei zu, wie er den Stapel ausgiebig mischte, schließlich die zwei obersten Karten vom Rest trennte und diese vor sich auf dem Tisch aufdeckte. Sein Gesicht verriet nichts, so wie er die Symbole musterte, doch mir genügte es bereits, dass mich die Karte mit genau dem Bild erwischt hatte, dessen Namensgeber mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte.

The Devil.

Wenn das ein Zufall sein sollte, dann wusste ich auch nicht mehr.

 

"Oh, diese beiden Karten verraten mir sehr viel über dich." Cari studierte sie noch immer eingehend, blickte dann allerdings entschlossen in die Kamera und damit direkt in meine Augen. Dennoch blieb mir auch das Bild nicht verborgen, welches die zweite Karte von den beiden zeigte. Nämlich eine gefesselte Frau, deren Augen verbunden waren. "Die Acht der Schwerter und der Teufel..."

"Und was sagen sie aus?", hakte ich ungeduldig, aber auch mit einer bösen Vorahnung im Herzen nach. Denn nun gab es kein Zurück mehr. "Ich will wissen, wo meine sexuellen Vorlieben liegen. Nichts weiter."

"Oh, Raven..." Er intonierte mein Pseudonym auf dieselbe Art und Weise wie er es sonst mit meinem echten Namen zu tun pflegte. Mit einer gewissen Amüsiertheit, aber auch so etwas wie hoffnungslosem Mitleid. Ob er tatsächlich wusste, wer ich war? Ob ihm wirklich die Weisheit der gesamten Welt zugrunde lag? Ob er mich sehen konnte, jetzt, in diesem Augenblick? Durch den Fernseher hindurch? "Meist stehen die Bilder beim Tarot für ganz andere Dinge und sind nicht primär als das zu deuten, was man auf ihnen sieht. Doch in diesem Falle ist die ganze Sache ein wenig offensichtlicher und wahrscheinlich auch für dich erkennbar..."

Er hielt die Karte mit dem gehörnten Teufel in die Kamera, der jedoch nicht unbedingt das Hauptaugenmerk darstellte, wie mir nun auffiel.

"Hierauf ist ganz klar erkennbar, dass der Satan es war, der die ersten Menschen - Adam und Eva - zur Sünde verführt hat. Eine schwere Eisenkette verbindet sie miteinander, und manchmal deute ich dies als die Last, die eine Ehe mit sich bringt, in deinem Fall aber, Raven, der du nicht verheiratet bist, erkenne ich darin, wie sehr dich die Beziehung zu deiner Freundin einengt, dass aber deine Bereitschaft zum Sündigen bereits zwischen euch steht und die Kette allmählich sprengt."

Mir verschlug es schier die Sprache, als er mir die Wahrheit ins Gesicht sagte. Einerseits wollte ich das Ganze abbrechen, das Gespräch einfach beenden, doch meine Neugierde drängte mich dazu, auch den Rest zu erfahren. Den Rest, den Cari über mich wusste. Und den er mir mit reinem Hochgenuss in der Stimme vorzutragen bereit war, was mir seine funkelnden Blicke längst suggerierten. Oh ja, er genoss es, mir mein Selbst zu offenbaren, bestand doch kein Zweifel mehr daran, dass er wusste, wer ich war. Und ganz sicher saßen wir uns in Wirklichkeit wieder gegenüber, Angesicht zu Angesicht, nur mit dem Unterschied, dass wir uns dieses Mal mit begierigen Blicken verschlangen. Besonders ich konnte mich kaum mehr behaben aufgrund seiner Ausstrahlung und der lodernden Anziehungskraft, die von ihm ausging. Der bloße Anblick seines Gesichtes machte mich spitz, und der Klang seiner Stimme schaffte es schließlich, eine Beule zwischen meine Beine zu zaubern. Zum Glück saß ich unter der Decke und verhüllte so das drängende Malheur vor seinen indiskreten Blicken...

"Mehr", verlangte ich nun mit schwitzigen Händen. "Sag mir, wer ich bin. Was ich will. Wen ich begehre."

Daraufhin lächelte er nur milde und zückte die zweite Karte. Die Acht der Schwerter.

"Raven..." Er seufzte. "Die Acht der Schwerter in Kombination mit dem Teufel steht für Peitschen, Fesseln und geschmolzenes Kerzenwachs. Deine Natur ist die eines zu sechsundsiebzig Prozent devoten Mannes, der eine starke Hand benötigt, welche ihn führt, ihn aber nicht zu sehr verwöhnt. Du möchtest nichts lieber, als bestraft und erzogen zu werden, der harte Sex entspricht dir sehr, aber deine jetzige Freundin ist nicht in der Lage, dir das zu geben, nach was du dich sehnst. Raven, du bist", er kniff die Augen zusammen, "zu sechsundneunzig Prozent homosexuell veranlagt, dein Spielgefährte sollte also unbedingt ein Mann sein, jemand, der dir die Angst vor dem Ausleben deiner Sexualität nimmt und dich langsam einführt in die Welt der sinnlichen Brutalität, der Dominanz und Unterwerfung. Dein erstes, schwules Mal wird nicht mehr lange auf sich warten lassen, denn dein innerer Gott droht auszubrechen und sich das zu holen, nach was er hungert."

Er schaute mich aus großen Augen verschwörerisch an.

"Und er hat bereits sein Ziel auserkoren. Einen Mann, den du mit deinem Glauben nährst und für den du alles nur Erdenkliche tun würdest. Zeig ihm, wie sehr du ihn begehrst. Biete dich ihm dar. Er wird dich reich für deine Hingabe belohnen. Mit grausam schönen, donnernden Höhepunkten. Jamie..."

 

Es war alles gesagt worden. Ich legte auf. Und richtete meine nun glasigen Augen auf den Bildschirm, während ich mir meine Hand geradewegs unter Caris herausfordernden Blicken in die Hose schob.

"Bis Morgen, meine Sünde", säuselte er mit einem schiefen Grinsen im Gesicht, doch ich gab mich längst meiner Lust hin und hörte seine Stimme nur noch wie aus weiter Ferne zu mir sprechen. Als wäre sie nicht real. Aber ich wusste, dass sie es eben doch war. Dass das alles, was mich umfing, tatsächlich passierte. Und dass die Wirklichkeit manchmal weniger beeinflussbar war als ein luzider Traum.

Doch zumindest wusste ich nun, auf welche Weise ich mich Cari opfern wollte. Wie er mich gerne sehen würde.

Entblößt, wie ich es bereits ihn meinen Träumen für ihn war. Und zudem wehrlos seiner Präsenz ausgesetzt. In meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Angewiesen auf seine Initiative, seine Berührungen, seine Küsse, seine Vorstöße in mich.

Ich, das Spielzeug seiner Lust. Längst zappelnd wie eine Fliege im Spinnennetz. Egal, wie sehr ich mich dagegen wehrte.

 

Meine Maske war gefallen. Sie wollte mein Antlitz nicht länger verhüllen.

 



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