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Mit Anderen Augen

Oneshot-Sammlung zu Nebencharakteren meiner eigenen Story
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Auweia, ist das lang geworden! Und kitschig. Ich bin nicht so gut darin, Liebesgeschichten zu schreiben, glaub ich.
In dieser kleinen Geschichte geht es darum, wie Tirans Eltern zusammen gekommen sind. Es spielt in Metagon, nicht in Hinode, wie der letzte Oneshot. Tiran selbst wird in dem Roman, so ich ihn in diesem Jahrhundert noch fertig kriege, als erwachsener Mann eine nicht unwichtige Rolle spielen.
Ansonsten widme ich das hier Sayaki_Kiramoto, in der Hoffnung, ihr eine kleine Freude machen zu können. Komplett anzeigen

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In Guten wie in Schlechten Zeiten

Wer glaubte, Königsehr sei eine schöne Stadt, war noch nie da gewesen. Sicher, das Palastviertel mit dem Palast und den Villen der Regierungsbeamten war sehr prunkvoll und sauber, im südlichen Hafen ankerten wunderschöne Passagierschiffe und die edleren Einkaufsviertel boten alles feil, was sich ein Mensch an Materiellem wünschen konnte. Aber das war der kleinere Teil der Stadt. In den Handwerksvierteln war es eng und laut, der nördliche Hafen war zwielichtig und schmutzig, und das angrenzende Kneipen- und Bordellviertel war eine trostlose Elendsgrube, die Endstation der menschlichen Nahrungskette, eine schmutzige Gegend voller Diebe, Halsabschneider, Huren und Banden verwahrloster Waisenkinder.

Es gab viele Wege hierher und dieser merkwürdige Turm, der seit einigen Monaten die Stadt mit Energie versorgte, machte es nicht besser. Seither war es unmöglich, Tiere in der Stadt zu halten, da sie entweder verrückt wurden oder konstant das Futter verweigerten. Pflanzen wuchsen nicht, nicht mal mehr Ratten lebten hier. Vom Palast aus hieß es, es sei ein Problem mit den Leitungen aufgetreten, an dem gearbeitet würde, aber Neresis war nicht sicher, ob sie das glauben sollte. Nicht, dass sie etwas ändern könnte. Wer einmal hier im nördlichen Hafenviertel gelandet war, hatte keine Bedeutung mehr, jedenfalls nicht, wenn er sich weitgehend an die Gesetze hielt.

Es regnete in Strömen und Neresis fror erbärmlich. Aber sie konnte nicht nach Hause gehen. Sie musste Geld anschaffen, dringend. Und „Anschaffen“ war hierbei das Stichwort. Sie arbeitete schon seit 5 Jahren als Prostituierte und hatte es nie in ein schützendes Bordell geschafft. Was Bordsteinschwalben wie sie in diesem Fall taten, war, sich entweder einem Zuhälter – und damit in der Regel dem organisierten Verbrechen – anzuschließen oder eine Art Symbiose mit einer anderen Hure einzugehen. Sie teilten sich ein Haus, beschützten einander und standen bei finanziellen Engpässen füreinander ein. Und ihre Handschwester Keredin konnte momentan nicht nur nicht arbeiten, sie brauchte auch dringend besseres Essen und Medizin. Sie hatte sich irgendwie mit dieser Seuche angesteckt, die gerade grassierte, und die machte sie völlig hilflos. Sie konnte sich kaum bewegen, nicht reden und nicht ohne Hilfe essen. Neresis musste sie versorgen, und dazu brauchte sie unbedingt Geld.

Niemand war auf der Straße, was bei dem Wetter kein Wunder war. Aber es gab für sie sonst keinen Platz, um ihren Körper feilzubieten. Zudem hielt sie nicht nur nach Kunden, sondern auch nach Tiran Ausschau. Tiran war… ihr Sohn. Eigentlich war er ein achtjähriger Waisenjunge, der sich allein durchschlug und auch nicht zu einer Bande gehörte, aber irgendwie gehörten sie zusammen. Sie waren sich vor vier Jahren das erste Mal begegnet, hatten einander geholfen und irgendwann hatte er bei ihr und Keredin gewohnt und sie Mama genannt. Und sie hatte absolut nichts dagegen gehabt. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass er tagelang weg war, aber sie machte sich jedes Mal Sorgen um ihn.

Jemand kam die Straße herunter, eine einsame, hochgewachsene Gestalt mit einem langen, dunklen Kapuzenmantel. Neresis erkannte ihn wieder, er war schon einige Male hier vorbeigekommen, aber er war nie allein gewesen. Sie war sich fast sicher, dass er ein Diebesfürst war, ein Anführer des organisierten Verbrechens. Nur die konnten mit einer Bande durch die Straßen gehen, als gehörte sie ihnen, dabei trotzdem unauffällig sein, aber kein bisschen verwahrlost wirken. Sie hatte kein persönliches Problem mit Diebesfürsten, aber sie war auch nicht scharf darauf, näher mit ihnen zu tun zu haben. Die Diebesfürsten garantierten ihren Klienten zwar gewisse Sicherheiten, aber damit kamen ganz andere Probleme, zum Beispiel konnte man in die Fehden der einzelnen Fürsten verwickelt werden.

Dieser spezielle Diebesfürst schien ihren Wunsch, Seinesgleichen zu meiden, nicht zu respektieren. Er kam direkt auf sie zu und sie fand sich mit ihrem Schicksal ab. Er würde sie immerhin ordentlich bezahlen können. Doch statt sie nach ihrem Preis zu fragen, oder ihr ein Zeichen zum Mitkommen zu geben, nahm er nur wortlos seinen Mantel ab und legte ihn ihr um die durchnässten Schultern.

Das war ihr noch nie passiert. Fassungslos starrte sie in das undeutbare Gesicht des Mannes. Sein Schädel war kahl, nicht weil er alt war, sondern weil er glattrasiert war. Im ersten Moment schätzte sie ihn auf Ende 30, korrigierte den Eindruck dann aber auf höchstens 30. Der kahle Kopf sollte ihn vermutlich älter wirken lassen. Sein hageres, aber hübsches, leicht jungenhaftes Gesicht, dass ihn, wäre es von Locken umrandet, zu einem Schönling gemacht hätte, wurde von einer gebogenen, aber nicht überdimensionalen Nase beherrscht. Die Lippen waren bleich und dünn, die Augen schmal und für einen Metagonen sehr dunkel. Sein ganzer Körper war schmal und sehnig, trotzdem strahlte er eine einschüchternde Autorität aus.

„Was tust du bei diesem Wetter hier draußen?“, fragte er. Seine Stimme war rau, aber sein Ton sanft. Dass ihm der Regen über den Kopf lief und seine unscheinbare, aber hochwertige Kleidung durchnässte, schien er gar nicht zu bemerken.

„…arbeiten?“ Neresis war verwirrt und auf der Hut. Gerade in dieser Gegend sollte man so schnell niemandem trauen.

„Arbeiten? Das erscheint mir nicht sehr sinnvoll.“

Gut, er hatte nicht ganz unrecht. Natürlich konnte er sehen, dass sie eine Hure war, die gelben Bänder an ihrem dunkelblauen Kleid, das so völlig durchweicht noch weniger der Fantasie überließ als ohnehin schon, verrieten es. Ein wenig Trotz regte sich in ihr.

„Ich habe nicht die Wahl. Ich brauche das Geld und ich brauche es heute.“

„So…? Ich gebe dir das Doppelte von dem, was du verlangst.“

„600 Kronen.“

„Wirklich? Ich hätte nicht gedacht, dass du so viel nimmst, auch wenn es gerechtfertigt ist.“

„Das ist das Doppelte von dem, was ich normalerweise verlange.“

„Dann ist es wesentlich weniger, als ich erwartet habe. Du bist mindestens 500 Kronen wert.“

Neresis glaubte, sich verhört zu haben. Hatte er ihr gerade indirekt 1000 Kronen angeboten? Davon könnte sie sich und Keredin unter normalen Umständen über einen Monat durchbringen. Wenn man davon natürlich die Medizinkosten abzog, wurde es wesentlich weniger, das Zeug war sehr teuer, nichtsdestotrotz war es sehr viel Geld. Es schien sich doch gelohnt zu haben, zwei Stunden im Regen zu stehen. Trotzdem musste sie sicher gehen.

„Hast du überhaupt so viel Geld?“

Er lachte nur und ihr lief es eiskalt den Rücken runter. Sie konnte diesen Mann nicht einschätzen und das beunruhigte sie. Er legte einen Arm und ihre Schulter und führte sie fort.
 

Das Ziel war ein Hotel am südlichen Rand des Viertels und somit das Edelste, das Neresis je aus der Nähe gesehen hatte. Der Vorraum hatte einen Empfangstresen, an dem keine Getränke ausgeschenkt wurden und war sehr sauber. Die alte Frau am Tresen schien den Mann zu kennen. Sie warf ihm wortlos einen Zimmerschlüssel zu, den er lässig mit einer Hand fing.

„Richtet bitte ein heißes Bad“, wies er die Frau an und führte Neresis die Treppe hinauf.

Zielstrebig brachte er sie zu einer Zimmertür, die genauso aussah wie alle anderen, und schloss auf. Eigentlich war es nichts besonderes, trotzdem konnte Neresis nur staunen. Dieses Hotelzimmer war fast so groß wie die Wohnung, die sie sich mit Keredin und Tiran teilte. Und während ihre Wohnung einen Herd, einen Tisch, ein schmales Bett und ein abgetrenntes Badezimmer beherbergte (immerhin hatten sie fließend Wasser, in einigen Baracken hier im Hafenviertel war nicht mal das der Fall), stand hier nur ein Schrank und ein kleinerer, niedriger Schrank neben einem Bett, dass der Bettwäsche nach für zwei Personen gedacht war, auf das aber locker Vier gepasst hätten. Die Fenster waren von schweren, dunklen Gardinen verhängt, vor dem Bett langen weiche Teppiche und eine Tür führte anscheinend zu einem Zimmer im Zimmer.

Trotz alldem würde Neresis sich niemals anmerken lassen, dass sie beeindruckt war, dazu war sie zu professionell. Fünf Jahre zogen nicht spurlos an einem vorbei. Also begann sie umstandslos, sich aus ihrem nassen Kleid zu schälen. Der klamme Stoff machte es ihr nicht leicht. Es war damals nicht leicht gewesen, als sie mit knapp 18 Jahren angefangen hatte. Schon damals hatte sie gewusst, dass es sie hätte schlimmer treffen können. Es war ihre eigene Entscheidung gewesen und sie war auch nicht mehr das Jüngste, was so prostituiert wurde. Andere Mädchen wurden entführt, vergewaltigt, von ihren eigenen Eltern auf den Strich geschickt… die Liste ließe sich noch sehr weit fortsetzen. Doch das hatte nichts daran geändert, dass sie Angst gehabt und sich geschämt hatte. Bei ihrem ersten Kunden war sie Jungfrau gewesen und sie hatte Glück gehabt, dass er ihr die Tränen nicht übel genommen hatte. Später hatte Keredin ihr viel beigebracht und die Routine tat ihr übriges. Aber der Anfang war hart gewesen.

Ihr Unterrock machte es ihr besonders schwer. Verfluchter Regen! Sie spürte die Blicke des Mannes auf sich, doch es störte sie nicht. Nicht mehr. Es hatte damals eine ganze Weile gedauert, bis sie sich nicht mehr für ihren nackten Körper geschämt hatte. Ihre Haut hatte die Farbe von starkem Kaffe, sie war recht dünn und ihre Brüste waren klein und spitz. Nur auf ihr fast knielanges schwarzes Haar war sie stolz. Ihre Familie stammte aus einer Gegend nah der südlichen Grenze von Serunien und die Wurzeln lagen wahrscheinlich noch weiter südlich. Irgendwie war sie immer ein wenig neidisch auf Keredin gewesen. Diese war vollbusig, selbstbewusst und nicht so dunkel wie sie, obwohl sie auch Serunierin war. Sie war für Neresis immer die Schönere und Stärkere gewesen, die große Schwester, die auf sie aufpasste. Doch nun brauchte Keredin sie, und sie würde sie nicht im Stich lassen, auch wenn der Mann hier sie beunruhigte. Immerhin schien ihm ihre schwarze Haut zu gefallen.

Endlich lag der Rock auf dem Boden und sie ging auf den Mann zu, der sich auf die Bettkante gesetzt hatte, doch er hielt sie mit einer Geste zurück.

„Lass mich dich ansehen“, sagte er, stand auf, und umrundete sie mit einigem Abstand, wobei er sie betrachtete, als wollte er sich jedes Detail einprägen.

Beunruhigt ließ sie es über sich ergehen. Was hatte dieser Mann vor? War er nicht ganz richtig im Kopf? Wer interessierte sich denn so sehr en detail für das Aussehen einer Frau, mit der er Sex wollte? Oder war das ganze gedacht, um sie zu verunsichern? Sie wusste, dass es auch Männer gab, die es anmachte, mit der Psyche ihrer Sexpartner zu spielen. Bisher war sie noch nicht an so einen geraten und sie war auch nicht scharf auf diese Erfahrung. Dafür gab es auch in ihrem Gewerbe eigentlich Spezialisten.

Schließlich drehte der Mann sich um und stieß die Tür zu dem nächsten Raum auf. Wärme schlug ihr daraus entgegen. Es handelte sich um ein kleines Badezimmer, allerdings mit der größten Badewanne, die Neresis je gesehen hatte (was so groß nun auch wieder nicht war), voll mit heißem, duftenden Wasser. Daraus, dass er keine Anstalten machte, selbst ins Bad zu gehen oder sich auszuziehen, schloss sie, dass das Bad allein für sie war.

Jetzt wurde es richtig merkwürdig. Warum zur Hölle sollte er das tun? Einer von Keredins wichtigsten Ratschlägen war: „Traue keinem Mann, der zu nett ist!“ Was hatte dieser Mann vor? Es gab Verrückte, die Frauen ermordeten, nachdem sie ihnen Geschenke gemacht hatten und Romantik in Gewalt fanden. Oder denen es Spaß machte, ihre Partner zu quälen. Das würde auch die hohe Bezahlung erklären, und warum er sie in einem guten Zustand haben wollte. Neresis rührte sich kein Stück.

„Warum hast du Angst vor mir?“, fragte der Mann, als ihm klar wurde, dass sie das Badezimmer nicht betreten würde.

„Du meinst, abgesehen davon, dass du anscheinend ein Diebesfürst bist?“

Einen kurzen Moment lang sah er überrascht aus, dann wurde seine Mine wieder undurchdringlich. „Ja, abgesehen davon.“

„Du bist zu nett“, sagte sie knapp. Ein anderer Ratschlag war, sich niemals einschüchtern zu lassen, denn in dem Moment wurde man zum Opfer.

Er zog eine feinsäuberlich gestutzte Braue hoch. „Tatsächlich? Nun, das wirft kein gutes Licht auf die Freier in dieser Gegend. Ich dachte, ich handele lediglich nach dem Prinzip, dass Leute, die für mich arbeiten, dann am besten arbeiten, wenn es ihnen gut geht. Und jetzt nimm schon ein Bad, du kannst es dir nicht leisten, krank zu werden.“

Das konnte alles und nichts heißen, aber Neresis gehorchte, da er mit dem letzten Satz leider Recht hatte.
 

Das Wasser war angenehm und die Wärme machte sie schläfrig. Und sie hatte noch nie in einer Wanne gebadet, die groß genug war, um sich zurückzulehnen. Nur am Rande registrierte sie, dass ihr Freier auch im Raum war und sich an irgendwelchen Utensilien zu schaffen machte. Wenn er ihr etwas tun wollte, käme sie eh nicht mehr davon.

Zu sagen, sie wäre überrascht, als er sich ans Kopfende der Wanne kniete und begann, ihr die Haare zu waschen, wäre eine Untertreibung, aber in Ermangelung besserer Ausdrücke bleiben wir dabei. Er rieb ihre Kopfhaut mit Shampoo ein, nahm einen Eimer voll warmem Wasser, den sie vorher nicht bemerkt hatte, um es auszuspülen und begann es dann vorsichtig zu kämmen.

„Verrätst du mir deinen Namen?“, fragte er.

Sie überlegte kurz und befand, dass er ihre Wohnung auch ohne ihren Namen würde finden können. „Neresis.“

„Ich bin Koren.“

Etwas berührte kurz ihre Stirn und sie brauchte eine Weile, um zu registrieren, dass Koren sie auf die Stirn geküsst hatte. Was war nur los mit diesem Kerl? Sonst machte das nur Keredin, wenn sie sie trösten wollte, oder vielleicht Tiran.

„Ich habe dich schon oft an dieser Straße gesehen“, erzählt Koren. „Die dralle Serunierin ist deine Handschwester, nicht wahr?“

„Ja…“ Warum wollte der plötzlich reden? Manche Kerle brauchten das danach, schön und gut, aber er hatte sie noch nicht mal angefasst.

„Geht es ihr nicht gut? Sie war schon ein paar Tage nicht mehr da.“

„Glasfieber.“

„Oh. Ich schätze, deshalb bist du bei diesem Wetter draußen…“

„Hättest du lieber sie? Sie hält mehr aus als ich.“ Es war nicht der geschickteste Versuch, herauszufinden, ob er auf die brutale Tour stand, aber was Besseres fiel ihr nicht ein.

„Ich zweifle nicht daran, dass sie ein resolutes Frauenzimmer ist. Aber du gefällst mir besser.“

Sie konnte sein amüsiertes Lächeln förmlich hören. Es klang fast so, als hätte er sie genommen, weil er speziell sie reizvoll fand. Das würde zumindest die Frage nach ihrem Namen erklären, und bis zu einem gewissen Punkt auch die Bereitschaft, so viel zu bezahlen.

Sie hörte, wie er sich erhob und sah dann, wie er ihr ein großes, weiches, weißes Handtuch brachte. Ein wenig widerwillig erhob sie sich aus dem Wasser und ließ zu, dass er sie abtrocknete. Er beunruhigte sie immer noch, doch sie hatte akzeptiert, dass sie nichts dagegen tun konnte. Und im Zweifelsfall brauchte sie ihre Nerven noch.

„Möchtest du etwas Essen oder Trinken?“

Sie schüttelte den Kopf. Sie war schon lange nicht mehr so nervös gewesen und würde wahrscheinlich keinen Bissen runter bekommen. Immer noch in das Handtuch gewickelt wurde sie sanft zu dem großen Bett dirigiert, wo sie sich hinsetzte und Koren dabei zusah, wie er sich endlich auszog…
 

Es war kurz vor Sonnenaufgang, als Neresis zuhause ankam. Keredin lag in ihrem Bett, das sie nun für sich allein hatte. Normalerweise schliefen sie zu zweit darin und es war sehr eng, im Moment schlief Neresis mit einer Decke und ein paar Kissen auf dem Boden. Keredins Haut war bleich und klamm, ihr Haar schlaff und glanzlos. Es tat Neresis in der Seele weh, die sonst so starke, schöne Frau so elend zu sehen. Ihre Haut war wie Kaffe mit Milch. Die jetzt schlecht war. Und ihr schwarzes Haar war prachtvoll gelockt - normalerweise. Jetzt hing es von ihrem Kopf wie verwelkte Blumenstängel. Ihre sonst so lebendig blitzenden dunklen Augen waren trüb und glasig. Aber sie war wach und sich Neresis’ Anwesenheit bewusst. Diese half ihr zunächst auf die Toilette (dem Himmel sei Dank hatten sie eine), was keine schöne Angelegenheit war, dann brachte sie sie zurück ins Bett und flösste ihr Wasser und Suppe ein.

Keredin konnte nicht sprechen und sich kaum eigenständig bewegen, aber sie konnte, da Neresis ihre Hand hielt, diese drücken und sie fragend ansehen und ihr damit sagen, dass sie wissen wollte, was mit ihr nicht stimmte.

„Mit mir ist alles in Ordnung, Schwester. Ich bin nur müde.“

Der Händedruck wurde fester. Sie glaubte ihr nicht.

„Na schön, der Kunde gestern Abend war etwas seltsam. Aber er hat mir 1200 Kronen gegeben, von daher ist es okay. Ich werde, sobald ich etwas geschlafen habe, nach Medizin für dich suchen.“

Ein intensiver Blick und ein kurzer, sehr fester Druck.

„Nein, er hat mir nicht wehgetan. Es war… irgendwie schön. Das ist es ja, was mich so verwirrt.“

Eine sanfte Bewegung mit der Hand. Sie sollte ihr davon erzählen.

„Es geht schon. Du hast genug eigene Probleme.“

Keredin zog leicht die Augenbrauen zusammen. Sie wollte es aber wissen.

„Also gut. Er ist zu mir gekommen, hat mir seinen Mantel umgelegt und mir das Doppelte von meinem normalen Preis angeboten, ohne vorher zu fragen, was er sei. Dann hat er mich in ein Hotel am Rand des südlichen Hafenviertels gebracht und mich ein heißes Bad nehmen lassen, ohne mich auch nur anzufassen. Er hat mich nach meinem Namen gefragt. Und nach dir, offenbar hat er uns schon ein paar Mal gesehen. Mich hat es ziemlich beunruhigt, dass er so nett ist. Er hat mir sogar was zu essen angeboten Und er ist ein verdammter Diebesfürst… Keine Sorge, ich hab nichts gegessen. Und dann… Es war merkwürdig, er hat sich nicht verhalten wie ein Freier. Ich… Ach verdammt! Ich bin gekommen. Zweimal.“

Trotz Keredins eingeschränkter Mimik schienen ihr die Gesichtszüge zu entgleisen. Neresis konnte ihr es nicht verdenken. Es war sehr selten, wenn nicht ein kleines Wunder für sie, bei der Arbeit zu kommen. Sie hatte zunächst angenommen, dass es so etwas wie einen weiblichen Orgasmus gar nicht gab. Bis ein Stricher das zufällig mitbekommen hatte und sie eines besseren belehrte. Sie hatte nur zweimal mit einem Stricher geschlafen, um Spaß zu haben. Es machte zwar Spaß, aber die Arbeit fiel ihr danach noch schwerer, also sah sie davon ab.

Mit Koren war es ein wenig wie mit diesen Strichern gewesen, und doch anders. Die Stricher waren sanft und gleichzeitig verzweifelt gewesen, denn sie wurden nie um ihrer selbst willen berührt. Wenn sie mit einem Kollegen schliefen, taten sie es, um sich einmal nicht benutzt zu fühlen und ein wenig Leben zu spüren. Koren hatte nichts von dieser Verzweiflung gehabt, stattdessen etwas, was sie „Leidenschaft“ nennen wollte. Bisher hatte sie das Wort für eine Metapher für den Geschlechtsakt gehalten oder es zumindest so benutzt. Jetzt wurde ihr erst klar, dass es doch etwas anderes war.

Und da war da noch die Sache mit den Namen. Es war nichts Ungewöhnliches, dass die Männer, wenn sich ihr bewusster Verstand langsam verabschiedete, den Namen einer Frau riefen, meist die Frau, die sie nicht haben konnten, weshalb sie zu einer Hure gingen. Neresis vermutete, dass es entweder mit schlechtem Gewissen oder mit Besitzansprüchen zu tun hatte. Daher machte es auch absolut keinen Sinn, dass Koren ihren Namen gerufen hatte. Warum sollte er das tun, er hatte sie doch gehabt in dem Moment?

Sie beschloss, nicht zu sehr darüber nachzudenken, denn das würde sie nirgendwohin führen. Also gab sie Keredin noch einen Kuss auf die Stirn, ein paar beruhigende Worte und legte sich endlich schlafen.
 

Zwei Tage lang hatte Neresis nach einem Heilmittel für das Glasfieber gesucht, doch niemand kannte eines. Nichtsdestotrotz wollte sie die Suche nicht aufgeben. Doch als sie heute die Augen öffnete, schmerzte ihr Kopf, ihr war schlecht und schwindelig und ihr Körper schien ihr nicht zu gehorchen. Im ersten Moment dachte sie, sie hätte auch Glasfieber bekommen, Doch dann schaffte sie es, sich aufzurichten und wurde von einem Hustenkrampf geschüttelt. Verdammt! Ihre Zunge fühlte sich an wie Holz, ihre Hände zitterten und ihr Körper glühte regelrecht. Korens Bad hatte nichts genützt, sie war krank geworden, und zwar richtig.

Es nütze alles nichts, jemand musste sich um Keredin kümmern. Aber sie fühlte sich so schwach… Da schob sich ein Gesicht in ihr Blickfeld. Ein achtjähriger Junge, von Natur aus blass, schulterlanges rotes Haar und haselnussbraune Augen.

„Tiran…“

„Mama. Was ist los, bekommst du es auch?“

„Nein, ich bin nur krank geworden in diesem Regen vor zwei Tagen. Kümmerst du dich um Keredin? Ich will sie nicht auch noch damit anstecken.“

Der Junge nickte und machte sich an die Arbeit. Er lehnte einige Kissen an die Wand und half Neresis, sich aufrecht dagegen zu lehnen, da sie im Liegen keine Luft bekam. Er schleppte unter Einsatz all seiner Kräfte Keredin auf die Toilette und versorgte beide Frauen mit Wasser und Suppe. Schließlich setzte er sich zu seiner Mutter und kuschelte sich an sie. Neresis fragte nicht, wo er gewesen war. Sie würde keine Antwort erhalten und sie musste es auch nicht wissen, solange er zurückkam.

Plötzlich hörten sie, wie sich jemand an der Tür zuschaffen machte. Tiran sprang auf und griff unter die Tischplatte des Esstischs, wo Neresis und Keredin in einem versteckten Fach ihre Messer aufbewahrten. Er zog eines hervor und stellte sich in die Ecke hinter der Tür, wo ein Eindringling ihn nicht sofort sehen würde. Dieser Junge wusste zu überleben und Neresis vertraute ihm, auch wenn sie Angst um ihn hatte. Schließlich machte es klick und die Tür öffnete sich mit einem leisen Knarren.

„Neresis? Was machst du da auf dem Boden?“

Neresis starrte Koren fassungslos an. Was tat der denn hier? Warum knackte er ihr Türschloss? Und stellte dann auch noch so dämliche Fragen?

„Ich bin krank und wir passen nicht beide gleichzeitig ins Bett“, antwortete sie trotzig.

Er machte einen Schritt auf sie zu, weiter kam er allerdings nicht. Tiran, nun sicher dass keiner mehr kommen würde, war aus seinem Versteck gekommen. Er war groß für sein Alter, daher reichte er Koren etwa bis an die Brust. Ihm das Messer an die Kehle zu halten, wäre schwierig geworden, also hatte er kurzerhand von hinten einen Arm um dessen Bauch geschlungen und hielt ihm mit der anderen das Messer an die Genitalien.

„Mach eine falsche Bewegung und du bist deine Kronjuwelen los. Wer bist du und was willst du von meiner Mutter?“

Koren sah an sich herunter, als könne er nicht begreifen, dass das gerade wirklich passierte. Neresis kicherte, musste ihm aber zugestehen, dass er in Anbetracht der Lage ziemlich gelassen blieb.

„Ich wusste nicht, dass du einen so… gerissenen Sohn hast, Neresis“, meinte er trocken.

Nun musste sie wirklich lachen, konnte aber nicht wirklich, weil sie dadurch wieder heftig husten musste.

„Ich wollte deine Mutter lediglich besuchen und ein paar Dinge mit ihr bereden“, erklärte er Tiran, dieser war aber nicht leicht zu überzeugen.

„Ach ja? Und warum knackst du dann das Türschloss, anstatt anzuklopfen wie jeder normale Mensch?“

„…nicht dran gedacht. Ich knacke sonst immer das Türschloss.“

Neresis drohte derweil, in einem Mischanfall aus Husten und Lachen zu ersticken.

„Du bist ein Diebesfürst, nicht war? Was solltest du mit meiner Mutter zu besprechen haben?“

„Ich will ihr helfen.“

„Verarschen kann ich mich selbst. Die Wahrheit, bitte. Denk an dein bestes Stück.“

„Deine Mutter muss sehr stolz auf dich sein…“

„Ich höre~!“

„Ich habe ein Angebot für sie, dass ihr helfen könnte?“

„Soso…“

„Tiran, lass ihn los. Er meint es wahrscheinlich ernst“, krächzte Neresis, die sich inzwischen einigermaßen beruhigt hatte. Tiran ließ widerwillig das Messer sinken und Koren bemühte sich, nicht zu erleichtert auszusehen. Stattdessen setzte er sich zu Neresis, unter Tirans wachsamen Augen, und unterzog diesen einer kurzen, aber genauen Musterung.

„Du hast einen Waisenjungen adoptiert?“

„Ja. Was dagegen?“

„Nein, bei dem Jungen kann ich es verstehen.“

„Was willst du hier?“

„Ich habe einige Nachforschungen über das Glasfieber angestellt und wollte dir die Ergebnisse mitteilen.“

„…Was läuft eigentlich falsch in deinem Hirn?“

„Äh, ich will dir helfen?“

„…“

„…“

„Entschuldige. Was wolltest du mir sagen?“

„Du wirst kein Heilmittel gegen das Glasfieber kaufen können. Es gibt eines, aber der König hat das Monopol auf eines der Bestandteile und es ist nicht verkäuflich.“

„Verdammt!“

Das waren wirklich schlechte Neuigkeiten. So konnte Keredin nie gesund werden. Zwar existierte das Glasfieber noch nicht lang genug, um zu wissen, ob es tödlich enden würde, aber lang genug um zu wissen, dass es nicht von alleine wegging.

„Wenn es weniger wäre, würde ich dir dieses Heilmittel gern zum Geschenk machen“, fuhr Koren fort, „aber selbst ein Fürst der Diebe kann nicht einfach so das Risiko eingehen, den König zu bestehlen. Damit würde ich einfach zu viel riskieren. Aber wenn du meine Frau wärst, könnte ich es.“

Einen Moment lang setzte Neresis’ Gehirn aus. Machte jetzt alles Sinn, oder war das nur eine Steigerung der Merkwürdigkeit? Meinte er das ernst?

„Was? Meinst du…?“

„Neresis, ich biete den besten Handel an, den ich zu bieten habe: Bleibe ein Leben lang an meiner Seite und ich werde ein Leben lang alles tun, dass es dir gut geht. Dir und deiner Familie.“

Tausend Gedanken rasten durch Neresis’ Kopf. Warum sollte er Lügen? Was wollte er wirklich von ihr? War das Angebot so gut wie es sich anhörte? Warum war sie so aufgeregt? Warum dachte sie gerade an ihre gemeinsame Nacht? Warum schlug ihr Herz so schnell? Warum tat dieser Mann das alles? Sie war doch nur eine Hure. Konnte sie ihm trauen?

„Schon gut, du musst mir nicht jetzt antworten“, sagte Koren leise, als sie still blieb. „Ich komme morgen wieder zu dir.“

Damit erhob er sich und verließ die Wohnung. Und Neresis fühlte sich plötzlich noch elender als heute Morgen beim Aufwachen.
 

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Koren fühlte sich furchtbar. Das hätte besser laufen können. Und es tat ihm fast körperlich weh, diese Frau so elend zu sehen. Abgesehen davon schien sie ihm immer noch nicht zu vertrauen. Konnte sie denn nicht sehen, dass er sie einfach liebte? Zu allem Überfluss hatte er heute auch nichts mehr zu tun und war somit allein mit seinen Gedanken. Großartig!

„Hey du!“

Das gab es nicht, da wollte sich auch noch so ein Idiot mit ihm anlegen. Er drehte sich betont langsam um – und sah den rothaarigen Jungen von Vorhin vor sich.

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, wer du bist!“, meinte der Bengel vorwurfsvoll und Koren konnte ein Aufwallen von Respekt nicht unterdrücken. Wie alt war der? Zehn, höchstens. Und mit allen Wassern gewaschen und mindestens so intelligent wie seine Mutter.

„Ich bin Koren, der Geier.“ Jetzt war es raus, er war der Geier, der Diebesfürst dieser Gegend und eindeutig auf dem aufsteigenden Ast. Allerdings schien der Junge nicht beeindruckt.

„Und du willst also meine Mutter heiraten, ja? Schon mal daran gedacht, dass sie dich nicht wollen könnte?“

Oh, darum ging es ihm also. Er hatte Angst, dass er Neresis etwas tun könnte und wollte sie beschützen. Ihm kam der Gedanke, dass der Rotschopf ein toller Sohn wäre.

„Ja, habe ich. Mach dir keine Sorgen, ich kann sie gar nicht zwingen. Dann würde der Handel nicht mehr funktionieren, schließlich könnte ich sie dann gar nicht glücklich machen.“

„Dann liebst du sie also?“

„Ja, verdammt! Aber sie scheint das ja nicht zu verstehen.“

„Was erwartest du auch? Sie ist ne Nutte. Der Gedanke, das jemand sie lieben könnte, kommt ihr gar nicht.“

Der redete nicht mal wie ein zehnjähriger Junge. Warum hatte er noch nie von ihm gehört?

„Da könntest du recht haben. Und dass ich ein Diebesfürst bin, macht es wahrscheinlich nicht besser.“

„Sie weiß das also?“

„Sie hat es erraten.“

„Wirklich? Hm… Warum beweist du ihr nicht, dass du sie liebst?“

„Und wie soll ich das machen?“

„Du könntest aufhören, wie ein Diebesfürst zu denken, und etwas für sie riskieren.“

„Ich soll ihr das Heilmittel also schenken? …“

„Tu was du willst. Du hast die Wahl: Entweder du verrätst mir, wie ich das Heilmittel herstellen kann und was ich dafür stehlen muss, oder wir machen das zusammen.“

„Bist du verrückt geworden?“

„Das ist nicht dein Problem, Alter!“

„…“

„Was jetzt?“

„Du wirst allein nicht weit kommen. Für das Heilmittel musst du Ambora und Apelsaft genau im Verhältnis Drei zu Eins mischen. Selbst wenn du beides hättest, wie wolltest du das machen?“

Der Junge biss sich auf die Unterlippe und überlegte.

„Ich bräuchte vier leere Gefäße und müsste sicherstellen, dass sie alle dasselbe wiegen. Das geht mit ner normalen Messingwaage. Dann nehme ich zwei davon, stell sie auf beide Seiten der Waage und wiege in ihnen Apfelsaft und Ambora gegeneinander auf. Dann stell ich beides auf dieselbe Waagschale, stell die anderen beiden Gefäße auf die andere Seite und füll die mit Ambora auf, bis auf beiden Seiten gleich viel ist. Und dann schütte ich alles zusammen, fertig.“

Verdammt, das würde tatsächlich funktionieren, und wäre sogar genauer als mit Bleigewichten. Woher hatte der Junge sein Hirn, von Neresis konnte er es schlecht geerbt haben?

„Wie heißt du?“

„Tiran. Warum willst du das auf einmal wissen?“

„Nur so. Wie beabsichtigst du, an das Ambora zu kommen? Du weißt, die stellen Parfum, Stofffarbe und Nagellack daraus her und der König hat das Monopol darauf. Es ist unverkäuflich.“

„Es gibt ein Lager im südlichen Hafengelände. Da klau ich es.“

„Aber nicht allein!“

Tiran legte den Kopf schräg und sah ihn fragend an.

„Deine Mutter dreht mir den Hals um, wenn dir was passiert und sie erfährt, dass ich dich allein habe gehen lassen.“

„Na dann, gehen wir!“

Der Junge rannte los, und Koren erkannte, dass er eben doch ein Junge war, nur eben einer, der gelernt hatte, sich unter Erwachsenen zu behaupten.
 

Etwa eine halbe Stunde später saßen sie gemeinsam in einem alten Bierkeller, wieder im nördlichen Hafenviertel, nah genug am Hafen, um den Fluss riechen zu können. Sie schwiegen eine Weile. Es hatte wunderbar funktioniert, Tiran hatte die Wachen mit harmlosen Streichen abgelenkt und Koren hatte das Schloss geknackt und eine Flasche voll gestohlen. Dann waren sie getrennt hierher gekommen.

Koren wusste nicht, wann er das letzte Mal selbst gestohlen hatte. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie sehr er diesen ganz eigenen Nervenkitzel vermisst hatte. Und dieser Diebstahl war an sich etwas Besonderes. Es gab Dinge, die man nicht tun konnte, ohne Freunde zu werden, den König zu bestehlen gehörte dazu. Wenn sie Glück hatten, würde niemand es je erfahren.

„Und was jetzt?“ fragte Tiran, anscheinend nur um etwas zu sagen.

„Wir suchen einen Laden, der Apfelsaft und eine Messingwaage hat.“

„Was ist das nur für eine komische Krankheit?“

„Keine Ahnung, aber sie hat mit der ‚Leitungsstörung’ zu tun. Das Pferd hat mehrere Leute auf dem Krankenbett deswegen. Er hat auch das Heilmittel gefunden, kommt aber selbst nicht ran. Man bekommt das Glasfieber nur, wenn man zu nah an eine Leitung kommt, ich bin mir sicher, eure Freundin verheimlicht euch etwas.“

„Sie könnte zufällig auf eine Leitung gestoßen sein…“

„Nein, so schnell passiert das nicht. Außerdem weiß ich, dass sie Besorgungen für den Affen macht, um sich etwas dazu zu verdienen. Dabei wird das passiert sein.“

„Kommst du mit dem Affen klar?“

„Er ist ein Feind, aber ich nehme ihr nicht übel, dass sie für ihn gearbeitet hat. Wenn ich in meinem Revier jeden loswerden wollte, der schon mal für einen Feind gearbeitet hat, würde ich mir hier zu viele Feinde machen, wenn überhaupt genug Leute übrigblieben.“

„Ist es schwer?“

„Hm?“

„Diebesfürst zu sein.“

„Es ist nicht einfach, aber ich mag die Herausforderung. Übrigens, wie alt bist du eigentlich?“

„Acht, und du?“

„Ich bin 39.“

„Es ist komisch, wie viel Abstand zwischen mir und den anderen immer ist. Aber ich hab keine Lust mit anderen Kindern abzuhängen, die wollen entweder, dass du machst was sie sagen, oder dass du ihnen sagst was sie machen sollen.“

„Du bist sehr intelligent, weißt du das?“

„Das sagt Mama auch, aber Keredin meint, ich sei nicht intelligenter als die anderen, ich sei nur selbstbewusst genug, meinen eigenen Kopf zu benutzen.“

„Da könnte was dran sein, aber dafür braucht man auch Intelligenz. Kannst du übrigens lesen?“

„Nein, ich rede nur so, weil ich immer mit Erwachsenen abhänge. Mama hat mal lesen gelernt, aber sie hat es nie geübt und Keredin kann lesen.“

„Willst du es lernen? Ich kann es dir beibringen.“

„Vielleicht. Überleg ich mir noch.“

„Denkst du, deine Mama weiß, dass ich der Geier bin?“

„Wohl kaum. Sie weiß nicht mal, dass die Diebesfürsten überhaupt Tiernamen haben. Sie wollte sich immer von ihnen fernhalten und wir haben das respektiert.“

„Deine Mama ist auch sehr schlau. Es ist schon schlau, sich von uns fernzuhalten, uns aber dann trotzdem zu erkennen, ist beeindruckend.“

„Natürlich ist sie schlau. Ich such mir nicht irgendeine Frau als Mama.“

„Sie ist sicherlich nicht irgendeine Frau… Komm, suchen wir einen Laden.“
 

Fasziniert sah der untersetzte Ladenbesitzer dabei zu, wie Tiran mit der Kindern eigenen Sorgfalt die Flüssigkeiten gegeneinander abwog. Schließlich sah er Koren an.

„Wie viele wollen sie dafür, dass ich ihren Sohn in die Lehre nehmen kann, gnädiger Herr? Er ist sehr geschickt.“

Koren setzte seine undurchdringliche Mine auf, die ihn selten enttäuschte, wenn es darum ging, Leute einzuschüchtern. „Das ist er. Doch mein Sohn wird selbst entscheiden, wo und wann er in die Lehre geht. Ich verkaufe seine Zukunft nicht.“

Der Mann schluckte. „Verzeiht, gnädiger Herr, ich dachte nur…“

„Fertig!“, rief Tiran und hielt stolz eine volle Flasche hoch.

Koren nickte ihm anerkennend zu. „Gehen wir.“

Als die Ladentür hinter ihnen zu fiel, zupfte Tiran ihn am Ärmel.

„Du, Koren?“

„Ja?“

„Du weißt, dass ich nicht wirklich dein Sohn bin, oder?“

„Das weiß ich schon, aber ich wäre sehr stolz, dich als Sohn zu haben.“

„Und wenn Mama dich nicht will?“

„Das wäre schade, aber du hast dir deine Mutter ausgesucht, du kannst dir auch deinen Vater aussuchen und er muss nicht der Mann deiner Mutter sein. Wolltest du mich denn als Vater?“

„Ich überleg es mir.“
 

______________________________
 

Neresis hatte Durst, aber sie wusste, dass ihr Kopf explodieren würde, würde sie versuchen, aufzustehen. Tiran war kurz nach Koren gegangen und nun seit Stunden weg. Warum war er noch nicht zurück, er würde sie doch nie im Stich lassen, wenn sie beide krank waren? Wenn sie Koren doch nur vertrauen könnte, dann wäre alles so viel einfacher. Und diese blöde Erkältung – es musste an der Erkältung liegen, anders konnte sie sich das nicht erklären, wahrscheinlich war es das Fieber – machte es ihr auch nicht leichter. Ständig musste sie daran denken, wie gern sie sich an ihn kuscheln würde, und das war nun wirklich keine gute Idee. Ja, er sah gut aus, ja, er war nett und, was auch immer, badass-cool. Und ja, verdammt, sie mochte ihn. Aber sich deshalb einem Fremden an den Hals zu werfen, war einfach nur dumm. Fehlte nur noch, dass sie sich ihn zurück in ihr Bett wünschte, aber dafür war sie, dem Himmel sei Dank, zu krank.

Halt, war da jemand an der Tür? Offenbar. Tiran war zurück. Und Koren.

Tiran rief „Hallo Mama!“, dann rannte er hinüber zu Keredins Bett. Was war das für eine Flasche in seinen Händen?

„Hey. Wie geht es dir?“ Koren kniete sich zu ihr. Dieser sanfte Ton und dieser Blick! Das machte der Bastard doch mit Absicht!

„Beschissen. Ich brauch was zu trinken“, knurrte sie.

Daraufhin erhob er sich wortlos, um nach einem Glas und einer Flasche Wasser zu suchen. Der Kerl war unglaublich! Und was hatte er mit Tiran gemacht? Vorsichtig drehte sie sich zu ihrem Sohn um, der gerade von Keredins Bett kletterte, immer noch die Flasche in beiden Händen.

„Wie geht es dir, Mama?“

„Geht so. Was hast du da draußen mit Koren gemacht?“

„Oh, wir haben ein Heilmittel für das Glasfieber besorgt. Keredin sollte bald wieder fit sein.“

„Das sollte sehr schnell gehen“, warf Koren ein, der sich neben Neresis setzte und ihr ein Glas Wasser reichte. Sie nahm es und trank ein wenig, aber das Schlucken tat weh.

„Dann kannst du es also doch tun, ohne dass ich zu deiner Familie gehöre? Den König bestehlen?“

„Ich bin ein Diebesfürst, ich sollte der Frau, die ich liebe, ein angemessenes Geschenk machen können. Außerdem habe ich nicht viel gemacht, ich habe nur Tiran geholfen.“

Irgendwas in Neresis’ Kopf fiel krachend in sich zusammen.

„Du… liebst mich? Aber wir kennen uns doch kaum!“

„Das… Ich kann es nicht ändern, es ist einfach so. Und darum frage ich dich noch mal richtig. Neresis?“ Er nahm ihre Hand mit beiden Händen und sah ihr in die Augen, als wollte er in ihre Gedanken sehen. „Willst du meine Frau werden?“

Gute Frage, wollte sie das?

„Du solltest wissen, ich habe immer Ziegenkraut als Verhütungsmittel genommen. Ich werde dir keine Kinder schenken können.“

„Das macht nichts. Du hast bereits einen wunderbaren Sohn.“

Er sah zu Tiran, mit einem stolzen, liebevollen Blick, und irgendetwas in ihr machte klick. Sie wollte diesen Blick immer wieder sehen. Und auch wenn es unlogisch war, wusste sie plötzlich, dass ein Leben mit ihm genau das war, was sie glücklich machen würde. Sie gab dem Drang nach, sich an seine Brust zu kuscheln. Sie war schmal und sehnig, aber warm und sie fühlte sich beschützt.

„Ich will.“

„Das glaub ich einfach nicht!“

Neresis’ Kopf schnellte herum. Keredin saß aufrecht auf der Bettkante und betrachtete das Szenario mit fassungslosem Blick.

„Kaum bin ich für ein paar Tage außer Gefecht, bandelst du mit einem Diebesfürsten an, und dann auch noch ausgerechnet mit dem GEIER! Bist du von allen guten Geistern verlassen?“

„Keredin…“

„Hör mal wer da spricht“, mischte Tiran sich ein, „ich hab gehört, du hättest Besorgungen für den Affen gemacht.“

Plötzlich wirkte Keredin sehr kleinlaut. „Nun ja, irgendwie müssen wir diese Wohnung doch halten. Und ich hätte mich nie näher auf ihn eingelassen.“

Eine Weile herrschte peinliches Schweigen. Schließlich seufzte sie resigniert.

„Also schön, wenn es das ist, was du willst. Aber ich warne dich, Geier, wenn du ihr wehtust, häute ich deinen Schädel und röste dein Herz in kleinen Stücken an einem Schaschlikspieß!“

Neresis zweifelte nicht daran, dass sie das wörtlich meinte, auch wenn es wie ein Scherz klang.

„Oh, keine Sorge“, sagte Koren, „ich werde für sie da sein. Egal was auch passiert.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: Sayaki_Kiramoto
2013-08-15T22:53:04+00:00 16.08.2013 00:53
Boah,was für ein langes Kapitel!*-*
Ich schätze mal, ich muss mehr ahnung von der Materie haben, damit ich genau die zusammenhänge kenne...chrm, aber auf den ersten Blick eine Solide Arbeit!:))
und Exotische Namen vor allem...*nick*
Sind die aus dem Lateinischen oder....
hast du da ganz deine Phantasie spielen lassen..!?
So oder so, ich mag ungewöhnliches x333

Und danke für die Widmung!*-*
Antwort von:  Rockryu
17.08.2013 12:11
Also, in diesem Kapitel sind die Namen frei nach Fantasie, in dem anderen stammen sie aus dem Japanischen.
Schön, dass es dir gefällt^^


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