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Just Kai.

von

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#2: Schreibe eine Szene des Canons aus seiner Sicht.

„Kai?“

Yuriy sprach meinen Namen in einer Weise aus, die mich sofort aufhorchen ließ. Er klang irgendwie spottend und gleichzeitig etwas entsetzt. „Was?“, fragte ich vorsichtig und drehte mich zu ihm um, das Geschirrhandtuch und einen Teller noch in den Händen haltend. Yuriy stand vor dem geöffneten Vorratsschrank und hielt mit spitzen Fingern eine Dose hoch. „Sag mir bitte, dass dein Großvater die sammelt“, meinte er, „Das hier ist seit zehn Jahren abgelaufen!“

„Ich glaube, wenn er etwas sammeln würde, dann wären es alte Sowjetpanzer“, entgegnete ich, „Du siehst mich ebenso geschockt wie dich. Schmeiß es weg.“ Die Dose flog klappernd in den Mülleimer und ich wandte mich wieder der Spüle zu, um die restlichen Teller abzutrocknen.
 

Seit dem Finale der Weltmeisterschaft war etwas mehr als ein Monat vergangen. In der Stadt ragte ein verhülltes Gebäude über alle anderen hinaus, sodass es sogar vom Anwesen meines Großvaters aus zu sehen war. Dort hatte vor kurzem noch das Headquarter der BBA gestanden, doch nun war es dem neuen Wolkenkratzer gewichen, wie auch die ganze Organisation verschwunden war und alle bei ihr registrierten Blader in der Luft hängen ließ. Das war auch der Grund, warum mein Team aus Russland gekommen und im Herrenhaus eingezogen war: sie wollten vor Ort sein, wenn sich die Geheimnisse um die jüngsten Entwicklungen in der Beyblade-Szene lüfteten. Heute Nachmittag sollte die große Eröffnung sein, und wir hatten beschlossen, uns das Spektakel aus sicherer Entfernung im Fernsehen anzusehen. Boris und Sergeij hatten dies zum Anlass genommen, um die große Ledercouch im ehemaligen Raucherzimmer heute nicht verlassen zu müssen und sich von bunten Animes, die auf dem ausladenden Flatscreen liefen, zu epileptischen Anfällen verleiten zu lassen. Yuriy und ich hatten hingegen beschlossen, etwas Nützliches zu tun, und versuchten, japanisch zu kochen, da importierte europäische Lebensmittel unseren Geldbeutel weit überstiegen. Dazu musste allerdings erstmal das benutzte Geschirr von der Arbeitsfläche weichen, also hatte ich mich dessen erbarmt.
 

Yuriys Hand tauchte in meinem Blickfeld auf und griff nach dem Tellerstapel, den ich abgetrocknet hatte. Unsere Zusammenarbeit funktionierte nicht nur auf dem Tableau gut, im Gegenteil: Mag es daran liegen, dass wir uns recht ähnlich sind –wir sind ein eingespieltes Team, ob wir nun wollen oder nicht. Aber inzwischen waren alle unsere Streitigkeiten um die Führungsrolle bereinigt. Es war schwer gewesen, mich daran zu gewöhnen, nicht mehr selbst Teamchef zu sein, doch jetzt fand ich es sogar sehr angenehm. Und Yuriy war wirklich der geborene Anführer. Keinem anderen würde ich erlauben, mich so zurechtzuweisen, wie er es manchmal tat.
 

„Weißt du eigentlich, wann Voltaire sich wieder hier blicken lassen wird?“, fragte Yuriy.

„Hm. Nein, tut mir Leid.“ Im Moment hoffte ich einfach, dass mein Großvater so lange auf irgendwelchen Geschäftsreisen blieb, bis die Jungs wieder in Russland waren. Das wäre für alle das Angenehmste, denn ich wusste natürlich, wie unwohl sich die drei fühlten, sobald das Gespräch auf den ehemaligen Boss von Biovolt kam. Ich hatte versucht, sie auf eine eventuelle Begegnung vorzubereiten, indem ich erzählte, dass der Alte inzwischen tatsächlich etwas umgänglicher geworden war. Nach der Katastrophe in der ersten Weltmeisterschaft, als Biovolt aufgeflogen war, hatten nicht nur wir Abteikinder eine umfassende Therapie bekommen; nein, auch Voltaire war während seines Gefängnisaufenthalts in Behandlung gewesen. Wir hatten uns wieder zusammengerauft, sodass wir sogar das Jugendamt davon überzeugen konnten, ihm nicht das Sorgerecht zu entziehen. Das hatte einen ganz praktischen Grund: kein Pflegeelternpaar der Welt würde mir so viele Freiheiten lassen, wie Voltaire.

Ich warf einen Blick auf die große Standuhr. Uns blieb noch eine gute Stunde Zeit, bis die Übertragung anfing, und immerhin hatten wir es schon geschafft, das Reiswasser zum Kochen zu bringen.
 


 

Genau fünfundfünfzig Minuten später sah eine Hälfte der Küche so aus, als hätte dort ein Massaker stattgefunden, aber Yuriy und ich blickten auf ein genießbares Essen hinab. „Jetzt gibt es nur noch ein Problem“, meinte er, „Wie krieg ich das mit diesen Stäbchen jetzt aus der Schüssel?“

„Wirst du schon hinkriegen“, entgegnete ich und nahm meine Schüssel, „Lass uns zu den anderen gehen, geht gleich los.“
 

Gerade, als wir unser Essen durch die Eingangshalle balancierten, öffnete sich das große Portal. Yuriy blieb sofort stehen und versteifte sich wie ein Reh im Scheinwerferlicht.

Natürlich war es Voltaire, der hereinkam, gefolgt von unserem Chauffeur, der seinen Koffer trug. „Na sieh mal an“, sagte er, als er mich entdeckte, „Welch‘ seltener Gast in meinem Hause!“

„Hi Opa“, begrüßte ich ihn, „Ich hab mein Team eingeladen, okay?“

„Welches?“

Autsch. Großvater hatte ein verdammt gutes Gespür für meine wunden Stellen. Mein ständiger Teamwechsel gehörte dazu, auch wenn ich es nie zugegeben hätte. „NeoBorg“, antwortete ich kurz angebunden.

„Sieh an“, sagte er im langgezogenen Moskauer Dialekt, und sein Blick fiel auf Yuriy. „Zdrastvuj.“

„Zdrastvujtje“, entgegnete Yuriy steif und ich hörte, wie er das G von Gaspadin ansetzte, es sich aber im letzten Moment verkniff. Für Voltaire schienen damit alle nötigen Floskeln ausgetauscht worden zu sein, denn er sah sich kurz in seinem Heim um und wirkte, als würde er überlegen, was er nun mit seiner freien Zeit anstellen sollte. „Hier riecht es gut“, bemerkte er, „Habt ihr gekocht? Japanisch?“, fügte er hinzu, als er die Schüssel in meiner Hand sah.

„Es ist nichts übrig“, sagte ich und stieß Yuriy an, damit wir endlich unseren Weg fortsetzen konnten. „Und geh lieber nicht in die Küche…“
 

Als wir das Raucherzimmer betraten, hatte die Übertragung schon angefangen, aber bis jetzt sah man nur die Menge vor dem noch immer verhüllten Gebäude und hörte eine Stimme aus dem Off, die nur das wiederholte, was schon in den letzten Wochen in den Medien gesagt worden war.

„Ich glaube, die BBA Revolution und Max sind da irgendwo“, meinte Boris, der neidisch auf Yuriys Essen schielte, „Jedenfalls hab ich sie kurz gesehen, denke ich.“

„Würde mich nicht wundern“, entgegnete ich, während ich mir den ersten Bissen in den Mund schob.

Und dann wurde schließlich die große Plane entfernt, mit dem das Gebäude verdeckt gewesen war. Erst im letzten Moment entdeckte ich, dass sie den Schriftzug „BEGA“ trug, doch allzu lange konnte ich mir darüber keine Gedanken machen, denn Sergeij stieß einen Pfiff aus und Boris kommentierte trocken: „Nicht schlecht.“

„Ziemlicher Protzbunker“, ließ Yuriy verlauten, „Muss ja Geld haben wie Heu, der neue Chef… Es ist nicht zufällig Voltaire, Kai?“

„Nein.“
 

Die Antwort war nicht von mir gekommen. Wir drehten uns zu meinem Großvater um, der im Türrahmen stand und interessiert das Geschehen auf dem Bildschirm betrachtete. „Ich weiß genauso viel, wie ihr“, meinte er und kam schließlich herein. Ich musste wohl oder übel den ausladenden Sessel für ihn räumen und setzte mich neben Yuriy auf das Sofa. Sergeij und Boris wirkten alarmiert, doch da weder unser Teamchef noch ich uns bei Voltaires Anblick in die Hosen machten, nahmen sie seine Anwesenheit zähneknirschend als gegeben hin. Vielleicht, überlegte ich, war es ja gar nicht so schlecht, dass mein Großvater so in die Offensive ging. Abgesehen von seinem gelegentlichen geschäftlichen Größenwahn, den eine Firma wie seine jedoch auch irgendwie voraussetzte, hatte er sich ja tatsächlich gebessert. Man könnte inzwischen sogar manchmal meinen, dass er mich wirklich mochte. Und ich ihn, irgendwie. Auch wenn er mich in seine hirnverbrannten Pläne mit hineingezogen, und auch wenn er mir damit die erste Hälfte meiner Kindheit verdorben hatte –ich war immer noch stolz auf den Namen Hiwatari. Wären wir eine einfache Familie, hätte ich mich schon längst von ihr losgesagt. Aber dann wäre wahrscheinlich auch alles ganz anders gekommen. Doch so hatte ich mich dafür entschieden, zu versuchen, meinen Großvater zu verstehen. Und das klappte erschreckend gut. Ich war ihm so verdammt ähnlich…
 

„Also, Gaspadin Hiwatari“, setzte Yuriy an und ich bewunderte ihn kurz für die Entschlossenheit in seiner Stimme, „Haben sie auch gar keinen Verdacht, wer hinter BEGA stecken könnte?“ Ich glaube, Boris und Sergeij hielten kurz die Luft an, als hätten sie Angst, dass Großvater Yuriy in der Luft zerreißen könnte, weil er das Wort an ihn gerichtet hatte. Doch Voltaire verschränkte nur die Hände vor seinem Bauch. „Nein“, wiederholte er, „Ich weiß nicht einmal, was man von dieser Sache überhaupt zu halten hat. Zwar habe ich mich in den letzten Jahren aus den Angelegenheiten der BBA heraushalten müssen, aber ich wusste doch immer grob über alles Bescheid. Es gab gewisse Anzeichen dafür, dass Veränderungen vor der Tür standen, aber nur in einem sehr geringen Rahmen. Ich glaubte, mit der neuen Weltmeisterschaft wäre das gegessen. Aber die jüngsten Entwicklungen sind schon sehr seltsam. Stanley Dickinson ist wie vom Erdboden verschluckt. Es gibt Gerüchte über ein paar ominöse Verhandlungen, die ohne sein Beisein geführt wurden. Aber man weiß nichts Genaues, oder besser: Niemand weiß überhaupt irgendwas.“

Ich hob eine Augenbraue. Wenn selbst mein Großvater das sagte, der doch wie ein altes Klatschweib hinter jeder Neuigkeit her war, dann hatten diese BEGA-Jungs wirklich ganze Arbeit geleistet.
 

„Da passiert was“, brummte Sergeij auf einmal und nickte in Richtung des Bildschirms, der sofort wieder unsere gesamte Aufmerksamkeit hatte. Plötzlich stand eine Bühne vor dem Gebäude; niemand hatte gesehen, wo sie plötzlich herkam.

„Was brüllt der Typ da?“, fragte Boris und meinte den Moderator, der in schnellem Japanisch vor sich hinfaselte.

„Ähm…“ Ich hörte genauer hin, „Irgendwas von einem weltgrößten Popstar…“

„Hä? Haben die Madonna engagiert, oder was?“

„Schlimmer“, kommentierte Yuriy, „Leute, was ist das?“ Er deutete auf den Fernseher, wo aus einer rosa Glitzerwolke ein Mädchen aufgetaucht war, das jetzt mit einer übersüßten Piepsstimme vor sich hinbrabbelte und dann auch noch anfing zu singen.

Keiner sagte ein Wort. Wie ein Mann starrten wir sprachlos auf den Bildschirm, unfähig, die Augen von diesem Desaster abzuwenden. Ich glaube, mir stand sogar der Mund ein Stück offen.
 

Nach drei Minuten war alles vorbei, doch dann wurde es eigentlich erst wirklich spannend. Urplötzlich hatte sie einen Shooter und ein Beyblade in der Hand, man hatte gar nicht gesehen, woher sie die genommen hatte. Sie startete den Blade und ließ ihn auffordernd seine Runden zu ihren Füßen drehen.

„Die ist keine Anfängerin“, stellte Yuriy fest und erntete von uns allen zustimmendes Nicken. Wenn man so einen Instinkt für den Sport hat, wie wir, sieht man auf einen Blick, wer das Zeug zum Profi hat und wer nicht. Und dieses Mädchen startete nicht zum ersten Mal einen Blade.

Auf der anderen Seite der Absperrung entstand Bewegung. Mit leichtem Erstaunen sah ich, wie sich Kinomiya, Max und Daichi vor der Sängerin aufbauten, die ihnen herausfordernd entgegensah. Sie hatte unsere Kollegen wohl provoziert. Nun, dazu gehörte ja bekanntlich nicht viel, aber was sollte das? Wenn die BEGA einen Showkampf wollte, hätte sie die BBA Revolution doch fragen können.

„Was soll der Mist?“, fragte nun auch Boris unwirsch. Ein kurzer Seitenblick zeigte mir die missbilligend verzogenen Gesichter meiner Teamkameraden. Sie hätten sich nie auf so etwas eingelassen; spontane Kämpfe gegen unbekannte Gegner, die so hochtrabend daherkamen –Team NeoBorg hätte nur mitleidig gelächelt und wäre gegangen.
 

Der Kampf war schneller vorbei, als es der BEGA lieb hatte sein können. Die seltsame Sängerin –hieß sie MingMing? Irgendwie brachte ich den Namen mit ihr in Verbindung, wahrscheinlich hatte ich ihn aufgeschnappt– schickte ihre Band vor, die Kinomiya und die anderen natürlich binnen Minuten schlugen. Doch zu einem Showdown zwischen MingMing und den ehemaligen Bladebreakers sollte es nicht kommen, denn ein Mann betrat die Bildfläche, der sofort von allen Kameras erfasst wurde.
 

Etwas fiel klirrend zu Boden. Ich weiß bis heute nicht, was es war.

„Das…darf doch nicht wahr sein…“, murmelte Boris, der von uns allen als erstes die Sprache wiedergefunden hatte. Wir anderen wollten unseren Augen wohl noch nicht trauen.

Es war Volkov, dessen Gesicht beinahe den ganzen Fernsehbildschirm ausfüllte. Er hatte sogar wieder eine seiner bescheuerten Brillen auf.
 

Ich hörte, wie Yuriy neben mir zittrig ausatmete, als wäre ihm urplötzlich kalt geworden. Endlich konnte ich mich wieder rühren und blickte mich um: Meinem Team stand das blanke Entsetzen im Gesicht. Alle Farbe war aus ihren Wangen gewichen, und als ich Yuriy eine Weile betrachtete, merkte ich, dass nicht nur sein Atem zitterte. Sogar Voltaire schien die Fassung verloren zu haben. Seine Augen waren weit aufgerissen.
 


 

Den Rest des Tages verbrachten wir schweigend. Boris ging irgendwann in den Keller, wo ein paar Fitnessgeräte standen. Man hörte schon von weitem, wie er sie malträtierte. Sergeij lief über das Grundstück; er tauchte in regelmäßigen Abständen in Sichtweite des Hauses auf, schien aber nicht auf seinen Weg zu achten. Voltaire hatte es sich zur Aufgabe gemacht, alle Informationen zu sammeln, die er über BEGA kriegen konnte. Er hatte sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen.

Und ich saß im Sessel in einem unserer Gästezimmer und sah Yuriy an, der wiederum auf dem Bett lag und die Decke anstarrte. Ich glaubte, ihn nur ganz selten blinzeln zu sehen.
 

Wenn es nach mir gegangen wäre, stände ich schon längst im BEGA-Gebäude und würde auf Volkov einprügeln. Nebenbei hätte ich alle Kontakte, die der Firma meines Großvaters zur Verfügung standen, dafür genutzt, BEGA wirtschaftlich zu ruinieren, damit die Organisation keine drei Tage alt wurde.

Aber ich hielt mich zurück und sagte nichts. Yuriy war mein Teamchef, und ich vertraute ihm. Er war der einzige, der mir sagen konnte, was ich zu tun oder zu lassen hatte und darauf hoffen durfte, dass ich auch tat, was er wollte.
 

Als es draußen langsam dunkel wurde, hielt ich es aber nicht mehr aus. „Und?“, fragte ich gereizt, „Was wollen wir machen?“

Yuriy richtete sich langsam auf. „Du machst gar nichts, Hiwatari“, sagte er bestimmt.

„Wie bitte?“

„Sei still. Das hier ist unser Problem. Du hast schon lange nichts mehr mit der Abtei und mit Volkov zu tun.“ Ich hatte noch immer den Mund geöffnet, um meinen Protest laut kundzutun, doch Yuriy sah mich mit einem Blick an, bei dem mir jedes Wort im Halse stecken blieb. „Ich sagte, sei still“, wiederholte er, „Ich weiß, was du denkst. Aber deine Wut ist nichts im Vergleich zu unserer. Boris, Sergeij und ich werden Volkov zur Rede stellen. Und du bleibst hier.“

„Aber ich bin Mitglied von NeoBorg!“, brauste ich auf und sprach damit wohl zum ersten Mal aus, was für mich zur Selbstverständlichkeit geworden war. „Und ich war auch in der Abtei. Ich habe ebenfalls ein Recht auf Vergeltung!“

„Glaubst du, dass das so leicht wird?“
 

Ich drehte mich um und sah Boris im Türrahmen lehnen. Hinter ihm ragte Sergeij auf. „Du hast doch diese MingMing gesehen, Kai“, fuhr Boris fort, „Die sieht nur süß aus. In Wirklichkeit ist sie garantiert ein gefährlicher Gegner. Wenn Volkov etwas macht, dann macht er es richtig. Überlass ihn uns.“

„Aber-“

„Gott, ich ertrage deine Arroganz nicht, Hiwatari!“, fuhr er mich an, „Kapierst du es nicht? Es geht nun mal nicht immer alles nach deinem Willen!“

In mir schwappte die Wut hoch. Boris war schon immer derjenige gewesen, der am meisten dagegen einzuwenden hatte, dass ich in sein Team gekommen war. Vermutlich, weil ich seinen Platz als Yuriys Partner eingenommen hatte. Ich zog die Luft ein, um ihm unschöne Dinge an den Kopf zu werfen, doch Yuriy unterbrach mich.

„Kai, du musst hier bleiben“, sagte er, „Wenn irgendwas passiert…und du weißt sehr genau, dass das bei jemandem wie Volkov mehr als wahrscheinlich ist…dann ist es besser, wenn noch jemand aus unserem Team da ist.“

Ach, jetzt bin ich wieder ein tolles Teammitglied?!

Dieser Gedanke lag mir auf der Zunge, aber ich schluckte die Worte herunter. Was hatten sie vor? Wollten sie in die BEGA reinmarschieren und Volkov einfach so zur Rede stellen?
 

„Ihr solltet euch etwas Besseres einfallen lassen“, meinte ich, als mir aufging, dass genau das ihr Plan war. Doch ich erntete nur Kopfschütteln.

„Mit ein bisschen Glück brechen wir einen saftigen Skandal vom Zaun und knacksen Volkovs Saubermannimage an“, erklärte Yuriy. Ich sah ihn skeptisch an. Das alles hörte sich für mich nach einem gewaltig sinn- und effektlosen Unterfangen an.

„Wir haben ihn einmal klein gekriegt, es wird wieder klappen“, kommentierte Boris. Doch natürlich zweifelte ich noch immer, wenn nicht sogar ein bisschen mehr. Ich brauchte einige Augenblicke, um meine Gedanken zu ordnen. Dann stellte ich klar: „Okay. Ich werde hierbleiben. Tut, was ihr wollt, ich mische mich nicht ein. Aber eins sage ich euch: Wenn Volkov euch einfach so aus dem Weg räumt und euer kleiner Aufstand an ihm abprallt –und ich habe das dumme Gefühl, das wird er– werde ich in die BEGA einsteigen.“

„Bitte was?!“, rief Boris, doch ich hob die Hände. „Das ist mein Plan“, erklärte ich, „Ich sehe mir an, was Volkov überhaupt erreichen will und vor allem, wie. Welche Möglichkeiten er hat. Und dann werde ich einen Weg finden, BEGA dem Erdboden gleichzumachen.“
 

„Das ist typisch Hiwatari“, brummte Boris und klang dabei sogar ein wenig angewidert. „Ihr macht immer alles hinterrücks. Bloß nicht zu viel sagen! Immer schön geheimnisvoll bleiben. Ganz ehrlich, da ist mir die Haudrauf-Methode lieber. Wir kriegen das schon hin.“ Mit einem Blick schleuderte ich ihm meine ganze Skepsis entgegen. Was sollte ich auch anderes tun? Sie ahnten es vielleicht nicht, aber ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass ich sie nicht mehr umstimmen konnte. Es machte mir Angst. Ich fühlte mich in meine Kindheit in der Abtei zurückversetzt. In der Abtei blieb niemand irgendwo allein, das war die oberste ungeschriebene Regel. Such dir jemanden, häng dich an ihn dran und bleib niemals zurück. Je größer und stärker der Typ ist, an den du dich hängst, desto besser.
 

Ich blieb stumm und taxierte sie weiter, einen nach dem anderen. Doch es half nichts. Natürlich nicht. Sie hatten mich völlig ausgeblendet.

Sie würden tun, was sie tun mussten, und ich war mir sicher, dass es schief gehen würde. Gewaltig schief.

#5 Schreibe aus der Sicht einer Nebenfigur über den Charakter.

Der Junge hatte das hübsche Gesicht seiner Mutter. Je älter er wurde und je deutlicher sich seine Züge formten, desto besser konnte Voltaire es erkennen.

Seine Schwiegertochter war eine äußerst schöne Frau und über fünf Ecken sogar mit seinem Sohn verwandt, weswegen er, der er für das Bestehen seines Clans sorgen musste, ihre Heirat damals eher noch vorgezogen denn verhindert hatte. Natürlich war eine solche Verbindung trotzdem legitim: Die Verwandtschaft war gerade so weit entfernt, dass man alles guten Gewissens arrangieren konnte.

Kai würde seine Herkunft nie verleugnen können: Er hatte die für einen Hiwatari typischen dunklen, glatten Haare und vor allem die außergewöhnliche Augenfarbe. Doch dank seiner Mutter durfte er auf ein paar andere Eigenheiten verzichten: Normalerweise hatten die männlichen Verwandten Voltaires zum Beispiel eine ziemlich große, gebogene Nase –die seines Enkels war aber sehr gerade und wirkte vergleichsweise sogar zierlich. Außerdem hatte er deutlich erkennbare Wangenknochen, anstelle derer bei vielen anderen Familienmitgliedern ein markanter Kiefer dem Gesicht den Ausdruck verlieh.
 

Voltaire sah noch einmal kurz hin. Ja, das waren ihre Züge. Und das machte die Erziehung dieses Bengels nicht gerade einfacher, denn wenn er mal lächelte, dann war es das unwiderstehlich charmante Lächeln der Mutter. Zugegeben, er konnte ihn auch zu ihr nach Russland schicken, sie würde sich bestimmt freuen, den Jungen öfter als zweimal im Jahr zu sehen, aber das würde die vielen Fehltritte, die er sich mit Kai schon erlaubt hatte, nicht gerade ausradieren. Sein Enkel würde ihn wahrscheinlich eher dafür hassen, dass er ihn schon wieder abschob, als sich darüber zu freuen, seiner Mutter so nah zu sein, gerade jetzt, wo sie sich wieder halbwegs zusammengerauft hatten.

Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, wollte Voltaire Kai auch gar nicht loswerden. Allein die Vorstellung, dann ganz allein in diesem großen Herrenhaus wohnen zu müssen… Kai ließ sich zwar auch nur allzu selten blicken, aber immerhin, er tat es.
 

Voltaire ließ die Zeitung ein Stück sinken und blickte erneut zu dem Jungen, der an der anderen Seite des Tisches saß und scheinbar in Gedanken versunken in seinem Kaffee rührte. Kai sah mitgenommen aus. Über seine Unterarme und das Gesicht zogen sich unzählige Kratzer. Seine Haut war fahl und unter seinen Augen hatten sich tiefe, dunkle Ringe gebildet. Aus seinem Kragen lugte ein Stück des Verbandes hervor, der sich über den ganzen Oberkörper zog und etwas verbarg, wegen dem Kai sich nur langsam und vorsichtig bewegte.
 

Voltaire hatte es nicht sehen können, aber er wusste, der Kampf gegen Brooklyn war der bisher schwerste in Kais Karriere gewesen. Und er hatte ihn besiegt, Volkovs Super-Blader. Natürlich machte ihn das stolz, auch wenn er verdammt froh war, erst im Nachhinein von diesem Battle erfahren zu haben. Wahrscheinlich hätte er sich unangemessen große Sorgen gemacht, hätte er alles live miterlebt. Die Folgen, die das Match auf Kais Körper hinterlassen hatte, sprachen schließlich Bände. Außerdem war Dranzer seitdem aus seinem Blade verschwunden; das hatte sein Enkel ihm erzählt. Aber die Kraft des Bit Beasts war für Kai noch spürbar, als hinge sie in der Luft, die ihn umgab, also konnte es noch nicht gänzlich fort sein, sondern wartete vielleicht nur ab und leckte seine eigenen Wunden.
 

„Großvater?“

Voltaires Blick schärfte sich wieder. Kai hatte den Kopf gehoben und sah ihn aufmerksam an; er nannte ihn nie einfach nur „Opa“, sondern sagte immer „Großvater“, manchmal sogar „Voltaire“, wenn er ganz frech wurde. Er brummte zum Zeichen, dass er zuhörte.

„Ich werde mit dem Beybladen aufhören.“
 

„Hm…“, machte er langgezogen. Vor seinem inneren Auge flammte die Bladerkarriere seines Enkels auf, die zu einem nicht geringen Teil von ihm bestimmt worden war. Er hatte ihm den ersten Kreisel in die Hand gedrückt, bevor er auch nur laufen konnte. Er hatte ihm täglich die Gründe aufgezählt, warum er besser sein musste, als die anderen Jungen in der Abtei. Er hatte ihm sein Bit Beast ausgehändigt. Er hatte an seinem Krankenbett gesessen, als der Unfall mit Black Dranzer passierte und er sich zum ersten Mal ernsthaft um den Jungen sorgte. Er hatte ihm eine neue Biografie gegeben, als er sich danach an nichts erinnern konnte, was in Russland passiert war. Er hatte ihm in den Hintern getreten, damit er zum japanischen Meister und später zum Teamchef der Bladebreakers wurde.
 

Auf der anderen Seite aber hatte er ihn auch benutzt, weil er absolut unzurechnungsfähig wurde. Er hatte ihm Black Dranzer noch einmal ausgehändigt, obwohl er genau wusste, wie traumatisch die Ereignisse seiner Kindheit sich auf Kai ausgewirkt hatten. Er hatte es riskiert, das Vertrauen seines Enkels für seine hirnrissigen Pläne zu verlieren. Und damit hatte er nicht nur ihn belogen, sondern auch seine von ihm so verehrte Schwiegertochter. Die hätte es ihm nie verziehen, wenn Kai noch einmal irgendetwas zugestoßen wäre. Auch wenn sie es ihm nicht dadurch zeigen konnte, dass sie in seiner Nähe war –das Kind war ihr größter Schatz. Schließlich war ihre Ehe damals daran gescheitert.
 

Auch daran erinnerte Voltaire sich in diesem Moment: Sein eigener, dämlicher Sohn, Susumu, hatte ihn so sehr gehasst, dass er nie Kinder haben wollte. Er wollte seine eigene Familie praktisch ausrotten. Aber da hatte er die Rechnung ohne seine Frau gemacht, die einfach aufhörte zu verhüten und prompt schwanger wurde. Zugegeben, Susumu hatte versucht, sich an das Kind zu gewöhnen. Doch irgendwann war ihm alles zu viel geworden und er war abgehauen. Im Russland der frühen Neunziger Jahre alleinerziehend zu sein, war schier unmöglich. Also wurde er, Voltaire, zum Vormund des Kleinen, denn er hatte sehr wohl die Mittel, um ihn zu versorgen.
 

Und jetzt war es, als hätte Kai mit seinem Ausspruch diese lange Geschichte endlich beendet. Das Beybladen und die familiären Irrungen und Wirrungen, alles hing zusammen. Musste dieser Verlust nicht eigentlich ein großes Loch hinterlassen? Schließlich hatte sich Kais Leben irgendwie immer um den Sport gedreht, ob er nun wollte, oder nicht.

Er war doch erst sechzehn. Doch Voltaire kam es vor, als habe sein Enkel beschlossen, den letzten Schritt zum Erwachsenwerden zu machen: Er zog einen Schlussstrich.
 

„Bist du dir sicher?“, fragte er deswegen.

„Ja“, entgegnete Kai, „Das heißt…ich werde auf keinen Fall noch einmal an einem Turnier teilnehmen. Aber mich ganz aus der Szene zurückzuziehen…ich weiß nicht, ob ich das kann.“

„Würdest du denn gerne?“

Daraufhin musste er wohl eine Weile nachdenken, denn er blieb ein paar Sekunden lang stumm. „Ja“, antwortete er schließlich wieder, „Ich…kann einfach nicht mehr…“
 


 

Nur einen Monat später waren alle Formalitäten geklärt. Der große Kai Hiwatari hatte sich vom Beybladesport verabschiedet, so lauteten die Schlagzeilen. Kinomiya war natürlich von allen am meisten schockiert gewesen und hatte versucht, seinen Vize vom Gegenteil zu überzeugen. Aber natürlich hatte Kai die ganze Sache erst erzählt, als schon alles in Sack und Tüten war. Kurz, nachdem es offiziell wurde, schlossen sich die restlichen Mitglieder von Team NeoBorg an, die Begründungen blieben vage, doch Voltaire konnte sich denken, dass ihre Motive ähnlich denen Kais waren.
 

Doch die BBA hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, den Abschied eines ihrer Spitzenblader gebührend zu feiern. Es war zwar ein trauriger Anlass für den ersten Event der neu gegründeten Organisation, doch die Stimmung war ausgelassen. Viele der anderen Weltmeisterschaftsteams waren angereist und saßen nun in dem gemieteten Saal zusammen und schwelgten in Erinnerungen. Wo immer ein Mitglied von NeoBorg auftauchte, wurde es lautstark gefragt, warum sie denn alle unbedingt aufhören mussten, denn natürlich hatte sich diese Nachricht in Windeseile herumgesprochen. Nur Kai ließ man damit in Ruhe, was irgendwie paradox auf Voltaire wirkte, der mit den anderen Erwachsenen zusammensaß und die jungen Leute beobachtete. Man akzeptierte seinen Austritt wohl stillschweigend oder traute sich nach dem ganzen Rummel, den es deswegen schon gegeben hatte, nicht mehr, ihn noch einmal danach zu fragen.
 

Kai saß bei einer Gruppe von Leuten aus verschiedenen Teams, doch man merkte, dass vor allem die ehemaligen Bladebreakers heute seine Nähe suchten, als ahnten sie etwas. Voltaire wusste, was Kai plante: Schon morgen würde er mit NeoBorg nach Russland fliegen, um bei seiner Mutter zu wohnen. Zumindest bis zum Schulbeginn, dann würde er wieder aufs Internat gehen und in aller Ruhe entscheiden, wo er seine Ferien verbrachte. Vielleicht brauchte er dann immer noch Abstand zu Japan und vor allem den Bladern, die hier lebten. Vielleicht konnte er aber auch schon wieder zurückkommen.
 

Man sah ihm natürlich nicht an, dass dies vorerst sein letzter Abend in diesem Kreis sein würde. Wie immer hatte Kai ein großartiges Pokerface aufgesetzt; ein wenig zu großartig vielleicht, denn er wirkte so abweisend, wie schon lange nicht mehr. Aber die Bladebreakers hatten gelernt, damit umzugehen. Sie sprachen wild gestikulierend durcheinander und stießen ihn öfter an, womöglich sagten sie dabei so etwas wie „Hey Kai, kannst du dich daran noch erinnern?“. Er nickte ab und zu.
 

Voltaire wandte den Blick ab und seufzte. Er durchschaute seinen Enkel zwar, doch trotz allem wusste er nicht, wie aufgewühlt er wirklich war. Aber es ging ja sogar ihm, dem eisernen Firmenchef, an die Nieren, und er war hier schließlich nur eine Nebenfigur. In einem Klatschblatt hatte er einen Artikel gelesen, in dem es pathetisch hieß, nun würde „eine Ära zu Ende gehen“. Dem musste er wohl oder übel zustimmen. Kai war seit seinem achten Lebensjahr bei der BBA registriert, ein Jahr, nachdem er nach Japan gekommen war. Seitdem hatte er auch an öffentlichen Wettkämpfen teilgenommen. Mit zwölf war er japanischer Meister geworden, und spätestens von diesem Zeitpunkt an kannte die hiesige Beyblade-Gemeinschaft seinen Namen. Mindestens vier Jahre also. Das war eine verdammt lange Zeit in dieser Szene.
 

Er hob den Kopf, als er bemerkte, dass Kai aufstand und nach draußen ging. Die restlichen Blader sahen ihm kurz nach und steckten dann wieder die Köpfe zusammen, doch Voltaire runzelte die Stirn. Der Gang seines Enkels war etwas zu abgehackt…

Er wartete noch fünf Minuten, doch da Kai noch immer nicht zurückgekehrt war, entschuldigte er sich bei Dickinson und den anderen und ging ihm nach. In den Gängen war das Licht schummriger. Das Gebäude war weitläufig; wer wusste denn, wo Kai hingegangen sein könnte? Doch Voltaire besaß den Instinkt seiner Familie: Ein Hiwatari fand einen Hiwatari meist schneller, als ihm lieb war. Darauf war bis jetzt immer Verlass gewesen.
 

Und schließlich fand er ihn, in einer Ecke weitab der Toiletten und des Ausgangs, wo man zuerst nach ihm gesucht hätte. Kai hockte im Halbdunkel, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und hatte das Gesicht in den Händen vergraben.

Oh Gott, wann hatte Voltaire den Jungen das letzte Mal weinen sehen? Irgendwann, als er klein war und sich das Knie aufgeschlagen hatte oder so. Aber nein, in der Abtei hatten sie ihm beigebracht, so geringe Schmerzen einfach über sich ergehen zu lassen. –Also als Baby? Grundgütiger. Das machte die Sache nicht einfacher.
 

Voltaire kam sich reichlich unbeholfen vor, als er sich einfach neben Kai stellte und hoffte, dass der ihn irgendwann bemerkte. Er war seinem Enkel unwahrscheinlich dankbar dafür, dass er nicht laut herumschluchzte…

Tatsächlich blickte Kai kurz darauf auf. Sein Gesicht schimmerte feucht.

„Versuch jetzt bloß nicht, mich zu trösten“, sagte er und seine Stimme klang ungewöhnlich dünn.

„Keine Sorge“, entgegnete Voltaire, „Ich weiß, das würde alles nur noch schlimmer machen.“ Er schürzte nachdenklich die Lippen. „Aber vielleicht könnte ich dir die Schulter tätscheln, was meinst du?“ Kai schnaubte unfreiwillig amüsiert. Also ließ sich Voltaire schwerfällig neben ihm nieder und klopfte ein paar Mal kräftig auf seine Schulter.

„Danke“, kam Kais sarkastischer Kommentar, „Jetzt geht es mir viel besser.“

„Ach, halt die Klappe“, brummte Voltaire.

#7 Beschreibe einen Tag aus seiner Kindheit

„Wir haben die Kippen, jetzt will ich auch die Bezahlung sehen!“

„Wenn ich es doch sage…! Ich hab nix zum Bezahlen!“

„Tja, dann kriegst du auch keine Kippen.“

„Ich verprügle dich, Yuriy Alexandrowitsch!“

„Dazu musst du mich erstmal kriegen!“
 

Yuriy packte seine Hand und zog ihn hinter sich her. Kai blieb gar nichts anderes übrig, als so schnell zu laufen, wie seine Beine ihn tragen konnten. Und selbst das reichte kaum aus, um mit dem Älteren Schritt zu halten. Erst, als sie einige Haken geschlagen und sich in einer sicheren Ecke verkrochen hatten, ließ Yuriy ihn wieder los. „Scheiße“, fluchte er dann, „Die ganze Arbeit umsonst.“

Missmutig blickten sie beide auf die Packung Zigaretten hinab, die sie heute Morgen todesmutig im Univermag geklaut hatten –in Erwartung, zum Tausch eine Handvoll Kaugummis zu bekommen.
 

„Und jetzt?“, fragte Kai rhetorisch, denn er hatte sofort einen neuen Vorschlag parat: „Wir können zurück zum Univermag gehen, dann schleich ich mich dieses Mal rein und klau uns halt selber Kaugummis.“

„Aber die stehen direkt vor der Nase von Dimitrij Pablowitsch“, gab Yuriy zu bedenken, „Das schaffen wir niemals.“

„Ja, aber wo sollen wir jetzt mit den Kippen hin?“ Wegwerfen wäre unsinnig gewesen nach all der Mühe. Und in ihrem Zimmer verstecken konnten sie die Packung auch nicht, denn diese wurden allabendlich kontrolliert.

„Oh, ich hab’s!“, fiel ihm dann ein, „Wir können zu Antonin gehen und fragen, ob wir Sobatschka dafür den Tag über haben dürfen.“

Yuriy sah ihn zweifelnd an. „Nee, das lohnt sich nicht“, meinte er, „Ich geb doch dem Penner keine Kippen, damit ich seinen Hund Gassi führen kann. Vor allem dann nicht, wenn ich dich mit deinem Babygesicht vorschicken kann und wir Sobatschka umsonst kriegen.“ Er sprach sehr gedehnt und von oben herab, immer darauf bedacht, seine Stimme tiefer klingen zu lassen, als sie war. Das hatte er sich von den älteren Jungen abgehört, wusste Kai. Und natürlich konnte er das „Babygesicht“ nicht auf sich sitzen lassen und zeigte Yuriy die Feige. Dummerweise nahm der ihn trotzdem kein Stück ernster. Er war es, der die Kippen geklaut hatte, also durfte er jetzt auch bestimmen, was weiter passierte.

Plötzlich leuchteten seine Augen hell auf. „Ich weiß was!“, rief er aufgeregt, „Du kennst doch Dima? Bei dem war ich doch neulich, als wir rausdurften. Der hat eine große Schwester, Ljudmila. Und weißt du, wo die arbeitet?“ Kai sah ihn gespannt an. „Bei McDonald’s.“ Jetzt strahlte auch Kai übers ganze Gesicht, denn er wusste nun, was sein Freund vorhatte.

„Coca-Cola!“, riefen sie gleichzeitig.
 

Ein paar Metrostationen von der Abtei entfernt befand sich ein Pepsi-Automat, der einzige im ganzen Viertel. Yuriy und Kai verbrachten einige ihrer freien Tage damit, die ganze Umgebung nach Kopeken abzusuchen, die die Leute verloren hatten oder sich ein bisschen Kleingeld zu erbetteln, um dann später eine Flasche Pepsi aus dem Automaten zu ziehen. Doch viele der Jungen, die sie in der Stadt trafen, erzählten, dass Coca-Cola ganz anders schmeckte, als Pepsi-Cola. Und das mussten sie natürlich ebenfalls ausprobieren. Nur leider gab es Coca-Cola bis jetzt nur bei McDonald’s, und davon gab es nur einen in ganz Moskau.
 

Ihre Chancen, nun endlich in langersehnten Genuss zu kommen, standen gar nicht mal schlecht. Yuriy hatte eine Westmarke geklaut, und für so teure Kippen bekam man schon so einiges. Außerdem war es noch nicht mal Mittag; sie hatten praktisch noch den ganzen Tag Zeit. Wenn es in der Abtei einen freien Tag gab, dann war es den Aufsehern auch vollkommen egal, wo die Jungen ihn verbrachten. Hauptsache, es waren abends alle wieder da. Natürlich hatten schon viele versucht, so von der Abtei abzuhauen, aber sie wurden immer schnell gefunden.

Kai dachte nie auch nur daran, es ihnen gleichzutun. Er hätte eh keine Chance gehabt, denn sein Großvater leitete die ganze Anstalt. Wirkliche Alternativen gab es für ihn da draußen auch nicht: Er könnte zu seiner Mutter gehen. Aber die konnte ihn nicht durchbringen. Sie war selber immer knapp bei Kasse und arbeitete sich den Arsch ab, um überhaupt über die Runden zu kommen. Die andere Möglichkeit war, sich den Banden von Straßenjungen anzuschließen, und das war einfach nur komplett schwachsinnig. Schließlich ging es ihnen hier in der Abtei gar nicht so schlecht. Wenn man sich an die Regeln hielt und gut bladete, bekam man immer drei Mahlzeiten pro Tag und ein warmes Bett. Und Kai war ein guter Blader, genauso wie Yuriy, also brauchten sie sich keine Sorgen zu machen.
 

„He, wo wollt ihr denn hin?“, rief ihnen jemand hinterher, als sie das Gelände verließen. Ein Blick zurück sagte ihnen, dass es Boris war, der ihnen folgte, zusammen mit Ivan. „Ihr macht immer alles alleine“, quengelte der Jüngste.

„Wo ist Sergeij?“, fragte Yuriy, ohne auf Ivan einzugehen.

„Der darf mit den Älteren abhängen“, brummte Boris, „Ich glaube, sie rauchen irgendwo heimlich.“

„Nee, können sie gar nicht, sie haben nämlich gar keine Kippen.“ Und so erzählte Yuriy den beiden die ganze Geschichte. Natürlich wurden auch Boris und Ivan von der Cola-Euphorie gepackt und wollten nun unbedingt mitkommen.

„Aber wir kriegen bestimmt nur eine Flasche für die Kippen!“, wandte Kai ein und stützte die Arme in die Hüften, „Das ist doch viel zu wenig für uns alle!“

Ivan dachte kurz nach. „Na dann besorgen Boris und ich halt noch eine Flasche Wodka oder so“, schlug er vor, „Dann können wir zwei Flaschen verlangen.“

„Gute Idee“, stimmte Yuriy zu, „Aber nicht im Univermag, da waren wir heute schon.“ Doch Ivan winkte mit einer kaufmännischen Geste ab. „Ich frag Pavel. Der schuldet mir noch was. Und er hat immer irgendwo ein bisschen Wodka.“ Und schon wuselte er davon.
 

Es dauerte nicht einmal eine Viertelstunde, bis er wiederkam. Zu viert gingen sie zur nächsten Metro-Station und fuhren schwarz ins Zentrum der Stadt zum Puschkin-Platz. Dort leuchtete das große, gelbe M ihnen vielversprechend entgegen, und daneben stand der rot-weiße Schriftzug, dessen lateinische Buchstaben sie nicht lesen konnten; aber das war auch nicht nötig, denn sie wussten ja, was dort stand.
 

„Ich geh rein und frag, ob Ljudmila da ist“, sagte Yuriy, „Und dann bring ich sie raus. Sonst kriegt sie noch Ärger von ihrem Chef.“ Die anderen nickten beifällig. Sie kannten die Geschichten über das erste McDonald’s-Restaurant: Ganz am Anfang, noch zu Sowjetzeiten, als sie alle noch Babys gewesen waren, hatte man die Burger auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Na klar musste der Chef da auch heute noch aufpassen.

Yuriy war nur ein paar Minuten weg, dann winkte er sie zum Hintereingang, wo eine junge Frau stand. Sie war ziemlich rundlich; die seltsame Schürze stand ihr nicht –aber es hätte wohl auch keine einzige Frau in der ganzen Stadt gegeben, die so einen Fummel freiwillig tragen würde. Ihre dunklen Mandelaugen musterten sie nacheinander mit einem gelangweilten Blick. „Was habt ihr?“, fragte sie gedehnt.
 

„Kippen und Wodka“, sagte Yuriy.

„Selbstgebrannt?“

„Was denn sonst?!“, antwortete Ivan.

„Ja, was fragst du?“, sagte Ljudmila, „Ich weiß, wo ihr herkommt. Ihr Jungs klaut wie die Elstern. Woher soll ich wissen, was ihr mir unterjubelt?“

„Hier, die Kippen sind noch zu.“ Yuriy zog die Packung aus seiner Tasche und zeigte ihr das Siegel.

„Und hiervon kannst du gerne einen Schluck kosten“, fügte Ivan hinzu und holte seine Flasche heraus. Ljudmila nahm sie ihm ab und roch am Inhalt, als sie sie geöffnet hatte.

„Ziemlicher Schund. Aber er scheint stark zu sein“, sagte sie. Sie wog die „Ware“ in den Händen, als wolle sie anhand des Gewichts noch mal die Echtheit prüfen, dann zuckte sie mit den Schultern. „Na gut. Zwei Mal sagst du, ja?“, fragte sie Yuriy, „Ich geb euch zwei mittlere dafür. Mit Eis?“

„Klar“, behauptete der Rothaarige, obwohl er offensichtlich weniger Ahnung von einer Fastfoodbestellung hatte, als er zugeben wollte. Ljudmila verbarg Wodka und Zigaretten unter ihrer Schürze und ging wieder hinein. Kurze Zeit später kam sie wieder, diesmal jedoch in Eile. „Schnell, nehmt und verzieht euch“, sagte sie und hielt ihnen eine Papiertüte hin, „Gerade hat jemand einen Burger vermasselt. Der wäre sowieso im Müll gelandet, also hab ich ihn mit reingestopft. Und jetzt ab!“ Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Yuriy schnappte sich die Tüte und sie verschwanden so schnell es ging im Gewirr der Leute auf der Straße.
 

Während der Rückfahrt in der Metro packte Yuriy aus: Die Tüte enthielt zwei Pappbecher voll Coca-Cola und einen in fettiges Papier eingewickelten Burger, den sie kritisch beäugten.

„Sieht…ziemlich räudig aus“, stellte Kai fest und hob die obere Brötchenhälfte an.

„Beiß ab, ich will wissen, wie es schmeckt“, befahl Yuriy, woraufhin er einen Blick von Kai kassierte, der andeuten sollte, dass der ihn gerade für verrückt erklärte. In diesem Moment griff Boris nach dem Burger und biss todesmutig hinein. Die anderen beobachteten gespannt, wie er kaute und schluckte.

„Es schmeckt nach…“ Boris blickte nachdenklich nach oben, „Also…irgendwie nach gar nichts Besonderem. Soße. Und Fett.“ Daraufhin ließen sie das Teil einmal kreisen, sodass jeder ein Stück abbekam. Wenig begeistert kaute Kai auf seinem Bissen herum und war froh, dass als nächstes die Cola kommen würde. Einen Becher bekamen Ivan und Boris, den anderen teilte er sich mit Yuriy. Natürlich musste er dem Rothaarigen den Vortritt lassen, und dieser nahm auch gleich einen verdammt großen Schluck, sodass Kai beinahe Stress gemacht hätte, weil er fürchtete, nichts mehr abzubekommen. Doch dann wurde der Becher an ihn weitergereicht und er schmeckte zum ersten Mal Coca-Cola, leicht verdünnt durch die tauenden Eiswürfel und bei weitem nicht so prickelnd wie direkt aus der Flasche. Aber er merkte es: Irgendwas war anders, wirklich.
 


 

Jahre später saßen sie am anderen Ende der Welt in einem McDonald’s: Yuriy, Kai, Boris und Sergeij an Ivans Stelle. Zwischen ihnen standen vier große Becher Cola, doch nur Sergeij aß einen Burger. Kai und Yuriy teilten sich eine Portion Pommes und Boris verzichtete ganz auf feste Nahrung.
 

In diesem Augenblick erinnerte Kai sich daran, an Russland, wo in den Jahren des Umschwungs alles möglich schien. Als Kind hatte er keine Ahnung gehabt von Jelzin oder den letzten Nachwehen von Glasnost und Perestroika, auch wenn das inzwischen die magischen Worte zu sein schienen, mit denen alles begonnen hatte. Es hatte ihn nicht interessiert; seine Welt waren die Abtei, die marmornen Metrostationen, die Straßen Moskaus gewesen.
 

Er überließ Yuriy den Rest Pommes. „Das ist jetzt über zehn Jahre her“, sagte er, „Und das Essen schmeckt immer noch scheiße.“

#9 Lass ihn etwas vollkommen Unvorhersehbares tun.

„Rei-nii!“

Sobald er aus seinem Hotelzimmer trat, fiel Mao ihm um den Hals. „Alles, alles Gute zum Geburtstag, Rei!“, jauchzte sie in sein Ohr und er litt einige Sekunden lang unter Luftmangel, was er jedoch lächelnd hinnahm. Mao war immer so, besonders, wenn ein Mitglied von Baihuzu Geburtstag hatte.
 

„Danke, danke“, sagte er schließlich und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Rei mochte es eigentlich nicht, wenn jemand ihm so lautstark gratulierte, denn das lockte in der Regel zehn weitere Personen an. Aber hier im Gang waren nur sie, und jetzt traten endlich auch die anderen vor, um ihn kurz zu umarmen. Dann gingen sie hinunter in das Restaurant des Hotels, wo es ein Frühstücksbuffet für alle Teams der Weltmeisterschaft gab. Überraschenderweise waren sie heute die ersten. Ansonsten saß Team NeoBorg bereits an seinem Tisch, wenn sie kamen. Vor jedem stand eine große Tasse Kaffee; Boris wertete die letzten Matches auf seinem Laptop aus, Yuriy sah ihm über die Schulter, Sergeij las die Zeitung, sofern er an eine englischsprachige herankam, und Kai schien mit offenen Augen zu schlafen. Das war eigentlich das normale Bild, das sich ihnen jeden Morgen bot; doch heute fehlte NeoBorg gänzlich.

„Wahrscheinlich trainieren die schon“, meinte Lai, der Reis Blick bemerkt hatte, „Sie treten übermorgen gegen Barthez Soldiers an.“

„Hm“, brummte Rei, und dieser Ton enthielt sowohl eine Zustimmung als auch den Wunsch, dass NeoBorg sie in Grund und Boden bladeten. Zwar musste er zugeben, dass die Mitglieder dieses Teams sehr nett und sympathisch waren, doch mit ihrer Art zu Bladen war er noch immer nicht einverstanden.
 

Sie ließen sich heute Zeit für ihr Frühstück, denn Rei wollte noch eine Ansage machen, sobald die für ihn wichtigsten Teams versammelt waren. Baihuzu hatten beschlossen, seinen Geburtstag zum Anlass zu nehmen, um die Stimmung unter den Bladern ein wenig zu heben. Selbst Rei hatte inzwischen die Nase voll von den gegenseitigen Anfeindungen. Er wollte nur noch bladen, und zwar wenn möglich in Freundschaft. Sie alle standen unter Stress, und da würde eine kleine Ablenkung guttun. Und außerdem hatten sie morgen einen freien Tag.
 

Als endlich auch die BBA-Revolution vollzählig anwesend war, erhob Rei sich von seinem Platz und räusperte sich vernehmlich. Augenblicklich wurde es still: F-Sangre, PPB All Starz, BBA-Revolution und Barthez Soldiers sahen zu ihm auf. NeoBorg fehlten immer noch, aber mit ein bisschen Glück traf er sie heute noch, oder die Nachricht sprach sich herum.

„Also, einige von euch wissen vielleicht, dass ich heute Geburtstag habe“, begann Rei und hob sofort die Hände, als sich die ersten Münder öffneten, „Keine Glückwünsche, bitte! Verschiebt das auf heute Abend. Ich lade euch nämlich hiermit zu einer kleinen Party ein, die mein Team veranstalten wird. Wir haben uns den größeren Freizeitraum des Hotels freihalten lassen und treffen uns dann um Acht heute Abend. Für Getränke und Knabberzeug sorgt das Hotel, aber wenn jemand noch was mitbringen möchte, ist das natürlich gerne gesehen. Wir hoffen auf zahlreiches Erscheinen –und keine Angst, wir beißen nicht!“

Als er sich setzte, erklang zustimmender Applaus.
 


 

Um Viertel nach Acht war der Freizeitraum bereits ordentlich gefüllt: Auf der einen Seite stand ein Buffet, auf der anderen ein paar Sofas, und Kiki hatte gerade die Musikanlage zum Laufen gebracht. Es hatten tatsächlich alle Teams ihr Kommen angekündigt. F-Sangre, die PPB All Starz und BBA-Revolution waren schon da, und gerade schneiten Barthez Soldiers herein. Die Begrüßung war etwas verlegen, aber Rei bemühte sich, trotz allem, was zwischen ihnen stand, herzlich zu sein. Im Moment war der Wettkampf zweitrangig. Dann zauberte Mathilda einen Kuchen hervor, den sie selbst gebacken hatte, und spätestens ab diesem Augenblick konnte Rei ihnen nicht mehr wirklich böse sein.
 

„Hey, habt ihr gar keinen Alkohol?“, fragte Rick laut und erntete ein Grummeln von Lai: „Natürlich nicht, du Hornochse, die Getränke kommen vom Hotel, und die wissen, dass wir alle noch minderjährig sind.“

Bevor er für den Hornochsen einen Schlag kassieren konnte, ging Mao beschwichtigend dazwischen. „Na, Jungs, bleibt ruhig. Wenn es gar nicht ohne geht, können wir später noch was kaufen gehen; es gibt hier einen Kiosk um die Ecke.“ Die beiden Streithähne verstummten fürs Erste.
 

Bald vermischten sich die Teams und bildeten kleine Grüppchen, in denen zum Teil heftige Diskussionen entbrannten. Die Mädchen hüpften ein wenig auf der improvisierten Tanzfläche herum. Rei saß mit Max, Takao, Kyouyju und ein paar anderen zusammen und genoss das Gefühl, wieder mit der alten Clique abzuhängen.

„Glaubst du, dass Kai sich noch blicken lässt?“, fragte Max ihn irgendwann. Rei hob die Schultern. „Ich hoffe es ja eigentlich, aber du weißt ja nicht, wie hart Yuriy durchgreift mit ihrem Training.“

„Ich würde ihnen zutrauen, dass sie gerade im Trainingsraum versauern“, posaunte Takao, „Ich meine, dieses Team hat doch so viel Spaß wie ein Totengräber bei der Arbeit, oder? Die sind viel zu ernst…“

„Ach komm, wir haben schon mit Kai Party gemacht“, verteidigte Rei ihren Freund.

„Na Party machen konnte man das nicht nennen“, brummte Takao, „Der war doch nie zufrieden mit den Locations, wo wir waren. Und ganz ehrlich, bei dem Teamchef glaub ich nicht, dass sie sich heute blicken lassen.“
 

Das stimmte wohl, dachte Rei bei sich. Er hatte schon den ganzen Tag befürchtet, dass Yuriy seinem Team nicht erlauben würde, sich etwas Spaß zu gönnen. Nicht so kurz vor einem Match. Trotzdem hatte er Boris angehalten, als der ihm im Hotelflur entgegenkam und seine Einladung erneut ausgesprochen. Mehr als ein Nicken und einen knappen Glückwunsch hatte er allerdings nicht als Antwort erhalten.

Er seufzte. Jetzt waren die ehemaligen Bladebreakers schon mal vereint, und dann fehlte wieder einer…
 

„Hey Rei, es hat geklopft!“, rief Mao plötzlich und zeigte zur Tür. Rei erhob sich leise grummelnd. Wahrscheinlich war das einer vom Hotel, der wollte, dass sie die Musik leiser stellten. Und das schon um die Uhrzeit…aber Rei hatte es ja geahnt.
 

Er öffnete die Tür und musste augenblicklich auf einen ausgestreckten Zeigefinger schielen, der auf Höhe seiner Nase auf ihn zeigte. „HA-HAA, JETZT BIST DU ALT!!“ Und dann sah er nur noch Blau, Grau und Schwarz, als er in eine feste Umarmung gezogen wurde.

Völlig verdattert starrte er Kai an, als dieser ihn endlich losließ. „Hast…hast du mich gerade umarmt?“, stammelte er.

„Ja. Willst du noch mal?“ Kai breitete die Arme aus, aber Rei hob schnell die Hände. „Du hast gesoffen, oder?“

„Nein, guck, die Flasche ist noch zu“, entgegnete Kai und hielt ihm eine Flasche Wodka entgegen, „Ich hab mir gedacht, jetzt, wo du siebzehn bist, musst du endlich mal die Erfahrung machen, wie es ist, unter den Tisch gesoffen zu werden, also hab ich da mal was vorbereitet.“
 

„Suff!“, erklang es in diesem Augenblick auf der anderen Seite des Raumes. Rei identifizierte die Stimme als die Ricks. „Kai hat Suff mitgebracht!“

„Und; ist er jetzt dein Held?“, stichelte Lai laut.

„Ja, im Augenblick schon!“

„Halt die Klappe da hinten“, rief Kai über Reis Schulter, „Die Flasche ist allein für Rei und mich gedacht. Kauft euren eigenen Schnaps!“ Während er das sagte, musterte Rei noch einmal das Getränk. „Die ganze Flasche für uns beide?“, fragte er leise, „Willst du mich umbringen?“ Und erntete ein unschuldiges Killer-Lächeln.
 

„Du hättest wenigstens ein Schleifchen drum machen können…“, murmelte Rei resigniert, als er Kai den Wodka abnahm und erstmal aufs Buffet stellte. Mit ein bisschen Glück nahm sich jemand anderes der Flasche an, bevor sie ihr Wetttrinken starteten.

„Du weißt doch, ich hab’s nicht so mit Schleifchen“, entgegnete Kai, „Außerdem ist das gar nicht dein Geschenk, ich hab noch was.“ Er zog ein schmales, viereckiges Paket hervor (ebenfalls ohne Schleifchen!) und reichte es ihm. Rei blickte ungläubig darauf hinab. „Du schenkst mir was?“

„Nein, ich hab nur ein Stück Pappe in Geschenkpapier eingewickelt, um mich klammheimlich über dein dummes Gesicht zu freuen, wenn du es auspackst.“

„Oh Mann…Danke!“

„Es ist wirklich nur eine Kleinigkeit.“

„Trotzdem, ich…darf ich dich umarmen?“

„Ach, jetzt auf einmal, ja? Vergiss es.“

„Komm schon, Kai...“

„Nein, Rei, du bist alt, ich fasse keine alten Menschen an.“
 

Als er das hörte, stürzte Rei sich auf Kai und umklammerte ihn. „Atme meine alten Bakterien ein und stiiiiirb!“, rief er und schaffte es, ihm noch mal laut ins Ohr zu husten, bevor Kai ihn mit einer geschickten Bewegung wieder abschüttelte. „Du bist nicht nur alt, sondern auch eklig“, stellte er fest.

„In drei Monaten bist du genauso alt und eklig wie ich; dann können wir ins Blader-Altersheim gehen und Krankenschwestern ansabbern", entgegnete Rei ungerührt, „Jetzt setz‘ dich endlich zu uns und machs dir bequem!“
 

Doch Rei durfte nicht lange sitzen bleiben. Bereits fünf Minuten später klopfte es erneut, lange und ausdauernd und sogar in einer gewissen Melodie. Als er öffnete, hatte Boris noch die Faust erhoben. „Wir haben gehört, hier wird Geburtstag gefeiert“, sagte er, „Also haben wir mal eine Kleinigkeit besorgt, damit du würdig in dein neues Lebensjahr gehen kannst!“ Sie hielten zwei Flaschen und eine Tüte hoch.

„Wodka…“, seufzte Rei.

„Und Häppchen“, ergänzte Boris aufgeräumt, „Saure Gurken, Eier und Kaviar. Wir wollen ja standesgemäß trinken, nicht wahr?! Wo kann ich das abstellen?“

„Am besten zu Kais Flasche…“, murmelte Rei. Er war leicht überfordert. Was hatten diese Russen bloß mit ihm vor? Würde er den Abend überleben?

„Hiwatari hat Wodka gekauft?“ Stirnrunzelnd betrachtete Boris die Flasche auf dem Tisch. „Glück gehabt, Kai. Wir haben dieselbe Marke ausgesucht.“

Inzwischen hatten sich auch andere trinklustige um den Tisch versammelt. Naja, dachte Rei bei sich, wenn alle mithalfen, würde der allgemeine Pegel wahrscheinlich nicht allzu hoch gehen. Und drei Flaschen waren in Ordnung, die ließen sich ganz gut aufteilen…
 

„Tut mir Leid, tut mir Leid, ich musste noch zu einer Besprechung!“

Rei wirbelte herum. Im Türrahmen stand Yuriy, und er hatte ebenfalls eine Flasche und eine Tüte in der Hand.

„Sag bloß, das ist auch…“, fing Rei an, doch da war Boris schon an ihm vorbeigestürzt und stellte Yuriys Wodka in die Reihe der anderen. Er betrachtete sein Werk, als wäre es das schönste Gemälde, das er je gesehen hatte. Tatsächlich hatte auch sein Teamchef dieselbe Marke gekauft. „Jetzt reicht es auf jeden Fall für alle“, urteilte er fachmännisch.

„Ich hab Schnapsgläser mitgebracht“, ergänzte Yuriy.

Kai, der plötzlich hinter Rei auftauchte, klatschte in die Hände. „Na super. Wer möchte auf das Geburtstagskind anstoßen?“
 

Bis auf Mathilda und Hiromi, die sich wahrscheinlich wohlwissentlich zurückhielten, drängten sich nun alle um den Tisch. Die Russen nahmen alles in ihre fachmännischen Hände: Während Boris Häppchen verteilte, schenkte Yuriy ein und Kai gab jedem ein gefülltes Schnapsglas in die Hand.

„Also, Leute“, erklärte Boris dann, „Es wird zuerst gegessen und dann getrunken. Die Frauen dürfen nippen, aber wer ein echter Mann ist, kippt in einem Zug. Das Glas wird nicht eher abgestellt, als bis es leer ist. Aber vorher…“ Er blickte erwartungsvoll zu seinem Teamchef, „Die Trinksprüche!“
 

„Also gut.“ Yuriy erhob sein Glas. „Die meisten von euch werden mich noch nie so lange reden gehört haben und so bald auch nicht mehr in den Genuss kommen, also würdigt diesen Augenblick gefälligst. Rei“ Er nickte ihm zu, „Ich werde dir einfach das ganze Paket wünschen: Lasst uns auf seine Gesundheit trinken! Mögest du nur so viel Sorge in deinem Leben haben, wie Tropfen in unseren Gläsern bleiben! Und auch wenn das in diesem Zusammenhang eigentlich unmöglich ist, wünsche ich dir trotzdem noch, dass du eine schöne Frau findest, die dir nicht gleich wieder wegläuft. Später dann ein Häuschen, viele Kinder und ein sicheres Einkommen. Nur eines wünsche ich dir nicht…“ Dafür erntete er einige schräge Blicke, doch er fuhr unbeirrt fort: „Und zwar Erfolg beim Bladen.“
 

„Ich mach dich auch so platt“, stellte Rei grinsend klar, und dann durften sie endlich essen und das erste Glas kippen. Während von Rick und ein paar anderen ein zufriedenes Seufzen kam, musste Rei sich stark zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen. Doch in diesem Moment tauchte Kais Hand in seinem Blickfeld auf, die eine Flasche hielt und reihum noch einmal eingoss. „Wir sind noch nicht fertig“, sagte er und hob nun seinerseits das Glas, „Ich versuch, das Ganze mal ein bisschen anders zu formulieren: Zieh dich warm an, steck das Hemd rein und binde einen Schal um, damit du uns nicht irgendwann verreckst. Esse immer deinen Teller leer, pinkle im Sitzen und gucke dir mit deiner Freundin Liebesschnulzen an, damit sie dich auch mal ranlässt. Wenn sie dich ranlässt –sage nie nein zu einem guten Fick. Brech dir nicht den Schwanz, wo wir schon dabei sind. Benutze ein Kondom, bis du für deine Kinder sorgen kannst; aber dann mach Kinder wie ein Karnickel. Sei sparsam, damit deine Nachkommen später deine Beerdigung bezahlen können. Und weil das jetzt alles Ratschläge waren, kommt noch ein richtiger Trinkspruch: Auf die Gesundheit! Darauf, dass wir alle hier versammelt sind und gemeinsam Trinken können!“
 

„Jajaja“, kam es von Rick, „Dürfen wir jetzt endlich?“

„Sauft, in Gottes Namen.“ Und das zweite Glas floss in die Kehlen. Danach bestanden auch Sergeij und Boris noch auf ihren Trinksprüchen, was ihnen sehr wichtig schien, obwohl sie in abgewandelter Form eigentlich nur das Gesagte noch einmal wiederholten. Obwohl Rei schon nach dem zweiten Glas schwindlig wurde und ihm der Arm wehtat, je länger er ihn erhoben lassen musste, war er doch ein wenig gerührt von den geballten Glückwünschen, die die Russen auf ihn niederregnen ließen.

Er hatte sich noch gar nicht von diesen Eindrücken erholt, als Boris die letzte Flasche schwenkte, die noch gar nicht angebrochen war. „Gut“, meinte er, „Wir sind fertig und die hier ist übrig. Was jetzt?“ Kai streckte die Hand aus, nahm die Flasche an sich und legte Rei den Arm um die Schulter. „Ich muss ihn noch unter den Tisch saufen“, sagte er laut, „Also würde ich sagen, wir machen Roxanne an.“
 

„Da bin ich dabei!“, rief Boris, „Lass uns Teams machen, Hiwatari, ich trinke mit Rei gegen dich.“

Kais Arm löste sich von Rei, und mit einer weiteren Bewegung hatte er Yuriy zu sich gezogen. „Challenge accepted!“, sagte Kai zu Boris.

„Ähm…was läuft hier eigentlich?“, fragte Rei kleinlaut in die Runde, als schon die Gläser zusammengestellt und wieder gefüllt wurden.

„Ganz einfach“, erklärte Boris aufgeräumt, „Wir hören jetzt ‚Roxanne‘ von The Police. Eine Gruppe trinkt jedes Mal, wenn sie ‚Roxanne‘ singen, die andere immer bei ‚red light‘. Du kennst den Song?“ Rei schüttelte den Kopf und Boris schlug ihm lachend auf die Schulter. „Na das wird richtig lustig! Kai, wir nehmen red light und ihr Roxanne, okay? –Roxanne kommt einmal mehr vor“, raunte er Rei zu. Der glaubte zwar nicht, dass das einen Unterschied machte, aber es war okay. Hier kam er jetzt eh nicht mehr weg.
 

Die anderen versammelten sich um sie, als sie sich an die entgegengesetzten Seiten des Tisches setzten, die Gläser zwischen sich aufgestellt. Dann spielten sie das Lied. Die erste Strophe war recht chillig, und tatsächlich mussten Yuriy und Kai viereimal trinken und Rei und Boris nur dreimal.

Aber dann kam der Refrain, und vor Reis Augen verschwamm binnen Sekunden alles, weil er nur noch damit beschäftigt war, Gläser zu heben und Alkohol in sich hineinzuschütten. Alles musste verdammt schnell gehen. Er wusste gar nicht, wie Kai und Yuriy es schafften, immer lauter „Roxaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanneeeeeeeee“ zu gröhlen und nebenbei auch noch zu trinken.

Während der zweiten Strophe gab es eine Pause, und Rei merkte schlagartig, wie ihm der Alkohol in die Füße und dann in den Kopf stieg. Den Rest des Abends würde er wahrscheinlich sitzend verbringen müssen….Dann wieder Refrain und wieder Kampftrinken…es wollte gar nicht mehr aufhören…doch plötzlich war Gott sei Dank der Schnaps alle. Die letzten Gläser tranken Boris und er aus. Danach war ihm speiübel.
 

Kai musste bemerkt haben, dass er blasser geworden war, denn er raffte sich auf und zog ihn am Arm hoch. „Komm mit, ich halt dir die Haare hoch.“ Während er das sagte, kicherte er sogar. So hatte Rei ihn wirklich noch nie erlebt.

Kai schlug jede Hilfe, die ihm inzwischen angeboten wurde, aus, denn natürlich waren die meisten anderen nüchterner als er. Er schien es als seine heilige Pflicht anzusehen, ihn jetzt zur Toilette zu bringen. Schließlich hatte er dessen Zustand erst heraufbeschworen. Und tatsächlich hielt er sich aufrecht und konnte seine Schritte noch geradeaus lenken, wofür Rei ihm sehr dankbar war.

Im nächstgelegenen Bad angekommen schob Kai ihn in eine Kabine und öffnete den Klodeckel für ihn. Erleichtert beugte Rei sich über die Schüssel und bemerkte nur am Rande Kais Hände, die tatsächlich in sein Haar griffen und vorsorglich alle Strähnen aus seinem Gesicht strichen. „Lass alles raus, dann bist du schneller wieder nüchtern, als ich“, meinte er. Rei verstand nicht wirklich, was er sagte, aber er mochte den ruhigen Klang seiner Stimme.

Gut eine Viertelstunde später war alles vorbei. Er hatte die letzten Krämpfe überwunden und war richtiggehend klar im Kopf. Allerdings auch furchtbar müde. Fahrig tastete er nach der Spülung und betätigte sie; in diesem Moment ließ Kai seine Haare los und richtete sich auf, während er noch ein bisschen auf dem Boden sitzen blieb.

„Was machst du mit mir, Hiwatari?“, nuschelte er erschöpft.

„Keine Ahnung“, kam es von hinten, „Ich hoffe ja, dass ich mich morgen an nichts mehr erinnern kann.“

„Ja, schön“, brummte Rei und wischte sich über den Mund, „Schön für dich. Ich werd das hier mein Lebtag nicht vergessen…“

#13 Versetze ihn in das andere Fandom, welches Dir zuerst einfällt.. -1. Teil

Ihm wurde ein großer, übel riechender Hut aufgesetzt, der ihm sofort über die Augen rutschte. Kai runzelte missbilligend die Stirn und hielt die Luft an, um möglichst wenig von dem Modergestank einzuatmen. Zuerst dachte er, er hätte einen Tinitus, ein Fiepen im Ohr, aber dann bemerkte er, dass eine leise Stimme etwas vor sich hinmurmelte: „Kluges Köpfchen…durchaus mutig, hat aber auch was Hinterlistiges…hm, na dann sage ich SLYTHERIN!“
 

Das letzte Wort dröhnte noch in seinem Schädel, als der Hut schon längst wieder weg war und er taumelnd von dem Schemel aufstand, auf dem man ihn platziert hatte. Ach ja, da war wieder alles, die große, kerzenerleuchtete Halle und die vielen, vielen Gesichter, die ihn anstarrten. Aber die Mienen hatten sich im Vergleich zu vorher verändert. Drei Viertel der Halleninsassen blickten jetzt zweifelnd bis offensichtlich feindselig zu ihm auf, während das letzte Viertel sich beinahe überschlug vor Freude. Das war dann wohl sein Haus…

Er sank neben einem Typen mit Topfschnitt auf die Bank und war froh, als sich die Aufmerksamkeit dem nächsten Kind zuwandte, das mit schlotternden Knien auf das Podest trat.
 

Gott, wie war er noch gleich hierhergekommen? Ach ja, das Ganze hatte vor etwa zwei Monaten angefangen. Er lebte in dieser Abtei in Moskau, man könnte sagen, in einer Horrorvision des Schlosses, in dem er sich gerade befand. Zusammen mit anderen Jungen hatte er zu einem perfekten Beyblader ausgebildet werden sollen. Doch mit seinem elften Geburtstag hatte sich schlagartig alles geändert.

Zuerst war da ein Brief gewesen. Auf Englisch. Boris konnte schon ganz gut Englisch, also hatten sie ihn gemeinsam übersetzt und sich dabei beinahe eingepinkelt vor Lachen. Der Schreiber des Briefes behauptete, dass Kai ein Zauberer wäre und in der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei unterrichtet werden sollte. Sogar eine Bücherliste lag dabei, da hatte sich aber jemand Mühe gegeben. Wussten denn die Idioten, die sich diesen Mist ausgedacht hatten, nicht, dass sie schon längst nicht mehr an Väterchen Frost und die Baba Jaga glaubten? –Jedenfalls hatte Boris unter Lachtränen das Feuerzeug gezogen, das er von irgendwem stibitzt hatte, und das Ding kurzerhand angezündet.

Zwei Tage später, und das war das erste wirklich Seltsame, kam noch ein Brief. Wieder verbrannten sie ihn. Dann noch einer. Und dann jeden Tag einer, bis Boris‘ Feuerzeug alle war und Kai keine bessere Lösung einfiel, wie man das Ding möglichst fantasievoll verschwinden lassen konnte.
 

An diesem Tag kam dann auch die Hexe. Wirklich, eine echte Hexe. Kai verspürte noch immer die gleiche schelmische Freude wie damals, als er jetzt daran zurückdachte, wie diese Hexe seinen Erzieher, Volkov, zuerst an die Wand geredet und ihn, Kai, dann einfach so mitgenommen hatte. Er hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, sich von Boris, Sergeij oder Ivan zu verabschieden. Oder gar von Yuriy, seinem besten Freund. Die, zugegeben absurde Hoffnung, dass letzterer vielleicht auch mit nach Hogwarts kommen konnte, hatte die Hexe, McGonagall war ihr Name, auch wenn er ihn immer noch nicht korrekt aussprechen konnte, einfach zunichte gemacht, indem sie sagte, wenn er mit elf keinen Brief bekommen hatte, durfte er auch nicht nach Hogwarts kommen, basta. Und Yuriy war schon zwölf.

Sie hatte ihn also mitgenommen. Hatte ihn in einen Sprachkurs voller Zauberer gesetzt, damit er noch ein bisschen Englisch lernte, in der Zwischenzeit sein Schulequipment besorgt und ein wenig Geld in Galleonen eingetauscht und schließlich in einen Zug gesteckt, der ihn hierher gefahren hatte. Binnen zweier Wochen hatte sich sein Leben vollends umgekrempelt.
 

Tja, und jetzt saß er hier, um ihn herum sprachen alle so durcheinander, dass er kein Wort verstand, und außerdem hatte er Hunger. Deswegen sah er auch nicht auf, als sich ein weiterer Neuankömmling neben ihn setzte. Erst, als sich eine schmale, blasse Hand in sein Blickfeld schob, blickte er seinen Nebenmann an.

„Draco Malfoy“, sagte der würdevoll. Kai brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass sich sein Gegenüber soeben vorgestellt hatte. Er ergriff die dargebotene Hand und murmelte seinen Namen –„Kai Hiwatari.“– wobei er merkte, dass er einen wirklich sehr starken Akzent hatte.

„Hiwatari? Noch nie gehört“, stellte Malfoy fest, „Ich wusste gar nicht, dass sie jetzt schon Schlammblüter in Slytherin aufnehmen!“ Um sie herum brach alles in Gelächter aus. Die Topffrisur neben ihm schlug sogar mit der Hand auf den Tisch. Erst langsam wurde Kai klar, dass hier wohl gerade ein Scherz auf seine Kosten gemacht worden war. Stillschweigend schwor er bittere Rache…
 


 

Dreienhalb Jahre später kniete er vor dem Kamin im Gemeinschaftsraum der Slytherins und steckte den Kopf ins Feuer.

„Yuriy?“, fragte er in den stillen Raum hinein, den er auf der anderen Seite zu Gesicht bekam. Dann tauchte der Rothaarige in seinem Blickfeld auf. „Gott, weißt du eigentlich, wie seltsam das aussieht?!“, stellte er fest und meinte wohl Kais in den Flammen schwebendes Gesicht. „Wie machst du das?“

„Das Zeug nennt sich Flohpulver“, erklärte Kai, „Hab ich dir doch erzählt. Bin ja selber ganz erstaunt, wie gut das klappt…“

Obwohl er inzwischen gelernt hatte, einfach mal alles stillschweigend hinzunehmen, was in dieser kruden Parallelwelt scheinbar stinknormal war, überraschte es ihn doch immer wieder, wenn tatsächlich etwas, von dem er bisher nur gehört hatte, so funktionierte, wie es sollte. Er hatte sich, ganz ehrlich, schon mit in Flammen stehenden Haaren im Gemeinschaftsraum Kreise rennen gesehen.
 

„Wie läuft das Training?“, fragte er spitzbübisch, um Yuriy zuvorzukommen. Normalerweise stellte der nämlich diese Frage, und Kai musste dann immer passen. Auf Hogwarts bladete es sich verdammt schlecht, deswegen nutzte er inzwischen nur noch die Ferien dazu. Diese verbrachte er seit zwei Jahren bei seinem Großvater, der in Japan lebte. Dort war er auch Mitglied eines Beyblade-Teams geworden, mit dem er sich während der langen Sommerferien durch diverse Meisterschaften schlug.

War schon alles sehr kompliziert. Er war wortwörtlich zu einem Weltenbummler geworden, aber genau deswegen hatte er inzwischen auch den Wert seiner magischen Fähigkeiten erkannt. Sobald er siebzehn war und die Spur von ihm genommen wurde, würde er –Schnipp!– einfach überall hinapparieren.
 

„Geht so, geht…“, murmelte Yuriy, „Wie sieht’s aus, kommst du über Neujahr nach Moskau?“

„Ja, sieht ganz so aus“, antwortete Kai, „Ich fahr halt wieder nach London und flieg von da weiter; ich glaub, Voltaire hat das Ticket schon gebucht. Wir treffen uns dann alle in Moskau…ich glaub, so am 27. oder so. ich ruf dich dann an, mein Handy wird ja dann wieder funktionieren…“ Er unterstrich die Aussage mit einem kräftigen Augenrollen. Das war ein großer Nachteil von Hogwarts: technische Geräte versagten komplett. Damals, als er die ersten Wochen hier gewesen war, war er quer über das Schulgelände gerannt, das Handy in den Himmel haltend, und hatte dabei wahrscheinlich ausgesehen wie Sailor Moon kurz vorm Verwandeln. Malfoy, dieses Aas, hatte sich rund um die Uhr darüber lustig gemacht, wofür sich Kai jedoch rächte, sobald er die ersten fiesen Zaubertricks gelernt hatte. Im Gegensatz zu Malfoy war er ganz gut in Zaubertränke, also hatte er ihm schon des Öfteren fiese Zusätze ins Essen getan.
 

Apropos Malfoy…Kai wandte den Kopf und lauschte mit einem Ohr in den Gemeinschaftsraum. Nichts, die anderen schliefen alle. Er musste höllisch aufpassen, damit er nicht erwischt wurde, denn natürlich durfte nicht jeder x-beliebige Schüler einfach mal Flohpulver benutzen und eine Runde mit seinen Kumpels quatschen. Noch dazu, weil sie gerade ein riesiges Tamtam wegen des Trimagischen Turniers machten und aufpassten wie die Schießhunde, dass bloß keine der geheimen Informationen nach draußen gelang. Vermutlich würden sie auch bald die Kamine versiegeln, und dann musste er sich wieder was Neues ausdenken. Eulen von Schottland nach Moskau zu schicken war komplett hirnrissig: Er hatte es bis jetzt dreimal versucht: Eine kam mit seinem Brief wieder zurück, eine ging verloren und war bis heute nicht wieder aufgetaucht und die dritte war nach zwei Wochen oder so bei Yuriy gelandet.
 

„Und?“, fragte der nun aufgeräumt. Er hatte sich im Schneidersitz vor seinen Kamin gesetzt. „Was bringen sie dir so bei?“

„Tanzen“, entgegnete Kai gelangweilt, „Sie drehen gerade total frei wegen dieses Trimagischen Turniers. Es gibt wohl einen Schulball zu Weihnachten, und deswegen bringen sie uns jetzt Tanzen bei.“

„Aha. Hast du ein Date für den Ball?“

Kai schnaubte. „Nein“, sagte er schlicht und verleugnete damit den Stress, den er wegen dieser Frage schon gehabt hatte. Ein paar Slytherinmädchen hatten wohl ein Auge auf ihn geworfen und verfolgten ihn den lieben langen Tag, trauten sich aber nicht, ihn zu fragen, ob er mit einer von ihnen zum Ball gehen würde. Von sich aus würde er es jedenfalls nicht tun, das war klar. Er würde nur das Pflichtprogramm über sich ergehen lassen und dann so schnell wie möglich in den Gemeinschaftsraum verschwinden.
 

„Lass mich raten: unterkühlter Frauenschwarm?“, stichelte Yuriy, und: „Bin ich nicht!“, fauchte Kai, wofür er ein Lachen erntete. Doch dann hob Yuriy den Kopf und ein alarmierter Ausdruck trat auf sein Gesicht. „Ich glaube, da kommt jemand“, murmelte er, „Keine Ahnung, wer, aber du weißt ja, wie empfindlich die anderen manchmal reagieren, wenn sie irgendwas Magisches sehen…“

Kai nickte. Boris, Sergeij und Ivan wussten, wo er zur Schule ging, aber es wollte wohl nicht wirklich in ihre Köpfe. Außerdem versuchten sie manchmal, Yuriys Autorität als Teamchef zu untergraben, indem sie böse Anspielungen auf Kai machten. Das ließ Yuriy sich natürlich nicht gefallen, aber man musste es ja nicht herausfordern. „Ist okay, ich hau ab“, sagte Kai deswegen und grinste seinen Freund noch mal an, bevor er den Kopf aus den Flammen zog.
 


 

„Wow, ich glaub’s echt nicht…wow!“, stieß Yuriy zum bestimmt zehnten Mal aus und sah sich erneut um. Sie verbrachten die letzten Tage vor Schulbeginn in London. Es war Yuriys erster Urlaub in Großbritannien…und der erste in der Zaubererwelt. Gerade liefen sie durch die Winkelgasse, bewaffnet mit einem Haufen Schokofrösche und einer Tüte Bertie Botts Bohnen jeder Geschmacksrichtung. Kai aß diese Dinger schon seit Jahren nicht mehr (denn er hatte einmal eine mit Kümmelgeschmack erwischt), aber gemeinsam mit seinem besten Freund hatte er sich diesen Scherz noch mal erlaubt; und bis jetzt waren die ekligen Bohnen auch alle an Yuriy gegangen, während er seine erst gründlich untersuchte, bevor er sie in den Mund schob.
 

Im Vorbeigehen erhaschte er die Schlagzeilen des heutigen Tages. Wieder wechselten sich Verschwörungstheorien und Panikmache mit ein wenig zu besonnen klingenden Ministeriumsaussprüchen ab. Er wusste selbst nicht, was er von der ganzen Sache halten sollte. Nachdem im letzten Schuljahr Diggory das Trimagische Turnier nicht überlebt hatte, war dieser Potter offensichtlich ein wenig weggetreten. Er hatte angeblich den Dunklen Lord gesehen und behauptete nun, dass der irgendein schmieriges Komplott plante. Kai konnte beim besten Willen nicht sagen, ob er ihm nun glaubte, oder nicht. Für ihn klang die ganze Sache ziemlich aufgebauscht. Vielleicht war es ja nur ein Werbegag…? Aber für was sollte Potter denn bitteschön werben?
 

„Sag mal…“ Auch Yuriy schien die Zeitungsüberschriften gelesen zu haben, der er nickte in ihre Richtung, „Was soll dieses Rumgeheule wegen diesem Du…“ Er hatte wohl den Namen vergessen.

„Du-weißt-schon-wer“, brummte Kai und handelte sich wieder ein Grinsen ein, das seinem wunderbaren British English galt, das er inzwischen sogar mit einem breiten Londoner Akzent sprechen konnte.

„Ja, genau, den meine ich“, sagte Yuriy, „Was ist das denn für einer?“

„Naja, so einer Art…Diktator“, antwortete Kai, denn so genau wusste er das eigentlich auch nicht.

„So wie Stalin?“

„Nee, eher so wie Hitler.“ Er hatte bloß gehört, dass dieser Lord ein paar ziemlich rassistische Ansichten hatte, aber sobald er versuchte, mit seinen Zauberermitschülern über das Dritte Reich zu reden, wussten die wieder nicht, wovon er sprach. Daher beschränkte sich sein Wissen über diesen Dunklen Lord auf ein paar vage Fakten.
 

„Ihr habt einen Zauber-Hitler?“, fragte Yuriy lachend und Kai konnte es ihm nicht verübeln. Das hörte sich wirklich absurd an.

„Naja, er soll ja eigentlich tot sein“, meinte er, „Hat man zumindest immer gesagt. Bis dieser Potter nun behauptet hat, dass er eben doch wieder da ist. Und irgendwie denk ich auch, Potter muss es ja wissen, er hat ihn ja angeblich damals getötet durch so’nen blöden Zufall oder was das war. Frag mich nicht. Kann ja gut sein, dass es eben doch nicht so gewesen ist. Man weiß ja nicht, was alles möglich ist, so als Zauberer…“

„Aber du hast jetzt keine Angst, dass dieser Typ kommt und dich holt, oder wie?“

„Nö. Was sollte der denn von mir wollen?“

„Keine Ahnung. Normalerweise wollen die Bösewichte doch immer Bit Beasts“, überlegte Yuriy laut.

„Ich glaub, der Dunkle Lord ist nicht an Suzaku interessiert“, meinte Kai, „Es ist zwar cool, einen Phönix als Haustier zu haben –ich bin, glaube ich, der einzige in Hogwarts neben Dumbledore– aber das gilt jetzt nicht als die ultimative Geheimwaffe. Zumal Suzaku ja eher der Geist eines Phönix‘ ist…weißt du, wie schwer es ist, jemandem zu erklären, was ein Bit Beast ist?“

„Wahrscheinlich genauso schwer, wie zu erklären, dass du Weltmeister in einer Sportart bist, bei der man mit geistesbesessenen Kreiseln aufeinander losgeht.“

„Erfasst.“
 

„Hm.“ Yuriy schwieg sich aus und steckte sich noch eine Bertie Botts Bohne in den Mund. Augenblicklich verzog er angeekelt das Gesicht und spuckte sie wieder auf seine Hand. „Boah, ich glaub, das ist Katzenfutter“, stellte er fest. Kai hob eine Augenbraue. Unwahrscheinlich war das jedenfalls nicht…

„Aber hör mal, Kai“, sagte Yuriy, nachdem er die Ekelbohne unauffällig auf den Boden fallen gelassen hatte, „Wenn das jetzt wirklich brenzlig werden sollte mit eurem Zauber-Hitler…dann bleib lieber in Japan, okay? Ich meine, ist doch egal, ob du Hogwarts beendest.“
 

Jetzt war es Kai, der nur „Hm“ machte. Das sagte sich ja alles so einfach. Fakt war aber, dass er seine Ausbildung in Hogwarts beenden musste, denn sonst stand er vollkommen perspektivlos da. In die „normale“ Welt zurückkehren konnte er nicht mehr –er hatte seit der fünften Klasse keinen „normalen“ Unterricht mehr gehabt. Seine Zukunft sah eigentlich so aus, dass er sich spätestens nächstes Jahr aus der Beyblade-Szene zurückziehen würde, um dann ein ruhiges Leben als Zauberer zu führen –mit einem magischen Job, versteht sich. Wenn er diese Welt nun aber wieder hinter sich lassen musste…das würde gar nicht so einfach werden.
 


 

Beinahe auf den Tag genau zwei Jahre später hatte sich alles geändert. Lord Voldemort war wirklich wieder aufgetaucht, doch niemand wusste, wie gefährlich er war. Das Ministerium verhielt sich merkwürdig ruhig.
 

Die Winkelgasse war beinahe ausgestorben, doch Kai hatte sich wie immer im ‚Tropfenden Kessel‘ einquartiert, um die letzten Vorbereitungen zu treffen, bevor der Hogwarts-Express ging. Er hatte beschlossen, erst einmal alles beim Alten zu belassen und zu sehen, wie lange das so gut ging. Nirgends ließ sich eine verlässliche Einschätzung der Gefahr, die vom Dunklen Lord ausging, finden. Kai hatte außerhalb von Hogwarts kaum Kontakt zu anderen Zauberern, da er ja immer meilenweit von Großbritannien entfernt war –und im Moment erreichte er nicht einmal hier jemanden. Es stach einem nicht unbedingt sofort ins Auge, aber unterschwellig war hier alles durcheinander geraten.

Und dann hatte er eines Morgens diesen Artikel im Tagespropheten gelesen, in dem es hieß, dass Muggelstämmige Hexen und Zauberer sich einem Verhör unterziehen mussten. Nur Stunden später hatte er einen Brief erhalten, mit der Aufforderung, im Ministerium zu erscheinen, um sich eben einem solchen Verhör zu stellen…
 

„Verdammt, Großvater, das ist alles viel zu vage!“, sagte er laut, während er, das Handy am Ohr, die Oxford Street entlangging. Das Wetter war herrlich und demzufolge wimmelte es von Leuten –der perfekte Schutz vor Todessern oder anderen Helfern von Voldemort, wie er fand. Er hatte den vom Ministerium geforderten Termin nicht eingehalten. Es war einfach alles zu kurzfristig. Also hatte er Schicksal gespielt und es einfach mal drauf ankommen lassen.

Die letzte Stunde hatte er damit verbracht, an den vielen Läden vorbeizugehen und sie keines Blickes zu würdigen, denn er sprach in sich überschlagendem Russisch auf seinen Großvater ein. Der suchte seit geschlagenen drei Tagen in der Familienchronik nach einem Hinweis auf eine angebliche Hexe, die irgendwann im 17. Jahrhundert in Sankt Petersburg verbrannt worden war.
 

»Ich könnte schwören, ihr Name war Jelina Polinova«, sagte Voltaire zum bestimmt zehnten Mal, »Und dass wir eine Abschrift des Prozesses haben, bei dem sie damals von der Inquisition verurteilt wurde…aber ich finde nichts!«

„Naja, mit ein bisschen Glück ist der Name „Polinov“ beim Ministerium vermerkt“, entgegnete Kai, der inzwischen nervös auf seiner Unterlippe herumkaute, „Aber bei einer Frau ist das schon nicht mehr so sicher…haben wir keinen Ahnen, der mal einen auf Alchimist gemacht hat, oder so? Eine männliche Linie wäre mir wesentlich lieber, das kann man besser beweisen…“

»Nein, absolut nicht«, sagte Voltaire, »Im Grunde hast du keinerlei magische Wurzeln…kannst du nicht einfach zurückkommen?«

„Ich hab dir doch schon gesagt, dass sie die Flughäfen kontrollieren. Kein Zauberer kommt mit konventionellen Mitteln außer Landes. Die meisten apparieren…Aber du weißt ja, wie das bei mir ist…“
 

Kai war verdammt schlecht im Apparieren. Er schaffte es fast immer, sich irgendwie zu zersplintern. Es war sein Glück, dass bis jetzt auch immer eine Flasche Diptam-Essenz in der Nähe gewesen war. Er seufzte. „Sieht so aus, als müsste ich irgendwie untertauchen. Ich meine, das machen scheinbar verdammt viele. Ich kenn ein paar Schutzzauber, vielleicht miete ich irgendwo einen Bungalow und sitze da die Zeit ab…irgendwie werd ich schon einen Weg finden, wie ich aus diesem verdammten Land komme, und wenn ich immer nur drei Kilometer appariere.“

»Und wenn ich dich holen komme?«
 

„Opa, ich weiß einfach nicht, wie gefährlich das ist“, unterbrach Kai ihn sofort, „Wenn sie wirklich hart durchgreifen, dann haben sie sicher auch keine Skrupel, dir irgendeinen Fluch an den Kopf zu knallen. Nein, ich guck mir die Sache erstmal an und dann…“ Weiter kam er nicht. Vor ihm waren zwei große Männer in Umhängen aufgetaucht, die den Blick durch die Menge schweifen ließen. Vermutlich eine spontane Razzia, sollte es jetzt wohl öfter geben. Oder, und das war in dieser Situation beinahe noch wahrscheinlicher, sie suchten nach ihm. Kai blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie an –und so bemerkten sie ihn schließlich auch. Der eine runzelte die Stirn, deutete auf Kai und sagte etwas zu dem anderen. Sie warfen sich einen entschlossenen Blick zu, und in diesem Moment beschloss Kai, dass er besser abhauen sollte. Er beendete das Telefongespräch mit einem energischen Knopfdruck und ergriff die Flucht. Wenn er nur in dieser Menschenmenge blieb, konnten sie schon mal nicht zaubern…hoffte er zumindest. Er hatte ja keine Ahnung, wie skrupellos die waren…

Plötzlich tauchte einer der Typen direkt vor ihm auf. Musste wohl in eine Seitengasse appariert haben. Kräftige Arme hielten ihn fest, zogen ihn in eben diese Seitengasse, und dann spürte er, wie er Seit-an-Seit-appariert wurde…

#13 -2. Teil ...und immer noch kein Ende xD

„Du bist Kai Hiwatari, oder?“

Träge wendete er sich dem Mädchen zu, das neben ihm saß. Ihr ging es noch ein bisschen besser, als ihm, aber sie war ja noch nicht allzu lange hier. Die Dementoren würden sie schon fertig machen, da war er sich sicher. Bei ihm hatten sie es auch verdammt schnell geschafft. Er hatte einige Tage in einer Art Untersuchungshaft verbracht, da er so dumm gewesen war, vor den Greifern zu fliehen. Aber die hatten ihn bei Weitem nicht so mürbe gemacht, wie die paar Minuten in diesem Gang.

„Hm“, brummte er und rieb sich fröstelnd über die Arme.

„Wusste ich’s doch. Loreen Martins war in dich verknallt, aber du hast sie abblitzen lassen. Das fand ich gut. Loreen ist eine Schlampe.“
 

Er hob bloß eine Augenbraue und musterte erneut die kalte, schwarze Wand gegenüber, während regelmäßig einer der Dementoren sein Blickfeld kreuzte. Seit er hier saß, in diesem verfluchten Keller des Ministeriums, erinnerte er sich öfter den je an seine Zeit in der Abtei. Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf, von denen er dachte, dass er sie schon längst vergessen hatte. Plötzlich entsann er sich der schlimmsten Momente seiner Kindheit: Wie Black Dranzer unheilvoll aufleuchtete und eine gewaltige Explosion auslöste…die Schmerzen, die sich jetzt wieder in seinen Körper zu fressen schienen…und vor allem das Wissen, dass er vielleicht durch seine Leichtsinnigkeit Menschenleben auf dem Gewissen hatte…All dies lähmte ihn förmlich. Er musste seine letzten Kräfte mobilisieren, um diese Gedanken zu verdrängen.

Wenn er ganz ehrlich war, war das einzige, was von seinem Stolz noch übrig war, sein Schweigen. Kai hatte verdammt noch mal Angst. Nicht nur, dass die Vergangenheit in seinem Kopf herumspukte; er stand kurz vor seiner Befragung hinsichtlich seiner magischen Abstammung und er hatte nichts, wirklich gar nichts, vorzuweisen. Und was dann? Was, wenn sie ihn tatsächlich verurteilten –und das würden sie bei dieser „Beweislage“ ja wohl tun. Kam er dann nach Askaban? Oder schlimmeres?
 

„Hast du Zauberer in der Familie?“, fragte das Mädchen. Mechanisch schüttelte er den Kopf.

„Oh.“

Ja, oh!, dachte er sarkastisch.

„Hm, das erklärt auch, warum du nicht nach Durmstrang gegangen bist…“, überlegte sie laut und Kai konnte nicht anders, als die Augen zu verdrehen. „Gib einfach an, du wärst mit den Peverells verwandt“, raunte sie ihm dann plötzlich zu, „Ich meine, jeder Zauberer ist mit den Peverells verwandt! Wie gut bist du in Geschichte der Zauberei?“

„Geht so“, brummte er.

„Gut. Wenn sie dich irgendwas fragen…kram in deinem Kopf nach Leuten, von denen man in Geschichte hört. Das sind auch alles Verwandte von den Peverells. Tu einfach ein bisschen reinblütig und erzähl ihnen was…“

„Woher weißt du das?“

„Unsere Nachbarin hat es so gemacht.“

„Warum bist du hier?“

Sie hob die Schultern. „Halbblut“, sagte sie, „Ich muss nur beweisen, dass mein Vater „reinblütig“ ist…“ Und verzog angewidert das Gesicht. Kai beneidete sie unwillkürlich. Nicht nur, dass sie in diese Welt hineingeboren wurde, nein, jetzt würde sie wahrscheinlich auch hier mit dem Schrecken davon kommen. Und er selbst? Er hatte sich blöderweise auf die ganze Sache eingelassen, als er noch gar nicht dazu imstande gewesen war, eigene Entscheidungen zu treffen –und man sah ja, was dabei herausgekommen war. Warum musste er auch ausgerechnet dann zum Zauberer ausgebildet werden, wenn Lord Voldemort wieder die Macht ergreifen wollte? Wäre er nur ein Jahr früher geboren worden, hätte er jetzt wenigstens einen Schulabschluss. Sein Leben hatte aber auch ein beschissenes Timing.
 

„Weißt du eigentlich, wie das da drin abläuft?“, fragte das Mädchen nun wieder. Kai öffnete den Mund, um eine ungeduldige Antwort zu geben, doch da flog mit einem Mal die Tür des Gerichtssaales auf und ein silbrig schimmernder Hirsch schoss in den Gang. Schlagartig wurde die Luft wärmer, denn die Dementoren wichen vor dem Hirsch zurück, als wäre er giftig für sie. Kai hatte von diesem Phänomen gehört: Das war wohl ein Patronus.

Doch er konnte sich nicht lange darüber Gedanken machen, denn dem Patonus folgte ein Grüppchen Menschen. „Wer von Ihnen hat einen Zauberstab?“, fragte ein großer Mann mit dunklem Bart. Kai tastete automatisch nach seiner Gesäßtasche und fluchte leise. Natürlich hatten die Greifer ihm seinen abgenommen.

„Sogen Sie bitte dafür, dass immer jemand mit einem Zauberstab jemanden ohne begleitet!“

Plötzlich fühlte er eine Hand in seiner. Das Mädchen hatte nach ihm gegriffen und hob zuversichtlich ihren eigenen Zauberstab. Und dann mussten sie auch schon laufen.
 

Was im Endeffekt alles passiert war, während sie aus dem Ministerium flohen, wusste Kai später nicht mehr. Alles war durcheinander. Er erinnerte sich, dass er irgendwann in der Haupthalle mit der seltsamen Statue des Magierpärchens gewesen war und wahrscheinlich in irgendeinen Kamin geschubst wurde. Dann befand er sich plötzlich in einer schmuddeligen öffentlichen Toilette und schließlich wieder unter freiem Himmel, wo das Mädchen, dessen Namen er immer noch nicht kannte, mit ihm apparierte.
 

Sie landeten am Piccadilly Circus in einer Nebengasse. „Scheiße“, entfuhr es seiner Begleiterin, „Was war das denn?“

„Sieht so aus, als wären wir jetzt auf der Flucht“, bemerkte Kai und stellte erleichtert fest, dass er sich zumindest selbstsicherer anhörte, als er sich fühlte.

Sie schien seine Worte kurz sacken zu lassen und atmete einmal tief aus. Dann streckte sie entschlossen die Hand in seine Richtung aus. „Vicky Gardener“, stellte sie sich endlich vor, „Wir werden wohl noch eine Weile das Vergnügen haben, Kai Hiwatari. Also, du brauchst einen Zauberstab? Ich werd’s mal mit Accio versuchen…“

Sie führte den Aufrufezauber aus, und die nächsten Minuten verbrachten sie damit, gebannt in den Himmel zu starren. Kai glaubte nicht wirklich daran, dass man mit Accio etwas, das in den Händen des Ministeriums war, herbeiholen konnte, doch dann – „Sieh mal!“, rief Vicky. Nur Sekunden später sah er ungläubig auf seinen Zauberstab hinab.
 


 

In den nächsten Wochen und Monaten reisten Vicky und er quer durchs Land. Sie war wirklich gut im apparieren, und so kamen sie schnell voran. Den Winter verbrachten sie in einem Bungalow, wie Kai es sich schon vorgestellt hatte. Sie schützten sich mit einigen Zaubern. Sobald es jedoch wieder wärmer wurde, verließen sie den Ort, denn es kamen Gerüchte auf, dass immer intensiver nach Leuten wie ihnen gefahndet wurde. Ab und an stießen sie auf andere Flüchtlinge, die es genauso hielten. Manchmal waren ehemalige Mitschüler dabei. Doch auch wenn sie sich eine Zeit lang zusammenschlossen, trennten sich die Gruppen bald wieder, denn es war einfach sicherer, in kleineren Verbänden zu reisen.
 

»Mein Gott, Kai, was ist denn los bei euch?« Yuriys Stimme klang gehetzt und sehr verzerrt durch den alten Telefonhörer. Kai stand in einer Kleinstadt an einer Telefonzelle, da er damals auch sein Handy an die Greifer verloren hatte. »In den Nachrichten kommen laufend irgendwelche Katastrophenmeldungen aus Großbritannien. Ist dieser Lord Dingsda etwa daran schuld?«

„Wahrscheinlich“, antwortete er knapp, „Aber wie du hörst, geht es mir gut. Es ist soweit alles in Ordnung.“

»Bis auf die Tatsache, dass du auf der Flucht bist, meinst du wohl!«, herrschte Yuriy ihn an, »Verdammt, komm doch einfach auf den Kontinent! Das muss doch irgendwie zu schaffen sein, was wollen die denn von dir, die achten doch bestimmt nicht auf jeden kleinen Zauberlehrling, der sich über die Grenze schummelt!«

„Ich glaube, bei Schlammblütern greifen sie härter durch…“, murmelte Kai.

»Bei was?«

„Ach nichts.“ Er seufzte. „Hör zu, Yura, ich melde mich wieder, sobald es möglich ist, okay? Ich muss jetzt weiter, bevor uns noch jemand aufspürt…“

»Aber-« Er legte auf.
 

Schließlich fanden sie ein abgelegenes Loch in Schottland, an dem sie eine Weile bleiben konnten. Im Moment waren sie zu dritt, denn eine ältere Dame, Mrs. Longbottom, hatte sich zu ihnen gesellt. Nachdem Todesser sie zu Hause angegriffen hatten, weil ihr Enkel wohl Hogwarts aufmischte (das erzählte sie mit unverhohlenem Stolz), war sie ebenfalls auf der Flucht.
 

„Sieh mal, es gab Schokolade im Angebot.“ Stolz schwenkte Kai die prall gefüllte Einkaufstüte und fühlte erleichtert, wie der Zauber nachließ, mit dem Vicky seine Gesichtszüge verändert hatte. Sie machte nun große Augen. „Wow, wo hast du das alles her?“

„Tja…“, sagte er gedehnt, „Ich habe vielleicht kein Verließ in Gringotts, dafür aber eine schwarze American Express.“

„Und…ist das wertvoll?“

„Oh Vicky, hat dir deine Mutter denn gar nix beigebracht? Sagen wir’s so: wenn wir Muggelprobleme hätten, könnte ich beinahe alle mit dieser kleinen Karte lösen. Nur leider haben wir ein großes magisches Problem, daher nützt sie uns nur zum Einkaufen.“

„Schade“, brummte sie und nahm ihm endlich die Tüte ab. Gemeinsam gingen sie in das Zelt, das Mrs. Longbottom beigesteuert hatte. Drinnen war es beinahe so geräumig wie in einer kleinen Wohnung.
 

Er hatte die alte Dame einmal gefragt, warum sie nicht einfach das Land verließ. Doch sie wollte zum einen die Heimat einfach nicht verlassen und war zum anderen eine äußerst kämpferische Natur. Sie war bekennende Potter-Anhängerin. Auch Kai hatte angefangen, nachzudenken. Mit Vicky wäre es durchaus möglich, auf den Kontinent zu apparieren, doch er fragte sich inzwischen, ob er das überhaupt noch wollte. Irgendwie fühlte er sich als ein Teil der britischen magischen Gesellschaft, und so schien es ihm nur legitim, dass er zusammen mit all den anderen diese Krise auf sich nahm. Was er von Potter halten sollte, wusste er dennoch nicht. In Slytherin hatte man nie gut von ihm gesprochen, aber das musste ja nichts heißen. Allerdings war Potter wie vom Erdboden verschluckt, und niemand wusste, ob er vielleicht geflohen war oder tatsächlich im Geheimen gegen Voldemort agierte. Sie hörten Potter Watch, sobald sie es empfingen, aber selbst von dort kamen nur spärliche Informationen.
 

„Kai?“ Mrs. Longbottom kam zu ihm, „Wir müssen reden, Junge.“ Gemeinsam gingen sie nach draußen; Mrs. Longbottom holte eine alte Pfeife heraus und Kai daraufhin die Packung Zigaretten, die er sich gegönnt hatte. Die ersten Minuten verbrachten sie schweigend nebeneinander stehend, während sie ihre ersten Züge nahmen.

„Vicky erzählte neulich etwas“, fing sie dann an, „Du hast da wohl einen ganz prächtigen Geist bei dir.“

Kai zog erst die Augenbrauen hoch, doch dann wusste er, was sie meinte. Er holte eine Kette unter seinem Shirt hervor, an der der Bit seines Blades in einem Anhänger baumelte. Das hatte er sich von Max abgeguckt. Mit der Erinnerung kam ein Gefühl in ihm hoch, als wäre seine Zeit mit den Bladebreakers schon seit Ewigkeiten vorüber, dabei hatten sie vor nicht einmal drei Monaten noch eine Weltmeisterschaft geschlagen.

Er zeigte ihr das Emblem des Phönix‘. „Suzaku“, sagte er, „Sie ist eigentlich kein Geist... “

Mrs. Longbottom blies nickend Rauch aus. „Nun, die genauen Unterschiede sind ja nicht so wichtig. Kann deine Suzaku uns im Notfall ein wenig unter die Arme greifen?“

Kai hob die Schultern. Er wusste zwar, dass er das Bit Beast auch rufen konnte, ohne seinen Blade dabei zu benutzen, aber er hatte noch nie ausprobiert, wie wirkungsvoll seine Attacken dann waren. „Ich kann es nicht sagen“, meinte er schließlich, „Aber in der Regel macht sie jedem Feuer unterm Hintern. Wortwörtlich.“
 


 

Suzaku bekam bald eine Gelegenheit, sich zu beweisen. Voldemorts Greifer spürten sie auf. Kai wusste auch später nicht, wie das passieren konnte, denn sie hatten eigentlich immer aufgepasst. Aber er kannte nun einmal nicht alle Geheimnisse der Zaubererwelt, also gab es wohl immer noch Dinge, die ihm unerklärlich erscheinen mussten.

Jedenfalls, man hatte sie gefunden. Urplötzlich wurden um das Zelt Stimmen laut, gerade, als sie es sich drinnen bequem gemacht hatten. Sofort sprangen sie alle auf und zückten ihre Zauberstäbe, während schon die ersten Flüche durch die Plane knallten.

„Protego!“, rief Vicky, und fürs erste waren sie geschützt. Mrs. Longbottom führte eine gelungene Ganzkörperklammer aus, und das erste, was Kai einfiel, war ein Schockzauber. Dann war es draußen ruhig. Sie blickten sich angstvoll an, verständigten sich stumm. Vicky nahm den Schutzzauber zurück und sie traten vorsichtig nach draußen. Dort lag ein Greifer, den ein Klammerfluch getroffen hatte. Ansonsten war niemand zu sehen.
 

Das Zelt ging in Flammen auf.

Sie wirbelten herum, und Kai musste zur Seite springen, um einem unheilvoll grünen Blitz auszuweichen. Hier war scheinbar eine ganze Mannschaft angerückt, um ihnen den Garaus zu machen. Mehr durch Zufall als durch Können gelang es ihm danach, eine der Gestalten zu schocken, doch bald erkannte er, dass sie umzingelt waren.

Und dann kroch ihm Kälte in die Glieder. Furchterregende Kälte. Mit einem Mal tauchte aus dem Dunkel seiner Erinnerungen Volkovs maskierte Fratze auf und ließ sich einfach nicht mehr verdrängen.

„Dementoren!“, sprach Vicky seine Gedanken aus; ihre Stimme zitterte.

„Patronus“, fauchte Mrs. Longbottom auf Kais anderer Seite. Die Spitze ihres Zauberstabs leuchtete silbrig. Sie holte noch einmal tief Luft und rief: „Expecto Patronum!“ Vor ihnen erschien eine fette, silberne Kröte. Der Patronus stellte sich schützend vor sie, doch noch immer feuerten die Greifer Flüche ab.

Mit einer entschlossenen Bewegung schob Kai seinen Zauberstab zurück in die Tasche. So kamen sie hier nicht weiter. „Gib mir Deckung“, sagte er zu Vicky und versuchte dann, so gut es ging in sich zu gehen. Energisch schob er Volkovs Gesicht, das immer noch in seinen Gedanken spukte, zurück. Er hatte Übung darin; selbst in den schwierigsten Battles gelang es ihm, sein Bit Beast zu rufen. Aber in Battles ging es normalerweise auch nicht um Leben und Tod…

Er spürte Suzakus Anwesenheit. Indem seine Fähigkeiten als Blader zugenommen hatten, hatte sich auch die mentale Bindung zu ihr verstärkt. Es war nicht mehr nötig, dass der Gegenstand, in dem sie steckte, in Bewegung war. Indem er den mentalen Fluss zu ihr stabil hielt, konnte er sie aus jedem beliebigen Ding befreien.
 

Der Phönix brach schließlich aus seinem Bit hervor und erhellte mit einem Mal die ganze Umgebung. Erst jetzt sahen sie, wie viele Greifer es wirklich waren. Mit einem Wort: Es waren zu viele. Doch Suzaku ging auf sie los, wie es nur ein geistähnliches Wesen konnte: Sie erzeugte unglaubliche Hitze, setzte hier und da Umhänge in Brand und ging doch einfach durch sie hindurch. Sogar die Dementoren wichen vor ihr zurück. Aber ihr wirksamstes Mittel war der Schrecken, den sie verbreitete. So etwas hatten die Greifer noch nicht gesehen. Kai nutzte die Chance, die sich ihnen nun bot und packte die erste Person, die er erreichte, bei der Hand. Es war Vicky. „Komm schon!“, herrschte er sie an, denn sie starrte immer noch ungläubig sein Bit Beast an. Sein Ruf schien sie wachzurütteln, denn als sie an Mrs. Longbottom vorbeirannten, stieß sie sie an, und die alte Dame setzte sich mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit in Bewegung. Gemeinsam schlugen sie sich durchs Unterholz des kleinen Wäldchens, das ihnen bis jetzt Schutz geboten hatte.
 

„Wir müssen uns trennen!“, rief Kai nach hinten und sprach damit aus, was sie wohl alle schon gewusst hatten, als die Greifer aus dem Nichts aufgetaucht waren. Jetzt, wo sie von Suzaku wussten, wäre er bekannt wie ein bunter Hund.

„Ich bleib bei dir“, keuchte Vicky, und auch das hatte Kai schon geahnt, deshalb reagierte er gar nicht auf ihre Worte.

„Viel Glück!“, rief in diesem Augenblick Mrs. Longbottom, und dann disapparierte sie. Vicky und er hielten daraufhin an. Kai versuchte, seinen Atem möglichst leise zu halten und in den Wald hinein zu lauschen. Es war nichts zu hören. Nur ein vager Schein in der Ferne zwischen den Bäumen ließ auf einen Brand schließen; entweder war es das Zelt oder Suzaku. Er rief sie stumm zu sich und spürte, wie ihr Geist wieder in den Anhänger sank. „Wir müssen hier weg“, beschloss er und Vicky nickte. Der Griff ihrer Hand verstärkte sich und sie zog ihn in die bekannte drehende Bewegung.
 

„Wo sind wir?“

„Verbotener Wald“, murmelte Vicky, „Außerhalb des Schlossgeländes. Es war das erste, das mir eingefallen ist.“

„In Ordnung. Gehen wir.“

„Wohin?“, fragte sie, „Nach Hogwarts?“

Er hob die Schultern. „Lass es uns versuchen. Dort werden sie als letztes nach Schulschwänzern wie uns suchen, oder?“

„Aber wie kommen wir unbemerkt rein?“, fragte sie noch immer zweifelnd. Kai improvisierte laut: „Wir gehen erstmal aufs Schlossgelände. Dann besorgen wir uns Uniformen…mit Accio oder so, oder wir gehen runter in die Waschküche und überreden die Elfen…und dann…suchen wir uns ein Versteck…“

„Klingt gut“, meinte Vicky, doch er wusste, dass sie das nur sagte, weil ihr nichts Besseres einfiel.
 

Nicht einmal zwei Stunden später liefen sie wie ganz gewöhnliche Schüler durch die Gänge von Hogwarts. Mit mildem Erstaunen hatte Kai bemerkt, dass Vicky eine Ravenclaw war, während sie passende Schuluniformen gesucht hatten. Das erklärte jedoch auch, warum sie sich zuvor nie begegnet waren.

„Okay…“, murmelte sie, „Wir können ja nicht einfach in den Unterricht spazieren…aber wo, verdammt, sollen wir uns verstecken?“

„Wir können nicht die einzigen sein“, überlegte Kai, „Die alte Longbottom hat doch immer von ihrem Enkel und seine Untergrundbewegung geredet…irgendwo im Schloss muss eine kleine Rebellion abgehen, meine ich.“
 

In diesem Augenblick machte Vicky einen erschrockenen Satz zur Seite und trat ihm auf den Fuß. Kai sog scharf die Luft ein und wollte sie schon anfahren, als er ihren ausgestreckten Zeigefinger bemerkte. „Die war eben noch nicht da!“, stieß sie aus, während sie auf die Tür vor sich deutete. Kai musterte erst Vickys Gesicht und dann die Tür. Wenn in Hogwarts aus dem Nichts etwas auftauchte, konnte es nie schaden, sich die Sache genauer anzusehen. Er hob die Schultern und stieß die Tür auf.

Augenblicklich wurden sie angestarrt. Vielleicht zwanzig verängstigte Gesichter blickten zu dem kleinen Treppenabsatz hoch, auf dem sie standen. Vicky hatte sich schmerzhaft fest in seinen Arm gekrallt.

Der Raum war groß, es gab sogar eine Empore. Überall baumelten Hängematten von der Decke, und die Ecken des Raumes waren in den Farben dreier Häuser der Schule gestaltet worden.
 

„Ist das hier die Rebellenallianz von Hogwarts?“, fragte Kai unbekümmert.

„Da seid ihr richtig“, kam die Antwort aus der Menge. Ein Junge in ihrem Alter erhob sich. Er sah übel mitgenommen aus. „Wir sind Dumbledores Armee.“ Er kam auf sie zu und streckte die Hand aus, doch als sein Blick auf Kais Brust fiel, stockte seine Bewegung. „Du bist ein Slytherin?“, fragte er scharf, und augenblicklich wurde protestierendes Gemurmel laut. Die Blicke wurden feindselig.

Kai hob eine Augenbraue und sah zurück zu Vicky, die ebenfalls recht erstaunt wirkte. „Soll das heißen, ich bin der einzige Slytherin, der je zu euch gekommen ist?“, fragte er ungläubig und erntete Nicken. Viele der Schüler hatten jetzt drohend ihre Zauberstäbe erhoben. Kai konnte nicht anders, er strich sich resigniert mit der Hand übers Gesicht und durch die Haare. Nach all dem Stress und der Gefahren, durch die sie die letzten Monate gegangen waren, wurde hier auf einmal alles wieder auf ihre Häuser reduziert. Er hätte lachen mögen, wenn es nicht so einen bitteren Nachgeschmack gegeben hätte.
 

„Wisst ihr, mir geht diese ganze Häuser-Kacke langsam so was von auf den Sack…“, murmelte er und sagte dann laut: „Ja, in Gottes Namen, ich bin aus Slytherin. Ich kann nicht behaupten, dass das die beste Entscheidung ist, die euer blöder Hut jemals getroffen hat.“

„Aha“, unterbrach jemand altklug, „Aber ihr Slytherins hattet immer ein Stein im Brett der Todesser, oder?“

„Keine Ahnung!“, entgegnete Kai, der seine Stimme nicht länger in annehmbarer Lautstärke halten konnte. „Ich bin muggelstämmig. Ich war die letzten Monate damit beschäftigt, den Todessern aus dem Weg zu gehen.“

Damit hatte er ihre Mäuler wohl erstmal gestopft. Er hatte absolut keine Lust mehr, sich weiter mit irgendwelchen dummen Schülern über Häuser zu streiten.
 

Vicky ergriff das Wort: „Du bist Neville Longbottom, oder?“, fragte sie den Anführer, der immer noch vor ihnen stand und nun nickte. „Wir haben deine Großmutter getroffen und mit ihr gegen Todesser gekämpft. Es geht ihr gut, obwohl wir einen Slytherin bei uns hatten. Reicht das, damit wir bleiben dürfen? Wir sind ziemlich müde.“

Nevilles Blick wanderte von ihr zurück zu Kai. „Wie kommt es, dass Muggelstämmige nach Slytherin kommen?“, fragte er argwöhnisch.

„Frag den verdammten Hut“, entgegnete Kai, „Aber ich kenne ein paar mehr. Frag mich nicht, wo die geblieben sind. Wahrscheinlich außer Landes.“

„Na gut.“ Neville seufzte. „Bleibt hier. Wir können jeden gebrauchen. Außerdem hat der Raum euch hier reingelassen, also kannst du schon mal kein Spitzel für die Carrows sein. Und sieh mal, er hat dir sogar schon eine Slytherin-Ecke eingerichtet.“ Kai blickte an ihm vorbei zu einer Nische, wo das Banner von Slytherin hing, das vorher noch nicht dagewesen war. Die Leute wichen davor zurück, als wäre es verbotenes Territorium. „Ich hasse Grün“, murmelte Kai, „Muss das denn sein?“ In diesem Augenblick verschwand das Banner und er machte große Augen. „Was ist das denn bitte für ein genialer Raum? Krieg ich stattdessen ein Nirvana-Poster?“ An der Wand erschien die Bandflagge, die auch zu Hause in seinem Zimmer hing. „Geil, der macht ja echt alles!“



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Kommentare zu dieser Fanfic (16)
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Von:  FreeWolf
2019-08-10T16:01:52+00:00 10.08.2019 18:01
Ich bin, ausgehend von Weltenbummler, neugierig geworden, und wurde fündig: Meine Erwartungen hast du allemal erfüllt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du ausgerechnet diese Szene auswählst, aber ea macht Sinn und du schließt damit zwei Plotlücken für mich: 1. Wo war Voltaire in GRev?, 2. Wie viel wussten NeoBorg über Kais Pläne. Danke! <3
Antwort von:  lady_j
11.08.2019 23:13
also das DIESE story noch mal jemand liest hätte ich nicht gedacht :D Danke für's kommentieren! ich find's im nachhinein ein bisschen sehr OOC, vor allem, da ich mir gerade für Omniscient viele gedanken um DIESEN teil der serie mache... hast du theorien zu den plotlücken, die du teilen möchtest? ^^'
Antwort von:  FreeWolf
13.08.2019 00:39
Hihihi, die Neugier siegt nun mal. :D Ich werde auch die anderen Kapitel noch kommentieren, und Headcanons mit dir teilen, aber step by step, ich bin nicht schnell.

Ich finde, das ooc ist in gewisser Weise auch berechtigt (und eigentlich nicht ooc, abgesehen von Voltaire, der mir ein bisschen zu stark "lieber Opa" geworden ist. Andererseits kann es ja sein, dass Therapie Wunder wirkt ;-)), weil Neo Borg ja doch mit einer Extremsituation konfrontiert ist.

Ich finde es sehr gut gelungen, wie jeder der Anwesenden auf seine sehr eigene Art mit der Enthüllung von BEGA umgeht. Interessant finde ich dabei, dass Sergej läuft und nicht Yuriy, nachdem Yuriy in Omniscient ja zu laufen begonnen hat. Aber das ist vielleicht mehr eine Entwicklung in deinem Headcanon, die mir aufgefallen ist.
Von: abgemeldet
2017-02-04T20:12:43+00:00 04.02.2017 21:12
Oh wow, die NeoBorgs als herzliche, coole Partylöwen *.*

Ich will eigentlich wirklich nicht mit dummen Klischees kommen, aber diese robusten Trinksprüche wären, zumindest meiner Erfahrung nach, tatsächlich die Art und der Humor von Russen.

Und natürlich wissen Russen, wie man Wodka trinkt- nur echt mit sauren Gurken :,D

Gott, wie gerne wäre ich bei dieser Party dabei gewesen! So wie du schreibst, kann man sich den hübsch hergerichteten Raum und die jungen, wilden Gästen gut vorstellen. Außerdem wird man von der ausgelassenen Atmosphäre, die in dem Raum herrscht, angesteckt :)

Wie Kai in das Zimmer gekommen ist und wie Boris die Flaschen liebevoll auf dem Tisch geordnet hat, waren die lustigsten Szenen :D

Ich bin froh, dass ich diese Fanfic gefunden habe, und die vorigen Kapitel sind im Übrigen auch toll :)

Herzlichst und hochachtungsvoll,
cornelia_legend
Von:  WeißeWölfinLarka
2012-09-19T13:08:27+00:00 19.09.2012 15:08
Es ist anstrengend zu lesen, weil so spannend!
ich hab mich sofort ins HP-Fandom versetzt gefühlt.
Klasse ist Kais Begeisterung über den Raum der Wünsche.. Super.
Andere Frage: Wird dieser HP-Exkurs auch ncoh ein bisschen YuKa enthalten oder beschränkt sich das auf Freundschaft? :)
Von:  WeißeWölfinLarka
2012-09-19T12:46:32+00:00 19.09.2012 14:46
Haha, "Was machst du nur mit mir", also stellenweise dachte ich, das wird hier ein kleines Andeutungsspiel auf KaRe :D
(aber das ist wohl nur meine Einbildung? Oh nee, ich sehe, abgemeldet sieht das auch so XD)

Die Trinksprüche finde ich ja sehr gelungen und soger sehr Charaktertreu, muss ich sagen, aber das "Tada, du alter Sack" ist schon ein wenig OOC, wenn nicht gar sehr OOC von Kai.
aber das ist okay.
Sie sollen ja auch mal Spaß haben.
Ich finde es super. Das ist wirklich ein typischer Saufgrund, trinken und kotzen. Klasse. Weckt Erinnerungen... :D
Wie auch immer, deine Kurzgeschichte ist sehr gelungen. Ich fühlte mich direkt in die Story versetzt. Vielleicht war ich an einigen Stellen etwas verwundert über das Verhalten der Neoborg, aber die sind so unbekannt, also man weiß nicht, man vermutet nur, wie sie sich verhalten, weil so Wenig über sie bekannt ist, du hast sie menschlich gemacht. Und Überzeugend.
Von:  WeißeWölfinLarka
2012-09-19T12:32:39+00:00 19.09.2012 14:32
Ich weiß gar nicht was ich sagen soll.
Das ist unglaublich authentisch. Und das Ende erst!
Und wie du "heimlich" die echte Geschichte noch mit einbindest, finde ich auch gelungen, wenn es nur der im letzten Teil drei kleine Worte sind.
Unglaublich schön.
Gänsehaut-Feeling und ich weiß nicht warum.  Kais trockener Kommentar ist eine lustige Pointe für die doch eher düster oder deprimierende Stimmung, die diese Kurzgeschichte irgendwie auf mich auswirkt. Er hellt das Ende etwas auf.
Kleine Frage zum Schluss: Wo ist Ivan? Also, warum ersetzt Sergei ihn und ergänzt ihn nicht?
Von:  WeißeWölfinLarka
2012-09-19T12:24:05+00:00 19.09.2012 14:24
Mit so einer Szene hatte ich nicht gerechnet. Für mich ist diese BEGA-Sache schon so lange her - ich finde es erstaunlich überzeugend, wie du aus Kais Sicht die Dinge beschreibst. Plausibel.
Am besten gefällt mir folgende "Faustregel":
In der Abtei blieb niemand irgendwo allein, das war die oberste ungeschriebene Regel. Such dir jemanden, häng dich an ihn dran und bleib niemals zurück. Je größer und stärker der Typ ist, an den du dich hängst, desto besser.
Das ist so... einprägsam, so bedrohlich und einschüchternd.
Tolles Kapitel.
Von:  kylara_hiku_Lamore
2012-08-29T09:20:36+00:00 29.08.2012 11:20
lol sauforgien zu schreiben ist lustig, aber die hir zu lesen war noch besser.
Von:  between_black_pages
2012-07-21T00:54:35+00:00 21.07.2012 02:54
Okay, ich geb zu ich hab bisher nur die Harry Potter-Kapitel gelesen, aber die sind der Wahnsinn!! Du solltest wirklich in Erwägung ziehn, da was größeres draus zu machen! (falls du das noch nicht getan hast...;))
Jetzt haben wir fast drei Uhr nachts und ich kündige dir einfach mal einen längeren Kommentar an, für wenn mein Kopf nicht mehr so matschig ist!^^
Von: abgemeldet
2012-05-08T21:34:20+00:00 08.05.2012 23:34

#7 Beschreibe einen Tag aus seiner Kindheit

Also irgendwas machst du falsch. Du schreibst toll, gerade diese Reihe finde ich wirklich unterhaltsam durch ihren Canonbezug, - irgendwie tuts mir da fast schon weh, dass keiner kommentiert.

Na was solls: Das hier ist auf alle Fälle wieder eindeutig einer meiner Lieblinge aus der Sammlung.

Ich war praktisch sofort drinnen in der Geschichte und das ist bei so kurzen Storys gar nicht mal so leicht. Ich habe immer das Gefühl, du weißt genau, worüber du schreibst, und falls du's nicht weißt, verkaufst du dich zumindest verdammt gut.

Bei ein paar Stellen musste ich wirklich lachen. Das mit der Cola ist süß, dieses ganze Gehandel und wie Yuriy am Schluss den Chef raushängen lässt mit deinem "Beiß ab." *g* Mein erster Gedanke war, dass die anderen als Vortester herhalten dürfen. Könnte ja giftig sein.

Ich finde auch, dass diese Kindersicht sehr gut gelungen ist.

Schöner Teil.
Von:  Dradra-Trici
2012-04-20T12:41:42+00:00 20.04.2012 14:41
> Ich glaube, wenn er etwas sammeln würde, dann wären es alte Sowjetpanzer
Wir mussten lachen xDD

Wir können es uns ehrlich gesagt zwar nicht vorstellen, das Kai und die Blitzis i-wie soetwas Ähnliches wie Freunde sind/werden, aber das sei mal jedem selbst überlassen^^
Dass Bryan von Kai angepisst ist, passt hingegen sehr in unser Bild :)
Bei Yuriy denken wir eigentlich, dass er Kai zwar als starken Blader akzeptiert, aber ob er z.B. zusammen mit ihm kochen würde...?
Aber gut, das kann ja jeder interpretieren, wie er mag^^

Oh, der von abgemeldet erwähnte Spruch war auch wirklich gut xD

Insgesamt finden wir's auch schön zu sehen, wie du diese paar Szenen quasi mit den frühen BEGA-Ereignissen verknüpft hast ^_^

Und Kai kam wirklich gut rüber, finden wir :)




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