Zum Inhalt der Seite

Just Kai.

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

#7 Beschreibe einen Tag aus seiner Kindheit

„Wir haben die Kippen, jetzt will ich auch die Bezahlung sehen!“

„Wenn ich es doch sage…! Ich hab nix zum Bezahlen!“

„Tja, dann kriegst du auch keine Kippen.“

„Ich verprügle dich, Yuriy Alexandrowitsch!“

„Dazu musst du mich erstmal kriegen!“
 

Yuriy packte seine Hand und zog ihn hinter sich her. Kai blieb gar nichts anderes übrig, als so schnell zu laufen, wie seine Beine ihn tragen konnten. Und selbst das reichte kaum aus, um mit dem Älteren Schritt zu halten. Erst, als sie einige Haken geschlagen und sich in einer sicheren Ecke verkrochen hatten, ließ Yuriy ihn wieder los. „Scheiße“, fluchte er dann, „Die ganze Arbeit umsonst.“

Missmutig blickten sie beide auf die Packung Zigaretten hinab, die sie heute Morgen todesmutig im Univermag geklaut hatten –in Erwartung, zum Tausch eine Handvoll Kaugummis zu bekommen.
 

„Und jetzt?“, fragte Kai rhetorisch, denn er hatte sofort einen neuen Vorschlag parat: „Wir können zurück zum Univermag gehen, dann schleich ich mich dieses Mal rein und klau uns halt selber Kaugummis.“

„Aber die stehen direkt vor der Nase von Dimitrij Pablowitsch“, gab Yuriy zu bedenken, „Das schaffen wir niemals.“

„Ja, aber wo sollen wir jetzt mit den Kippen hin?“ Wegwerfen wäre unsinnig gewesen nach all der Mühe. Und in ihrem Zimmer verstecken konnten sie die Packung auch nicht, denn diese wurden allabendlich kontrolliert.

„Oh, ich hab’s!“, fiel ihm dann ein, „Wir können zu Antonin gehen und fragen, ob wir Sobatschka dafür den Tag über haben dürfen.“

Yuriy sah ihn zweifelnd an. „Nee, das lohnt sich nicht“, meinte er, „Ich geb doch dem Penner keine Kippen, damit ich seinen Hund Gassi führen kann. Vor allem dann nicht, wenn ich dich mit deinem Babygesicht vorschicken kann und wir Sobatschka umsonst kriegen.“ Er sprach sehr gedehnt und von oben herab, immer darauf bedacht, seine Stimme tiefer klingen zu lassen, als sie war. Das hatte er sich von den älteren Jungen abgehört, wusste Kai. Und natürlich konnte er das „Babygesicht“ nicht auf sich sitzen lassen und zeigte Yuriy die Feige. Dummerweise nahm der ihn trotzdem kein Stück ernster. Er war es, der die Kippen geklaut hatte, also durfte er jetzt auch bestimmen, was weiter passierte.

Plötzlich leuchteten seine Augen hell auf. „Ich weiß was!“, rief er aufgeregt, „Du kennst doch Dima? Bei dem war ich doch neulich, als wir rausdurften. Der hat eine große Schwester, Ljudmila. Und weißt du, wo die arbeitet?“ Kai sah ihn gespannt an. „Bei McDonald’s.“ Jetzt strahlte auch Kai übers ganze Gesicht, denn er wusste nun, was sein Freund vorhatte.

„Coca-Cola!“, riefen sie gleichzeitig.
 

Ein paar Metrostationen von der Abtei entfernt befand sich ein Pepsi-Automat, der einzige im ganzen Viertel. Yuriy und Kai verbrachten einige ihrer freien Tage damit, die ganze Umgebung nach Kopeken abzusuchen, die die Leute verloren hatten oder sich ein bisschen Kleingeld zu erbetteln, um dann später eine Flasche Pepsi aus dem Automaten zu ziehen. Doch viele der Jungen, die sie in der Stadt trafen, erzählten, dass Coca-Cola ganz anders schmeckte, als Pepsi-Cola. Und das mussten sie natürlich ebenfalls ausprobieren. Nur leider gab es Coca-Cola bis jetzt nur bei McDonald’s, und davon gab es nur einen in ganz Moskau.
 

Ihre Chancen, nun endlich in langersehnten Genuss zu kommen, standen gar nicht mal schlecht. Yuriy hatte eine Westmarke geklaut, und für so teure Kippen bekam man schon so einiges. Außerdem war es noch nicht mal Mittag; sie hatten praktisch noch den ganzen Tag Zeit. Wenn es in der Abtei einen freien Tag gab, dann war es den Aufsehern auch vollkommen egal, wo die Jungen ihn verbrachten. Hauptsache, es waren abends alle wieder da. Natürlich hatten schon viele versucht, so von der Abtei abzuhauen, aber sie wurden immer schnell gefunden.

Kai dachte nie auch nur daran, es ihnen gleichzutun. Er hätte eh keine Chance gehabt, denn sein Großvater leitete die ganze Anstalt. Wirkliche Alternativen gab es für ihn da draußen auch nicht: Er könnte zu seiner Mutter gehen. Aber die konnte ihn nicht durchbringen. Sie war selber immer knapp bei Kasse und arbeitete sich den Arsch ab, um überhaupt über die Runden zu kommen. Die andere Möglichkeit war, sich den Banden von Straßenjungen anzuschließen, und das war einfach nur komplett schwachsinnig. Schließlich ging es ihnen hier in der Abtei gar nicht so schlecht. Wenn man sich an die Regeln hielt und gut bladete, bekam man immer drei Mahlzeiten pro Tag und ein warmes Bett. Und Kai war ein guter Blader, genauso wie Yuriy, also brauchten sie sich keine Sorgen zu machen.
 

„He, wo wollt ihr denn hin?“, rief ihnen jemand hinterher, als sie das Gelände verließen. Ein Blick zurück sagte ihnen, dass es Boris war, der ihnen folgte, zusammen mit Ivan. „Ihr macht immer alles alleine“, quengelte der Jüngste.

„Wo ist Sergeij?“, fragte Yuriy, ohne auf Ivan einzugehen.

„Der darf mit den Älteren abhängen“, brummte Boris, „Ich glaube, sie rauchen irgendwo heimlich.“

„Nee, können sie gar nicht, sie haben nämlich gar keine Kippen.“ Und so erzählte Yuriy den beiden die ganze Geschichte. Natürlich wurden auch Boris und Ivan von der Cola-Euphorie gepackt und wollten nun unbedingt mitkommen.

„Aber wir kriegen bestimmt nur eine Flasche für die Kippen!“, wandte Kai ein und stützte die Arme in die Hüften, „Das ist doch viel zu wenig für uns alle!“

Ivan dachte kurz nach. „Na dann besorgen Boris und ich halt noch eine Flasche Wodka oder so“, schlug er vor, „Dann können wir zwei Flaschen verlangen.“

„Gute Idee“, stimmte Yuriy zu, „Aber nicht im Univermag, da waren wir heute schon.“ Doch Ivan winkte mit einer kaufmännischen Geste ab. „Ich frag Pavel. Der schuldet mir noch was. Und er hat immer irgendwo ein bisschen Wodka.“ Und schon wuselte er davon.
 

Es dauerte nicht einmal eine Viertelstunde, bis er wiederkam. Zu viert gingen sie zur nächsten Metro-Station und fuhren schwarz ins Zentrum der Stadt zum Puschkin-Platz. Dort leuchtete das große, gelbe M ihnen vielversprechend entgegen, und daneben stand der rot-weiße Schriftzug, dessen lateinische Buchstaben sie nicht lesen konnten; aber das war auch nicht nötig, denn sie wussten ja, was dort stand.
 

„Ich geh rein und frag, ob Ljudmila da ist“, sagte Yuriy, „Und dann bring ich sie raus. Sonst kriegt sie noch Ärger von ihrem Chef.“ Die anderen nickten beifällig. Sie kannten die Geschichten über das erste McDonald’s-Restaurant: Ganz am Anfang, noch zu Sowjetzeiten, als sie alle noch Babys gewesen waren, hatte man die Burger auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Na klar musste der Chef da auch heute noch aufpassen.

Yuriy war nur ein paar Minuten weg, dann winkte er sie zum Hintereingang, wo eine junge Frau stand. Sie war ziemlich rundlich; die seltsame Schürze stand ihr nicht –aber es hätte wohl auch keine einzige Frau in der ganzen Stadt gegeben, die so einen Fummel freiwillig tragen würde. Ihre dunklen Mandelaugen musterten sie nacheinander mit einem gelangweilten Blick. „Was habt ihr?“, fragte sie gedehnt.
 

„Kippen und Wodka“, sagte Yuriy.

„Selbstgebrannt?“

„Was denn sonst?!“, antwortete Ivan.

„Ja, was fragst du?“, sagte Ljudmila, „Ich weiß, wo ihr herkommt. Ihr Jungs klaut wie die Elstern. Woher soll ich wissen, was ihr mir unterjubelt?“

„Hier, die Kippen sind noch zu.“ Yuriy zog die Packung aus seiner Tasche und zeigte ihr das Siegel.

„Und hiervon kannst du gerne einen Schluck kosten“, fügte Ivan hinzu und holte seine Flasche heraus. Ljudmila nahm sie ihm ab und roch am Inhalt, als sie sie geöffnet hatte.

„Ziemlicher Schund. Aber er scheint stark zu sein“, sagte sie. Sie wog die „Ware“ in den Händen, als wolle sie anhand des Gewichts noch mal die Echtheit prüfen, dann zuckte sie mit den Schultern. „Na gut. Zwei Mal sagst du, ja?“, fragte sie Yuriy, „Ich geb euch zwei mittlere dafür. Mit Eis?“

„Klar“, behauptete der Rothaarige, obwohl er offensichtlich weniger Ahnung von einer Fastfoodbestellung hatte, als er zugeben wollte. Ljudmila verbarg Wodka und Zigaretten unter ihrer Schürze und ging wieder hinein. Kurze Zeit später kam sie wieder, diesmal jedoch in Eile. „Schnell, nehmt und verzieht euch“, sagte sie und hielt ihnen eine Papiertüte hin, „Gerade hat jemand einen Burger vermasselt. Der wäre sowieso im Müll gelandet, also hab ich ihn mit reingestopft. Und jetzt ab!“ Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Yuriy schnappte sich die Tüte und sie verschwanden so schnell es ging im Gewirr der Leute auf der Straße.
 

Während der Rückfahrt in der Metro packte Yuriy aus: Die Tüte enthielt zwei Pappbecher voll Coca-Cola und einen in fettiges Papier eingewickelten Burger, den sie kritisch beäugten.

„Sieht…ziemlich räudig aus“, stellte Kai fest und hob die obere Brötchenhälfte an.

„Beiß ab, ich will wissen, wie es schmeckt“, befahl Yuriy, woraufhin er einen Blick von Kai kassierte, der andeuten sollte, dass der ihn gerade für verrückt erklärte. In diesem Moment griff Boris nach dem Burger und biss todesmutig hinein. Die anderen beobachteten gespannt, wie er kaute und schluckte.

„Es schmeckt nach…“ Boris blickte nachdenklich nach oben, „Also…irgendwie nach gar nichts Besonderem. Soße. Und Fett.“ Daraufhin ließen sie das Teil einmal kreisen, sodass jeder ein Stück abbekam. Wenig begeistert kaute Kai auf seinem Bissen herum und war froh, dass als nächstes die Cola kommen würde. Einen Becher bekamen Ivan und Boris, den anderen teilte er sich mit Yuriy. Natürlich musste er dem Rothaarigen den Vortritt lassen, und dieser nahm auch gleich einen verdammt großen Schluck, sodass Kai beinahe Stress gemacht hätte, weil er fürchtete, nichts mehr abzubekommen. Doch dann wurde der Becher an ihn weitergereicht und er schmeckte zum ersten Mal Coca-Cola, leicht verdünnt durch die tauenden Eiswürfel und bei weitem nicht so prickelnd wie direkt aus der Flasche. Aber er merkte es: Irgendwas war anders, wirklich.
 


 

Jahre später saßen sie am anderen Ende der Welt in einem McDonald’s: Yuriy, Kai, Boris und Sergeij an Ivans Stelle. Zwischen ihnen standen vier große Becher Cola, doch nur Sergeij aß einen Burger. Kai und Yuriy teilten sich eine Portion Pommes und Boris verzichtete ganz auf feste Nahrung.
 

In diesem Augenblick erinnerte Kai sich daran, an Russland, wo in den Jahren des Umschwungs alles möglich schien. Als Kind hatte er keine Ahnung gehabt von Jelzin oder den letzten Nachwehen von Glasnost und Perestroika, auch wenn das inzwischen die magischen Worte zu sein schienen, mit denen alles begonnen hatte. Es hatte ihn nicht interessiert; seine Welt waren die Abtei, die marmornen Metrostationen, die Straßen Moskaus gewesen.
 

Er überließ Yuriy den Rest Pommes. „Das ist jetzt über zehn Jahre her“, sagte er, „Und das Essen schmeckt immer noch scheiße.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  WeißeWölfinLarka
2012-09-19T12:32:39+00:00 19.09.2012 14:32
Ich weiß gar nicht was ich sagen soll.
Das ist unglaublich authentisch. Und das Ende erst!
Und wie du "heimlich" die echte Geschichte noch mit einbindest, finde ich auch gelungen, wenn es nur der im letzten Teil drei kleine Worte sind.
Unglaublich schön.
Gänsehaut-Feeling und ich weiß nicht warum.  Kais trockener Kommentar ist eine lustige Pointe für die doch eher düster oder deprimierende Stimmung, die diese Kurzgeschichte irgendwie auf mich auswirkt. Er hellt das Ende etwas auf.
Kleine Frage zum Schluss: Wo ist Ivan? Also, warum ersetzt Sergei ihn und ergänzt ihn nicht?
Von: abgemeldet
2012-05-08T21:34:20+00:00 08.05.2012 23:34

#7 Beschreibe einen Tag aus seiner Kindheit

Also irgendwas machst du falsch. Du schreibst toll, gerade diese Reihe finde ich wirklich unterhaltsam durch ihren Canonbezug, - irgendwie tuts mir da fast schon weh, dass keiner kommentiert.

Na was solls: Das hier ist auf alle Fälle wieder eindeutig einer meiner Lieblinge aus der Sammlung.

Ich war praktisch sofort drinnen in der Geschichte und das ist bei so kurzen Storys gar nicht mal so leicht. Ich habe immer das Gefühl, du weißt genau, worüber du schreibst, und falls du's nicht weißt, verkaufst du dich zumindest verdammt gut.

Bei ein paar Stellen musste ich wirklich lachen. Das mit der Cola ist süß, dieses ganze Gehandel und wie Yuriy am Schluss den Chef raushängen lässt mit deinem "Beiß ab." *g* Mein erster Gedanke war, dass die anderen als Vortester herhalten dürfen. Könnte ja giftig sein.

Ich finde auch, dass diese Kindersicht sehr gut gelungen ist.

Schöner Teil.


Zurück