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Des Schicksals Ränkespiele

von

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Erkundungstouren

Lange hatten Amelia und Morgane noch in der Wanne gesessen und über ihre Situation diskutiert. Inzwischen war die Haut an ihren Fingerspitzen und Zehen schrumpelig und wenn sie das Wasser nicht bald verließen, würden ihnen womöglich noch Schwimmhäute wachsen. Aber so war das eben, wenn zwei Frauen angeregt diskutierten. Zu allerlei Vermutungen waren sie gelangt. Angefangen von der Zeit, in die es sie verschlagen hatte, bis hin zu der doch sehr klischeehaften Erscheinung des Grafen und seines Schlosses, wenn man den Aspekt des Ortes bedachte: Transsylvanien. „Pass auf, am Ende ist das hier ein Vampir-Schloss und der Graf ein Dracula-Verschnitt!“ hatte Amy scherzend angemerkt. Dass sie damit den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, war ihr natürlich nicht klar. Aber was machte das schon? Wenn dem so war, so wäre es nur ein weiteres nettes Detail an der Gesamtsituation. Beide Frauen waren sich einig darüber, dass sie es mit diesem Ort mehr als gut getroffen hatten. Die Atmosphäre des Schlosses, die vielen hübsch morbiden Dekorationen und nicht zuletzt seine Bewohner ließen die Freundinnen ins Schwärmen kommen. Hier würde es sich eine Weile aushalten lassen, selbst wenn sie sich am Arsch der Welt in einer für sie ungewohnten Zeit befanden. Zumal sie sich arrangieren mussten, hatten sie doch sowas von gar keine Ahnung, wie sie in ihre Zeit zurückkehren konnten. Was macht also der unkomplizierte Goth: Take it and enjoy!
 

Es gab allerdings ein gewisses Problem an der Sache. Sie würden mit Sicherheit früher oder später erklären müssen, dass sie aus einer anderen Zeit kamen. Sie konnten nicht ewig irgendwelche Geschichten erfinden. Irgendwann würde es unweigerlich passieren, dass sie etwas behaupten, wovon ihre Gastgeber wissen, dass es falsch ist. Selbst wenn sie herausfinden konnten, in welcher Zeit sie waren, so war doch keine der beiden Freundinnen ein wandelndes Geschichtslexikon. Und selbst dann wären nicht alle Geschehnisse eines bestimmten Jahres bekannt. Zumal ihnen das Risiko, sich unvorbereitet zu verraten, viel zu groß war. Wer wusste denn, wie der Graf in diesem Fall reagieren würde? Es war also klar, dass sie die Karten auf den Tisch legen würden, aber sicher nicht, ohne genaue Vorbereitung. Das schloss sowohl das in Erfahrung bringen des genauen Datums, als auch das Bereitstellen von Beweisen für ihre Aussagen und zu einem kleinen Teil auch das Ausloten der Einstellung des Grafen mit ein. Das „Wie sagen wir es ihm?“ und „Wie wird er es aufnehmen?“ um genau zu sein. Somit war der Entschluss schnell gefasst, wie die nächsten Tage verlaufen würden: dem Grafen so gut es ging aus dem Weg gehen, bis sie das Datum wussten und dann vorsichtiges Herantasten an die gräfliche Auffassung. Beweise waren das kleinste Problem, sie hatten genug moderne Technik bei sich, um ihre Zeitreise zu bestätigen, ganz abgesehen von ihrer bloßen Erscheinung.
 

Nachdem die Freundinnen sich endlich aus dem Wasser, welches inzwischen recht kalt geworden war, erhoben hatten, sich abgetrocknet und frische Kleidung angezogen hatten, machten sie es sich gemeinsam auf dem großen Bett gemütlich. Während sie das bereitgestellte Essen exterminierten, setzten sie ihre Unterhaltung fort. „Weist du, was merkwürdig ist?“ fragte Amy mit vollem Mund. Nene schüttelte kurz den Kopf und sah die Freundin dann erwartungsvoll an. „Das hier.“ setzte die Größere fort, nachdem sie hinunter geschluckt hatte und gestikulierte mit dem Brot in ihrer Hand. „Der Graf meinte doch, er sieht Gäste gern in seinem Anwesen. Ist es da nicht merkwürdig, dass er, so als Adliger, nicht mehr bieten kann, als Brot, Wurst und Käse?“ „Vielleicht ist er gerade knapp bei Kasse.“ argumentierte Nene schulterzuckend. „Hm... Verarmter Landadel oder so?“ meinte Amy nachdenklich. Die Freundin nickte, sah dabei kurz an sich hinunter und dann wieder zu der anderen. „Hör auf mit der Schnitte herum zu wedeln und behalt deine Krümel bei dir!“ Amy kicherte. „Ja ja, ich weis. Dich vollkrümeln kannst du auch ganz prima alleine.“ Damit erntete sie einen vorwurfsvollen Blick der Freundin. Doch schließlich mussten beide Frauen lachen. „Naja, vielleicht liegt es auch einfach an der Jahreszeit. Ist sicherlich schwer im Winter so besondere Lebensmittel zu bekommen.“ sinnierte Nene weiter. Amy nickte nachdenklich. „Und ist ja auch nicht so, als ob hier sonderlich viel Zivilisation wäre. Ich hab jedenfalls nichts gesehen außer Wald und Schnee.“ Nun war es Nene, die nachdenklich nickte. Nach einer kurzen Stille zuckte sie mit den Schultern. „Was soll's. Es schmeckt und macht satt.“
 

Nachdem sie schließlich gesättigt waren, erhob sich Amy um ihr Handy aus ihrem Rucksack zu kramen. Mit dem Objekt ihrer Begierde in der Hand begab sie sich zurück zu ihrer Freundin auf das große Bett. Eine Weile starrte sie auf das Display, versuchte es mit der ein oder anderen App und musste schließlich mit einem tiefen, resignierten Seufzen aufgeben. „Tote Hose.“ Nene rollte mit den Augen. „Was erwartest du?! Wir sind mitten in der Pampa, in Transsylvanien. Wer weis ob man hier Empfang hätte, wenn wir vielleicht doch nicht durch die Zeit gereist wären?!“ Amy streckte sich in Demutshaltung auf dem Bett aus. „Oh Goooott~ Wer weis wie viele Tage wir hier fest sitzen. Und die ganze Zeit ohne Internet! Aaaahh~“ Sie verbarg das Gesicht in der Bettdecke und begann gespielt zu schluchzen. Nene beugte sich vor, seufzte und tätchelte der Freundin den Kopf. „Tja, da merkt man erst einmal, wie abhängig man doch davon ist. Aber wir werden das schon überleben.“ Plötzlich schreckte Amy hoch und hätte ihrer Freundin beinahe einen Kinnhaken verpasst. „Ach du heilige! Was wenn die Zeit zuhause weitergelaufen ist, wenn wir wieder zurück kehren?!“ Nene war gerade noch rechtzeitig zurückgewichen und sah die Freundin nun verwirrt an. „Was meinst du?!“ „Na erstens wegen unserer Maunzillas! Dann unsere Jobs! Und unsere Familien und Freunde machen sich sicher Sorgen, wenn wir spurlos verschwunden sind!“ Recht hatte sie, das waren keine schönen Gedanken. „Ja schon, aber ändern können wir da jetzt auch nichts. Wir sitzen hier fest, ohne eine Ahnung wie wir zurück kommen. Klar mach ich mir da auch Gedanken, aber in unserer derzeitigen Situation sind wir machtlos.“ Amy nickte und beide Frauen ließen resigniert die Schultern hängen. „Bleibt uns nur abzuwarten und auf das Beste zu hoffen.“ Nach einigen Minuten des Schweigens gähnte Nene herzhaft. „Was meinst du? Gehen wir schlafen? Ich bin totmüde.“ „Klingt gut. Schauen wir, was der morgige Tag bringt.“ Damit wünschten sich die beiden eine gute Nacht und Amy verließ das Bett, schlurfte in ihr Zimmer und kroch in das dortige Bett.
 

Bedingt durch den Stress der vergangenen Tage und den meist recht kurz gekommenen Schlaf waren beide Frauen sehr schnell sehr tief ins Land der Träume eingetaucht und blieben dort bis weit nach Mittag. Das Frühstück, welches Koukol gebracht hatte, blieb lange Zeit unangerührt, weshalb der bucklige Diener es später wieder wegräumte. Er kannte durchaus gehobene Umgangsformen, weshalb er das Zimmer der Damen nie ohne Aufforderung betreten hätte. Und da er auf sein Klopfen keine Antwort bekam, hatte er das Essen einfach vor der Tür stehen lassen. Nun jedoch regte sich allmählich wieder Leben in dem Zimmer. Amy war auch dieses Mal diejenige der beiden, die zuerst auf den Beinen war. Nachdem sie sich angezogen hatte, betrat sie leise Nene's Zimmer und sah nach, ob die Freundin auch schon wach war. Dies war zwar der Fall, jedoch hatte die Ältere keinerlei Interesse daran, ihr Bett bereits zu verlassen und Amy würde sie auch nicht dazu nötigen. Also beeilte sie sich mit der Morgentoilette und verließ dann das Zimmer, sodass Nene ungestört weiterdösen konnte. Draußen war es sonnig und klar, eigentlich ein schöner Tag, wenn da nicht die Winterkälte wäre. Dennoch war es in dem Gang recht dunkel und er musste mit Leuchtern erhellt werden, da er über keinerlei Fenster verfügte, stattdessen zweigten nur einige Türen von ihm ab. Nur am Ende des Ganges, dort wo er in den großen Quergang mündete, war er von Tageslicht erhellt. Da Amy's Magen Zuwendung einforderte, machte sich die junge Frau auf den Weg, die Küche zu suchen.
 

Wie schon am Abend zuvor fand Amy recht schnell den Weg in die Eingangshalle. Nun jedoch war sie etwas ratlos, wo sich die Küche befinden konnte. Sie hätten vielleicht nach einem Lageplan oder ähnlichem fragen sollen. Sie wusste, wie sie zum Kaminzimmer gelangte, mehr jedoch nicht. Sie konnte nun einzig und allein auf ihr Glück vertrauen und auf das, was sie über Burgen und Schlösser wusste. Die Küche war meist im Erdgeschoss, etwas abseits von den Wohnräumen, aber dennoch zentral. Zunächst versuchte sie es in der Richtung, aus der am Abend zuvor der bucklige Diener des Grafen gekommen war. Leider befand sie sich aber schon kurz darauf wieder in einem Gang, von dem einige Türen abzweigten und der ganz am Ende in einen weiteren Quergang mündete. Mit einem tiefen Seufzen begann sie, jede einzelne Tür zu überprüfen. Zunächst war sie erfolglos, fand lediglich halbleere Räume vor, die nicht sonderlich genutzt aussahen, hier und da ein paar Sitzmöbel und so etwas wie einen Lagerraum voller Gerümpel. Amy war schon fast der Verzweiflung nahe, als sie hinter der letzten Tür in dem Quergang nur einen zwar großen und schönen Speisesaal, aber keine Küche vorfand. Jedoch zweigte eine weitere Tür von diesem Saal ab. Sie schickte ein kurzes Stoßgebet an alle höheren Mächte und heidnischen Götter, durchquerte den Saal zu eben jener allerletzten Tür, öffnete diese langsam und spähte in den Raum dahinter. Beinahe hätte sie einen Jubelschrei ausgestoßen, hielt sich aber gerade noch zurück, denn sie hatte sie endlich gefunden: die Küche. Euphorisch betrat sie den Raum, in dem es jedoch keinerlei Spur von Küchenpersonal gab, nur hier und da ein paar benutzte Kochutensilien und Lebensmittel, der Gesamteindruck war aber eher trüb.
 

'Fühlen sie sich ganz wie zuhause.' hatte der Graf gesagt. Nun, unter den gegebenen Umständen würde die junge Frau das Angebot wörtlich nehmen und sich selbst versorgen. Es war ja nicht so, als wäre sie dazu nicht in der Lage. Also begann sie, sich etwas zu essen zusammen zu suchen. Brot war schnell gefunden und in einem Regal stand ein kleiner Korb voll Eier. Mit etwas Glück waren die sogar genießbar. „Hm~ das sieht schwer nach Rührei mit Brot zum Frühstück aus.“ murmelte Amy vor sich hin. In den nächsten Minuten machte sie ihre Ankündigung wahr und bereitete das Essen zu, ausreichend viel, sodass Nene auch noch etwas davon hatte. Schließlich machte sie sich, mit einem Tablett, zwei Tellern voll Rührei, Brot und zwei Gabeln bewaffnet, auf den Rückweg zu ihrem Zimmer. Jetzt beim zweiten Mal war der Weg gar nicht so kompliziert und die junge Frau fragte sich, warum sie vorhin so verzweifelt war. Ein kleiner Teil ihres Bewusstseins wunderte sich zudem darüber, dass sie in der ganzen Zeit, in der sie hier herum lief, keiner Menschenseele begegnet war, weder dem Grafen selbst, noch irgendwelcher Dienerschaft. Ganz leise murmelte eine Stimme in ihr „Vampirschloss“, worauf sie aber nur mit einer Grimasse und einem Schulterzucken reagierte. Zurück im Zimmer flötete Amy verknügt „Aufsteh'n Schatz, Essen ist fertig!“ und stellte das Tablett auf dem kleinen Tisch ab. Sie bekam jedoch nur ein missmutiges Grummeln als Antwort, Nene hatte offensichtlich noch immer kein Interesse daran, sich zu erheben. Naja, wer nicht will, der hat schon, und so nahm Amy platz und begann, ihre Portion zu vernichten. Erst als sie fast fertig war, kam Nene doch dazu.
 

Somit konnte also schon einmal ein wichtiger Punkt auf der To-Do-Liste abgehakt werden: Küche gefunden und Versorgung mit Nahrungsmitteln gesichert. Der Weg in die Eingangshalle und die Kemenate waren ebenfalls klar. Und dass im Erdgeschoss einige leer stehende Räume und die ein oder andere Rumpelkammer, sowie ein wirklich schöner Speisesaal waren, wusste Amy dank ihrer Küchensuche nun auch. Blieben also nur noch ein oder zwei Stockwerke mit einer absolut unklaren Anzahl von Zimmern auszukundschaften. Und das möglichst ohne Aufsehen zu erregen oder irgendwelche verbotenen Bereiche zu betreten. Na herrlich! Nach dem Frühstück hatten die beiden Freundinnen aber zunächst das Bedürfnis, einen Teil ihres Gepäcks aus den Taschen zu befreien. Angefangen bei der noch sauberen Kleidung, über sämtliche Badutensilien, bis hin zu der bereits getragenen Kleidung der vergangenen Woche, welche gewaschen werden musste und vorübergehend Häufchen in den beiden Zimmern der Frauen bildeten. Sollten sie für länger hier festsitzen, würden diese Sachen gewaschen werden müssen, sonst hatten sie nichts mehr zum Anziehen. Schon während ihrer Auspackerei überlegten sie die genaue Vorgehensweise weiterer Erkundungstouren. Auch wenn sie schneller sein würden, wenn sie getrennt suchten, war ihnen das Risiko zu groß sich zu verlaufen oder in Schwierigkeiten zu geraten. Und so machten sie sich gemeinsam, mit dem Geschirr vom „Frühstück“ und vom Abend zuvor bewaffnet, zunächst auf den Weg zur Küche, damit auch Nene wusste, wie sie dahin gelangte.
 

Ein Blick aus einem der Fenster in der Küche verriet den beiden Frauen, dass sie sich im Nebengelass befanden und das Haupthaus schräg gegenüber lag. Nun konnten sie die Burg auch bei Tageslicht bestaunen und der Eindruck vom Abend zuvor bestätigte sich: ein erhabenes imposantes Bauwerk im gotischen Stil. Erneut keimte der Wunsch in den Freundinnen auf, dauerhaft in so etwas zu wohnen, auch wenn die technische Ausstattung eher rustikal anmutete. Wobei sie wieder bei ihrer Vermutung angelangten, nicht in ihrer Zeit zu sein. Zufällig beobachtete sie, wie der bucklige Diener des Grafen in einem weiteren Nebengebäude zugange war, Stroh und Heu hinein brachte und Eimer schleppte. „Ich glaube, da ist der Stall, inklusive entsprechender Bewohner.“ meinte Amy, auf das Gebäude deutend und ein gewisses Leuchten war in ihren Augen. Die junge Frau liebte Pferde sehr. Das ging sogar so weit, dass sie es nicht über sich brachte, Pferdefleisch zu essen, auch wenn die Tiere, im Gegensatz zu anderen Nutztieren, nicht für den Nahrungsgewinn gezüchtet wurden. Auch Nene war ein großer Pferdefreund, weshalb sie den freudigen Blick ihrer Freundin erwiderte. „Wir können ja mal gucken gehen.“ Amy warf ihr einen zweifelnden Blick zu. „Dazu müssten wir erst unsre Jacken holen gehen, oder willst du da draußen fest frieren?!“ fragte die Größere mit hochgezogener Braue und einem kurzen Nicken in Richtung des Fensters. „Ja und?!“ erwiderte Nene verständnislos, worauf die Andere schnaufte. „Ich dachte, wir wollen das Schloss erkunden?!“ Amy verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. Denn eigentlich hatte sie so gar keine Lust, zuerst zurück auf ihr Zimmer zu gehen, ihre Jacke zu holen und sich dann in die Kälte hinaus zu wagen. „Muss ja nicht gleich heute sein, den Stall zu erkunden.“ Nene gab sich ohne Gegenwehr geschlagen, denn sie hatte genauso wenig Lust, hinaus zu gehen.
 

Priorität hatte das Finden von Hinweisen bezüglich der Zeit, in der sich Amy und Nene befanden. Je schneller diese Suche von Erfolg gekrönt war, desto weniger mussten sie sich eine Geschichte aus den Fingern saugen, um sie dem Grafen aufzutischen. Systematisches Vorgehen war dabei am effektivsten. Also knöpften sich die Freundinnen für den Rest des Tages das Erdgeschoss vor. Nachdem sie zurück ins Hauptgebäude gefunden hatten, wollten sie sehen, was sich hinter den anderen Türen befand, die von der Eingangshalle abzweigten. Voller Enthusiasmus traten sie an die erste, recht große Flügeltür und betätigten die Klinke, leise hoffend, dass nicht abgeschlossen war. Sie hatten Glück und das schwarz gestrichene Holz schwang etwas quietschend auf. Dahinter befand sich... nur ein Raum mittlerer Größe. Er war zwar mit einigen Malereien und Figuren verziert, natürlich wieder in dem bekannten hübsch morbiden Stil, und an den Wänden standen mehrere Stühle und kleine Sofas, aber nichts wirklich umwerfendes. Allerdings war auf der gegenüber liegenden Seite eine weitere, beinahe noch größere Flügeltür. Die Freundinnen durchquerten den Raum, um auch hinter dieser Tür nachzusehen. Was sie sahen verschlug ihnen glatt die Sprache. Ein Ballsaal, ein riesiger, düster geschmückter Ballsaal. Dass die eine lange Wand eine Fensterfront und die andere eine Spiegelwand war, machte den Saal dennoch nicht wirklich heller. Ranken, die an knochige Wurzeln erinnerten, und dämonische Figuren rahmten die Spiegel, von denen der ein oder andere zerbrochen war, die Fensterscheiben hatten eine rauchig graue Farbe und zwischen ihnen hingen dicke, schwere Vorhänge aus nachtschwarzem Samt von der Decke bis zum Boden. Einige verschnörkelte Kerzenständer, auf denen offensichtlich schon einige Kerzen ihr Wachs verteilt hatten, standen im Raum verstreut und eine Wendeltreppe führte aus dem Raum über dem Saal herunter. Auf der der Tür gegenüber liegenden Seite war ein kleines Podest, auf dem ein Cembalo stand. Die Freundinnen standen eine ganze Weile einfach nur da in stummem Staunen, bevor sie andächtig und langsamen Schrittes den Saal betraten.
 

Doch die Starre hielt nicht lange an. Nachdem sich Amy ausgiebig umgeschaut hatte und sich ein übermäßig breites Grinsen in ihrem Gesicht festgesetzt hatte, machte sie eine übertriebene Verbeugung vor Nene. Dann zog sie die Freundin in die Ausgangshaltung für einen Walzer und tanzte im nächsten Augenblick mit ihr durch den Saal. Jeder unbeteiligte Zuschauer hätte sie wahrscheinlich für verrückt erklärt, aber das war den beiden Frauen herzlichst egal. Lachend kamen die beiden wieder zum stehen und Amy verbeugte sich erneut in höchst theatralischer Weise, worauf Nene diesmal in ähnlich übertriebener Weise mit einem Hofknicks inklusive Anheben des nicht vorhandenen Rockes antwortete. „Whuuhuuu~ der Saal is toll~“ trällerte die Größere und wuselte durch den Raum Richtung Podest. Die Andere beobachtete ihre Freundin amüsiert und ging ihr langsam hinterher. Kaum hatte Amy das Podest erreicht, hatte sie sich auch schon auf dem Hocker vor dem Cembalo nieder gelassen, öffnete ehrfürchtig den Deckel und betrachtete die Tasten. Das Instrument hatte deutliche Gebrauchsspuren, war aber in einwandfreiem Zustand. So konnte die junge Frau nicht an sich halten und schlug versuchsweise einen Ton an. Der leichte, für Cembalo tüpische Ton hallte durch den großen Raum und Amy gab einen wohligen Seufzer von sich. Wie so oft, wenn sie vor einem Tasteninstrument saß, begann sie eine kleine Melodie zu spielen und bereute es wieder einmal, nie Klavierstunden gehabt zu haben, sondern es sich nur laienhaft nach Gehör selbst beigebracht zu haben. Als sie geendet hatte sah sie mit einem seeligen Lächeln und einem weiteren Seufzer auf. „Gott~ das klingt so toll~“ meinte sie schwärmend. Nene, die vor dem Podest stehen geblieben war und der Freundin gelauscht hatte, nickte nur gedankenverloren. Amy erhob sich und ging zu ihrer Freundin zurück. „Wenn da mal wer ein Menuett von Bach drauf spielt, ich würd zu gern zuhören. Oder tanzen, sofern mir vorher jemand Menuett beibringt.“ fuhr die Größere fort und bekam erneut nur ein Nicken als Antwort. Erst nach ein paar Augenblicken schien Nene aus ihrer Trance zu erwachen und sah die Freundin mit großen Augen an. „Wir müssen hier unbedingt Bilder machen! Und am besten spannen wir den Grafen und seinen Sohn mit ein!“ Amy sah ihre Freundin einen Moment ungläubig an, bevor sie anfing zu lachen. „Machen wir, Schatz! Wollen wir jetzt mal nachsehen, wohin die Treppe führt oder bleiben wir auf der Etage?“
 

Die beiden Frauen entschieden sich, einen kurzen Blick in den Raum über dem Ballsaal zu werfen und ihre Erkundungstour dann aber im Erdgeschoss fortzusetzen. Langsam stiegen sie die äußerst fragil wirkende Wendeltreppe hinauf und sahen sich oben kurz um. Ein weiterer großer Saal befand sich über dem Ballsaal, jedoch war der Raum bei weitem nicht so hoch. Unzählige Bilder schmückten die Wände, offensichtlich eine Art Gallerie. Sie würden sich das später genauer ansehen, daher stiegen sie die Treppe wieder hinunter, verließen den Ballsaal und nahmen sich den nächsten Raum vor, der ebenfalls mit einer großen Flügeltür von der Eingangshalle abzweigte. Wieder befand sich ein kleinerer, unscheinbarer Raum hinter diesem Durchgang, der bis auf ein paar Schränke völlig leer war, Wieder befand sich auf der gegenüber liegenden Seite eine weitere große Flügeltür und wieder blieben die Frauen staunend in der zweiten Tür stehen. Ihr Weg hatte sie nun in die schlosseigene Bibliothek geführt, die schlicht und ergreifend vor Büchern schon fast überquoll. Sie war nur unwesentlich kleiner als der Ballsaal, reichte über zwei Etagen, mit einem breiten, umlaufenden Balkon und einigen brückenartigen Quergängen auf der Zwischenebene. Raumhohe Regale, was immerhin gut 3m waren, zierten, soweit einsichtig, alle Wände ringsum auf beiden Ebenen und liefen quer zu den beiden langen Seiten in der unteren Ebene. In den freistehenden Regalen gab es Durchgänge, über denen die Regalböden weiter gingen. Selbst die wenigen, wie schon im Ballsaal rauchgrauen Fenster waren von Regalböden umrahmt. Und alle Regale, wirklich alle, waren voller Bücher. Allerdings hatten sich Spinnen schon seit offensichtlich geraumer Zeit ungestört heimisch einrichten können, denn die meisten der Regale aus schwarzem Holz waren zu geschätzten 70% mit Staub und Spinnweben bedeckt, was der Bibliothek zusammen mit dem wenigen Licht einen Gruselcharme wie in einem Haunted House verlieh. „Hogwarts lässt grüßen.“ kommentierte Nene trocken.
 

Andächtig begannen die Freundinnen durch die Reihen zu wandeln, versuchten hier und da einen Buchtitel zu entziffern und fragten sich die ganze Zeit, wie ein Graf im transsylvanischen Nirgendwo eine derart große und umfangreiche Büchersammlung besitzen konnte. Sie fanden alles mögliche in den Regalen: Bücher zu naturwissenschaftlichen Themen, zu Geschichte und Archäologie, Reiseberichte, Enzyklopedien und Lexika, Romane, Gedichtbände, die Werke der großen griechischen Philosophen. Und alles schien säuberlich sortiert, nach Kontext gruppiert und im selben Regalabschnitt eingeordnet. Das einzige, was sie nicht fanden, war modernere Literatur aus dem 20ten Jahrhundert, was sie als weiteres Indiz in ihre Zeitreise-Theorie-Liste aufnahmen. Im hinteren Teil wurde die Bibliothek etwas offener und endete in einem regalfreien Erker, was sie von der Tür nicht hatten sehen können. Dort standen einige Tische und Sitzmöglichkeiten, unter anderem ein recht großer, gemütlich wirkender Lesesessel. Von der fensterfreien Langseite des Raumes gingen 2 Türen ab und auch die Treppe zum Balkon hinauf lag auf dieser Seite. Schon fast etwas widerwillig lösten sich die beiden Frauen von den unzähligen Büchern, um die Räume hinter den beiden neuen Türen zu erkunden. Hatten sie doch, trotz ihrer eher flüchtigen Blicke und unter all dem Staub, das ein oder andere interessant klingende Werk entdeckt, welches sie nur zu gern einmal lesen wollten. Doch dazu würden sie den Graf erst um Erlaubnis fragen, so wie es sich gehört.
 

Langsam öffnete Amy die erste Tür und sie und Nene spähten in das Zimmer dahinter. Sie fanden einen kleinen Raum, in dem sich weitere Bücherregale, ein großer Tisch und einige Sessel befanden. Durch die zwei großen Fenster drang erstaunlich viel Licht, im Vergleich zur Bibliothek und trotz der Tatsache, dass es bereits dämmerte, was den Freundinnen jetzt erst auffiel. Dieser Raum war wohl so etwas wie ein Studierzimmer. Die beiden Frauen verließen das Zimmer wieder und begaben sich zur zweiten Tür. Hinter dieser fanden sie zu ihrem Erstaunen das Kaminzimmer, in dem sie sich am Abend zuvor aufgewärmt und mit ihren Gastgebern ein Glas Wein genossen hatten. Vor dem Kamin entdeckten sie den Diener des Grafen, der gerade das Kaminfeuer entfachte. Nach kurzem Überlegen traten sie in den Raum, schlossen die Tür zur Bibliothek hinter sich und begrüßten den Mann freundlich. Dieser schien zunächst etwas verunsichert und ein wenig grummelig, erwiderte die Begrüßung dann aber, wenn auch beinahe unverständlich. Amy trat neben ihn und hockte sich einen Moment auf den Teppich und sah den Buckligen fragend an. „Weil keiner da war, habe ich mich vorhin einfach selbst bedient in der Küche. Ich hoffe das geht in Ordnung?“ Der Angesprochene war vor der ungenierten Nähe etwas zurück gewichen und sah die junge Frau nun verwirrt an. „Wir können das auch beibehalten. Ist ja nicht so als ob wir noch nie in einer Küche zugange waren. Allerdings müsste uns dann jemand mal zeigen, wo alles ist.“ Amy's erwartungsvoller Blick irritierte Koukol noch mehr und er wusste nicht, wie er die Worte seines Gegenübers verstehen sollte. Nach einigen Augenblicken gab er etwas völlig unverständliches von sich, was allerdings einen leicht mürrischen Ton hatte und schlurfte Richtung Bibliothek davon. Die beiden Freundinnen sahen ihm verwundert nach. „Tja da wirst du wohl den Hausherrn nochmal drauf ansprechen müssen.“ meinte Nene mit hochgezogenen Brauen, woraufhin Amy nur nachdenklich nickte.
 

Die Dimensionen des Schlosses waren beeindruckend weitläufig. So war es nicht verwunderlich, dass den beiden Frauen nach lediglich einem halben Tag herumlaufen und Erkunden von nur einer Etage, und diese noch nicht einmal vollständig, die Füße weh taten. Daher waren sie ganz froh, dass ihr Weg sie zufällig in das Kaminzimmer geführt hatte, denn hier war es warm und es gab bequemes Sitzmöbel. Dass solch alte Schlossburgen schwierig warm zu halten sind, war den Freundinnen wohl bekannt und während ihres Streifzuges hatten sie das auch deutlich am eigenen Leib gespürt. Insgeheim waren sie froh, dass vor ihrem unfreiwilligen Aufbruch hier her, dort wo sie herkamen, auch gerade Winter war und sie entsprechend dickere Kleidung mit hatten. Nicht dass sie zitternd und Zähne klappernd umher gerannt wären, so kalt war es dann auch wieder nicht, aber in den Gängen und den großen Sälen hatte es allerhöchstens 12°C. Da tat so ein heimelich warmer und gemütlicher Raum richtig gut.
 

Amy hockte ja bereits am Boden, direkt vor dem Kamin, in dem das frisch entfachte Feuer langsam an Stärke gewann. Und da sie kein Problem damit hatte, auf dem Fussboden zu sitzen und auch so gar keine Lust, sich wieder zu erheben, ließ sie sich einfach auf dem großen und weichen Tierfell nieder und machte die Beine lang. Nene gesellte sich zu ihr und machte es sich ebenfalls vor dem Kamin auf dem Boden bequem. Beinahe wie in Trance beobachteten die Freundinnen gemeinsam, wie die leuchtenden Flammen über das Holz leckten und schwarze Spuren hinterließen, während einzelne, hervorstehende Stellen in der Hitze verglühten. Eine ganze Weile saßen die Beiden so, in andächtiges Schweigen gehüllt. Amy schmunzelte. „Weist du, meine Mama sagt immer, ich soll nicht so lange ins Feuer schauen, sonst pinkel ich mir ein.“ meinte sie mit staubtrockener Ironie. Nene schaute ihre Freundin an und legte den Kopf schief. „Und? Wirst du schon feucht?“ fragte sie ebenso ironisch. „Wenn, dann nicht weil ich mir eingepinkelt habe. Der feuchte Tropfen hat 'nen anderen Grund.“ setzte Amy mit einem eindeutigen Grinsen auf den Lippen nach. Die Blicke der beiden Frauen trafen sich und es herrschte einen Moment Stille, bevor sie beide prusteten und in schallendes Gelächter ausbrachen. Just in dem Moment öffnete sich die Tür und seine Exzellenz, Graf von Krolock, betrat das Kaminzimmer.
 

Seine Gäste bemerkten ihn nicht sofort, da sie, halb aufeinander liegend, von Lachkrämpfen geschüttelt waren und Tränen in den Augen hatten. „Wenn uns einer hört...“ meinte Nene in einem lachfreien Augenblick, sorgte damit aber für neues Gelächter. Eine Weile beobachtete der Graf die beiden Frauen verwundert. Dann jedoch machte er sich bemerktbar, indem er seinen Gästen einen guten Abend wünschte. Die Freundinnen verstummten einen Moment und sahen zu ihrem Gastgeber, hatten aber immernoch deutlich mit dem Lachen zu kämpfen. „Guten Abend.“ erwiederten sie unison und erhoben sich. Der Graf trat an den Kamin, deutete den Beiden, wieder Platz zu nehmen und setzte sich selbst in einen der Sessel. Solange er noch stand, wurde er von seinen Gästen aufs ausgiebigste gemustert. Wieder trug er ein schickes Ensemble in schwarz aus, für Amy und Nene, längst vergangenen Modeepochen oder wahlweise auch passend für Gothic Aristocrat/Romantic Gothic/Vampir. Und wieder vervollständigte dieser tolle Samtumhang das Bild. Wie schon am Abend zuvor fielen ihm seine langen schwarzen Haare, deren Spitzen sich in leichten Locken wanden und die von einzelnen feinen Silbersträhnen durchzogen waren, offen über die Schultern. In Gedanken hatte Amy ihn bereits mit dem Stempel „Traummann“ versehen und seufzte nun verträumt, während sie sich zusammen mit Nene auf dem Sofa nieder ließ. Dem Herrn waren die musternden Blicke seiner Gäste natürlich nicht entgangen und auch das Seufzen vernahm er und machte sich so seine Gedanken darüber. Offensichtlich war zumindest die Größere der beiden Frauen sehr empfänglich für ihn, sie verhielt sich jetzt schon benahe so, als wäre sie unter seinem Bann, dabei hatte er noch nichts in dieser Richtung unternommen. Er würde vermutlich ein leichtes Spiel mit ihr haben. „Hatte es eine bestimmte Bewandnis, weshalb sie auf dem Boden saßen?“ fragte von Krolock mit leichter Verwunderung über das Bild, welches sich ihm geboten hatte, als er den Raum betrat. Die beiden Frauen zuckten mit den Schultern. „Och, es war grad so bequem und außerdem nah am Feuer.“ erklärte Amy lächelnd. Der Graf bedachte sie mit einem skeptischen Blick, fragte aber nicht weiter nach.
 

Stattdessen wollte er wissen, wie seine Gäste geschlafen hatten, da sie am Abend zuvor nicht noch einmal herunter gekommen waren. Mit leichter Verlegenheit erklärte Nene, dass sie nach dem Bad und dem Essen und aufgrund der Reisestrapazen so müde gewesen seien, dass sie direkt in die Betten fielen und bis weit nach Mittag geschlafen hatten. „Ich habe uns dann etwas zu essen gemacht und...“ begann Amy, wurde aber von einem erstaunten Grafen unterbrochen. „Sie haben etwas zu essen gemacht?! Hat Koukol ihnen nichts bereitet?!“ „Er war gerade nicht auffindbar, daher hab ich uns ein paar Eier in die Pfanne gehauen. Und das ist auch kein Problem, wenn wir uns selbst versorgen, das müssen wir zuhause schließlich auch. Allerdings wäre dann eine kleine Einweisung in die Küche ganz nett, mehr als Brot und Eier hatte ich auf die Schnelle nicht gefunden.“ erklärte sie. Der Graf sah sie interessiert an. 'Gut, sie scheinen sehr selbstständig, das dürfte von Vorteil sein. Allerdings sollten wir aufpassen.' dachte er sich und ein Lächeln zuckte an einem seiner Mundwinkel. „Das dürfte sicherlich möglich sein. Dennoch behagt mir der Gedanke nicht sonderlich, schließlich sind sie meine Gäste.“ Nene winkte beschwichtigend ab. „Ach, bitte keine Umstände. Zumal wir doch oft recht ungewöhliche Essenszeiten haben. Eben dann wenn wir Hunger haben.“ Wieder wanderte eine Braue des Grafen in Richtung seines Haaransatzes. Er sollte wirklich aufpassen, sonst könnte das doch noch zu einem Dauerzustand werden. 'Essen, wenn wir Hunger haben', Nene's Worte hatten einen erschreckend vertrauten Klang für den Vampir. „Und wie haben sie die anschließenden Stunden zugebracht? Ich hoffe es war nicht all zu langweilig für sie, da wir leider außer Haus waren.“ fragte er, seine Abwesenheit durch die Tagruhe vertuschend. „Oh keineswegs!“ platzte es aus Amy heraus und ein begeisterter Glanz trat in ihre Augen. „Wir waren so frei und haben uns etwas umgesehen. Der Ballsaal ist ja ein Traum! Umwerfend! Und erst die Bibliothek! Hach, da würde ich mich glatt für ein paar Tage einquartieren wollen. An dieser Masse an Büchern müssen sie doch schon seit Generationen sammeln!“ schwärmte die junge Frau und schien völlig aus dem Häuschen. „Ja das könnte man so sagen.“ Äußerlich schmunzelte der Graf, innerlich befiel ihn jedoch eine gewissen Unruhe. Seine Gäste erkundeten unbeaufsichtigt sein Schloss, das könnte noch zu unangenehmen Überraschungen führen. Andererseits hatte er ihnen gesagt, sie sollen sich hier ganz wie zuhause fühlen. Ein unschöner Zwiespalt, dem er nur mit erhöhter Vorsicht entgegentreten konnte.
 

„Ist es ihnen recht, wenn wir uns bei Gelegenheit ein Buch aus ihrer Bibliothek nehmen? Wir haben einige interessante Werke entdeckt, die wir uns gern einmal zu Gemüte führen würden.“ setzte Nene die Unterhaltung fort. Der Graf sah sie einen Moment an und lächelte dann. „Nur unter der Bedingung, dass sie die Bücher pfleglich behandeln und wieder dahin stellen, wo sie sie her hatten.“ Seine Bücher waren ihm heilig, genauso wie die Ordnung, in der sie standen. Eine Notwendigkeit bei einer solchen Vielfalt und Anzahl, wollte man einen gewissen Überblick darüber behalten, was man alles besaß. Die meisten waren Erstausgaben und einige sehr alt und damit wertvoll. Das kleine Sammelsorium seiner Vorfahren hatte er, getrieben durch seinen schier unbändigen Wissensdurst, in seinem 300jährigen Dasein auf dieser Erde beständig erweitert. Dies führte unweigerlich dazu, dass er auch mehr Stellmöglichkeiten bieten musste. Zuerst wurde die zweite Bibliotheksebene notwendig, dann folgten die frei im Raum stehenden Regale, schließlich ließ er auch Fenster zustellen und die, die er frei ließ, mit Regalflächen umrahmen. In ein paar jahrzehnten würde er auch den kleinen Vorraum mit Regalen versehen müssen. Aber es war ihm gleich, die Bücher halfen ihm, die Zeit nicht aus den Augen zu verlieren, stillten seinen Wissensdurst und seinen Geist wach zu halten. „Lesen ist eine gute Möglichkeit, die Zeit zu nutzen, wenn man nicht wirklich etwas anderes tun kann. Sie werden noch einige Tage meine Gäste sein, da werde ich ihnen diesen Zeitvertreib sicher nicht verbieten.“ sinnierte der Graf nachdenklich. „Oh, wieso das?“ wollte Amy verwundert wissen. „Der Winter hat viele Straßen unpassierbar gemacht und es gibt hier nicht wirklich eine Möglichkeit, sie in die nächste größere Stadt zu bringen. Selbst für die Menschen im Dorf unten ist diese Jahreszeit entbehrungsreich. So leid es mir tut. Ich hoffe, ein ausgedehnterer Aufenthalt hier ist für sie nicht all zu problematisch.“ Die angeführten Bedingungen entsprachen zwar durchaus der Wirklichkeit, aber das war nicht der wahre Grund, weshalb sie bleiben würden. Das äußere Bild wahrend, erlaubte er sich nur innerlich ein kalkulierendes Grinsen. Es war beschlossene Sache, dass diese beiden jungen Frauen sein Schloss allenfalls als Vampire wieder verlassen würden. „Hm verstehe.“ sagte Amy leise und sah zu ihrer Freundin. Diese zuckte nur mit den Schultern. „Ist nicht zu ändern. Halb so tragisch, uns drängt nichts.“ Als die Größere schon zum Protest ansetzte, in Gedanken um ihre Katzen bangend, wurde sie mit einem vorwurfsvollen Blick von Nene gestraft und gab sich geschlagen. Die Ältere hatte recht, sie konnten sowieso nichts an ihrer Situation ändern.
 

Ein leises Grummeln durchbrach schließlich die Stille, die vorübergehend über die drei Okupanten des Kaminzimmers hereingebrochen war. Nene verdrehte theatralisch die Augen. „Toll. Mein Magen verlangt Aufmerksamkeit.“ Ein weiteres Grummeln ertönte, allerdings von einer anderen Person. „Trifft sich gut, meiner auch.“ kicherte Amy und wand sich dann höflich an den Hausherrn. „Wenn sie gestatten, würden wir gern etwas essen. Schlösser erkunden macht eben doch hungrig. Werden sie uns Gesellschaft leisten?“ Dieser senkte den Blick und schüttelte leicht den Kopf. „Verzeihen sie mir, aber ich muss sie enttäuschen.“ Betrübt senkten die beiden Frauen den Blick und fuhren einen Augenblick später erschrocken zusammen. Der Graf hatte, wie schon am Abend zuvor, mit erhobener Stimme den Namen seines Dieners gerufen, der nur Momente später das Kaminzimmer betrat. Er gab dem Buckligen Anweisungen, worauf dieser mürrisch schnaubte, erhob sich dann aus seinem Sessel und lächelte seinen Gästen aufmunternd zu. „Koukol wird ihnen ein Abendessen bereiten. Heute Abend bestehe ich darauf. Er wird ihnen aber in der Küche alles zeigen, entsprechend ihres Vorschlages. Ich wünsche guten Appetit. Wir sehen uns sicher später noch einmal.“ Ganz und gar Gentleman verabschiedete er sich von den beiden Frauen, die daraufhin das Zimmer mit Koukol verließen und sich in die Küche begaben. Langsam ließ er sich wieder in den Sessel sinken. Sicher würde Herbert in Kürze hier vorbeischauen, dann würde er den Jungen zur Vorsicht ermahnen. Bei der offenkundigen Selbstständigkeit seiner Gäste konnte eine kleine Unachtsamkeit sehr schnell das fragile Bild der „Normalität“, das er gerade angefangen hatte zu errichten, tosend zum Einsturz bringen. So wartete der Graf mehr oder weniger geduldig, dass sein werter Herr Sohn seinen allabendlichen Herrichtmarathon beendete und ihn mit seiner Anwesenheit beehrte.
 

Unterdessen bemühte sich jemand zusehens, halbwegs deutlich zu sprechen und zwei Fremden seine Küche zu erklären. Der zunächst gehegte Unmut gegenüber der Bitte seines Herrn war schnell verflogen, als die beiden Frauen ihm erneut freundlich und ohne Ablehnung begegneten und sich zudem bereitwillig anboten, zu helfen. So standen die drei nun in der Küche und bereiteten ein Essen zu, was dieses Mal eines gräflichen Anwesens durchaus gerecht wurde. Die beiden Frauen kamen zu dem Schluss, dass das einfache Mahl am Abend zuvor tatsächlich durch den Zeitmangel bedingt war. Und sie stellten mit Erstaunen fest, dass der bucklige Diener ein ziemlich guter Koch war. Nach dem Essen, welches sie nach einigem Bitten zusammen mit Koukol genaßen, halfen sie ihm beim Aufräumen der Küche, ließen sich noch einiges zeigen, trafen eine Abmachung bezüglich der nächsten Mahlzeiten und verabschiedeten sich schließlich. Es erschien ihnen zwar etwas ungewöhnlich, dass es hier offensichtlich keine festen Essenszeiten gab, weshalb es auch relativ unproblematisch zu sein schien, dass die Freundinnen sich selbst versorgen wollten, andererseits hatte der Graf ja gemeint ein Nachtvogel zu sein. Dies ließ vermuten, dass er hauptsächlich in den Abendstunden aktiv war, was sicherlich auch zu ungewöhnlichen und teils auch unterschiedlichen Essenszeiten führte. Wie dem auch sei, man konnte sich anscheinend problemlos arrangieren, sehr zur Freude der beiden Frauen. Auf dem Weg zurück in das Haupthaus sinnierten die beiden darüber, was sie nun tun sollten. Letzten Endes landeten sie wieder in der Bibliothek, die sie noch einmal aufs gründlichste untersuchten, schließlich waren sie noch immer auf der Suche nach Hinweisen. Zwischendurch sahen sie ihren Gastgeber für längere Zeit in einem Raum verschwinden, der von dem Balkon abzweigte. Dort würden sie auch noch nachsehen müssen. Mit Lesestoff bewaffnet begaben sie sich anschließend in das Kaminzimmer, wo sie Herbert begegneten, der ihnen nach einem knappen „Guten Abend“ allerdings gänzlich aus dem Weg ging. Er zeigte eindeutig, dass ihn die Gesellschaft der beiden Frauen wenig interessierte, was diese zwar schade fanden, aber hinnahmen. Erst Stunden nach Mitternacht war der Graf wieder zu gegen, doch seine Gäste waren inzwischen so müde, dass sie sich alsbald verabschiedeten.
 

Der folgende Tag verlief ähnlich, wie der erste: zu Mittag aufstehen, sich etwas zu essen machen und dann das Schloss erkunden. Diesmal hatten sie jedoch ein genaues Ziel, das sie direkt anstrebten: Bibliothek plus das Zimmer auf der zweiten Ebene. Wieder begegneten sie auf ihren Wegen niemandem, dennoch waren sie auf der Hut und schlichen sich später in besagten Raum. Es hätte ja durchaus sein können, dass seine Exzellenz sich dort aufhielt. Dem war zum Glück nicht so und sie konnten das Zimmer, was sehr nach einem Büro aussah, ungesehen erkunden. Natürlich waren sie nicht so dreist und durchwühlten einfach alles. Sie sahen sich nur ausgiebig um und schauten etwas genauer auf das ein oder andere Schriftstück, das herumlag. Sie wurden jedoch jäh unterbrochen, als sie eine andere Tür vernahmen und die schlurfenden Schritte des Dieners. Schnell, aber möglichst leise, verließen sie das Zimmer, schlossen die Tür und entfernten sich von dieser. Zu ihrem Pech schien Koukol aber gerade diesen Raum anzustreben. Amy und Nene gaben sich so unscheinbar wie möglich, taten so, als würden sie sich den Inhalt der Regale auf dem Balkon genauer ansehen. Als Koukol die Treppe erklommen hatte, grüßten sie ihn freundlich und widmeten sich scheinbar interessanter Literatur. Der Bucklige brachte etwas is die Schreibstube und verschwand dann wieder. Erleichtert ließen sich die zwei Frauen gegen das Geländer des Balkons sinken. „Gerade nochmal Glück gehabt.“ meinte Nene schnaufend, als Koukol die Bibliothek verlassen hatte. Amy nickte nur. Nach weiteren Minuten, in denen sie ihre rasenden Herzen beruhigten, begaben sie sich zurück in die Schreibstube, um ihre Suche fort zu setzen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  inukimi
2012-04-03T14:55:40+00:00 03.04.2012 16:55
Hallöchen^^

Zuerst mal ein dickes Lob!
Die Geschichte lässt sich gut lesen und sogar die Zeitreise hast du gut hinbekommen... daran wäre ich vermutlich gescheitert.

Mir gefallen die Mädels sehr!
Erinnert mich sehr an meine beste Freundin und mich, allerdings nicht ganz so krass^^
Aber ihre Einstellung und vor allem, wie sie mit Koukol und den Vampiren umgehen mag ich.

Was die beiden Herren betrifft... boshaft! Ich bin sehr gespannt, ob Krolocks Plan, was die zwei betrifft, auch so funktioniert, wie er es sich vorstellt.

Schreib bitte schnell weiter!!

(Wundert mich ein wenig, dass du nach 5 Kap. noch keinen Kommi hast... die Geschichte jedenfalls ist Top!)

LG
inukimi



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