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Schattentanz

Das Tagebuch der Vergessenen
von

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Verloren in der Dunkelheit

„Mutter? Was tut ihr dort...?“ Erschrocken fuhr Rosalie de Matjé herum, die Türe rasch hinter sich zuziehend.„Laurent... weshalb bist du nicht im Bett? Es ist spät.“ Die Worte klangen nicht tadelnd, aber das hätten sie in keiner Situation. Man hätte fast meinen können die Marquise sei gar nicht fähig den Sanftmut aus ihrer Stimme zu nehmen. Der junge Mann musterte seine Mutter eine ganze Weile lang ohne auf die vermeintliche Rüge näher einzugehen. Sie verbarg etwas. Doch anstatt sie

bloß zu stellen und weiter nachzufragen lächelte er sie an, den Kopf sogleich senkend – wie man es sich nun einmal gehörte. „Wenn dein Vater dich sieht, wird er dich schelten.“, fuhr sie fort ohne auch nur einen Schritt von der Türe zu weichen. „Ich werde es ihm nicht sagen, aber geh nun... rasch.“ „Natürlich, verzeiht bitte.“ Laurent sah wieder auf, schmunzelte jetzt sogar ein wenig, aber er machte tatsächlich kehrt. Er war kein Kind mehr, er war erwachsen, dennoch behandelte sie ihn als sei er eines. Was er nicht wusste war, dass Rosalie ihn im ersten Augenblick für seinen Vater gehalten hatte, denn die Beiden glichen sich – wenn man den Altersunterschied außen vor ließ –

fast aufs Haar. Das Aussehen und auch das Temperament waren aber auch alles was Laurent und Oscar gemein hatten. Ansonsten war er doch mehr wie seine Mutter, wenngleich die Freundlichkeit

etwas verborgener lag, die Hartnäckigkeit hingegen umso dominanter, denn er hatte keinesfalls vor sich ins Bett zu begeben. Er konnte nicht schlafen, das war auch der Grund weshalb er sich mitten in der Nacht durch das Haus bewegte. Aber seine Mutter hatte recht, wenn er seinem Vater versehentlich über den Weg laufen sollte, dann konnte es ungemütlich werden. Sehr ungemütlich. Deshalb entschied er sich seine Wanderung draußen fortzusetzen.

Er hatte keine Ahnung wie lange er durch das angrenzende Wäldchen gelaufen war, im Grunde genommen war es ihm auch gleichgültig, denn es machte keinen Unterschied ob die Minuten nun verstrichen während er hier einen Fuß vor den anderen setzte, oder sich schlaflos im Bett herum wälzte. Seufzend blieb er stehen, sah zum Nachthimmel auf, der sich klar über ihm ausbreitete. Ruhelos war er dieser Tage, ohne selbst zu wissen was der eigentliche Grund dafür war. Vielleicht war es auch einfach nur der Umstand, dass die arrangierte Vermählung bevorstand, über die er alles andere als glücklich war. Aber alle Einwände hatten nichts gebracht, zumal sein Vater in den letzten Monaten regelrecht aggressiv auf Wiederworte jeglicher Art reagiert hatte. Laurent ging ihm aus dem Weg, seit… nun seit jeher. Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Geräusch das er im ersten Augenblick nicht näher zuordnen konnte, ehe es sich wiederholte. Schüsse? Ja, unweit von hier fielen Schüsse. Wieder… und wieder… dann war es still. Was auch immer ihn dazu veranlasste, das ungute Gefühl dass sich in ihm ausbreitete oder aber der auf die Stille folgende Schrei, er warf jegliche Bedenken über Bord und stürzte los. Fast schon blindlings in das Geäst hinein, ab vom Weg dem er bisher hier her gefolgt war. Es knarrte, es knirschte, es barst unter seinen Schritten und mehr als einmal geriet Laurent ins Straucheln, als er sich in dem Gewirr aus trockenem Holz und niedrigen Setzlingen verhakte. Die Laute waren wieder verstummt, was es schwer machte die Richtung einzuschätzen. Die dichten Baumkronen schienen das fahle Mondlicht beinahe vollständig zu verschlucken, sodass man Mühe hatte den Stämmen der Bäume auszuweichen. So musste er wohl auch versehentlich gegen einen Jener gestoßen sein. Laurent prallte zurück und fiel durch den überschüssigen Schwung rücklings auf den feuchten Waldgrund. War das ein Stamm gewesen? Nein, aber was es auch war, es hatte nicht nachgegeben. Er ächzte leise, versuchte auf zu sehen, doch die eigenen Haare verdeckten ihm zum größten Teil das Blickfeld und wohl auch das Gesicht. Nur schwer erkennbar hob sich die Silhouette einer Gestalt von der Umgebung ab. Erst jetzt nahm er auch den Geruch war, den Geruch von Schwefel, Schießpulver… von Tod der in der Luft lag und sich nur leise, schleichend ins Bewusstsein drängen wollte. Irgendwo in der Ferne knarrten Schritte durch das Dickicht, Geräusche die durch ein dumpfes Grollen verschluckt wurden, einem Grollen das nicht zu einem Menschen passte und doch von dem Ding ausging gegen das er eben gelaufen war. Laurent tastete sich rückwärts, die Augen jetzt entsetzt geweitet, aber im ersten Moment brach kein Laut über seine Lippen, lediglich ein Keuchen und als sich doch ein Ton heraus winden wollte drückte sich eine Hand auf seinen Mund, eine Hand die kalt war wie Eis, deren Griff jegliche Gegenwehr im Keim erstickte und dann kam der Schmerz. Laurent hatte für einen Moment das unsägliche Gefühl, dass ihn irgendetwas bei lebendigem Leibe zerreißen wollte. Es war nur ein Moment, ein Augenblick in dem die Pein das Bewusstsein lähmte, ehe sie sich in dumpfe Dunkelheit verwandelte, die fast schon sanft erschien, verschleiernd als würde man in einen tiefen traumlosen Schlaf sinken.
 

Jezz blinzelte ein wenig. Irgendwann während dieser stupiden, blöden Warterrei musste sein Hirn sich ausgeknipst haben und jetzt war es wieder angesprungen. Nur das Bild vor seinen Augen hatte sich nicht verändert. Er hockte hinter dem Steuer des Vans, naja eigentlich lümmelte er mehr auf der Fahrerseite herum. Die Lehne nach hinten gestellt, die schweren Stiefel auf dem Lenkrad überkreuzt und die Arme im Nacken verschränkt. Eben wie jemand der es sich nach einem langen Tag gemütlich machen wollte. Das saphierblau gefärbte Haar stand wild in alle Richtungen ab, etwa genauso unordentlich wie der Rest der schwarzen Klamotten. Alles im Allen bot er einen ziemlich zerknitterten Eindruck, aber man hatte ihm ja auch nicht wirklich viel Zeit gegeben sich wenigstens einigermaßen Straßen tauglich zu machen nur um dann hier zu versauern. „Hättest… du jetzt vielleicht die Güte mir endlich zu erklären, was wir hier genau machen?“, murrte er nachdem sein Verstand wieder ganz in das Jetzt zurück gefunden hatte, das kein dunkler Wald im neunzehnten, sondern eine schäbige, aber genauso dunkle Straße in der New Yorker Bronx im Einundzwanzigsten Jahrhundert war. „Warten.“ Genau die trockene Antwort, die Jezz auf seine zynisch bissige Frage hin erwartet hatte. Er verdrehte die ebenfalls blauen Augen und warf seinem Beifahrer einen nicht wirklich begeisterten Blick zu. Auch da hatte sich nichts verändert. Der Mann mit den langen schwarzen Haaren starrte immer noch unverändert ausdruckslos durch die Windschutzscheibe nach vorn auf die Straße auf der rein gar nichts passierte, als wäre die Nachbarschaft ausgestorben. „Gehts auch… genauer?“, hakte Jezz nach. Um zu versauern hätten sie nicht her fahren müssen, das wäre auch in seinem Zimmer gegangen und vor sich hin schweigen konnte er auch ganz gut alleine. Aber nein. Eigentlich hielt der Blauhaarige sich was nörgelige Beschwerden anging zumindest bei Cherufe etwas zurück, aber gerade ging ihm die Sache hier ziemlich auf den Wecker. Das merkte wohl auch der Andere weshalb dann doch endlich zumindest Ansatzweise etwas wie eine Erläuterung erfolgte, die allerdings recht allgemein gehalten begann. „Wir waren schon einmal hier.“ „Glaubst du ich merk mir jede beschissene Straßenecke an der ich irgendwann rein zufällig einmal gewesen bin?“, fiel Jezz ihm dann eher leise vor sich hinmurrend ins Wort, was lediglich den Effekt hatte, dass der Andere jetzt den Kopf etwas wand und sich ein schmales, eigentlich kaum wahrnehmbares Lächeln auf den aschfahlen Lippen ausbreitete. „Wenn du etwas wissen möchtest, dann lass mich aussprechen, ansonsten erspare ich dir und mir die Mühe.“ Oh Mann… Jezz presst die Lippen fest aufeinander, rollte nochmals mit den Augen, aber er hielt den Mund. Wenn der Lächelte wurde ihm irgendwie unheimlich, allein deshalb weil der das so selten tat. Der Griesgram schwieg nun und so ergriff Cherufe abermals das Wort. „Erinnerst du dich an den Vorfall mit der Polizistin vor zwölf Jahren? Sie war die Einzige Überlebende. Allem Anschein nach führt sie jetzt einen privaten Kreuzzug, gegen…“ Jezz schwieg für genau dreiundvierzig Sekunden, ehe er den irgendwie langweilig klingenden Vortrag mit seinen eigenen Worten fortsetzte. „Ach die Tussi wieder. So langsam aber sicher geht mir die auf die Nerven. Aber da wir ihr bisher nicht den Hals umgedreht haben, wollen wir wohl mit ihr reden… oder besser gesagt du, weshalb wir hier jetzt Häuserfassaden anstarrten und Däumchen drehen.“ Cherufe schloss auf diese doch sehr freie Interpretation hin die Augen und seufzte schwer. Manchmal strapazierte Jezz seine Geduld doch gewaltig und das obgleich er sehr, sehr lange, sehr sehr ruhig blieb, sogar jetzt obwohl der ihn abermals unterbrochen hatte. Was er nicht sehen konnte, war dass sich ein ziemlich spöttisches Lächeln auf Jezz Gesicht schlich in dessen Körper jetzt auch wieder Bewegung kam, als er die Wagentüre öffnete um irgendwie ein bisschen umständlich aus zu steigen. „Ich weiß was du meinst und ich weiß auch, dass ich das machen soll, ansonsten hättest du mich daheim gelassen. Dafür weißt du, dass ich da keinen Bock drauf hab… und ignorierst das natürlich. Wie immer.“ Cherufe sagte kein Wort mehr, aber er nickte bestätigend. Damit warf Jezz die Fahrertüre zu, steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenderte jetzt ein ziemlich angesäuertes Gesicht ziehend die Straße nach unten. Er hasste das, er hasste so einiges, genauer gesagt gab es nur wenig das er nicht hasste. Warum musste eigentlich er das machen? Eigentlich war er dafür alles andere als der Richtige. Na gut… na gut… er legte sich einen Plan zurecht. Nein eigentlich nicht. Rein, Person einpacken, Raus, Fertig. Gut es mochte an Details mangeln, aber zumindest konnte niemand behaupten er ging vollständig planlos vor. Mit Jedem Schritt den er tat und vermeintlich brummig vor sich hinstarrte musterte er jedoch die Umgebung. Tatsache er war hier schon gewesen, aber man hatte die Häuser modernisiert. Nein man hatte die alten Häuser abgerissen und neue genauso unschöne Klötze hingestellt. Masse statt klasse. Er bog in eine Seitengasse ein – dort wo sich der Hintereingang zu dem Haus befand – und blieb stehen, als er in den Lauf einer Pistole blickte. Gangster? Nicht wirklich. „Ich habe darauf gewartet euch in die Finger zu kriegen“, zischte ihm eine Frauenstimme entgegen, deren Besitzerin man Dank der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze nicht wirklich ausmachen konnte. Aber er hatte da so eine Ahnung. Jezz fixierte das Metall, zog eine Augenbraue in die Höhe und blickte dann darüber hinweg zu der Lady. „Pass auf Missi… Erstens pack’ die Knarre weg, Zweitens…“ Nein, Missi wollte anscheinend nicht reden, sie drückte aber auch nicht ab, sondern zog es vor ihm das Ding mit Schmackes gegen die Schläfe zu donnern, was den Effekt hatte, dass Jezz für einen Moment lauter bunte tanzende Kreise vor seinen Augen sah, ehe auch etwas Zeit verzögert der Schmerz einsetzte. Heißa! Ungemütliches Frauenzimmer. „Fahr zur Hölle, Blutsauger!“, fauchte es ihm wütend entgegen, aber der einzige Ort zu dem Jezz heute noch fahren wollte war sein Zimmer und da war es definitiv angenehmer temperiert. Was auch immer sie gerade tun wollte, er hatte den Vorteil, dass er einfach schneller war. Ehe diese Furie sich versah hatte er sie grob am Handgelenk gepackt, sodass sie mit einem kurzen Aufschrei die Waffe einfach fallen ließ, einige Male um die eigene Achse gewirbelt und schließlich frontal an die Wand gedrückt wurde, den Arm dabei fest auf den Rücken verdreht. Während dieses eher grotesk anmutenden Tanzes war ihr die Kapuze vom Kopf gerutscht sodass man jetzt den blonden Schopf erkennen konnte, der sich darunter verborgen hatte. Doch ja, das mochte die ältere Version der Frau sein, die sie vor einigen Jahren zwischen irgendwelchen menschlichen Überresten entdeckt hatten. Zugegeben, sie hatte sich lange gehalten. Sie zischte etwas unverständliches, die Zähne fest aufeinander gepresst um einen weiteren Aufschrei zu vermeiden. Gott, was würde Jezz für ein Schmerzmittel geben, dass er einnehmen konnte und das auch wirkte. Musste die dämliche Ziege ihm was gegen den Kopf semmeln? Die Quittung dafür hatte sie ja eben erhalten und da die Lady gerade auch nichts weiter machen konnte als zu kurren und sich kurz unsinniger Weise aufzubäumen, griff er das was er vorhin gesagt hatte auch wieder auf. „…Zweitens kann ichs nicht leiden wenn man mir was um die Ohren wirft…“ Okay das war nicht der vorgesehene Wortlaut gewesen, aber man musste flexibel sein. „Drittens habe ich nicht vor dich umzulegen und Viertens habe ich mit dem was damals vorgefallen ist rein gar nichts zu tun.“ Er lockerte den Griff ein wenig, nur ein klein wenig um ihr zumindest nicht mehr weh zu tun als unbedingt nötig. Jezz war normal schon alles andere als die Freundlichkeit in Person und wenn man ihn dann auch noch so begrüßte konnte er sogar richtig unfreundlich werden – durfte er nur nicht. Aber er hatte sein Temperament im Augenblick unter Kontrolle. „Lass mich los, Arschloch!“ Das waren die ersten zwar noch gepressten aber doch wieder verständlichen Worte, der Frau, deren Gegenwehr doch zusehends abnahm ohne jedoch gänzlich zu versiegen. „Glaubt ihr ich bin blind? Ich hab gesehen, dass ihr mich beobachtet habt… findet ihr das etwa lustig?!“ Ja klar, er hatte die ganze Nacht nichts besseres zu tun als irgendwem hinter zu glotzen und das wahnsinnig komisch zu finden. „Du bist nicht mein Typ.“ Das mit dem ‘zu alt’ klemmte er sich jetzt, weil es faktisch nicht richtig war, aber die vorherigen Worte reichten wohl schon um sie zu reizen. Nicht, dass er es jetzt doch noch als witzig empfunden hätte, das war falsch, es war lediglich seine Art. Mit der die Meisten nur bedingt zurecht kamen, bis überhaupt nicht. Dennoch ließ er von ihr ab, trat fast schon rasch einige Schritte zurück. Reine Vorsichtsmaßnahme. Im selben Moment drehte sich auch die Lady herum, nur um sich mit dem Rücken gegen die Wand zu pressen. So konnte man auch mehr von ihr erkennen. Sie sah müde aus, abgekämpft, während sich in den Augen eine Mischung aus unterdrückter Wut und Furcht spiegelte. Augen deren Blick über den Boden huschten, ganz als würde sie nach der Waffe suchen, die sie vorher hatte fallen lassen. „Das wäre eine ziemlich blöde Idee, außerdem habe ich schon gesagt, dass ich dir nichts tue.“ Jezz lehnte sich an die gegenüberliegende Mauer, kramte eine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche und zündete sich auch eine Davon an. „Die wissen von dir und wenn du außer dem Ding und der ganzen Wut in deinem Bauch nicht mehr zu bieten hast, dann hast du ein ziemliches Problem.“, fuhr er nüchtern fort. Genau genommen klang es mehr gelangweilt. Was interessierte ihn schon diese Zimtzicke, die hatte ihm eben ziemliche Kopfschmerzen beschert, aber er sollte ja… also machte er auch, nur eben auf seine charmante Art und Weise. „Oder lass es mich anders sagen, Missi: Dann hattest du ein ziemliches Problem weil du Harfe spielend auf einer Wolke sitzt und dir über den ganzen Dreck keine Gedanken mehr machen musst.“ Jezz konnte sich zig Dinge ausmalen, die er jetzt lieber getan hätte, als hier in einer gottverdammten Gasse zu stehen und mit dieser Schreckschraube zu diskutieren, die es wahrscheinlich sowieso nicht mehr lange machen würde. Aber er hatte ja schon das ein oder andere Mal festgestellt, dass sich niemand für das interessierte was er wollte. Sie hingegen sog die Luft scharf ein, riss den Blick von der Pistole los, die sie nach einigen Sekunden auch ausgemacht hatte und fixierte den Blauhaarigen mit leicht zusammengekniffenen Augen. Was erzählte der da eigentlich? Sie fand es nicht lustig, überhaupt nicht. Andererseits wirkte der auch nicht unbedingt wie Jemand der fröhlich vor sich hin witzelte, außerdem hatte er unglücklicher Weise recht. „Ich heiße nicht Missi, mein Name lautet Kayla du Mistkerl und ich komme gut allein…“ Die Entgegnung der blonden Frau wurde ruppig unterbrochen, als irgendetwas großes, irgendetwas schweres neben ihnen auf dem Boden aufschlug. Dem Laut nach klang es wie ein nasser Sack, in dem just im Augenblick des Aufpralls etwas brach das wie Holz klang oder auch Knochen. Jezz’ Blick rutschte zur Seite, auf eben jenes Objekt, das allerdings kein nasser Sack war sondern etwas das lediglich noch entfernt mit einem menschlichen Körper gemein hatte. Dieses Ding wirkte seltsam deformiert – was nur bedingt von der Bruchlandung her rühren mochte – und etwas entscheidendes fehlte, etwas das sich sonst zwischen den Schultern befand. Den Bruchteil einer Sekunde später landete etwas weiter entfernt noch etwas, etwas das den Fall allerdings ziemlich galant abfederte und sich in einer fließenden Bewegung erhob, etwas das deutlich mehr Ähnlichkeit mit einem Menschen, genauer gesagt mit einer Frau hatte als das Objekt das zwischen ihnen auf dem Asphalt lag. Sie strich sich mit den Fingern das lange, zerzauste Haare aus dem Gesicht, was jedoch den Effekt hatte, dass Beides mit dunklen Flecken verunstaltet wurde. Kayla blinzelte, starrte das ‘Vieh’ von Frau an, den verunstalteten Körper und schließlich wieder Jezz. Sie schloß die Augen wieder und hatte das schiere Verlangen lauthals loszuschreien, ein Reflex den sie nur mit Müh und Not niederkämpfen konnte, gemeinsam mit dem Brechreiz, der ihr auf der Zunge lag. Jezz indessen knurrte übellaunig, fixierte den Neuankömmling, deren urplötzliches Auftreten irgendwie gerade zu nach Ärger stank. „Die haben ein ziemlich mieses Timing.“ Allem Vorweg war wohl die übel zugerichtete Leiche der Vorbote des sich anbahnenden Unheils. „Wie viele sind es, July?“ „Fünf…“ Die Stimme der Frau klang seltsam heiser, fast schon unverhältnismäßig tief und wollte so gar nicht zu ihrem Äußeren passen. Sie drehte den verstümmelten Klumpen Fleisch mit ihrem Fuß auf den Rücken, fast als sei es eine Trophäe. „…mit denen sollten wir fertig werden.“ „Hier? Zu riskant… lenk sie ab. Und wir, Herzchen, wollen mal sehen wie schnell du laufen kannst.“ Kayla hatte kaum Zeit zu reagieren, denn noch ehe die Worte in ihren Verstand drangen wurde sie abermals an der Hand gepackt und der Blauhaarige zog sie regelrecht mit sich davon. „Wa… Mo… he..!“ Sie strauchelte, stolperte im ersten Augenblick mehr hinterher, als dass sie tatsächlich aus eigener Kraft ging und es wollte ein ganze Weile lang dauern, bis ihre Schritte in einen gleichmäßigen Takt fielen. Fünf? Fünf…was? Wollte sie das überhaupt wirklich wissen? Ja! Nein… eigentlich, wenn sie genug Zeit hätte genauer darüber nachzudenken, sie wäre zu dem Schluss gekommen, dass nicht wissen manchmal deutlich besser war als wissend zu sein. Dumm nur, wenn man dann doch immer alles wissen wollte, da man sonst das schiere Gefühl hatte vor Neugier zu platzen. „Vor was laufen wir eigentlich weg?“ Ihre Stimme war dünn und kam lediglich stoßweise zwischen dem keuchendem Atem. Kayla hatte Mühe mit dem scharfen Tempo mitzuhalten, das Jezz vorgab und hätte der sie nicht immer noch am Arm gepackt, sie wäre deutlich langsamer geworden. So allerdings lief sie in Gefahr auf die Nase zu fallen, wenn sie langsamer wurde. „Ungemütlichen Zeitgenossen“ Die Antwort war so überflüssig, dass er es eigentlich gleich hätte ganz lassen können etwas zu sagen. Wenigstens empfand sie es so, ganz zu schweigen davon, dass sie dieses Gerenne satt hatte – und fast keine Luft mehr bekam. Sie hetzten die Strecke zurück, die Jezz vorhin gekommen war und das Ziel, der Wagen, war auch recht rasch in Sicht. Jezz zog die Augenbrauen ein wenig zusammen, als er sehen konnte, dass dieser leer war. Ja klasse das machte es natürlich einfacher, wenn sie nun in alle Richtungen versprengt waren. Wenige Schritte vom Auto entfernt blieb er dann auch stehen, ließ den Arm der Frau los, während sein Blick über die gleichbleibend graue Betonlandschaft glitt. Kayla ließ sich hängen, stützt die Arme auf den Oberschenkeln auf und versuchte durchzuatmen, nur dass sie dabei unweigerlich das Gefühl hatte, dass ihre Lungen bei jedem Atemzug zu zerreissen drohten. Sobald sie wieder Luft kam, würde sie dem Kerl erzählen was sie davon hielt, wenn man sie einfach so durch die Gegend schleifte. Nämlich gar nichts! Sie richtete sich langsam wieder auf, sog die Luft tief ein und erstarrte. Zeitgleich weiteten sich ihre Augen einen Deut und als Jezz sich ihr wieder zuwand um etwas zu sagen, stockte auch er, als er das Entsetzen darin erblickte. Ruckartig wirbelte er herum – zu langsam – denn er sah nicht einmal genau was ihn da traf, aber es hatte eine solche Wucht inne, dass es den Blauhaarigen von den Füßen riss und er nur haarscharf an der blonden Frau vorbei auf den Asphalt prallte. Es war eines dieser… dieser… Kayla starrte das Ding an, das mehr gehockt auf der Motorhaube des Wagens saß und sie aus leeren Augen anglotzte. Sie hatte so etwas ähnliches schon einmal gesehen. Es war etwas, das mit viel Phantasie noch aussah wie Mensch, was primär daher rührte, dass die skurriles Form des Leibes unter den weiten Kleidungsstücken verborgen lag. Aber das Gesicht allein genügte schon… es war noch ein Gesicht, ein Gesicht das so aussah als hätte man Haut über blanken Knochen gespannt. Sie wollte etwas tun, etwas machen, mehr als dieses Vieh einfach nur anzustarren, aber sie konnte nicht… selbst das Missmutige Knurren, das von etwas weiter hinten her erklang sickerte nicht ganz in ihren Verstand. Jezz war wieder auf die Füße gekommen und fixierte das Ding gleichermaßen, allerdings spiegelte sich in seinem Blick kein Entsetzen, sondern aufkeimende Wut. Zu seinem Glück war das Ding nur mit mangelnder Intelligenz gesegnet, was nur nichts daran änderte, dass es kräftig zuschlagen konnte. Es rührte sich nicht, machte auch keine Anstalten sie noch einmal anzugreifen. Im Gegenteil, das Ding fuhr herum, richtete sich auf und sprang eilends über den Wagen davon. Jezz sah ihm hinterher und sein Gesicht hatte einen deutlich fragenden Ausdruck angenommen. Was war denn das nun bitte? Normalerweise wäre er hinterher, er machte auch einen Schritt in die Richtung, bloß um wieder stehen zu bleiben und den Kopf zu schütteln. Ihm tat der Rücken weh und zwar tierisch… dabei hatte das Ding nur einmal zugetreten und er hatte das Gefühl, dass nicht mehr viel gefehlt hätte um ihm das Kreuz zu brechen. „Ihr könntet einsteigen.“ Die Stimme erklang nicht hinter, sondern neben ihnen und kurz darauf wurde auch eine der Autotüren geöffnet. Jezz’ Kopf flog herum. Zuerst sah er Cherufe, der wie aus dem Nichts aufgetaucht schien, verständnislos an, ehe der Ärger wieder die Oberhand gewann. „Wo zum Henker kommst du jetzt bitte her?!“ „Von dort hinten.“ Der Schwarzhaarige deutet dem Kopf in Richtung einer Seitengasse. „Einsteigen.“, wiederholte er und setzte die eigene Aufforderung in die Tat um. Jezz knurrte leise, packte die noch immer lethargisch wirkende Frau an den Schultern und bugsierte sie auf die Rückbank, bevor er selbst wieder hinter dem Steuer platz nahm, die Wagentür ruppig zudonnernd. „Du hast das gewusst, eh? Wenn du jetzt ja sagst fahre ich gegen die nächste Wand… und irgendwohin gehe ich mit dir auch nicht mehr. Scheisse nochmal! Denk nicht mal dran mich noch einmal zu fragen. Ich bin doch kein Pausenclown!“ Der Wagen wurde gestartet, nahm auch recht rasch an Fahrt auf. Jezz verhinderte es zur Seite oder gar in den Rückspiegel zu sehen, die Funken sprühenden blauen Augen waren starr auf die Straße gerichtet. Er hätte eine mordslust gehabt etwas umzufahren, ganz egal was es war, aber die Fahrbahn blieb leer, allgemein wirkte die Gegend wie ausgestorben. „Nein“, entgegnete Cherufe ruhig. „Zumindest nicht direkt.“ „Nicht direkt?! Was soll das jetzt heißen?! Wie wäre es wenn du die Dinge einfach mal genauer erläuterst anstatt mich mit Bröckchen an Informationen abzuspeisen, eh? Ich kann Überraschungen nicht ausstehen.“ Jezz schrie nicht, eigentlich schrie er so gut wie nie auch wenn ihn etwas auf die Palme bracht. Er konnte sich in Rage reden – wie er es gerade tat – aber es blieb dabei, dass seine Stimme lediglich einen fauchenden, keifenden Ton annahm. Er zog die Luft bereits wieder ein um fortzufahren, wurde dann jedoch unterbrochen. „Weil du nicht zuhörst. Weil du nicht zuhören willst, wenn man dir etwas erklärt, weil du dich für das was man dir sagt nicht interessierst… und ich nicht die Lust habe Jemandem etwas zu Erläutern, der sich wie ein störrisches Kind benimmt.“ Jezz warf einen kurzen Blick zur Seite, rollte dann mit den Augen und ließ den soeben neu aufgestauten Ärger am Gaspedal aus, das er regelrecht durchtrat. Zum Glück für alle beteiligen blieben die Straßen, durch die der schwarze Van preschte nahezu gespenstisch leer. Auch im Wagen selbst herrschte nach dieser kurzen Rüge stille, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, da die Lethargie von der Frau die bis zu diesem Zeitpunkt ziemlich regungslos auf dem Rücksitz gesessen hatte abfiel. “Lasst mich aussteigen..:”, drang es erst recht leise hervor, dann wurde die Stimme wieder lauter, fordernder. “Ich will hier raus habe ich gesagt! Macht auf der Stelle die Türe auf!” Obwohl die Betonlandschaft nurmehr als wirrer Schemen an den Fensterscheibe vorbeiflog, begann sie am Griff herumzurüttel. Vergeblich. Das Ding blieb fest verschlossen. “Miss Drighten, ich bitte sie beruhigen sie sich, wenn wir ihnen tatsächlich etwas hätten antun wollen, dann wären andere Gelegenheiten durchaus günstiger gewesen. Dass wissen sie auch.” Cherufes Stimme übertönte das Geräusch des Motors nur unwesentlich, dennoch hatte sie etwas an sich, dass man gar nicht anders konnte als zuzuhören. Der Blick des Schwarzhaarigen glitt nach wie vor durch die Windschuchtzscheibe, hinaus in das düstre Zwielicht, das die magre Straßenbeleuchtung hinterließ. Eigentlich war das Ganze anders geplant gewesen. Allerdings konnte man sich selten darauf verlassen, dass alles wirklich so lief wie man es sich erdacht hatte. Nein, in Wahrheit sollte man sogar felsenfest damit rechnen, dass es nur schiefgehen konnte. Zwar hatte er die Wahrscheinlichkeit, dass die andere Seite auftauchte einkalkuliert, aber dennoch gehofft, dass es nicht eintrat. Es war eingetreten. “Hören sie…”, fuhr er nach einer kurzen Kunstpause fort, in der Kayla auch aufgehört hatte den Türgriff zu malträtieren. Stattdessen saß sie nun stocksteif da, im Blick eine seltsame Mischung aus Furcht und unterdrückter Wut, die Beide um die Oberhand rangen. “…ich denke, dass wir auf der selben Seite stehen.” “Wir tun was?!”, fiel sie ihm regelrecht ins Wort. Das konnte ja wohl nur ein schlechter Scherz sein! Dieser Freak hatte wohl einen Clown gefrühstückt und das Dumme war, dass man das bei diesen verdammten Blutegeln auch noch wörtlich nehmen konnte! “Halt, langsam… das waren doch…” “Ja.” “Und ihr seid auch….” “Ja.” “Und ihr seid nicht…” “Exakt.” Für einen Moment zog Kayla ein Gesicht als wäre sie gegen eine Mauer gelaufen, nur um im Nächsten in schallendes Gelächter auszubrechen. Nur klang es absolut falsch, fast schon hysterisch. “Ja ganz Klasse, jetzt ist bei der eine Sicherung durchgebrannt…”, murrte es übellaunig von der Fahrerseite. Jezz hatte die ganze Zeit über den Mund gehalten, diesen Kommentar konnte er sich dann doch nicht verkneifen. Es war so klar gewesen. Er hätte es zumindest prophezeihen könen, aber hey, wann hörte man denn schonmal auf ihn? “Soll ich nicht doch lieber vorher bei der Irrenanstalt halten…?” Die Frage war natürlich rethorisch gemeint, wohl ein Grund aus dem er auch keine Antwort darauf erhielt. Das Fahrzeug wurde merklich langsamer, während die Geräuschkulisse im Inneren auch langsam aber sicher wieder abnahm, bis man nur noch ab und an ein leises Schnauben hörte, das nur sehr, sehr entfernt an ein Kichern erinnerte. Schließlich kam der Wagen auch zum stehen und Jezz stellte den Motor ab, ließ sich seufzend im Sitz zurückfallen. “Das wars dann…”
 

Anders. Etwas war anders, aber das war es nicht was seltsam war. Nur was da genau nicht stimmte, das konnte er bisher nicht ausmachen, sickerte das Bewusstsein nur tropfenweise in den Körper zurück. Vorsichtig versuchte er die Finger zu bewegen, nicht viel, nur ein kleines Stückweit. Der Boden über den die Fingerspitzen glitten war hart, fühlte sich eisig an und kalt. November. Es war November gewesen. Ein Bruchteil Realität an den sich der Verstand klammerte, sich langsam zurück in die Realität ziehen konnte. Und sonst? Er wagte es nicht sich zu rühren. Tot… er hätte tot sein müssen. Das war es was ihm seine letzten Erinnerungen mitteilen wollten, die sich allmählich nach oben kämpften, die klamm nach dem regungslosen Leib griffen. Vielleicht war es auch das, was anders war, diese Tatsache, die doch keine war? Die Finger tasteten sich weiter vorwärts. Zentimeter für Zentimeter, ehe sie auf Widerstand trafen. Es war weich. Die Fingerspitzen glitten langsam weiter. Stoff, weicher Stoff, der sich stellenweise nass anführte. Mühe, es kostete soviel Mühe die Augen zu öffnen, soviel Kraft, als bestünden die Lider, wie der gesamte Körper aus Blei. Es gelang, selbst wenn die Zeit die es dafür brauchte wie eine kleine Ewigkeit erscheinen wollte. Das Bild, das sich ihm bot war klar. Erstaunlich klar, ganz als hätte er die Welt zuvor lediglich durch eine milchige Scheibe betrachtet. Dass er auf dem Rücken lag war ihm zunächst gar nicht wirklich bewusst gewesen, doch jetzt konnte er es sehen. Über ihm erstreckten sich die teilweise kahlen Wipfel der Bäume, die sachte im Wind wogen. Äste und kleine Zweige an denen vereinzelt noch dunkel verfärbte Blätter hingen tanzten in den frostigen Wogen, die behutsam über die Kronen strichen. Die Umrisse hoben sich gestochen scharf von dem sternklaren Himmel ab. Unzählige wie es schien funkelnde Punkte, die grell aus dem Schwarz der Nacht hervorleuchteten. Laurent sog die kühle Nachtluft bedächtig ein. Das erste Mal, es war das erste Mal dass er seit seinem Erwachen spürte wie sein Brustkorb sich merklich hob und wieder senkte, als hätte er die ganze Zeit über den Atem angehalten. Anders… alles kam ihm seltsam anders, befremdlich vor… selbst der Geruch. Das Bewusstsein sickerte weiter zurück. Da waren Laute gewesen… Schüsse… Schießpulver. Es war Schießpulver, das er roch und noch etwas… der süßliche Gestank von Tod. Von frischem Tod. Langsam hob er die Hand, die eben noch den Grund erfühlte. Es war nur eine kleine, unscheinbare Bewegung, eine bei der er das schiere Gefühl hatte, dass sie seine Kräfte überstieg. Es dauerte, es dauerte noch etwas Länger als das öffnen der Augen, doch es gelang. Laurent hob die Hand vor sein Gesicht, die ihm mehr wie ein Fremdkörper, denn Teil seines Leibes vorkam. Etwas fiel, etwas fiel auf sein Antlitz, benetzte die Wange. Einen Moment dauerte es, bis das Auge sich für kurze Distanzen scharf genug gestellt hatte um mit entsetzlichem Detailreichtum zu erkennen.Blut, die im fahlen Sternlicht fast unnatürlich helle Haut war zu einem großten Teil mit Blut bedeckt, das jetzt in zähen Tropfen von den Fingern auf sein Gesicht fiel. Und mit einem Mal fuhr der Verstand ruckartig in den Leib zurück, damit auch das bisschen an zerissenen Erinnerungen das an die letzten Moment hatte, bevor er in die Schwärze geglitten war. Plötzlich von unsäglichem Grauen erfasst, richtete er sich auf. Die Schwere in dem Moment abgefallen indem sein Denken wieder einsetzte. Vielleicht hätte er besser daran getan liegen zu bleiben, denn das was seine Sinne nun erfassten, flutete die zuvor herrschende Leere mit Entsetzen. Es sah wie ein Schlachtfeld… er lag inmitten von unzähligen Toten. Toten, die man nur mit Mühe noch als Menschen identifizieren konnte, als wären sie durch eine Bestie zerissen worden. Laurents Lippen bebten, doch nach wie vor drang kein Laut über sie. Der Mann neben ihm war zum größten Teil noch erhalten, zumindest vom Oberkörper abwärts. Ein Uniformierter. Wachen… es waren die Wachen seines Vaters, die hier einen schrecklichen Tod gefunden hatten. Sie waren nicht dagewesen, als er das Bewusstsein verloren hatte… und er… er lebte doch noch, oder?
 

Es war das selbe trübe Bild wie üblich, wenn man durch das teilweise mit Holz verschlagene Fenster blickte. Da sich das Zimmer im Erdgeschoß des fünfstöckigen Hauses befand konnte man nicht wirklich weit sehen, lediglich die karge Betonfassade der gegenüberliegenden Gebäudes, die windschiefe, ramponierte Straßenlaterne, die Straße selbst, die vor Löchern im Asphalt nur so strotzte. Alles in Allem trübe Aussichten und keine Menschenseele auf der Straße, aber das lag wohl am schlechten Ruf und der doch überwiegend eher kargen Besiedlung dieses Viertels. Nun man konnte niemandem verübeln, wenn er nicht hier her ziehen wollte und die die hier lebten verkrochen sich in ihren Wohnungen, die mit zig Schlößern gesichert war. Schuld daran war mitunter die hohe Kriminalitätsrate der Stadt. In einigen Vierteln bekam man das weniger zu spüren, in anderen mehr und der Name dieses Stadtteils indem sie wohnten war das Sinnbild für den städtischen Verfall. Das kleine Haus befand sich schon fast im Randgebiet der Bronx, das einzige Stück von New York, das nicht auf einer Insel lag und dem Verfall hatten sie zusehen können… Viel zu viel Leid in den Straßen, viele Schicksale ein bemitleidenswertes Trauerspiel, das sich den Launen des Lebens ergeben musste.
 

Nein, sie waren natürlich zu keiner Irrenanstalt gefahren und die blonde Schreckschraube hatte sich sogar davon überzeugen lassen, dass sie sich zumindest einmal anhörte worum es hier überhaupt ging. Ganz ehrlich – Jezz zweifelte manchmal ein wenig am Sinn der ‘Sache’, welche auch immer das war. Sie waren alle drei ausgestiegen, hatten das Haus betreten, das sie ihr Eigen nennen durften und sich dort dann auch aufgeteilt. Nicht, dass er traurig war, dass ihm weitere Vorträge erspart blieben. Eigentlich war er ganz froh darum. Im Augenblick stand er in etwas, dass man grob, ganz grob als eine Art Wohnzimmer der Belegschaft betitel konnte. Zumindest standen da ein paar durchgesessene Sofa, Sessel und Tischchen herum. Der Griesgram hatte davon abgesehen das Licht anzuschalten, war ohne umschweife auf das Fenster zugestiefelt um nach draußen zu sehen. Dabei mussten seine Gedanken abermals abgeglitten sein. Nicht seine Nacht. Absolut nicht seine Nacht und irgendetwas lief da verdammt schief. Er war doch sonst nicht so gedankenverloren, zumindest nicht so sehr. Umso besser, dass von den Anderen noch niemand hier. Jedenfalls war es ungewohnt still in dem scheinbar baufälligen Haus am Rande der Bronx. Wohin die Anderen verschwunden waren wusste er nicht. Vielleicht waren sie ebenso unbemerkt gefolgt wie July, denn die war nicht mit den Wagen gestiegen als sie zu Beginn der Nacht mit dieser seltsamen ‘Operation’ begannen. Brummend lehnte er den Kopf gegen das leicht milchige Glas des Fensters, ohne einen merklichen Termperaturunterschied wahrzunehmen. In letzter Zeit war alles ziemlich daneben gelaufen, ob das jetzt besser wurde? Jezz hatte was das anbelangte seine Zweifel… Sie hatten Seve und Jeremy verloren als sie in einen Hinterhalt getappt waren, dafür war wenige Tage darauf Cherufe mit einem seltsamen Kauz im Gepäck wieder aufgetaucht, als wäre er nie verschwunden gewesen. Mit einer ungesunden Portion Ironie konnte man das als fliegenden Wechsel bezeichnen. Oh Jezz war sauer gewesen, eigentlich war er sogar stinksauer – und das immer noch. Kurz nach dieser Geschichte vor zwölf Jahren war sein Mentor ohne eine nähere Erläuterung nach Frankreich verschwunden. Dort wäre etwas aufgetaucht, das er verloren glaubte und sie sollen doch bitte ein Auge auf diese Frau haben, die den Angriff überlebt hatte. Es folgte… Nichts. Kein Brief, kein Anruf, kein Gar nichts… und dann stand er vor wenigen Wochen erneut vor der Türe. Abgesehen davon saß er sich jetzt mit dieser nervenaufreibenden Person im Zimmer nebenan unterhielt.
 

Jezz konnte sich mit dem Gedanken nicht anfreunden, aber wenn er näher darüber nachdachte. Warum war er selbst eigentlich noch hier? Jeder der Anderen hatte sich aus einem persönlichen Grund heraus angeschlossen, weil dieses Feindbild für sie nicht nur ein hypothetisches Konstrukt war, sondern weil sie für sich selbst eine direkte Bedrohung gesehen hatten. Aber er? Er hatte mit diesem Konflikt nichts zu tun. An ihn war Niemand herangetreten… und dann war er doch einer derjenigen die schon am längsten in der Geschichte steckten. Für was? Weshalb? Aus Verbundenheit. Wenn das den Anderen erklären würde, die würden wohl Lachen und es nicht glauben. Jezz löste den Kopf vom kalten Glas, lehnte sich stattdessen mit dem Rücken dagegen um langsam nach unten zu rutschen und dort am Boden zum Sitzen zu kommen. Ein kurzes, spöttisches Lächeln schlich sich auf die Lippen. Vielleicht war er hier ja doch der Pausenclown…
 

Draußen auf dem Flur ging eine Türe. Nein nicht die zum Raum gegenüber, es war die Haustür, die um einiges schwerer war und nun mit einem tiefen Seufzen wieder in ihre Ausgangsposition fiel. Das Knarren der Dielen war etwas leiser, aber in dem im Moment so stillen Haus drang es beinahe ohrenbetäubend laut durch die dünnen Wände. Noch eine Türe wurde geöffnet, diesmal war es jene, die in das mehr oder minder gemütliche Wohnzimmer führte und kurz darauf wieder geschlossen. Hatten sie ihn entdeckt? Wohl kaum, aber da auch sie den Lichtschalter nicht betätigten war es wenig verwunderlich. Jezz konnte sie von seiner Position relativ gut erkennen, aber er machte sich nicht die Mühe etwas sehen zu wollen, im Gegenteil er schloss mit einem gedanklichen Seufzer die Augen. “Das ist nicht wirklich zu unsrem Vorteil. Nein eigentlich sind die Aussicht sogar recht schlecht. Ich bezweifle, dass er einem Gespräch zustimmen wird.” Die Stimme, die erklang war glatt, trug den typisch steifen englischen Akzent und gehörte ziemlich eindeutig einem Mann: Steven Coldoor. Vermutlich war es auch dieser, der sich jetzt durch den Raum bewegte, wenige Sekunden später folgte ein leises Knarzen als er auf einem der Sitzgelegenheiten platz nahm. Als Jezz die Augen wieder aufschlug konnte er Steven sogar genauer erkennen. Dieser hatte den Laptop auf dem schmalen Couchtisch abgestellt, war gerade dabei ihn aufzuklappen, die tiefbraunen Augen sogen sich über die schmalen Brillengläser hinweg auf dem Display fest, während er sich auf dem Sofa ein wenig zurück lehnte, ohne dabei tatsächlich lässig zu wirken. Das war eines der ‚Talente‘, das er besaß. Unglaublich steif zu wirken, was auch immer er tat. Vielleicht hatte er irgendwann einmal einen Besen verschluckt. “Ich… würde es auch nicht tun, wenn ich die Wahl hätte.”, antwortete eine melodisch klingende Frauenstimme, etwas zeitversetzt und Steven ließ sich dazu herab den Blick wieder anzuheben. Dabei schlich sich ein schmales Lächeln auf die dünnen Lippen. Die Antwort missfiel ihm, wie ihm wohl der ganze Abend nicht gefallen hatte, aber Steven war zu professionell um sich Ärgernisse wirklich anmerken zu lassen. Aber man kannte ihn gut genug um zu sehen, dass dieses Lächeln kein echtes Lächeln war, sondern ziemlich abfällig wirkte. Wieder Schritte die sich über den alten Teppich des Wohnraums bewegten und aus den Konturen der zweiten Person wurde eine Frau, ebenso adrett gekleidet wie Steven, dennoch besaß sie eine gänzlich andere Ausstrahlung. Zwar distanziert, doch freundlich, was wohl auch an ihrem Äußeren lag. Sally McDean war eine kleine, zierliche Person mit langem, welligen Haar das wie fließendes Feuer über ihre schmalen Schultern fiel. Das Gesicht glich dem einer handgearbeiteten Porzelannuppe und Sally verstand es diesen Ausdruck noch weiter zu verstärken. Helle Haut, große grüne Augen und rote geschwungene Lippen, die sich jetzt zu einem schwachen Lächeln kräuselten. Die Ernsthaftigkeit in ihrem Blick wich dadurch allerdings kein Stück. “Diplomatie ist eine Sache, aber mit Bestien verhandelt man nicht und du Steven weißt ganz genau zu was er fähig ist…” “Natürlich.”, fiel er ihr ins Wort, die Hände vor dem Bauch faltend. “Dennoch halte ich es für ratsam zumindest den Versuch zu unternehmen, zumal Mister Resory mit Sicherheit nicht sehr begeistert sein wird, wenn wir seinen Wünschen nicht entsprechen.” Langsam, aber beständig hatte sie sich dem Tisch genähert, bis sie nun weniger als einen Meter von ihrem Gesprächspartner entfernt stand. Eine Hand in die Hüften gestützt, mit der anderen klappte sie jetzt das Gerät zu, auf das Stevens Blick wieder gerutscht war. Es gab ein leises Klacken von sich, als der Monitor einrastete, das künstliche Licht damit wieder verlosch. “Mister Resory ist nicht hier und du hast nicht das sagen.”, schnitt ihre eigentlich sanfte Stimme jetzt durch den Raum. Es war offensiv, für Sallys Verhältnisse eigentlich sogar mehr als das. Ihr Gegenüber erhob sich daraufhin langsam, zog die trockene Luft tief ein, während der Körper sich unter dem Stoff des Anzugs spannte. “Du… solltest aufpassen welche Worte du wählst, sonst…” Steven wollte gerade um den Tisch herumgehen, doch hinter ihm scharrte etwas über den Boden, sodass der Engländer regelrecht herumwirbelte, eine Hand unter das Jacket fuhr. Jezz war mit einer fließenden Bewegung auf die Füße gekommen, schlenderte die wenige Schritte die es bedurfte zum Sofa um sich dann mit beiden Händen auf der Rückenlehne des Sofas abzustützen. Es war ein offenes Geheimnis, dass er Steven auf den Tod nicht ausstehen konnte. Der Typ gehörte zu den Leuten mit denen er nicht konnte und im Moment hatte Jezz wahnsinnige Lust Coldoor seine Krawatte in den Mund zu stecken, sich umzudrehen und zu gehen. Tat er aber nicht. Stattdessen lehnte er sich ein wenig vor, neigte den Kopf zur Seite und musterte Steven Zentimeter für Zentimeter von unten nach oben, sodass es mehr als nur provozierend wirken musste. Eigentlich hatte er sich ja vorgenommen da sitzen zu bleiben bis die zwei wieder verschwunden waren, ganz einfach um nicht mit ihnen reden zu müssen, aber dann hatte er doch Bedarf gesehen einzugreifen. Ein schwaches, beinahe herablassendes Lächeln zeichnete sich auf Jezz’ Lippen ab, als er bei Stevens Gesicht angekommen war, das für einen Moment tatsächliche Überraschung spiegelte. Scheinbar hatte er nicht erwartet belauscht zu werden. Jedoch dauerte es nur wenige Lidschläge, dann hatte der Engländer sich wieder vollkommen unter Kontrolle, ließ die Hand wieder sinken. “Seit wann spielen wir den Mäuschen…?” Die Belustigung in der Stimme klang aufgesetzt und Steven setzt bereits wieder sein geschäftsmäßig schmieriges Lächeln auf. Die Antwort war ein halbherziges Schulterzucken. “Was kann ich dafür, wenn du keine Augen in Kopf hast…” Coldoor verengte die Augen ein wenig, griff urplötzlich nach seinem Hemdkragen und zog den Blauhaarigen ein Stückweit zu sich über das Sofa, sodass nurmehr wenige Zentimeter zwischen ihren Gesichtern lagen. Für einen Moment wirkten Stevens Augen stechend, fast schon bösartig. Dem stummen Kräftemessen, dem Blick hielt Jezz stand, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. „Lass mich auf der Stelle los.“, erwiderte er leise in gewohnter Manier, doch der frostige Unterton in der ansonsten desinteressiert klingenden Stimme war nicht zu verkennen. Und Steven ließ tatsächlich ab, wieder mit diesem öligen Lächeln im Gesicht, das in Jezz fast schon Abscheu hervorrief. “Tse…” Jezz trat einen Schritt zurück, nahm noch einmal abschätzend Maß, ehe er um das Sofa herumging, an dem ätzenden Engländer vorbei, auch an Sally, bei der er für einen kurzen Moment inne hielt. Er wollte noch etwas sagen, aber dieser seltsame Blick in ihren Augen. Er konnte nicht.



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