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Die Super Nanny in Japan

von

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Abgrund der Seele

„Er hat sich alles genommen“, sagte er mit leiser Stimme und sprach noch immer so, als würde ihn das alles nichts angehen. Er starrte vor sich in die Dunkelheit. „Von Anfang an hat er sich genommen, was uns am Herzen lag. Er hat es genommen, und es war ihm völlig gleichgültig, und er hat es zerstört. Schon als Kind war er so. Er nimmt und wirft weg. Nimmt und wirft weg. Ich habe versucht, ihn nicht zu hassen. Ich habe mir nichts anmerken lassen, als Vater all seine Aufmerksamkeit ihm zuwandte, aber Neid und Eifersucht haben mich innerlich zerfressen. Ich war Vaters Wunschkind, das geboren wurde, um die Familie weiterzuführen. Ich habe mein ganzes Leben geschuftet, um dem Vertrauen gerecht zu werden, das er in mich gesetzt hat. Jeder sonst erkennt meine Fähigkeiten an. Doch ich wusste von Vaters Unzufriedenheit seit Akihitos Geburt. Seit er ein Verhältnis nach dem nächsten hatte – und in Wahrheit versuchte, einen Sohn zu zeugen. Er wollte das perfekte Kind, das sein Blut in sich trug. Schon damals wusste ich, dass er mit meinem Können nicht zufrieden war. Damals jedoch schürte es meinen Kampfgeist. Daraus zog ich meine Kraft… * Doch dann kam Koji, und mein Leben wurde ein Alptraum. Es war nicht so, dass ich Koji seines Talents wegen beneidete oder hasste. Ich stand über solcherlei vulgären Empfindungen. Kojis Dasein war nicht das Problem. Das Problem war der Wert meines Daseins. * Es raubte mir beinahe den Verstand… ich überlegte, wie ich Koji umbringen könnte, malte mir aus, wie ich ihn aufschlitzen und zerstückeln würde… Wie dumm von mir… zu denken, dass sein Verschwinden mir meinen Wunsch erfüllen würde… Es wäre nichts als ein Fleck auf meiner Ehre. Eine ekelhafte Untat. Was ich wollte, konnte ich mir nicht mit Gewalt nehmen… nur durch noch mehr Training… noch mehr Anstrengung. * Ich habe trainiert bis tief in die Nacht, bis ich das Schwert nicht mehr halten konnte. Ich habe jedes Turnier gewonnen. Ich habe meinen Schulabschluss und mein Studium mit Auszeichnung bestanden, doch es genügte nicht. Ich tat alles, was von mir erwartet wurde. Es war nie genug. Ich dachte es, aber es war nicht so. Als Koji sich entschied, Künstler zu werden, enterbte Vater seinen dritten Sohn. Zu dieser Zeit verschwendete ich schon lange keinen Gedanken mehr an ihn. * Bis dieser Tag kam… die Testamentseröffnung… und Koji doch noch bekam, wofür ich gelebt habe… Nur, um es wieder von sich zu werfen…“

Die Zigarette fiel zu Boden, und Hirose nahm die Brille ab und fuhr sich mit der anderen Hand über die Augen. Ich hätte gerne etwas Tröstendes gesagt oder getan, aber ich befürchtete, dadurch diesen Moment zu zerstören, und ich hatte das Gefühl, er war noch nicht fertig. Ich hatte auch das Gefühl, ich wurde gerade Zeuge, wie Hirose hier wirklich Großes leistete, nämlich emotional sich zu öffnen. Ich war mir sicher, dass er noch nie zuvor mit jemandem darüber geredet hatte. Schon vorher hatte ich natürlich mitbekommen, dass in diesem Haus in der Vergangenheit ganz viele Dinge passiert sind, dass viel Schmerz und viel Trauer da waren, und es war ganz wichtig, dass das auch mal ausgesprochen wurde.

Wiederum wurde mein Schweigen belohnt.

„Ich habe gewusst, wie demütigend sich das anfühlt“, fuhr er schließlich fort, den Blick jetzt gesenkt. „Dass es einen für immer verändert. Und ich wollte, dass er sich verändert. Damit Koji ihn nicht mehr liebt, weil er nicht mehr seinen Vorstellungen entspricht. Damit er nicht immer alles bekommt… er nimmt es nur, um es zu haben, sobald er es besitzt, wird es uninteressant. Normalerweise. Nichts bedeutete ihm etwas. Und endlich hat er jemanden, der ihm wichtig ist, für den er alles tun würde… Darum habe ich Izumi Takuto vergewaltigt. Damit Koji auch einmal fühlen kann, wie schmerzhaft es ist, jemand zu verlieren.“

Er lachte gequält auf. „Was für ein dummer, dummer Irrglaube! Ich muss damals wirklich den Verstand verloren haben! Und es hatte nicht einmal den gewünschten Effekt. Ich habe Izumi gesehen. Sein Blick ist ungebrochen. Das einzige, was ich bewirkt habe…“

Er unterbrach sich und fuhr mit den Händen über seine Oberarme, als sei ihm kalt geworden. Das leichte Zittern, das ich schon bei unserem letzten Gespräch wahrgenommen hatte, war zurückgekehrt, und ich sah, wie er die Kiefer aufeinander biss. Plötzlich wurde mir einiges klar.

„Was hat es denn bewirkt?“ fragte ich behutsam nach.

Er schüttelte den Kopf. „Das hat damit nichts zu tun.“

Ich hörte an seinem Tonfall, wie er sich wieder verschloss. Wahrscheinlich tat ihm jetzt schon leid, überhaupt soviel preisgegeben zu haben. Ich hatte nichts zu verlieren, also wagte ich, meine Vermutung zu äußern, bevor er seine emotionale Mauer wieder hochgezogen hatte.

„Sie sind selber Opfer eines Missbrauchs geworden, nicht wahr?“

Sein Kopf ruckte überrascht zu mir herum. Ohne die Brille sah er jünger aus und weniger streng. Es war nur ein Moment, dann blickte er wieder zu Boden. Eine Strähne seines Haares fiel ihm in die Stirn. „Ist das so offensichtlich?“

„Wer hat das getan?“

„Ach“, machte er. „Das waren ein paar Junkies, damals während meines Studiums in den Staaten.“ Er umklammerte seine Arme, und seine verkrampften Finger straften seinen beiläufigen Tonfall Lügen.

„Das ist ja heftig“, sagte ich. „Darum wissen Sie so genau, wie sich das anfühlt… Wie sind Sie denn damit umgegangen? Hatten Sie Unterstützung?“

„Ich… Kurauchi war da. Ich habe einfach weiter gemacht. Was hätte ich sonst tun sollen?“

Ich war erleichtert zu hören, dass er nicht allein damit gewesen ist. Das erklärte auch die innige Vertrautheit, mit der die beiden Männer miteinander umgingen, und die weit über ein Angestelltenverhältnis hinausging.

„Aber das muss sehr schlimm gewesen sein. Und dann haben Sie noch das Studium mit Auszeichnung bestanden? Das ist eine beeindruckende Leistung bei all dem Druck, unter dem Sie standen.“

„Ich habe nur getan, was von mir erwartet wurde.“

„Naja, trotzdem! Sie haben ja auch nichts anderes gelernt. Oder hat es Ihren Vater jemals interessiert, wie es Ihnen geht?“

Er antwortete nicht. Brauchte er auch nicht.

„Aber mich interessiert es. Wie ging es Ihnen damals?“

Er verzog schmerzlich das Gesicht. Dann schluckte er ein paar Mal.

„Ich möchte nicht“, brachte er schließlich heraus und drehte sein Gesicht von mir weg. „Hören Sie auf damit.“

„Ja“, sagte ich nach einem kleinen Moment. „Das kann ich tun. Aber Ihre Erinnerungen werden nicht so einfach aufhören, und auch nicht das, was sie mit Ihnen machen. Verstehen Sie, was hier passiert? Sie haben nie die Unterstützung und die Zuwendung bekommen, die Sie gebraucht hätten. Darum gehen Sie davon aus, dass Ihr Sohn das Erlebte ebenso allein bewältigen wird. Ist es nicht so? Dabei haben Sie selbst Ihre Vergangenheit nicht bewältigen können – und wie alt waren Sie bei dem Missbrauch, Anfang zwanzig? Tatsuomi ist erst acht! Verstehen Sie mich nicht falsch, dass ist in jedem Alter schlimm, aber das ist ein Unterschied. Und schauen Sie sich doch nur an, was es mit ihm gemacht hat. Sowohl Sie als auch Ihre Frau sind damit völlig überfordert, sonst wäre ich ja wohl nicht hier. Ich bitte Sie, geben Sie ihm die Chance, zu einem selbstbewussten, jungen Menschen heranzuwachsen. Kümmern Sie sich darum, dass sich seine Ängste nicht noch mehr festsetzen und bleibende Schäden verursachen. Er braucht Sie jetzt!“

Hirose rieb sich über die Augen und sah mich wieder an.

Ich zog meine Hand zurück und sprach weiter: „Es ist für mich schon sehr deutlich geworden, dass Sie versuchen, Tatsuomi ein besserer Vater zu sein, als es Ihr Vater für Sie war. Ich kann Sie darin nur weiter bestärken, da sind Sie genau auf dem richtigen Weg. Auch dass Sie sich jetzt mir gerade so geöffnet haben, finde ich ganz großartig von Ihnen, das ist sehr mutig. Nicht, dass ich gutheißen kann, was Sie getan haben, aber ich kann Ihre Handlungen jetzt wenigstens verstehen. Gehen Sie diesen Weg weiter! Es ist nicht feige, Gefühle zu zeigen, und auch kein Zeichen von Schwäche, sich Hilfe zu holen, wenn man nicht weiter kommt. Im Gegenteil, es ist Ausdruck von Mut und Verantwortungsbewusstsein. Scheuen Sie sich nicht, diese Verantwortung zu übernehmen.“

„Davor habe ich mich nie gescheut“, sagte Hirose und klang jetzt schon wieder sehr gefasst.

„Dann fangen Sie jetzt nicht damit an“, sagte ich, und hatte den Eindruck, endlich zu ihm vorgedrungen zu sein.

„Hm“, machte er.

Aber das war schon besser als die bisherigen Weigerungen.

„Können Sie mir jetzt die Hand darauf geben, dass Sie Tatsuomi von einem Kinderpsychologen behandeln lassen werden?“ fragte ich. „Meinetwegen fahren Sie mit ihm dazu ans andere Ende der Welt, wenn Sie das müssen. Aber ganz nebenbei – jeder Therapeut unterliegt der Schweigepflicht, sicherlich auch hier in Tokyo.“

Wir blickten uns in die Augen und fochten unser Gespräch nonverbal weiter. Schließlich ergriff er meine ausgestreckte Hand.

„Also gut. Ich werde dafür Sorge tragen.“

Ein Gefühl ungeheurer Erleichterung strömte warm durch meinen Körper. Ich wusste, ich konnte mich auf ihn verlassen.

„Schön!“ sagte ich, ohne meine Freude zu verbergen. „Sie werden es bestimmt nicht bereuen. Und noch etwas: Nehmen Sie Tatsuomis Schmerzen bitte unbedingt ernst. Es ist wichtig, dass er keine Angst mehr davor hat, etwas zu essen. Sie sagten, Sie haben ihn nochmals untersuchen lassen?“

Er nickte. „Es ist alles gut verheilt.“

„Ja, körperlich. Aber Narben können auch schmerzen. Oder vielleicht sind die Schmerzen psychosomatisch. Vielleicht kann Ihnen da Ihr Hausarzt, Dr. Emoto, weiterhelfen?“

„Möglich. Wie geht es eigentlich Ihrem Arm?“

„Das ist nur ein blauer Fleck, nicht der Rede wert. Jetzt gehen Sie lieber und kümmern Sie sich um Ihre Frau – sie wird auch noch einige Fragen an Sie haben.“

„Sie…“

„Sie weiß nur das, was wir im Krankenhaus erfahren haben. Von dem Gespräch mit Yugo habe ich ihr nicht viel erzählt, auch nichts von Ihrer Rolle in dem Ganzen. Ich wollte Ihnen die Möglichkeit geben, das selbst zu tun. Und ich rate Ihnen: Seien Sie zu Ihrer Frau genauso aufrichtig wie zu mir, damit sie Sie verstehen kann.“

„Hm.“ Er setzte seine Brille wieder auf. „Danke.“
 

Ob er Kaoruko wirklich alles sagen würde, wagte ich zu bezweifeln, aber das war nicht meine Aufgabe, mich da einzumischen. Bevor wir allerdings auseinander gingen, fragte ich noch etwas anderes: „Haben Sie sich eigentlich überlegt, was Sie mit Ihrer Familie unternehmen könnten? Tatsuomi hatte sich doch gewünscht, dass Sie mehr Zeit miteinander verbringen.“

„Ich war den ganzen Tag mit anderen Dingen beschäftigt.“

„Wenn Ihnen nichts einfällt, überlege ich mir etwas“, sagte ich in scherzhaft drohendem Ton. Mir war es wichtig, meine Arbeit mit einem positiven Erlebnis für alle zu beenden.

„Gut“, sagte er. „Ich nehme mir morgen Nachmittag frei. Überlegen Sie sich etwas.“ Damit war das Thema für ihn vom Tisch.

Toll, dachte ich, als er mir den Rücken zuwandte. Was sollte ich denn hier in der Fremde organisieren?

Anscheinend brauchte ich noch einmal Namis Hilfe.



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