Zum Inhalt der Seite

Die Super Nanny in Japan

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die ganze Wahrheit

Wir mussten nicht lange auf eine „günstigere“ Gelegenheit warten. Er schien froh zu sein, seine Begleitung an der nächsten Straßenbahnhaltestelle los zu werden. Viele der Schüler bogen dort ab, und nur drei Kreuzungen weiter war die Straße schon relativ leer.

Wir waren ihm in einigem Abstand gefolgt, und plötzlich lief Nami los, und bevor ich überhaupt reagieren konnte, hatte sie ihn schon eingeholt und in einen Hofeingang gestoßen. Ich rannte sofort hinterher, aber als ich sie erreichte, hatte sie ihn schon am Kragen gepackt und drückte ihn unsanft gegen die Hauswand. Mit erschrocken aufgerissenen Augen starrte er sie an, während ihre aggressiven Worte auf ihn einprasselten.

Das war natürlich nicht in Ordnung so.

„Nami“, sagte ich mit Nachdruck. „Lassen Sie ihn los!“

Meine Anwesenheit schien ihn aus seiner Erstarrung zu lösen, und er versuchte sich unter wütendem Schimpfen zu befreien. Nami packte seine Hände, noch immer vom Zorn geleitet, und presste ihn noch fester nach hinten. Mit einem schmerzhaften Keuchen verstummte er, als sein Rücken gegen den Schulranzen durchgebogen wurde. Ängstlich sah er von Nami zu mir, und dann bemerkte er Hotsuma, der inzwischen hinter mir aufgetaucht war. Augenblicklich verschwand die Furcht aus seinen Zügen und stattdessen blickte er herausfordernd Nami direkt ins Gesicht. Er sagte ein paar hämische Worte, von denen ich immerhin Nanjo Hirose verstand, und Nami zischte eine zornige Antwort.

Ich fasste sie am Arm. „So können Sie nicht mit ihm reden. Beruhigen Sie sich!“

Ohne den harten Griff zu vermindern, schloss sie für einen tiefen Atemzug die Augen, doch dann kam sie endlich wieder zur Vernunft und trat einen Schritt zurück.

Leise ächzend brachte sich der Junge wieder in eine normale Haltung zurück und rieb sich das Handgelenk. Er machte keinerlei Anstalten, fort zu laufen, dennoch sah Nami so aus, als wollte sie sich bei kleinster Gelegenheit wieder auf ihn stürzen. Der Junge spuckte auf den Boden vor ihr und sagte etwas in abfälligem Ton.

„Was hat er gesagt?“ fragte ich und fasste Nami am Arm, bevor sie erneut explodieren konnte. Jedenfalls funkelten ihre Augen schon wieder gefährlich.

„Er denkt, Nanjo-sama schickt uns“, brachte Hotsuma gepresst hervor und stellte sich neben mich. Seine Anspannung war für mich fast körperlich spürbar. „Und fragt, ob er zu feige ist, selbst zu kommen.“

„Lassen Sie mich mit ihm reden. Hotsuma, kannst du mir übersetzen?“ Ich wandte mich betont freundlich an den fremden Jungen: „Niemand schickt uns. Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Ich übersetze“, sagte Nami eisig.

Der Junge presste trotzig die Lippen aufeinander und musterte mich misstrauisch. Er nickte kurz in Hotsumas Richtung und ignorierte meine besorgte Nachfrage. Ich konnte es ihm auch nicht verdenken, so wie Nami ihn angegangen war. „Ich weiß doch, dass der da zu den Nanjo gehört.“

„Ja, das stimmt auch“, sagte ich und ließ mir keine Regung in seinem Gesicht entgehen. „Das ist Nanjo Tatsuomis Freund. Und wegen Tatsuomi sind wir auch hier, aber sein Vater weiß davon nichts. Mein Name ist Saalfrank Katia, und ich möchte Tatsuomi helfen. Ihm geht es nämlich nicht gut.“

Ich machte eine Pause und wartete Namis Übersetzung ab. Während sie sprach beruhigte sich ihr Ton merklich, und sie verwandelte sich in eine emotionslose Dolmetscherin.

Der Junge blieb bei seiner trotzigen Haltung, aber ich meinte, ein wenig Genugtuung oder so etwas Ähnliches in seinem Gesicht zu erkennen.

„Ja, und? Was wollen Sie jetzt von mir?“

„Es wäre schön, wenn du mir nur erstmal ein Paar Fragen beantworten würdest. Wie heißt du überhaupt?“

„Das weiß Hirose doch! Horiuchi Yugo, der Sohn von dem Horiuchi, den der feine Nanjo Hirose-sama ruiniert hat!“ Jetzt flackerte Wut in seinen Augen.

„Wie hat er ihn denn ruiniert, was meinst du damit?“

„Wegen ihm musste Vaters Firma Konkurs machen. Und wir mussten das Haus verkaufen.“ Er spie mir die Worte voller Hass entgegen.

„Und deswegen rächst du dich an seinem Sohn?“

„Quatsch! Ich habe mich nicht an seinem Sohn gerächt.“

„Hör mal zu“, sagte ich jetzt sehr nachdrücklich. „Wir haben erfahren, was Tatsuomi passiert ist. Und du warst der letzte, der noch bei ihm in der Sporthalle war. Und du hast mit der Polizei gesprochen, am gleichen Abend. Du warst doch dabei!“

„Ja, genau! Und dieser dämliche Affe da“, er meinte wieder Hotsuma, „wäre mir noch fast dazwischen gekommen, aber war ja so blöd und hat mich mit dem kleinen… „ Hier sagte Nami, das übersetze sie nicht. „…wieder allein gelassen. Darum konnte ich ihn mir ganz leicht schnappen.“ Er lachte schadenfroh auf.

Ich sah zu Hotsuma, der ganz weiß im Gesicht geworden war, und in hilfloser Wut die Fäuste ballte. Ich wünschte, er wäre jetzt nicht hier dabei. Ich konnte ihn gut verstehen, denn die Unverfrorenheit, mit der dieser Yugo die Tat zugab und sich regelrecht damit zu rühmen schien, schockierte auch mich. Dass das Gespräch so verlaufen würde, damit hatte ich nicht gerechnet.

„Hotsuma-kun“, sagte Nami leise. „Es ist besser, wenn du jetzt nach Hause fährst. Deine Mutter wird auf dich warten.“

Ich war froh, dass sie anscheinend ähnliche Gedankengänge hatte wie ich, und Hotsuma das weitere Gespräch ersparen wollte.

Er gehorchte widerwillig. Ich wartete, bis er um die Ecke gegangen war, dann sagte ich: „Yugo, du hast Tatsuomi böse überfallen und sehr wehgetan. Und das macht man doch nicht einfach nur so.“

„Ich wollte ihm wehtun! Das ist alles.“

„Nein, das ist nicht alles. Du weißt, wie lange das jetzt schon her ist. Aber weißt du auch, dass Tatsuomi seitdem nicht mehr schlafen kann? Er geht nicht mehr zur Schule, und er kann nicht mal mehr richtig essen. Es geht ihm immer noch richtig schlecht deswegen.“

„Das ist gut! Dann wird er jeden Tag daran erinnert, was er getan hat. Genau das wollte ich.“ Er sprach mit beißender Genugtuung.

„Redest du von Tatsuomi?“ fragte ich, denn ich konnte mir nicht vorstellen, was Tatsuomi so Schlimmes angestellt haben sollte.

„Nein! Ich rede von seinem Vater! Das geschieht ihm ganz recht!“

„Ich verstehe das noch nicht. Aber ich merke, dass du sehr wütend auf Hirose bist. Und es geht nicht um die Firma deines Vaters? Worum geht es denn dann?“

„Es geht um das, was er mit meinem Bruder gemacht hat!“ Seine Stimme bebte jetzt vor ohnmächtigem Zorn. „Ich habe es genau gemacht wie er! Ich habe nur getan, was er auch getan hat… Und mein Bruder kann auch nicht schlafen! Er muss Schlaftabletten nehmen!“

Mir wurde flau im Magen, und ich wollte nicht glauben, was seine Worte zu bedeuten hatten.

„Was genau meinst du damit? Das ist eine ernste Anschuldigung.“

Er nickte, um die Ernsthaftigkeit zu unterstreichen. „Ich weiß, dass er meinen Bruder vergewaltigt hat. Ich habe genau gehört, wie sich mein Bruder mit Koji darüber unterhalten hat. Ich habe in der Nacht bei Takuto übernachtet, und dann bin ich aufgewacht, weil er so geschrieen hat, und ich bin aufgestanden, und dann hab ich gehört, was sie geredet haben, und Koji hat gesagt, dieser Mistkerl Hirose hätte das getan, um ihm eins auszuwischen, an Koji wagt er sich wohl nicht heran, also nimmt er meinen Bruder. Und darum nehme ich seinen Sohn! Ich habe gar nicht gewusst, was das ist, eine Vergewaltigung, und wie das geht, aber ich habe im Internet gelesen, und ich wollte es genau so machen wie Hirose… Damit er mal weiß, wie das ist.“ Er wartete nach jedem Satz, ließ Nami Zeit zu übersetzen, und sie wiederholte seine hasserfüllten Worte mit leiser, toter Stimme. „Ein Schüler aus der Oberstufe hat mir geholfen, so ein Gummidings zu besorgen, und als dann dieses Turnier war, habe ich den kleinen Angeber mit Fragen so lange aufgehalten, bis alle anderen weg waren, und als er dann allein auf dem Waschschemel saß, konnte ich ihm einfach von hinten sein Handtuch über den Kopf werfen, und dann war es ganz leicht, ihn zu fesseln. Ich hab ihm seine Socken in den Mund gesteckt und zu den Geräten geschleppt, und dann hab ich ihn am Barren festgebunden und die Turnmatten über ihn gelegt, damit ihn keiner hört und sieht, wenn sie ihn suchen. Hat ihn auch keiner gefunden, und mich auch nicht. Also konnte ich in Ruhe weiter machen. Ich hab ihm das Gummi in den Hintern geschoben, so macht man das ja bei einer Vergewaltigung, und er hat auch sehr laut gebrüllt und ganz doll gezappelt. Ich hab das dann drin gelassen, weil das so schwer rein gegangen ist, undich habe ihn damit liegen lassen, weil das bei Takuto auch so lange gedauert hat. Ich hab ja gehört, wie er Koji davon erzählt hat, und wie er geweint hat! Und als Hirose dann kam, und das gesehen hat, wie sein Sohn da so liegt, da wusste ich, dass es geklappt hat, so wie er geguckt hat. Und ich hab ihm auch gesagt, wer ich bin, und warum ich das gemacht habe! Es freut mich, dass es Tatsuomi immer noch schlecht geht, denn dann geht es seinem Vater auch schlecht!“

Er schwieg, verschränkte die Arme vor der Brust und schob eigensinnig das Kinn vor.

Ich musste mich erstmal räuspern, bevor ich etwas sagen konnte. Ich warf einen schnellen Blick zu Nami, doch ihr Gesicht war jetzt so ausdruckslos wie ihre Stimme. Sie überließ komplett mir die Gesprächsführung.

„Also, Yugo, ich muss sagen, was ich da eben von dir gehört habe, erschreckt mich sehr. Ich bin richtig sprachlos.“

„Aber das wollten Sie doch hören, oder? Nanjo Hirose spricht da ja wohl nicht drüber, oder? Denn dann müsste er ja auch sagen, was er selbst getan hat!“

Der Kleine konnte mit seinen zwölf Jahren Hirose schon ganz schön gut einschätzen, fand ich. Nur die Konsequenzen seiner eigenen Handlungen waren ihm anscheinend noch nicht so ganz klar.

Ich schüttelte den Kopf. „Das meine ich gar nicht. Was passiert ist, wussten wir ja schon. Aber das Wie, wie du es erzählt hast, das erschreckt mich. Tat dir Tatsuomi gar nicht leid, als er so geschrieen hat und sich gewehrt hat? Bestimmt hat er auch geweint, oder? Tut dir nicht leid, was du getan hast, sag mal?“

„Nein, tut mir nicht leid!“ Jetzt war der Trotz wieder da. Aber seine Lippe hatte kurz gezuckt, und er war meinem Blick kurz ausgewichen. „Und Tatsuomi war mir egal und ist mir egal! Ich habe nur daran gedacht, wie es meinem Bruder geht, und dass Hirose ihn vergewaltigt hat!“

Ich dachte an Hiroses müden Blick, die zitternden Hände, die rote, wunde Haut, das Whiskyglas. Schon möglich, dass er versuchte, die Schuld von sich abzuwaschen und im Alkohol zu ertränken. Aber wie sollte ein Zwölfjähriger mit so einer Schuld umgehen? Kein Wunder also, dass er sie sich gar nicht erst eingestand.

„Ja, das glaube ich dir. Aber du redest immer von Hirose, und ich rede aber jetzt von Tatsuomi. Wie alt ist dein Bruder?“

„Achtzehn.“

„Und Tatsuomi ist erst acht, Yugo. Das ist ein bisschen was anderes. Tatsuomi kann doch gar nicht richtig verstehen, was da passiert ist. Natürlich ist das auch schlimm, dass dein Bruder vergewaltigt wurde. Das war nicht richtig von Hirose, so etwas darf man nicht tun, auch nicht als Erwachsener. Aber Tatsuomi hat doch nichts gemacht! Und du hast vor allem Tatsuomi wehgetan, nicht seinem Vater. Da hast du eine ganz falsche Vorstellung. Klar, ist es nicht leicht für Hirose, dass es seinem Sohn so schlecht geht. Aber der, der leidet, ist Tatsuomi. Tatsuomi hat die Angst und die Alpträume. Und Tatsuomi hat die Schmerzen, immer noch, durch deine Verletzungen. Ich glaube nicht, dass das wirklich das ist, was du wolltest. Oder?“

Yugo sah mich mit verschlossener Miene an und sagte nichts dazu.

„Warum hast du denn eigentlich Hilfe geholt an dem Abend? Du hast doch die Polizei angerufen, oder wer war das sonst?“

„Ja, das war ich“, sagte er langsam. Er klang jetzt nicht mehr so aggressiv, eher genervt, weil ich nicht locker ließ.

„Aber warum?“

„Ich wollte ihn ja gehen lassen! Aber ich hab dieses Ding nicht mehr aus ihm raus gekriegt… er hat jedes Mal so schrecklich laut aufgeschrieen, wenn ich das nur angefasst habe… ich habe ihn dann los gemacht, aber er ist einfach nicht aufgestanden…“ Seine Stimme war jetzt völlig verändert, während er sich erinnerte, da war keine Wut mehr. Er starrte auf den Boden. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich konnte ihn ja nicht die ganze Nacht da liegen lassen. Also habe ich sein Handy genommen und seinen Vater angerufen.“

„Das hast du sehr gut gemacht, Yugo. Du hättest auch einfach weglaufen können.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich wollte ihn nicht allein lassen, er hat so klein und elend ausgesehen…“

Er sah jetzt selber zunehmend klein und elend aus.

„Yugo, wenn ich dich jetzt noch einmal frage, ob dir leid tut, was du getan hast, was antwortest du jetzt?“

„Natürlich hat er mir da leid getan! Ich wollte doch nicht, dass es so schlimm für ihn wird, das wusste ich doch nicht!“ Er sah mich wieder an, und in seinen Augen glitzerten Tränen. „Manchmal kann ich auch nachts nicht schlafen, dann muss ich immer daran denken, was ich getan habe… ich höre noch genau diese furchtbaren Schreie von ihm, ganz schrill, gar nicht wie ein Mensch klang das… Geht es ihm denn wirklich immer noch so schlecht?“ Er schniefte unglücklich.

„Leider ja. Aber wir tun alles, damit es ihm bald auch wieder besser geht. Und du? Mit wem hast du darüber gesprochen? Wissen deine Eltern Bescheid?“

„Nein, natürlich nicht! Das kann ich doch nicht sagen, dass ich so was… so was Schreckliches getan habe. Bitte, Sie dürfen das meinen Eltern nicht sagen“, flehte er. „Hirose hat ihnen auch nichts gesagt und die Polizei auch nicht. Bitte!“

„Was meinst du denn, was sie tun werden, wenn sie es erfahren?“

„Dann schicken sie mich zurück ins Heim“, flüsterte er mit vor Entsetzen zitternder Stimme. „Ich bin doch nur adoptiert.“

„Naja, begeistert werden sie bestimmt nicht sein. Aber so schnell schicken sie dich auch nicht weg“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Und erfahren werden sie es in jedem Fall, denn wenn du es ihnen nicht erzählst, werden wir es machen. Du kannst nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen.“ Und du musst nicht alle Fehler von Hirose wiederholen, fügte ich in Gedanken hinzu, einer reicht vollkommen.

„Aber damals hat doch auch niemand mit meinen Eltern gesprochen“, versuchte er es noch einmal.

„Du hast ja schon gemerkt, dass Erwachsene auch nicht immer alles richtig machen“, sagte ich freundlich. „Komm, wir gehen gemeinsam, und ich helfe dir dabei, deinen Eltern alles zu erzählen, okay? Ist denn jetzt jemand zu Hause bei dir?“

„Ja. Meine Mutter ist da, und mein Vater arbeitet Nachtschichten, um die Schulden abzahlen zu können.“

Zögerlich ließ er sich nach Hause begleiten, und ich hatte das Gefühl, dass Nami ähnlich unwohl zumute war wie ihm. Sie sagte jedoch nichts. Vielleicht glaubte sie ihm die Geschichte von der Vergewaltigung seines Bruders nicht. Ich jedenfalls war mir sicher, dass Yugo die Wahrheit sagte. Aber ich hoffte, dass er vielleicht bei seinem erlauschten Gespräch etwas falsch verstanden hatte. Vielleicht war das alles nur ein furchtbares Missverständnis.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück