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Die Super Nanny in Japan

von

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Ein hilfreiches Gespräch

6. Kapitel - Ein hilfreiches Gespräch
 

Kaoruko führte mich zu einem kleinen Zen-Garten, der sich an der rückwärtigen Seite des Hauptgebäudes befand. Der Himmel war strahlendblau, und obwohl es noch so früh am Tag war, spürte ich schon die schwüle Hitze, die uns bevor stand. Ich hatte den Wunsch geäußert, bis zu dem Gespräch mit Hirose für mich zu sein. Ich wollte einmal meine Gedanken ordnen.

„Hier kann man gut nachdenken“, sagte sie und ließ mich allein mit dem Felsen, der auf der geharkten Kiesfläche inmitten des Nichts stand. So ähnlich wie der Felsen fühlte ich mich hier auch: Man hatte mich hier her gesetzt, in diese Familie, und obwohl alles überschaubar wirkte, kam ich in Lösung des Problems kein Stück näher. Was war mit dem Jungen los? Wovor hatte er Angst? Warum verbot ihm sein Vater darüber zu sprechen? Was wollte er verbergen? Und wie sollte ich ihn dazu bringen, darüber ausgerechnet mit mir zu reden?

Als ich mich nach einer Sitzgelegenheit umsah, bemerkte ich Midorikawa-san, die eines der Nebengebäude verließ und dann Richtung Einfahrt verschwand. Ich warf noch einen kurzen Blick auf den einsamen Felsen, dann folgte ich ihr. Durch ihre Initiative war ich hier. Vielleicht war ich doch nicht so allein.

Ich sah, wie sie einen der zwei Wachmänner am Tor ansprach und ihm einen schwarzen Gegenstand entgegenstreckte. Die Wachposten trugen dunkle, vornehme Anzüge, sogar mit Krawatte. Nami trug ihren schwarzen Hosenanzug, in derselben sportlichen Eleganz wie am Tag vorher. Sie begannen eine lebhafte Diskussion.

„Guten Morgen“, sagte ich, als sie mich bemerkten und verstummten. „Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?“

Mi-san nickte und sagte noch etwas zu dem Mann, der ihr daraufhin das schwarze Ding wieder zurückgab. Jetzt war ich nah genug, um zu erkennen, dass es sich um eine Pistole handelte. Ich war einer solchen Waffe noch nie so nah gewesen, und sah Mi-san überrascht dabei zu, wie sie mit flinker Hand die Pistole in ein unter ihrer Jacke verstecktem Schulterholster verschwinden ließ.

Zurück bei der friedlichen Unbewegbarkeit des Steingartens, war meine erste Frage mit Blick auf die leichte Vorwölbung an ihrer linken Seite: „Entschuldigen Sie, aber was arbeiten Sie hier eigentlich wirklich? Ich rätsel seit gestern darüber nach.“

Ich lächelte bei dem Gedanken an mein fröhliches Berufe-Raten am Vortag. Selbst meine letzte Vermutung am Abend, sie sei das Kindermädchen, erschien mir mit Schusswaffe doch reichlich unpassend.

„Verzeihung“, sagte sie. „Ich hätte mich korrekt vorstellen sollen. Ich arbeite beim Sicherheitsdienst der Nanjos. Im Bereich Personenschutz. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

„Das haben Sie nicht, ich war nur überrascht“, sagte ich. „Eigentlich wollte ich mit Ihnen über Tatsuomi sprechen.“

Sie nickte. „Deshalb sind Sie ja hier.“

„Er mag Sie sehr gerne“, stellte ich fest.

„Ja. Ich ihn auch. Er ist so ein reizender kleiner Junge, man muss ihn einfach gern haben.“

„Das finde ich auch“, stimmte ich ihr zu. „Und es scheint ihm zur Zeit wirklich nicht gut zu gehen. Ich denke, es war richtig von Ihnen, professionelle Unterstützung ins Haus zu holen.“

Ich fand es sogar außerordentlich mutig von ihr, dachte ich respektvoll. Sie nahm ihre Arbeit sehr ernst, wenn für sie zum Personenschutz auch der Schutz der Seele gehörte.

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung nicht sehr hilfreich war“, sagte ich und dachte daran, wie penetrant nervig sie mir vorgekommen war.

„Ich habe Sie ja auch ganz schön mit Fragen bombardiert“, lachte sie, als könne sie Gedanken lesen. „Es tut mir leid, dass ich nicht aufrichtig zu Ihnen sein konnte, Saalfrank-san.“

„Ach, wissen Sie, wollen Sie nicht Katia zu mir sagen?“ Ich wollte wenigstens ein bisschen Normalität für mich, und Kaoruko und Hirose konnte ich das garantiert nicht anbieten ohne sie oder mich in Verlegenheit zu bringen.

„Gerne“, antwortete sie zu meiner Erleichterung. „Ich habe mir einige ihrer Fernsehsendungen im Internet angesehen. Sie sprechen sich alle mit Vornamen an. Sagen Sie Nami zu mir.“

Sie verneigte sich leicht im Sitzen, und ich machte es ihr nach und streckte ihr dann noch in deutscher Sitte die Hand hin. Sie ergriff sie ohne Zögern. Ihre Hand war kühl und trocken, und ihr Griff war fest, doch ohne unangenehm zu sein. Länger als angemessen hielten wir unsere Hand, und ich war mir nicht sicher, ob es nur war, weil es eine ungewohnte Geste für sie war. Ich hatte schon festgestellt, dass ihre Landsleute sich nicht leicht taten mit dieser deutschen Sitte: Sie hielten die Hand zu fest, zu locker, zu lang oder schüttelten zu stark – ähnlich wie mir die Nuancen ihrer Verbeugungen ein Rätsel blieben. Sie sah mir dabei so tief in die Augen, dass sie bis in mein Innerstes zu blicken schien. Ihre Augen waren von einem dunklen Braun, wie nasser Torf in der Sonne. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, hier fand noch mehr statt als nur Händeschütteln mit Blickkontakt. Es war eher wie eine intensive Kontaktaufnahme. Aber es war kein ungutes Gefühl.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie und ließ mich und meine Hand wieder los. „Ich tue alles für Tatsuomi-sama.“

Sie sagte das in so großem Ernst, dass ich es ihr ohne weiteres glaubte.

„Ich habe Tatsuomi gestern Nacht in der Küche getroffen, wo er heimlich und unter Tränen ein wenig Reis gegessen hat. Ich habe mich mit ihm unterhalten, und er machte einen ganz verzweifelten Eindruck. Ich verstehe noch nicht, warum. Hat er Ihnen gegenüber denn mal geäußert, warum er nicht essen will? Er scheint zu Ihnen ganz besonders Vertrauen zu haben.“

„Leider nein. Er sagt partout nicht, was los ist. Kaoruko und ich haben alles Mögliche schon versucht, aber er schweigt einfach.“

„Hat er Ihnen gegenüber jemals geäußert, ob ihm etwas weh tut? Oder haben Sie irgendetwas beobachtet, das darauf hin deutet?“

Nami überlegte einen Augenblick, bevor sie antwortete. „Da ist mir nichts aufgefallen, und gesagt hat er auch nichts. Er weint manchmal ohne besonderen Anlass, und dann dieses Daumenlutschen… Aber sonst? Nein. Allerdings heißt das nichts. Er wurde von frühester Kindheit an darauf gedrillt, hart zu sein und keinen Schmerz zu zeigen. Das ist in diesem Haus Tradition, und das wird ihm ja auch so vorgelebt.“

„Hm. Seit wann arbeiten Sie denn schon bei der Familie?“

„Seit vier Jahren. Allerdings kenne ich Akihito-sama schon wesentlich länger. Er hatte denselben Aikido-Lehrer wie ich.“

„Wie alt waren Sie da?“

„Fünf oder sechs.“ Sie lachte verlegen. „Und ich fand ihn einfach toll! Er war natürlich einer der besten. Allerdings wirkte er immer so traurig, zumindest habe ich ihn so gesehen. Nach außen zeigte er sich zornig und arrogant. Aber ich konnte hinter diese Maske sehen. Ich habe richtig für ihn geschwärmt. Wie junge Mädchen das eben tun.“

„Wie nah kamen Sie sich denn?“

„Ach, gar nicht!“ lachte sie. „Er hat mich natürlich überhaupt nicht beachtet. Viele Mädchen himmelten ihn an, und ich stand ja gesellschaftlich weit unter seiner Würde. Er hat nur einmal mit mir gesprochen damals.“ Jetzt wurde sie sehr ernst und machte eine Pause. „Da hat er sich vor einem Wettkampf hinter einem Baum übergeben müssen. Ich bekam das mit, weil ich ihn ständig heimlich beobachtete, und ich ging zu ihm. Er fuhr mich unfreundlich an und wollte mich gleich wieder weg schicken. Aber ich blieb.

‚Hast du geweint?’ fragte ich ihn.

‚Nein’, sagte er, und dann brach er plötzlich in Tränen aus.

Seine Mutter hatte sich getrennt und war einfach gegangen, erzählte er. Die Kinder hatte sie ohne Abschied zurück gelassen. Da waren wir zehn, das weiß ich noch genau, weil das einen Tag vor meinem Geburtstag war. Auch was er noch sagte, weiß ich noch genau: Sein Vater würde ihn schlagen, wenn er den Wettkampf verlieren sollte. Er sagte, er hasse das Training. Dann rannte er fort.

Danach hat er mich natürlich erst recht ignoriert. Ich verstehe das. Das muss sehr peinlich für ihn gewesen sein, vor einem fremden Mädchen zu weinen… Ich weiß nicht einmal, ob er mich wieder erkannt hat, seit ich hier arbeite. Ich glaube nicht.“

Wir schwiegen eine Weile und blickten in die perfektionierte Ruhe des Steingartens.

„Akihito hat eine entsprechende Bemerkung über seinen Vater gemacht“, sagte ich schließlich. Langsam verstand ich Akihitos Wut, die sich am Vorabend so deutlich gezeigt hatte. Er hatte allen Grund, auf seinen Vater wütend zu sein, und es war eine sehr alte Wut.

„Ich habe eigentlich nicht mitbekommen, dass er seine Kinder schlug, seit ich hier im Hause bin“, erzählte Nami weiter. „Bis auf einmal. Da hat er den jüngsten Sohn, Koji-sama, regelrecht verprügelt. Er war so wütend und hat so laut gebrüllt, dass es im ganzen Haus zu hören war. Es ging um eine Mädchengeschichte. Es gab ständig Ärger mit Koji. Hirose-sama ist dazwischen gegangen, und Koji-sama ist weggelaufen. Das war kurz bevor sein Vater ihn schließlich hinaus warf. Da war er sechzehn, glaube ich. Aber er wäre wohl sowieso nicht zurückgekommen. Er hasst dieses Haus. Nach Nanjo-samas Tod kam er für eine Weile zurück. Er erbte auch den Titel des Familienoberhaupts und die Leitung des Dôjô. Das hat alle überrascht. Inzwischen hat er auf sein Erbe verzichtet und ist wieder verschwunden. Er ist jetzt Sänger.“

„Was war so überraschend an dem Testament?“

„Naja, der Vater hatte ja vorher noch lautstark verkündet, Koji wäre enterbt und eine Schande für die Familie. Und dazu kommt, dass der Titel eigentlich an den Erstgeborenen gehen müsste. Aber Hirose bekam nur die Firma.“

„Ah.“ Das war ja interessant. Das hatte Akihito also gemeint, als er gesagt hatte, hier laufe in letzter Zeit einiges drunter und drüber. „Dann konnte Hirose aber doch noch sein Erbe antreten? Weil Koji verzichtet hat?“

Nami schüttelte lächelnd den Kopf. „Man merkt, dass Sie Hirose-sama nicht gut kennen. Er hält sich strikt an den letzten Willen seines Vaters. Und der besagt, er soll die Firma leiten. Akihito ist zweiter Geschäftsführer, kommt also auch nicht in Frage. Tatsuomi ist noch zu jung. Keine Ahnung, was Hirose-sama jetzt vorhat. Aber irgendetwas muss ihm einfallen, denn im schlimmsten Fall geht das Dôjô an einen anderen Zweig der Familie, und das käme einer Katastrophe gleich. Die Schule ist seit vielen Generationen in gerader Linie weitervererbt worden, immer an die besten Schwertkämpfer der Familie.“

„Und ausgerechnet jetzt macht Tatsuomi Schwierigkeiten.“ Kein Wunder, dass Hirose keine Geduld hatte.

„Ich weiß nicht, ob sein Großvater ihn geschlagen hat“, nahm Nami den Faden wieder auf. „Aber das Training mit ihm ist schon ganz schön hart gewesen, das war nicht zu übersehen. Der Junge hatte öfters riesige blaue Flecken, manchmal auch kleinere Platzwunden. Aber er war eher stolz auf diese Blessuren. Beklagt hat er sich nie. Und das hat ja jetzt auch aufgehört, seit der Großvater tot ist.“

„Hm“, machte ich. „Und seit wann ist der Junge so verändert? Kaoruko sagte etwas von einem Krankenhausaufenthalt als sie im Ausland war, und danach sei er plötzlich so merkwürdig gewesen. Wie haben Sie das wahrgenommen? Hat er Ihnen vielleicht etwas über das Krankenhaus erzählt? Und ob da etwas vorgefallen ist?“

„Nein. Aber es stimmt. Ich hatte Kaoruko-sama nach Boston begleitet. In dieser Zeit war der Unfall. Bevor wir in die Staaten geflogen sind, war alles soweit in Ordnung. Tatsuomi-sama war wirklich anders. Er war immer ein fröhliches, freundliches Kind. Sehr ehrgeizig, ganz der Vater.“ Sie lächelte, um gleich wieder ernst zu werden. „Und eigentlich ist er sehr selbstbewusst und war nie so aufbrausend und hat nicht so viel geweint wie jetzt. So benimmt er sich erst, seit wir wieder zurück sind. Kaoruko-sama macht sich Vorwürfe, weil sie nicht sofort zurückgekommen ist. Aber Hirose-sama hatte ihr gesagt, sie solle den Besuch nicht abbrechen, Tatsuomi-sama wäre schon zu Hause, bevor sie hier sein könnte. Es sei nichts Schlimmes geschehen, nur ein kleiner Unfall beim Aikido.“

Das hatte Kaoruko mir auch erzählt. Der Junge hatte sich den Rücken geprellt und war zur Beobachtung oder weitere Untersuchungen zwei Tage im Krankenhaus geblieben. Das könnte vielleicht ein Trauma auslösen in dem Alter. Dann allerdings würden pädagogische Ratschläge nicht ausreichend sein.

„Aber es ist merkwürdig.“ Nami senkte die Stimme und neigte den Kopf zu mir, damit ich sie trotzdem hören konnte. „Tatsuomi-sama macht seit seinem dritten Lebensjahr Bushido, Kampfsport. Und das war nicht seine erste Verletzung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn das so verändert hat. Und die Probleme gingen ja auch erst richtig los, als er wieder in die Schule sollte, aber nicht wollte. Und dann musste. Das war ein Drama! Hirose-sama war natürlich unerbittlich. Und seitdem wird es nur immer schlimmer. Dabei geht er jetzt doch nicht mehr in die Schule, und dafür können sie überhaupt nicht mehr normal miteinander umgehen.“

„Wie war denn das Verhältnis vorher zwischen den beiden?“ fragte ich.

Sie überlegte sich die Antwort einen Moment. „Naja, viel Zeit hatte Hirose-sama natürlich nicht für ihn. Aber er war immer freundlich zu dem Jungen. Er kann eigentlich ganz gut mit Kindern, das war mir schon damals aufgefallen, wie er sich um Akihito gekümmert hat. Hirose-sama ist ja deutlich älter, sieben Jahre. Und Tatsuomi-sama war immer eifrig bemüht, seinem Vater zu gefallen und alles richtig zu machen.“

„Akihito meinte, Hirose hätte sich verändert seit dem Tod ihres Vater“, warf ich ein.

„Ja, das stimmt auch“, sagte Nami ohne Zögern, sprach jetzt aber noch leiser. „Das Testament muss ein Schock für ihn gewesen sein. Er ist tagelang wie versteinert gewesen. Nicht so sehr, weil er nicht den Titel bekommen hat, denke ich. Sondern wegen der Bedeutung, die dahinter steht: Die Zurückweisung. Ich kann natürlich nur so sagen, wie ich das sehe. Er hat sein rechtmäßiges Erbe abgetreten an den jüngsten Bruder und sich völlig zurückgezogen. Sicherlich ist für ihn auch viel zu tun in der Firma, jetzt wo er der Direktor ist. Meinen Sie, Tatsuomi benutzt den Unfall und sein Verhalten, um wieder mehr Aufmerksamkeit zu bekommen?“

„Ich weiß es nicht“, sagte ich ehrlich. „Ich glaube nicht. Aber ich muss erst noch mit Hirose sprechen und dann mit Tatsuomi. Danach weiß ich hoffentlich mehr.“

Das Gespräch mit Nami tat mir gut. Ich traute ihr durchaus eine gute Beobachtungsgabe zu, und auch, dass sie die richtigen Schlüsse daraus zog. Sie hatte eine angenehm offene Art, auf meine Fragen zu antworten, die mir in diesem Haus zum ersten Mal begegnete. Selbst Kaoruko hatte mir nur einen oberflächlichen Einblick gewährt bisher. Dank Nami bekam ich endlich ein tieferes Bild von der Familienstruktur. Es war mir immer wichtig, auch die Eltern zu verstehen.

Und der Großvater mochte gestorben sein, sein Einfluss in diesem Haus war es noch lange nicht.



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