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Die Super Nanny in Japan

von

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Die Arbeit beginnt

Die gute Stimmung kippte leider genau in dem Moment, als das Essen vor ihm auf dem Tisch stand. Er zeigte wieder die gleiche finstere Miene, die ich vom Vortag kannte.

Diesmal war die Familie vollzählig, und mir wurde Kaorukos Schwägerin Nadeshiko vorgestellt. Sie saß neben mir am Kopfende des Tisches, Hirose gegenüber. Ich schätzte sie auf höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre. Ihr langes Haar trug sie offen, und ihr Gesicht war von makelloser Schönheit, die allen Nanjos zu eigen zu sein schien. Die familiäre Ähnlichkeit mit ihren zwei Brüdern war unverkennbar. Genau wie Kaoruko trug sie traditionelle Kleidung, einen Kimono mit Kranichmuster, der ein Vermögen gekostet haben musste. Auch Hirose war heute in einen Kimono gekleidet, der jedoch schlicht weiß war. Akihito hatte einen Anzug im westlichen Stil an, in schlichtem Blau.

„Du kommst heute nicht mit in die Firma?“ fragte er seinen Bruder wenig begeistert.

Hirose schüttelte den Kopf. „Du wirst mich bei den Terminen vertreten. Ich arbeite von zu Hause aus. Wenn du Fragen hast, kannst du mich anrufen.“

„Iß wenigstens ein bisschen“, bat Kaoruko währenddessen ihren Sohn leise.

„Nein, ich will nicht!“ sagte Tatsuomi entschlossen.

„Doch, du wirst das essen!“ sagte Hirose, und man merkte deutlich, dass er mit den Nerven schon ziemlich am Ende war.

„Wenn Ihr heute hier seid, trainiert Ihr dann nachher mit mir, Hirose-onii-sama?“ fragte Nadeshiko. Ich war mir nicht sicher, ob sie damit ihrem Neffen helfen wollte, indem sie ihren Bruder ablenkte, oder ob sie nur diese Essensdiskussionen leid war.

Hirose nickte. „Natürlich. Ich sage dir dann Bescheid.“

„Super!“

„Trainiert Ihr mit mir auch?“ bat Tatsuomi.

„Nein“, kam ohne Zögern die Antwort. „Solange du nicht vernünftig bist, trainierst du auch nicht.“

„Bitte, otô-sama“, flehte der Junge.

„Wenn ich nein sage, heißt das nein. Und jetzt iss endlich!“

„Wenn ich nein sage, heißt das auch nein“, sagte Tatsuomi trotzig und schob das Essschälchen von sich. Dabei stieß er die Teetasse um, und der Inhalt ergoss sich über den Tisch.

„Das reicht mir jetzt“, sagte Hirose wütend.

Tatsuomi sah erschrocken aus, das war eindeutig keine Absicht gewesen, doch bevor er noch etwas sagen oder tun konnte, packte ihn sein Vater grob am Arm und zerrte ihn nach draußen. Rasch stand ich auf und ging den beiden hinterher.

Hirose schimpfte auf Japanisch, und Tatsuomi schrie, und ich sah schon wieder Panik in seinen Augen.

„Jetzt lassen Sie ihn erstmal los“, sagte ich laut und mit Nachdruck.

„Gehen Sie weiter frühstücken“, fuhr Hirose jetzt mich an. „Ich komme allein zurecht.“

„Das sehe ich aber anders. Er hört Ihnen doch überhaupt nicht zu!“

Hirose ließ ihn tatsächlich los, und sofort hörte er auf zu schreien und steckte den Daumen in den Mund. Hirose zog ihn wieder heraus.

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du damit aufhören sollst! Du benimmst dich wie ein Kleinkind! Reiß dich gefälligst zusammen!“

Tatsuomis Unterlippe zitterte, doch er unterdrückte erfolgreich die Tränen. „Ja, otô-sama.“

„Und jetzt gehst du da rein und isst etwas!“

„Ich will aber nicht essen!“

„Tatsuomi“, sagte Hirose drohend. „Meine Geduld mit dir ist wirklich langsam aufgebraucht! Wenn du so weiter machst, darfst du nie wieder trainieren, nur dass dir das klar ist!“

Jetzt kullerten doch die Tränen.

Ich schaltete mich ein: „Wieso drohen Sie ihm denn jetzt? Sehen Sie nicht, dass er verzweifelt ist?“

„Ich will doch nur, dass er vernünftig isst!“

„Da haben Sie ja Recht. Aber ich glaube nicht, dass Sie das auf diese Art erreichen. Warum sind Sie so wütend? Das verstehe ich nicht.“

„Weil er nicht macht, was ich sage!“

„Das liegt vielleicht an der Art, wie Sie es ihm sagen. Sie schimpfen die ganze Zeit. Wissen Sie denn, warum er nichts essen will?“

Das war für Tatsuomi ein sensibles Thema, und ich legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Unter meiner Hand spürte ich, wie sehr er unter Spannung stand. Ich hatte nicht vor, seinem Vater zu erzählen, was ich von ihm in der Nacht am Kühlschrank gehört hatte. Das wollte ich schon von Hirose selbst hören.

„Natürlich habe ich das, was denken Sie! Es gibt keinen Grund. Er soll sich nicht so anstellen.“

„Darüber würde ich mich gern später noch mit Ihnen unterhalten. Im Moment geht es um die jetzige Situation. Sie erreichen überhaupt nichts, wenn Sie nur in Befehlen und Verboten sprechen. Reden Sie mit ihrem Sohn, erklären Sie ihm, warum Ihnen das Thema Essen so wichtig ist, und warum er nicht trainieren soll. Dafür haben Sie doch einen Grund, oder?“

„Ja, den habe ich. Das Training ist harte Arbeit, das ist Kampfsport. Dazu muss er voll leistungsfähig sein, sonst ist das Verletzungsrisiko viel zu groß.“

Ich nickte. „Wenn Sie sich Sorgen machen, dann sagen Sie ihm das auch so. Es ist schwierig, wenn nur Verbote im Raum stehen, die er nicht nachvollziehen kann.“

Ich brachte ihn ein bisschen aus dem Konzept, und er schaute mich an, als würde er mich am liebsten aus seinem Haus werfen. Ich ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um sich anders zu besinnen, und glücklicherweise wandte er sich schließlich ohne weiteren Kommentar seinem Sohn zu.

„Ich möchte, dass du mehr isst, Tatsuomi, damit du nicht krank wirst. Wer nicht isst, wird schwach und unkonzentriert und kann keinen Sport mehr machen. Ich möchte nicht, dass du dich verletzt beim Training.“

Das klang zwar vom Tonfall her nicht sonderlich besorgt, aber ich fand es für den Anfang gar nicht so schlecht. Tatsuomi hörte wenigstens aufmerksam zu und hatte aufgehört zu weinen.

„Aber ich will nicht essen“, sagte er leise, aber jetzt klang er nicht mehr trotzig, sondern eher verzweifelt.

Hirose schüttelte entnervt den Kopf und warf mir einen Blick zu, der sagte: „Und, was hat das jetzt gebracht?“

„Vielleicht finden wir ja einen Kompromiss“, half ich. „Weißt du, was Kompromiss auf Japanisch heißt, Tatsuomi?“

„Nein.“

„Manchmal wollen zwei Menschen etwas völlig Unterschiedliches. So wie ihr gerade. Und dann finden sie eine Lösung, die beide Seiten zufrieden macht. Das ist ein Kompromiss. Wie könnte denn ein Kompromiss für euch beide aussehen?“

„Tatsuomi darf beim Training zusehen. Dafür isst er vorher etwas“, sagte Hirose sofort und überraschte mich ein wenig. Er verstand schnell, worum es mir ging. Nur an der Umsetzung sollte er noch etwas arbeiten.

„Was meinst du, Tatsuomi?“ fragte ich den Kleinen. „Ist das für dich in Ordnung?“

Er nickte zögernd.

„Gut, dann trefft ihr jetzt eure Vereinbarung.“

Ich drückte noch einmal kurz aufmunternd die Kinderschulter, dann trat ich einige Schritte zurück und stellte mich abwartend hin. Hirose schob seine Brille zurecht und Tatsuomi blickte unsicher zu Boden.

„Du isst ein bisschen bei den Mahlzeiten“, sagte Hirose. „Dafür…“

„Gehen Sie ruhig auf Augenhöhe mit ihm“, unterbrach ich ihn. Damit würde Tatsuomi sich nicht noch kleiner fühlen, als er sowieso schon neben seinem Vater war. Ich machte Hirose vor, was ich meinte, indem ich in die Hocke ging. „Dann reden Sie nicht so von oben herab.“

Nach anfänglichem Zaudern nahm er den Vorschlag an.

„Dafür darfst du nachher dabei sein, wenn ich mit Nadeshiko im Dôjô bin. Einverstanden?“

„Hai.“

„Darauf könnt ihr euch die Hand geben“, schlug ich vor. „Oder wie besiegelt man in Japan eine Abmachung?“

Die beiden verneigten sich feierlich voreinander.

Gemeinsam gingen wir zurück, und Tatsuomi nahm die Stäbchen in die Hand, sobald er saß. Dann nahm er ein wenig Reis und ein Stückchen Gemüse, kaute langsam und legte die Stäbchen wieder weg.

Ich sah Hiroses Gesichtsausdruck.

„Das ist völlig in Ordnung für den Anfang“, beeilte ich mich, seiner Bemerkung zuvor zu kommen. Es war immerhin seit Wochen das erste Mal, dass Tatsuomi überhaupt bei Tisch die Stäbchen in die Hand genommen hatte. Außerdem dachte ich daran, wie sehr er in der Nacht geweint hatte, weil er vor lauter Hunger essen musste, ohne es zu wollen. Und er wollte aus Angst nicht. Womöglich war diese Angst gerechtfertigt, und dann war es vielleicht ganz gut, wenn er nicht zu viel aß. Ich hatte ja noch immer keine Ahnung, was ihm wohl weh tat (oder wer).

Hirose wusste etwas, aber Kaoruko hatte mir gesagt, dass sie sich nicht erklären könnte, warum sich ihr Sohn weigerte, Nahrung aufzunehmen. Ich glaubte ihr. Hirose aber wusste, warum. Er hatte gesagt, Tatsuomi solle sich nicht so anstellen.

„Loben Sie ihn jetzt dafür, dass er sich an seine Zusage hält“, ermunterte ich Hirose, der jedoch nicht vorhatte, das zu tun. Er hatte eindeutig mehr erwartet und war nicht bereit, den Fortschritt zu sehen. Stattdessen reagierte jedoch Kaoruko sofort.

„Das freut mich sehr, Tatsuomi“, sagte sie. „Das machst du gut so. Iß einfach so viel wie du magst.“

Sie freute sich wirklich, das war deutlich zu hören.

Das weitere Frühstück verlief ohne besondere Vorkommnisse.

„Wie sieht denn jetzt der Tagesablauf aus?“ fragte ich.

„Ich muss in die Schule. Leider“, sagte Nadeshiko mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Blick zu ihrem Bruder Hirose. Dann sah sie auf die Uhr. „Und ich muss genau jetzt sofort los! Ihr entschuldigt mich!“ Bei den letzten Worten war sie schon im Hinausgehen.

„Akihito fährt gleich in die Firma“, sagte Hirose. „Und ich muss noch ein paar Telefonate erledigen. Das dauert ungefähr eine Stunde. Danach können wir uns unterhalten, Mrs. Saalfrank.“ Er stand auf. „Akihito, kommst du? Wir sollten noch deine Geschäftsgespräche durchgehen.“

Die beiden verließen den Raum.

„Das ist doch ganz gut gelaufen, Tatsuomi, findest du nicht auch?“ fragte ich und erntete ein verlegenes Nicken. „Und? Was hast du jetzt vor?“

„Ich gehe zum Unterricht.“

„Ja? Ich dachte, du gehst gerade nicht zur Schule.“

„Wir haben einen Privatlehrer eingestellt“, erklärte Kaoruko. „Damit er nicht den Anschluss verliert, solange er nicht in die Schule geht. Sie haben gestern gesagt, wir sollen alles wie immer machen, also habe ich ihn nicht abbestellt für heute.“

„Ja, das war auch richtig“, versicherte ich. „Wie lange geht der Unterricht?“

„Bis zwölf. Danach gibt es Mittagessen, und dann hätten Sie Zeit, mit Tatsuomi allein zu sein.“

Also würde ich zuerst mit Hirose sprechen. Gut. Dann wusste ich hoffentlich schon mehr, wenn ich mich mit Tatsuomi traf.



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