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Lieber beschissener Krebs, 2019, Jahresrückblick, Kämpfer, Krebs, Löwe

Autor:  dattelpalme11

ich schreibe diese Worte, um die letzten zwei Jahre zu verarbeiten, in denen du uns stetig begleitet hast. Ich durfte dich durch meinen Löwen kennenlernen und das schon das zweite Mal in meinem Leben. Beim ersten Mal war ich sechszehn Jahre alt. Optimistisch, weil die Prognosen gut waren und alles schnell behandelt werden konnte. Natürlich blieben deine Spüren auch beim ersten Mal sichtbar zurück und du hast unser Leben verändert. Vielleicht hast du uns sogar als Familie stärker gemacht.

Beim zweiten Mal war ich fünfundzwanzig, fast zehn Jahre später. Erwachsen, aber dennoch im Herzen ein Kind geblieben. Du hast mich sehr überrascht, mir quasi ins Gesicht geschlagen. 2018 – für mich das Jahr der Krankheit, auch wenn ich selbst nicht krank war.

 

Diesmal hast du nicht nur meinen Löwen heimgesucht, sondern auch meine Löwin – den anderen Pfeiler in meinem Leben. Und ich kann gar nicht sagen, wie beschissen es ist, plötzlich zwei von dir kennenzulernen. Das doppelte Lottchen der Hölle.

Nur das deine Zwillingsschwester bei meiner Löwin so schwach war, dass wir sie einfach rausschneiden und verwesen lassen konnten. Sie hatte nicht die Macht, sie zu töten. Ein Eingriff und sie war weg. Tot. Im Krankenhausmüll entsorgt.

Du hingegen warst die stärkere der beiden. Wir lernten dich im März 2018 kennen und bis heute sind deine Nachwehen zu spüren, so als würdest du darauf warten dein Dämonenkind zu gebären.

 

Aber hören wir auf in Metaphern zu sprechen und nennen dich beim Namen.

Du bist ein Trachealkarzinom im Fachjargon, sprich Luftröhrenkrebs. Du kommst sehr selten vor, bist aber äußerst hartnäckig und sehr aggressiv. Die Wahrscheinlichkeit, dass du nach fünf Jahren verschwunden bist, ist gering. Dass du wiederkommst recht hoch.

Uns wurde gesagt, dass mein Löwe einer von einer Million ist, der sich mit dir auseinander setzen darf. In Deutschland gibt es demnach ungefähr 80 Fälle von Luftröhrenkrebs. Eine sehr geringe Anzahl an Gleichgesinnten, die zumal über das Land verteilt leben.

Im ersten Moment ist diese Nachricht schwer zu verdauen, besonders wenn man zuvor noch eine andere Krebsdiagnose erhalten hatte.

Doch die Wut und die Trauer über die Situation verwandelten sich schnell in einen unbändigen Überlebenswillen, denn 60 Jahre ist heutzutage wirklich noch kein Alter.

Also begann die Reise. Verschiedene Möglichkeiten wurden aufgezeigt, um dich, lieber beschissener Krebs, zu zerstören. Von einer komplizierten OP, bei der man den Brustkorb hätte aufreißen und ein Stück der Luftröhre hätte entfernen müssen, bis hin zu Kehlkopfspezialisten, die so einen Tumor noch nie behandelt hatten, aber den Reiz verspürten, endlich mal auf die Luftröhre losgelassen zu werden. Und dann die dritte Möglichkeit. Eine Bestrahlung, die dich in deiner Existenz auslöschen sollte.

Die Stelle sei gut zu bestrahlen, wurde uns gesagt. Die Wahrscheinlich, dass er verschwinden würde gar nicht mal so klein. Die Risiken geringer als bei einer großen Operation.

Man war kein Versuchskaninchen. Also schien es die beste Option für uns zu sein.

Ohne zu wissen, dass es noch eine Bessere gegeben hätte.

 

Also hieß es 30 Bestrahlungen, deren Nebenwirkungen nicht zu unterschätzen sind. Beim ersten Mal verlor mein Löwe nicht nur den Geschmackssinn, sondern auch sämtlichen Speichelfluss, dass das Essen erschwerte. Aber wir wollten, dass du verschwindest. Dass du stirbst und nie wieder kommst. Doch diesen Gefallen hast du uns nicht getan. Nach 30 Bestrahlungen warst du lediglich kleiner geworden, aber immer noch da. Es hieß, dass man dich beobachten müsste, denn deine nächsten Schritte konnte keiner einschätzen.

Wir hatten die Hoffnung, dass du Ruhe gibst. So klein bleibst und genau genommen wie ein schlafender Vulkan in ihm wohnst. Irgendwann in einen komatösen Zustand verfällst und bis an sein Lebensende Ruhe gibst, aber diesen Gefallen hast du uns nicht getan.

Nach der Reha war klar, dass du wieder wächst. Deine Energiereserven nur aufgeladen hast, um dich wegen der Bestrahlung zu rächen, die dich wahrscheinlich nur leicht gekitzelt hat.

Und so standen wir im Herbst 2018 wieder am Anfang. Die Verzweiflung war groß, die Hoffnung, dass sich etwas ändern könnte, verschwindend gering. Was das Blatt wendete, war eine Aussage eines Arztes, der zum ersten Mal die Option aufzeigte, die wir schon im März hätten ergreifen sollen, aber leider nicht kannten.

Wer kennt schließlich alle Fachkliniken in ganz Deutschland?

Wahrscheinlich niemand.

Doch zu wissen, dass es tatsächlich eine Klinik gab, in der Patienten mit genau der gleichen Erkrankung tagtäglich behandelt werden, hinterließ bei uns ein gemischtes Gefühl. Einerseits war es Erleichterung, dass wir noch nicht am Ende angekommen waren. Anderseits herrschte Wut, da uns diese Option einfach vorenthalten wurde.

Statt uns in diesem Fall auch weiterzuhelfen und alles für einen Kontakt in die Wege zu leiten, wurde uns eiskalt mitgeteilt, dass wir uns selbst darum kümmern müssten. Wir wurden in einer lebensgefährlichen Situation alleine gelassen und ich weiß leider, dass es vielen so geht. Dass man um sein Leben selbst kämpfen muss, ist klar. Dass man in diesem Fall jedoch so alleine gelassen wird, ist unverständlich und kostet wertvolle Zeit, die man zum Kämpfen benötigt.

Denn gerade bei dir, liebster Krebs, lief die Zeit gegen uns. Du warst rasant weitergewachsen, sodass du einem die Luft zum Atmen fast genommen hast.

 

Im November 2018 trafst du allerdings deinen Endgegner, mit dem du vielleicht nicht unbedingt gerechnet hattest. Er war unser Held im weißen Gewand, der dich in einer sehr aufwendigen Operation innerhalb von acht Stunden entfernte.

Du wurdest einfach rausgeschnitten, denn die Luftröhre kann man tatsächlich hochziehen und am Kehlkopf wieder annähen. Etwas, dass ich mir nie hätte vorstellen können.

Dennoch hast du uns noch viel Kummer bereitet, denn so eine aufwendige Operation ist natürlich sehr anstrengend, gerade wenn man bereits schon zwei solcher OPs in seinem Leben hatte.

Hinzukam, dass die Nebenwirkungen der vorangegangen Bestrahlungen Wundheilungsstörungen mit sich zogen und wir Weihnachten 2018 im Krankenhaus verbringen mussten.

Dieses Weihnachtsfest werde ich wohl mein Leben nicht vergessen. Zwei Stunden Zugfahrt, ein heruntergekommenes Hotelzimmer, kein Baum und erst recht keine Weihnachtsstimmung. Sagen wir es mal so, auch wenn Weihnachten beschissen war, waren wir wenigstens zusammen.

Wir gegen den Rest der Welt, denn so eine Erfahrung schweißt zusammen und lässt einen gemeinsam wachsen. Alle materiellen Dinge und Wünsche werden nebensächlich, das hat mich auch das nächste Jahr gelehrt.

Denn wegen dir durfte mein Löwe erst 2019 wieder nach Hause mit einer Kanüle im Hals und einer Sonde im Bauch.

Das Jahr 2019 war von einem großen Auf und Ab gekennzeichnet. Auch wenn du bisher nicht wieder aufgetaucht bist, hat sich die Lebensqualität noch nicht verbessert. Der Wunsch nach mehr Luft und Normalität ist allgegenwärtig und wird uns auch 2020 weiterhin begleiten.

Wir machen kleine Schritte in die richtige Richtung. Winzige Schritte, kaum sichtbar, aber dennoch da. Auch wenn ich niemals vergessen werde, was du uns angetan hast, welchen Weg wir wegen dir gehen mussten, muss ich dir auch einen Dank aussprechen.

Danke für die Menschen, die ich kennenlernen durfte. Die Menschen, die alles versucht haben, um meinem Löwen das Leben zu retten und ihn auf dem Weg der Besserung begleiten.

Danke, dass du mir gezeigt hast, dass man als Familie vieles überstehen kann, aber Verständnis von anderen Menschen nicht voraussetzen sollte.

Danke, dass du mir meinen Löwen nicht genommen hast, sondern ihn noch stärker gemacht hast, auch wenn er sich dieser Stärke nicht immer bewusst ist und auch mal an sich zweifelt.

Danke, dass du mir gezeigt hast, wozu wir fähig sind, dass sich kämpfen immer lohnt, auch wenn man nicht immer gewinnen kann. Allerdings ist die gemeinsame Zeit das wertvollste Gut, dass man sich nicht erkaufen kann. Man kann sich diese Zeit nur bewusst nehmen und füreinander da sein.

Lieber beschissener Krebs, es wird Zeit Abschied zu nehmen. Du hast uns durch die Hölle gehen lassen, aber uns gleichzeitig gezeigt, wozu wir fähig sind, welche Stärke wir tatsächlich in uns tragen.

Also wünsche ich dir eine gute Reise, in der Hoffnung dich nicht wiederzusehen.

 

Sayonara. 

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Datum: 29.12.2019 16:33
Sehr deftig... aber auch gleichzeitig interessant zu lesen wie du mit dem Thema umgehst.
Ich hoffen und wünsche dir das es weiterhin immer weiter Berg auf geht und sich alles letztendlich zum Guten wendet. Auch dunkle Tage und Jahre gehen vorbei und es kommt wieder Licht und Leichtigkeit ins Leben zurück.
Wie du selbst geschrieben hast, Kämpfen lohnt sich immer. Wie stark man tatsächlich ist, erfährt man immer erst, wenn stark sein die einzige Option ist, wo man hat. Und dass du Stark bist, geht finde ich, deutlich aus deinem Text hervor.
Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft für den Weg, der noch kommt. Stay strong
ραιη αη∂ ∂єαтн αяє α ραят σƒ ℓιƒє.
тσ яєנє¢т тнєм ιѕ тσ яєנє¢т ℓιƒє ιтѕєℓƒ


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Datum: 29.12.2019 21:03
Huhu.

Das war ein echt toll geschriebener Brief. Ihr habt so viel durch machen müssen. Ich finde es super wie ihr zusammen gewachsen seit.
Was die zu euch gesagt haben, ich hättet euch darum selbst kümmern müssen ist unter aller sau. Ihr seit da keine Fachärzte die aber. Die hätten euch die Rettenelösung sagen müssen. Das mit Weihnachten ist schrecklich aber da merkt man wie stark eine Familie ist.

Danke das du diesen Brief geschrieben hast. Ich hoffe es hat dir etwas geholfen das du deine/eure schwierige Zeit mit uns geteilt hast.

Wir ich schon ebend geschrieben habe. Ich wünsche dir und deine Familie aber vorallem deinen Papa für das restliche Jahr und 2020 viel Kraft.

Glg

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Datum: 31.12.2019 09:00
Ergreifend, heftig und nah. Danke dass du deine Eindrücke und Ertragenes mit uns teilst. Ich wünsche deinem Löwen von Herzen viel Genesungsenergie, dir alle Tapferkeit und Kraft der Welt und dass der Krebs sich nie wieder blicken lässt. Bleibt weiterhin so stark und unbeugsam!
Be unique.
Datum: 24.02.2023 02:17
Ich war lange nicht mehr hier unterwegs und ich weiß nicht, ob du diesen Eintrag lesen wirst.
Ich hoffe dein Löwe ist nur einen Telefonanruf von dir entfernt, dass du auch heute mit ihm reden kannst. Dein Eintrag ist jetzt knapp 3 Jahr her und ich hoffe, dass alle Nachsorgeuntersuchungen krebsarschlochfrei waren.

Leider weiß ich als Tochter und Medizinerin, die Angst die du verspürt hast. Auch mein Löwe hat tapfer gekämpft und dann hat er tapfer gekämpft, um so schnell wie möglich in den Himmel zu kommen, schmerzfrei zu sein, frei zu sein.

Ich wünsche Euch alles Gute


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