Trauer
Gähnend schaltete Shinya seinen Wecker aus. Sieben Uhr morgens am ersten Tag des neuen Jahres. In einer halben Stunde war er mit den anderen am Tempel verabredet. Aber zuerst würde er erst einmal einen starken Kaffee brauchen. Zwar war er sofort nach dem Glockenläuten nach Hause gegangen, doch er hatte noch einige Zeit wach gelegen und nachgedacht. Über sich, Rika und über Toshiya. Warum ging er ihm aus dem Weg? Oder war er es selbst, der Toshiya mied? Und was war das für ein Ausdruck, den er in den Augen des anderen gesehen hatte. So unglaublich verletzt. «Ob er doch etwas gemerkt hat?»
Der heiße Kaffee hatte ihn vollends wach gemacht und so lief Shinya durch die noch stillen Straßen Kyotos. Die Stadt schien noch zu schlafen, immerhin war Neujahr und die meisten Menschen wohl erst in den frühen Morgenstunden ins Bett gegangen. Nur an einem alten Haus, das zwischen hohen Neubauten eingezwängt stand, war eine alte Frau bereits auf den Beinen und reinigte den Gehweg. Shinya rief ihr ein leises "Guten Morgen" zu und deutete eine Verbeugung an. Sie richtete sich auf, musterte ihn und verbeugte sich dann respektvoll. Shinya musste lächeln. Sie hielt ihn wohl für einen Mönch, so wie mit klappernden Geta und dem traditionellen Hakama durch die Straße eilte.
Am Tempel angekommen konnte er von weitem schon Kyo erkennen, der bereits schweigend und in sich gekehrt den Platz fegte. Toshiya, der seinem Vater helfen sollte, hatte seine unliebsamste Tätigkeit grinsend auf den Kleineren abgewälzt.
Doch Kyo konnte es nur recht sein. So hatte er immerhin ausgiebig Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Er musste etwas wegen Die unternehmen. Es konnte ja nicht angehen, dass er sich unter Kyos Augen zu Tode hungerte. Und dann, die Beerdigung seines Vaters... Er wollte nicht hin, nicht wieder unter die Augen seiner Mutter und schon gar nicht den mitleidigen Blicken der Trauergäste ausgesetzt sein, die ja doch nur alles, was er tat mit seinem verstorbenen Erzeuger und seiner psychisch kranken Mutter in Verbindung bringen würden.
" Guten Morgen Kyo!" Mit viel Mühe brachte er doch recht fröhliches Lächeln zustande. Immerhin war es nicht Toshiya, dem er zuerst begegnete. "Morgen Shinya..." murmelte Kyo verstört, denn er hatte den Jüngeren nicht einmal bemerkt. "Alles okay mit dir?" wollte Shinya wissen, dem der Zustand Kyos trotz allem nicht entgangen war. "Mmmh" brummte Kyo nicht sehr überzeugend. Sollte er mit dem Jüngeren wegen Die reden? Er entschied sich dagegen. Von allen würde Die sich am wenigsten von Shinya etwas sagen lassen und vor allem hatte dieser sicherlich selbst mit genug eigenen Problemen zu kämpfen. Nein, er würde vorerst mit niemandem reden. "Schon gut, ich bin nur etwas übernächtigt." fügte er glaubhafter hinzu und bugsierte den Dreck in einen Eimer. "So, ich bin hier soweit fertig, lass uns zu den anderen gehen!"
"Guten Morgen allerseits!!!" Kaoru hatte wieder einmal die gute Laune weg und wedelte zur Begrüßung freudestrahlend mit einem Holzpoliturlappen vor Kyos und Shinyas Augen herum. "Lass das..." Kyo riss Kaoru den Lappen aus der Hand und machte sich schweigend an das polieren der Holzsäulen im Schrein. "Nanu was hat er denn?" wunderte sich Kaoru und blickte Shinya fragend an. Der zuckte nur mit den Schultern "Glaube ihm geht es irgendwie in letzter Zeit gar nicht gut... er wirkt total bedrückt.". "Stimmt" nach einem genaueren Blick auf den Kleineren war es nun für Kaoru offensichtlich, dass da etwas mehr als oberfaul sein musste. Sonst ging Kyo stets aufrecht, um zumindest noch einige Zentimeter an Größe heraus zu schinden, doch heute ließ er den Kopf fast bis auf Radieschenhöhe hängen. «Ich werde da mal gründlich nachhaken müssen» beschloss Kaoru im Stillen. «Das wird nicht leicht werden... bis jetzt hat Kyo mit mir noch nie über irgendetwas gesprochen, das ihn persönlich betroffen hat.»
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"Kann ich euch kurz alleine lassen? Es ist ja gerade nicht viel los und ich muss in den Hauptschrein..." "Ja sicher, gehen sie nur, wir schaffen das jetzt auch alleine!" lächelte Kaoru den alten Mönch freundlich an.
Seit ungefähr drei Stunden verkauften er und Kyo zusammen mit dem netten alten Mann Souvenirs und Glücksbringer. Der Mönch hatte ihnen von seinen Reisen durch die Klöster Japans erzählt, und über den Wandel der Gesellschaft in Japan nach dem Krieg. "Viel Leid damals, die Besatzung. Es waren Fremde in unserem Land, wir mussten freundlich zu ihnen sein, damit es uns nicht noch schlechter ging. Und heute sind wir freundlich zueinander, weil es wirtschaftlichen Nutzen für beide Länder bringt. Sie sind nicht mehr Besatzer sondern Gäste, so wie wir in allen Teilen der Welt Gäste sein können." hatte der Mönch über die Situation des Landes philosophiert, nachdem Kaoru ihm von seiner Freundin im Ausland erzählt hatte. Doch nun stand Kaoru ein wichtigeres Thema bevor als die Situation des Landes: Nämlich die Situation seines Freundes.
"Sag mal Kyo" begann er zögernd " ich weiß, dass du nicht gerne darüber redest, aber ich habe das Gefühl, das mit dir etwas ganz gewaltig nicht stimmt und ich..." "Schon okay" unterbrach Kyo den Älteren, "es ist nichts, ich bin nur ein wenig übernächtigt, das ist alles!" Er legte das strahlendeste Lächeln auf, zu dem er fähig war.
"Kyo, du solltest dir ernsthaft mal ein paar überzeugendere Ausreden einfallen lassen. Wir haben schon etliche Nächte zusammen durchgemacht und nach keiner einzigen hast du SO ausgesehen." Mit einem Ruck drehte er Kyo zu sich herum. "Aua, spinnst du?" fauchte der Angegriffene empört. "Aua? Bist du aus Zucker oder was ist los?" Kaoru musterte den Kleineren nun mehr als erstaunt. Doch der Blick des Erstaunens wandelte sich in einen Blick des Entsetzens, als er den Blutfleck sah, der sich nun an Kyos linkem Oberarm an seinem Kimono abzeichnete.
"Kyo, was um alles in der Welt ist da passiert?" "Nichts, ich bin nur neulich als es so glatt war ausgerutscht und habe mir an einer Hausmauer den Oberarm aufgeschrubbt." Kaorus starrte ihn immer noch an. "Wie hast du es denn hingekriegt, dass es so blutet und vor allem mit einer dicken Jacke?" wollte er ungläubig wissen. "Irgendwie halt!" "Kyo, du lügst!"
"Und? Wenn du mich anders nicht in Ruhe lässt?" "Ich dachte wir sind Freunde?" Kyo senkte den Blick. "Also gut, wenn du mir schon nicht sagen willst, was das an deinem Arm sein soll, dann sag mir zumindest, was mit dir los ist."
Der Jüngere seufzte. "Mein Erzeuger ist diese Woche gestorben." "Oh... das... das tut mir Leid" stammelte Kaoru und sein Entsetzen wich Betroffenheit. "Mir nicht" brummte Kyo. «Hoffentlich lässt er mich jetzt wenigstens in Ruhe...ah, da kommt ja auch der Mönch wieder...»
"Hier meine Kleine, möchtest du etwas Süßes?" Lächelnd beugte er sich zu dem kleinen Mädchen im hellrosa Kimono hinunter, die unsicher auf den Stufen des Schreins stand, während ihre Eltern wohl den Göttern ihre Aufmachung machten. Erstaunt blickte ihn die Kleine mit großen Augen an während sie ihre kleine Hand nach dem süßen Reisball ausstreckte, den Shinya ihr hinhielt. Toshiya, der das ganze beobachtete, musste unwillkürlich lächeln. Er und Shinya und ein Kind schoss es ihm durch den Kopf. "Bist du ein Mädchen?" das Kind sah Shinya treuherzig an. "Nein, ich bin ein Junge!" «Wie kommt sie darauf mich mit einer Frau zu verwechseln?!» "Und warum bist du hier?" "Ich helfe meinem Freund." "Warum?" "Na weil seinem Papa hier der Tempel gehört und er bei so vielen Leuten Hilfe braucht." "Hast du deinen Freund lieb?" "Ja..." Shinya schluckte. Die Kleine hatte es genau auf den Punkt gebracht.
"Ah Nanami*-chan, da bist du ja!" "Mama! Papa!" freudestrahlend trippelte das Mädchen auf eine Gruppe von drei Personen zu. "Nanu Nami-chan, wo hast du denn den Reisball her?" die tiefe, ihm doch sehr bekannte Stimme lies Shinya aufhorchen. "Von dem Jungen da!" "Oh guten Tag Herr Professor!" Shinya verbeugte sich eilig. "Ach sie... sie sind doch auch in meiner Physikvorlesung..." An seine Frau gewandt fügte leise er hinzu "das ist der jüngste Student in meiner Vorlesung und vermutlich auch mit Abstand der Klügste, wenn auch ein bisschen naiv..." Shinya verbeugte sich erneut und wollte sich zum Gehen wenden, als ihm ein Mädchen den Weg versperrte. "Wir hätten gerne je ein mikuji!" "Ja, sofort!" Shinya begann eiligst in seinem Ärmel zu kramen. "Das ist meine Tochter Misaki, sie studiert auch Physik in Ihrem Semster!" " Ja, ich erinnere mich." Shinya lächelte das Mädchen unsicher an.
«Wer ist das denn?» Toshiya kniff die Augen zusammen um besser erkennen zu können, mit wen Shinya sich da so angeregt unterhielt. "Seine Famile kann es nicht sein, dass hätte er erzählt und Verwandte hat er hier nicht soweit ich weiß..." murmelte er.
«Und was ist das? Wer ist dieses Mädchen? Seine Freundin? Und warum begleitet er sie jetzt zum Ausgang? Scheint sich ja prächtig zu unterhalten mit ihr... warum hat er mir das nicht erzählt? Warum?»
"Toshiya! Ich ..." Weiter kam Shinya nicht, denn Toshiya hatte sich bereits umgedreht und war im Schrein verschwunden.
"Toshiya?" Shinya starrte ihm entsetzt nach. Warum war der Andere vor ihm weggelaufen? Und auch noch so demonstrativ und offensichtlich beleidigt? Was hatte er getan? «Toshiya...»
Anmerkungen:
Nanami (Kanji für Na: Sieben und Nami: Meere)
Misaki (Kanji für Mi: Schönheit und Saki: Blüte)