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Fragmente

Wind und Stille
von

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Und er zeichnet Zeichen in die Wirklichkeit

Sie sitzt vor ihm, die Augen geschlossen; der Geist aber, so hofft er, weit geöffnet. Er hat mit ihr gesprochen und ihr Verlust traf ihn tief. So tief, dass er fast nicht bemerkt, dass die Pain sie noch viel tiefer mit sich gerissen hat, so tief, dass er nicht zuhört, wenn sie spricht, von dunklen Gestalten, Verfolgern und dem Verlorensein in einem fremden Körper.

Doch jetzt folgt er aufmerksam, schon seit Stunden trinkt er ihre Worte und während er stillschweigend zuhört, erzählt sein ganzer Körper Romane.

Von Verlangen. Von Mitleid. Von Liebe? Vielleicht; zumindest glaubt er das und es ist einfach genug, ihm zuzustimmen. Die Welt, wie er sie sieht, ist simpel; sie in Gefahr, er der Retter.

Und so nimmt er ihre Hand; die schwarze Kohle unter seinen Nägeln färbt ihre Unschuld dunkel.

Und dann redet auch er.
 

Die Eltern weinen, als seine Worte sie erreichen; erst blicken sie ihn an, wie er da steht, das Jackett in der Hand, dann sie, wie sie dort steht, im Flur, verloren und doch kurz davor, wiedergefunden zu werden. Und endlich verstehen sie und endlich fühlen sie und endlich sehen sie, was es ist, das ihre Tochter von innen heraus frisst, ihr Innerstes zuerst nach außen kehrte und es dann von der Haut kratzte.

Zumindest glauben sie, zu verstehen, zu fühlen, zu sehen.

Amaya aber schweigt; wie verrückt, deplatziert. Ihre Augen folgen dem Fremden, fixieren seine Finger. Die schwarzen Fingernägel sind für immer in ihre Haut gebrannt.

Nach dem Reden schweigt das Haus; die Nacht ist ruhig, obwohl schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden, in stillen Kammern voll hoffender Köpfe.
 

Es ist ein Wunder, so sagen die Therapeuten, dass der tiefe Fall in die Schizophrenie unbemerkt blieb; der Umstand, dass er sie aus der eigenen Umklammerung befreien konnte Zeichen für das Vertrauen, dass Amaya ihm entgegenbringt. Sie sind zufrieden und so lange Amaya an ihn glaubt, ist er es auch.

Doch jedes Vertrauen hat ein Ende; spätestens dann, wenn die Antwort unbefriedigend erscheint.

Und für sie ist es unbefriedigend. Weil er ihr nicht glaubt, weil er sie sanft anblickt, ihre Hand hält und ihr mitteilt, sie habe Wahnvorstellungen. Und weil sie nicht mehr kann, tut sie das eine, das ihre Hilflosigkeit übertönt: Sie schreit.

Er hält sie.

Sie tobt.

Er bleibt ruhig.

Sie schlägt ihn, verzweifelt, weil er ihr nicht glauben mag; weil er den Abgründen in ihrer Seele nicht zuhört.

Dann weint sie und er weint mit.

So ist dann auch der erste Kuss: verregnet.

Dann schreit sie wieder, tobt, schlägt, verzweifelt und zieht sich schließlich für ihn aus.

Er malt sie.

Und während für ihn alles Kurve ist, Weichheit, Verletzlichkeit, während alles zusammenfließt in seinen Augen und dort überströmt, weil er eine solche Perfektion nicht voll erfassen kann, während er das Wunder der gleichmäßigen Unendlichkeit erlebt, sind die Wochen für sie nur eines:

Abgehackt.
 

Wieder sind Wochen vergangen, Monate, seit sie die ersten Male zusammen saßen, er ihr Gesicht vor Augen, sie ihre Augen auf seinen Fingern. Es scheint unendlich weit weg, eine Ewigkeit und doch sieht sie es jede Nacht. Sie wünscht es sich; doch auch wenn seine Finger sie berühren, wenn die Kohle unsichtbare Spuren an feinem Haar hinterlassen, kann sie nicht mit ihm fortgehen.

Sie darf nicht und wünscht sich, sie hätte geschwiegen; sie sagt es zwar nicht, doch ihr Leiden spricht Bände, wenn man versucht, sie zu heilen.

Und während sie nun hier sitzt und ihn betrachtet, die Hoffnung in seinen Augen misst, die stets dieselbe bleibt, wenn er ihr erneut mit einem Akt beweisen will, dass sie ist, wer sie niemals war, spürt sie eine Müdigkeit.

Er bemerkt es nicht; er malt fleißig weiter. Und seine Finger erzwingen die Wirklichkeit, machen Amaya zum Zeichen; und dieses Zeichen zeichnet er in die Wirklichkeit.

Er macht sie zum Bildnis und hat noch nie Max Frisch gelesen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Yu_B_Su
2009-05-25T17:15:58+00:00 25.05.2009 19:15

Alles ist immer noch schwebend, jetzt kommt ein neuer Faden hinzu, ein neuer Punkt ins Bild, die Krankheit. Und wieder versteht man es nicht, wieder ist alles so abstrakt.

Aber am Ende die 'Pointe', Max Frisch, ein Hinweis zur Interpretation der Story? Zur Aufklärung? Ich hoffe :-D

Denn ich denke, dass du hier etwas geschaffen hast, das hier auf Mexx zu den seltenen Fällen zählt - und das ist jetzt total positiv gemeint: Es ist ein Werk, mit dem der Otto-Normal-Leser sicher seine Schwierigkeiten hat, ein Werk, dass nur für Literaturgourmets wirklich verständlich ist, das in seiner Form und Erscheinung eben für den ausgewählten Kreis derer, die es verstehen, ganz große Kunst ist.

Von: abgemeldet
2009-05-10T16:48:23+00:00 10.05.2009 18:48
Dieses Kapitel scheint sehr licht zu sein. Ich weiß nicht wieso, aber wenn man dieses Kapitel so betrachtet, denkt man, man ist die ganze Zeit durch einen dichten Wald gelaufen und kommt nun auf eine Lichtung.

Man weiß nicht mehr, wer sie ist, wieso der Fremde mit ihren Eltern redet oder wieso sie sich küssen und wieso sie sich von ihm malen lässt?
Die Szene mit dem Malen erinnert übrigens an Titanic.

Dieses Kapitel hast du wieder gut beschrieben, aber es reißt alles aus dem gewohnten Ablauf. Ich bin wirklich gespannt, wie du hier ein Ende findest.

Greets~
Maxwell-chan
KFF
Von: abgemeldet
2009-05-09T13:41:55+00:00 09.05.2009 15:41
Huhu,
Uh, ein Bezug zur Philosphie. Zumindest nenne ich es einfach mal so. Darf man aus reiner Neugierde und Wissendrang fragen, auf welchen Text von Max Frisch dich beziehst - er war doch recht aktiv. Doch das nur am Rande.

Viel Zeit in wenigen Worten.
Viel Geschehen in wenigen Worten.

Deine Geschichte verdeutlicht die Abgespaltenheit von der Welt, die psychisch Kranke häufig befällt. Die generelle Abgehacktheit, wie du es so treffend nanntest, oder wie es sich aus deinen Worten ableiten lässt. Und in einem kleinen Satz hast du eine der größten Probleme der Geschichte aufgeklärt. Wieder einmal könnte das Stichwort "Plausibilität" fallen.

Ich mag es, wie du etwas nennst und es durch eine Aneinanderreihung von Synonymen verstärkst, denn dergleichen lese ich mitunter überaus gerne.

>dass die Pain sie noch viel tiefer mit sich gerissen hat
"Pein" wird mit "e" geschrieben. So erinnert das stark an französisches Brot.

Liebe Grüße, Polaris
~KFF~
Von: abgemeldet
2009-05-04T17:01:53+00:00 04.05.2009 19:01
[KFF]

Ich schreibe Dir hier ein Kommi, da das Kapitel noch keines hat, hoffe das ist okay. :)
Ich finde die Beschreibung sehr schön, von Amaya, wie sie sich fühlt. Ich kann es irgendwie demnach sehr gut nachvollziehen.

Einen Flüchtigkeitsfehler habe ich entdeckt:
>um ihren Angreifern keine Chance zu biete.
Ein "n" hast Du vergessen. ;D Aber nicht weiter schlimm. ^^

Deine Beschreibungen finde ich aber wirklich toll! Man kann es, wie oben schon genannt, gut nachvollziehen und gut vorstellen.
Ansonsten kann ich nicht viel finden, dein Schreibstil ist doch sehr angenehm zu lesen. Aber auch ich hatte wirklich Probleme mit der Präsenz, da ich das absolut nicht gewöhnt bin. Aber Du hast es gut umgesetzt! Jedesmal erwarte ich z.B von "steckt", ein "e". :D
Ich bin die Zeitform wirklich nicht gewohnt. ^^
Aber im Prolog hab ich was gefunden:
>Wieder kicherte ihre hübsche Schwester.
Da ist zwar mein erwartetes "e", aber das passt nicht so ganz zum Rest. Ich denke, das ist wohl ein kleiner Flüchtigkeitsfehler. :)
Aber ansonsten gut geschrieben!


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