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Im Mondlicht

von

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„Der Abend war sehr schön, vielen Dank.“

„Freut mich, dass es dir doch gefallen hat. Du lässt dich einfach viel zu selten außerhalb der Stadt blicken.“

Der Magistrat verzog die Mundwinkel. Es stimmte, er verließ die sicheren Mauern von Baldur’s Tor nur selten. Eine Einladung zum runden Geburtstag seines Freundes Crespi hatte er nicht ausschlagen können. Jetzt war es spät am Abend, Selûne kreuzte das Firmament und Astarion fröstelte. Es wurde langsam Zeit, dass er in die Stadt zurückkehrte.

„Und du willst sicher nicht übernachten?“, fragte Crespi noch mal. „Das Gästezimmer ist fertig hergerichtet!“

„Danke, aber ich schlafe besser in meinen eigenen vier Wänden. Du willst mich nicht völlig verkatert morgens erleben.“

Crespi lachte vergnügt und reichte seinem Freund die Hand.

„Wir sehen uns dann nächste Woche?“

Astarion nickte und wandte sich dann zur Kutsche um. Er stieg ein, setze sich und klopfte gegen die Wand, um dem Kutscher zu signalisieren, dass er losfahren konnte. Sie rumpelten los.

Astarion lehnte sich zurück und schloss die Augen. Es war ausgeschlossen, dass er jetzt einschlief. Trotz seines Alkoholkonsums würde er nicht einschlafen, dafür würde die Rückfahrt einfach viel zu holprig sein. Gleichzeitig musste er sich darauf konzentrieren, nicht zu erbrechen. Er atmete tief durch, die frische Luft, die nachts in den Vororten von Baldur’s Tor zu riechen war, war kein Vergleich zu der stinkenden Kloake, die die Metropole mittlerweile war.

Oft genug hatte er in der Magistratsversammlung Vorschläge gemacht, wie man der Geruchsbelästigung Herr werden konnte. Seine Empfehlungen, die Abwasserkanäle zu untertunneln, waren auf taube Ohren gestoßen. Stattdessen hatte er sich anhören lassen müssen, die Fallzahlen von Taschendiebstählen sei die vergangenen Wochen stark gestiegen, und was er gedenke, dagegen zu unternehmen.

Astarion seufzte und konzentrierte sich dann wieder auf die frische Luft, die durch die Fenster in die Kutsche strömte. Die Geräusche der Stadt wurden langsam lauter, sie näherten sich der Festung und damit den sicheren Mauern von Baldurs Tor.

Danach musste er zu Fuß weiter. Der amtierende Großherzog war sehr strikt darin, die Kutschen der Vororte nachts nicht mehr durch die Burg fahren zu lassen. Zu viel Aufwand, sie jedes Mal bezüglich etwaiger Zollabgaben überprüfen zu müssen vor dem Hintergrund, dass nur ein Stadtbewohner wieder in sein Domizil zurückkehren wollte. Und zu teuer. Astarion konnte den konservativen Ansatz verstehen, war aber trotzdem nicht darüber erfreut.

Seine Kutsche rumpelte von platt getretener Erde auf Kopfsteinpflaster und Astarion wurde durchgeschüttelt. Schnell fasste er sich mit seiner Hand an die Stirn, er hatte wohl doch etwas zu tief ins Glas geschaut. Zum Glück blieben sie gleich darauf stehen.

„Hier muss ich Sie leider aussteigen lassen“, rief der Kutscher.

Astarion blieb kurz sitzen und atmete tief durch. Die Übelkeit verflog nur ein wenig, aber er konnte nicht ewig warten. Er stieß die Tür auf und setze seinen Fuß vorsichtig auf das Trittbrett, sich beim Aussteigen an der Kutsche abstützend. Astarion kramte in seinem Münzbeutel.

„Der Rest ist für Sie!“

„Guten Abend, Sir!“

Der Kutscher griff sich respektvoll an seine Mütze und wartete, bis Astarion in der Burg verschwunden war, ehe er seine Kutsche wendete.

„Na, heute zu tief ins Glas geschaut?“, raunte die Soldatin, die ihn kontrollierte.

War es etwa so offensichtlich?

Astarion ignorierte die Frau und ließ sich seine Ausweisdokumente wieder geben. Er bekam nicht mehr mit, wie der zweite Soldat den Kopf schüttelt, durchquerte die Wyrmburg und achtete nicht auf den Wachtposten am anderen Ende.

Der Alkohol war ihm zu Kopf gestiegen. Was hatte Crespi gleich wieder ausgeschenkt? Astarion überlegte, eher er wieder auf den Namen kam.

„Jasmarim-Schatten!“

Der Name hatte so verführerisch geklungen, dass Astarion sich zu einem Glas hat hinreißen lassen. Aus einem Glas wurde ein zweites, schließlich konnte man die Qualität eines Weines nicht anhand nur eines Glases bewerten, das man verkostet hatte. Und dann kam ein Drittes hinzu, während er Crespi lauschte, wie dieser an den feinen Tropfen gekommen war. Er war sich sicher, dass er danach etwas getrunken hatte, was nicht alkoholisch war.

Wie viele Fässer hatte Crespi liefern lassen? Die Zöllner hatten bestimmt Aufzeichnungen darüber. Sicher stand in den Dokumenten auch, welches Schiff die kostbare Fracht gebracht hatte. Und wer der Kapitän war. Wenn er sie entsprechend bezahlte, würden sie ihm auch ein Fass des kostbaren Tropfens beschaffen.

„Die vom Hafen ... Die werde ich bei Gelegenheit mal fragen, wenn ich in der Gegend bin ...“

Astarion torkelte weiter. Er hatte ganz vergessen, dass er für den Rückweg zu seiner Residenz ebenfalls eine Kutsche hatte nutzen wollen. Inzwischen war er auf Höhe der Taverne Elfgesang, dem Lärm nach zu urteilen. Weit und breit war keine Kutsche zu sehen, nur einige andere Nachtschwärmer.

Weine von der Schwertküste wurden üblicherweise über den Hafen geliefert. Der Hafenzoll wüsste sicher darüber Bescheid. Was hatte Crespi noch gleich gesagt? Er wollte versuchen, einen Wein vergleichbarer Güte auf seinem Landsitz zu ziehen. Astarion hatte nur gelacht und gemeint, dass ihm das bei den unterschiedlichen Witterungsbedingungen, die hier im Süden herrschten, nie gelingen würde. Und noch einen Schluck genüsslich hinunter gestürzt. Er beneidete seinen Freund um den edlen Tropfen.

Astarion rempelte jemanden an.

„En’schuldigung ...“, nuschelte er.

Sein Gegenüber erwiderte das Gleiche. Astarion erkannte nicht viel von dem Mann, nur, dass er einen dunklen Vollbart trug. Er ließ die Taverne hinter sich, ging zum nächsten Gebäude, um sich dort an der Wand abzustützen.

„Tief durchatmen ...“, dachte er. „Dann schaffst du es bis nach Hause ...“

Er hatte definitiv zu tief ins Glas geschaut. Warum war er nicht auf Crespis Vorschlag eingegangen, in dessen Gästezimmer zu übernachten? Inzwischen war es ihm ein Rätsel. Er hätte seinen Rausch ausschlafen und mit einem Kater in sein Anwesen zurückkehren können.

„He, du ...!“, raunte jemand hinter ihm.

Astarion drehte sich um, sah aber niemanden, und wurde dann plötzlich von der Seite angerempelt.

„He, was soll denn das?!“, beschwerte er sich.

Er griff nach dem Revers seines Angreifers, erwischte aber nur Luft, als er nach hinten wegkippte. Etwas brannte in seiner Seite.

„Argh!“

Astarion landete unsanft auf dem Boden, wollte sich wieder aufrichten, schaffte es aber nicht. Etwas nahm ihm die Kraft. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen, ob von seinem übermäßigen Alkoholkonsum oder dem Rempler, konnte er nicht sagen. Jemand erschien über ihm.

„Haben wir euch endlich!“

Es gesellten sich noch zwei weitere Vagabunden zu seinem Angreifer. Sie sahen auf ihn herab.

„Hil-Hilfe ...“, krächzte er.

Unvermittelt begannen sie, auf ihn einzutreten. Astarion krümmte sich, versuchte, sich zusammenzurollen und seinen Kopf zu schützen, aber es gelang ihm nur halbherzig. Er verlor jedes Zeitgefühl. Der Angriff dauerte nur wenige Sekunden, aber ihm kamen sie wie Stunden vor. Die Verbrecher hörten auf, ihn zu malträtieren.

Die Schatten verweilten noch einen kurzen Moment über ihm, gerade so, als würden sie ihr Werk bewundern. Dann verschwanden sie in die Nacht.

Astarion verfluchte sein Schicksal. Er spürte, wie sein Wams feucht wurde, sich regelrecht mit Feuchtigkeit vollsog. Das und die Tatsache, dass er keine Kraft mehr in den Armen und Beinen verspürte, sagte ihm, dass ihn sein erster Angreifer niedergestochen hatte. Seine Börse war er bestimmt los. Sein Körper brannte.

Er versuchte, um Hilfe zu rufen, bekam aber nur ein Krächzen heraus. Seine Kleidung wurde immer nasser. Dass sich unter ihm eine kleine rote Blutlache bildete, sah er nicht.

„Hi-l-fe ...“, tönte es schließlich.

Doch niemand kam.

Astarion rollte sich mühsam auf den Rücken. Über ihm schien ein heller Fleck vom Himmel.

„Selûne ...“

Sie lächelte auf ihn herab, wie es schien. Astarion war nie besonders gläubig gewesen, hatte es vorgezogen, sich auf sich selbst, seine Instinkte und seine Menschenkenntnis zu verlassen.

Wenigstens würde er in dem Wissen sterben, dass jemand seinem Tod beiwohnte. Selûne war gnädig.

Die Augen fielen ihm zu und er wurde ganz ruhig. Es hieß, kurz vor dem Tod würde noch einmal das eigene Leben vor dem inneren Auge ablaufen. Astarion wartete darauf, dass er seine ersten Erinnerungen sah. Momente mit seiner Mutter, wie sie mit ihm auf dem Arm in einem Blumen überwucherten Garten stand. Es war seine früheste Erinnerung an seine Mutter, etwas, was er wie einen kostbaren Schatz gehütet hatte. Und er wusste nicht einmal, ob er sich richtig erinnerte.

Astarion wartete darauf, dass diese Erinnerung zurückkehrte. Stattdessen spürte er einen kühlen Windhauch über sein Gesicht hinweg ziehen. Selûne musste ihn geküsst haben, bestimmt war es so!

„Ich kann euch retten ...“

Sie war gekommen! Die Mondmaid war gekommen, um ihn vor dem sicheren Tod zu bewahren.

„Hört ihr mich? Ich kann euch retten“, sagte die Stimme nun etwas lauter.

Seine Lider zuckten hoch. Die Stimme klang gar nicht wie die Mondgöttin, obwohl das blasse Gesicht, das er durch den Alkoholkonsum und den Blutverlust nur sehr verschwommen erkannte, seiner Vorstellung der Mondgöttin schon sehr nahe kam.

Astarion war sich ziemlich sicher, dass Selûne eine Frau war. Über ihn war aber ein Mann gebeugt. Sein Gehör konnte ihn nicht auch trügen.

„Wa-was sa... gt ihr?“

„Ich kann euch retten.“

„Wir-wirklich?“

„Ja. ... Ich kann euch retten, euch ewiges Leben schenken.“

„Ewiges Leben?“

„Ja ...“

„Was meint ihr mit ‚ewiges Leben‘?“

„Genau das? ... Wollt ihr leben?“

Astarion wollte leben. Er wollte nicht hier in der Gosse sterben, wie einfache Bettler, Obdachlose und Taschendiebe, wenn sie an die falschen Leute gerieten. Er war doch nicht an falsche Leute geraten in seinem Leben. Astarion atmete einmal tief durch. In seinen Gedanken nickte er, fasste einen Entschluss.

„Rettet mich ...“, presste er hervor.

Sein Gegenüber beugte sich zu ihm herab. Astarion spürte etwas an seinem Hals und verlor dann das Bewusstsein.
 

Er erwachte langsam.

Von fern war Vogelgezwitscher zu hören, angenehm, nicht mehr so aufdringlich wie während der Paarungszeit. Mal hier eine Amsel, mal da eine Lerche. Die Luft war angenehm kühl und verströmte einen blumigen Duft.

„Rosenwasser ...“, dachte er. Die Luft war gerade so temperiert, dass sie einen beim Einatmen wach werden ließ, aber viel zu frisch, als dass er das warme Bett verlassen mochte, in dem er lag.

Der Abend davor musste ein furchtbarer Albtraum gewesen sein, der seiner durch den Alkohol vernebelten Fantasie entsprungen war. Banditen, die ihn erst niederstachen und dann auf ihn eintraten. Und das in der Unterstadt, nicht allzu weit von der Kaserne entfernt. Allein bei der Vorstellung verzogen sich seine Mundwinkel zu einer Grimasse.

Astarion hatte einen recht passablen Zustand erwirkt, was die Sicherheit der Unterstadt betraf. Natürlich waren die Straßen der Unterstadt lange nicht so sicher wie die in der Oberstadt. In der Oberstadt gab es mindestens einen Soldaten an jeder zweiten Hausecke, dazu Truppen, die auf den Mauern patrouillierten. Die Kriminalität beschränkte sich in der Oberstadt vor allem auf illegales Glücksspiel und Korruption. Für beide Bereiche war er nicht zuständig.

Astarion rollte sich herum und zog die Decke höher. Wie angenehm kuschelig es in dem Bett doch war. Astarion besuchte Crespi abends nur dann, wenn er am nächsten Tag frei hatte. Er konnte also ungeniert ausschlafen. Seine Bediensteten würden ihn in Ruhe lassen, schließlich kannten sie ihn lange genug.

Wieder hörte er Vogelgezwitscher. Astarion öffnete seine Augen einen Spalt breit. Etwas war anders, aber er konnte nicht genau benennen, was. Er versuchte, sich an den Vorabend zu erinnern. Der ganze Abend, die Kutschfahrt zu Crespis Anwesen, der feuchtfröhliche Abend, die Gläser Jasmarim-Schatten, Crespis wahnwitzige Geschichte, wie er an die Fässer gekommen war. All das konnte schließlich keine Einbildung gewesen sein. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass ihm die Erinnerung an einen Teil des Abends entfallen war. Einen sehr wichtigen Teil sogar.

Astarion versuchte, sich die Rückfahrt von Crespis Anwesen zu konzentrieren. Den Kutscher hatte er an der Wyrmburg bezahlt. Der Mann hatte sich für das großzügige Trinkgeld bedankt und war dann seiner Wege gefahren. Markige Sprüche in der Burg selber, als er von den Soldaten kontrolliert wurde. Nichts, worüber er sich weiter Gedanken machte. Der Umgangston der Flammenden Faust war bisweilen rau, aber das nahmen die meisten Bewohner von Baldur’s Tor gelassen hin. Danach war er durch die Gassen der Unterstadt getorkelt und hatte sich aufgeregt, dass keine Kutsche greifbar war.

Danach? Danach nur Schwärze. Und ein blasses Licht, das auf ihn herab lächelte. Selûne. Die Mondgöttin trat überdeutlich in seinen Erinnerungen hervor, gerade so, als ob sie einen wichtigen Anteil hatte am vergangenen Abend.

Astarion seufzte. Sein Unterbewusstsein wollte wohl nicht, dass er sich an den ganzen Abend erinnerte. Er atmete tief durch. Und riss dann die Augen auf.

„Rosenwasser!“, rief er.

Er fuhr in die Höhe und warf die Decke zurück. Erst jetzt erkannte Astarion, dass er in einem fremden Bett saß. Das Rosenwasser hätte es ihm gleich sagen müssen, denn er nutzte es in seinem Anwesen nicht. Zu süßlicher Geruch auf Dauer.

„Oh, Ihr seid endlich wach?“

Er fuhr herum. In einer Ecke des Raums saß ein Mann in einem Ohrensessel. Schlagartig kehrten die fehlenden Erinnerungen zurück.

„Ihr?“

„Ihr erinnert Euch an mich? Das ist gut.“

Der Mann klappte das Buch zu, in dem er gelesen hatte, und legte es beiseite. Danach überschlug er seine Beine und lehnte sich in dem Sessel zurück.

„An was erinnert ihr euch?“, fragte der Mann.

Astarion antwortete nicht. Er starrte ihm nur ins Gesicht und wühlte in seinen Erinnerungen. Er hatte die Person, die ihm am Vorabend zu Hilfe gekommen war, schon einmal wo gesehen, konnte sich aber nicht erinnern, wo.

„Das muss an dem verfluchten Alkohol liegen“, dachte er.

Astarion antwortete dem Mann nicht. Stattdessen zog er die Decke hoch und sah sich in dem geräumigen Schlafzimmer um. Das Bett, in dem er lag, war recht breit und bequem, die Bezüge hochwertig. Nahebei stand ein kleines Tischchen, auf dem ein Kandelaber fünf brennende Kerzen hielt.

Auch der Rest des Raums wurde von Kandelabern erhellt, es gab keine Fenster. Woher kam dann das Vogelgezwitscher? Als Astarions Blick den seines Gastgebers streifte, fiel ihm dessen Schmunzeln auf. Unheimlich, wie es das blasse Gesicht zierte, umrahmt von schwarzen, kinnlangen Haaren und den abstehenden Ohren eines Elfen. Doch am gruseligsten erschienen ihm die Augen, rotbraun? Auf die Schnelle konnte Astarion es nicht genau erkennen.

Statt länger im Gesicht des Mannes zu verweilen, streiften seine Augen die Tapete. Exquisit in dunklem rot mit goldfarbenem Rankenornamenten. Etwas dick aufgetragen, wie Astarion fand. Solch eine teure Tapete in einem Gästezimmer konnte nur bedeuten, dass sein Gastgeber steinreich war. Endlich machte es in seinem Gedächtnis Klick.

„Ihr seid Cazador Szarr, oder?“, fragte er.

„Ich sehe, mein Ruf eilt mir voraus.“

Der Mann erhob sich und näherte sich etwas dem Bett, in dem Astarion lag.

„Wie habt ihr es erraten?“, fragte er.

„Logisches Ausschlussverfahren. Ich kenne die meisten Adligen der Stadt, doch euch habe ich nur auf einem Kupferstich gesehen. Dazu die exquisite Ausstattung eures Gästezimmers ...“

„Ihr habt einen scharfen Verstand, mein Freund ... Wie fühlt ihr euch?“

Astarion antwortete zunächst nicht. Stattdessen inspizierte er seine Arme und stellte dann überrascht fest, dass man ihm die Kleidung gewechselt hatte. Die Banditen mussten ihn übel zugerichtet haben. Als er die Ärmel des Hemds hochzog, stellte er überrascht fest, dass er keine einzigen blauen Flecken an den Armen hatte. Geistig spürte er immer noch ihre Tritte unter Selûnes Blick.

Danach zog er das Hemd am Bauch hoch. Nichts. Die Haut an seiner Seite war so glatt wie eh und je. Hatte er sich den Messerstich und den Blutverlust nur eingebildet? Crespis Wein konnte unmöglich eine solch berauschende Wirkung haben.

„Ihr fragt euch sicher, was gestern Abend passiert ist.“

Verwirrt sah Astarion Cazador an.

„Zunächst würde ich gerne wissen, ob ich gestern tatsächlich angegriffen und niedergestochen worden bin. Ich kann mich an Schläge und Tritte erinnern, aber mein Körper ...“

„Ja, den Angriff auf euch gab es wirklich.“

„Wie bin ich dann ...? Verzeiht, ich meine, ich müsste doch eine Stichwunde haben und unzählige blaue Flecken. Aber an meinem Körper ist nichts, keine Schramme. Als ob nie etwas passiert wäre.“

„Ich verstehe, dass euch das verwirrt. Im Eifer des Gefechts nimmt man Dinge anders wahr. Oder falsch, wenn ihr versteht.“

Astarion verstand nicht, worauf Cazador hinaus wollte, nickte aber trotzdem.

„Habt ihr ...? Ich meine, wart ihr zufällig in der Gegend und habt den Angriff auf mich mitbekommen?“

„Ich war eine Gasse weiter auf dem Weg zu meinem Anwesen, als ich den Lärm hörte. Ihr habt geschrien, müsst ihr wissen.“

„Ja? Ich erinnere mich nur an ein krächzen. Wie ist es euch gelungn, drei Angreifer abzuwehren?“

„Ich glaube, die Männer waren mit ihrer Attacke eh fertig. Ihr erinnert euch sicher nicht, aber sie haben eine Notiz zurückgelassen.“

Cazador ging zu dem Tischchen zurück, auf das er sein Buch gelegt hatte und nahm ein Stück Pergament zur Hand. Er reichte es Astarion. Der nahm es in die Hand und las:

„Das ist für die Unseren, die ihr verurteilt habt, Hurensohn. Wir wissen, wo ihr wohnt!“

„Um Himmels willen, die wollen mir an den Kragen!“, rief Astarion aus.

Cazador verschränkte die Hände hinter dem Rücken und beobachtete ihn. Astarion las die Nachricht noch einmal. Beim dritten Lesen wunderte er sich etwas über die geschwungene Handschrift.

„Gebildete Banditen ...“, grummelte er.

„Wie meint ihr?“

„Oh, ich wundere mich nur etwas. Für einen Banditen ist die Notiz wirklich in Schönschrift verfasst. Und fehlerfrei.“

Astarion bemerkte nicht, wie Cazador einen verstohlenen Blick auf das Pergament in seinen Händen warf.

„Habt ihr erkennen können, wie die Männer aussahen?“

„Nicht sehr genau. Sie sind weg, als sie mich die Gasse entlangkommen sahen. Abgerissene Kleidung, einer hatte lange Haare und einen Vollbart, die anderen beiden hatten eine Maske aufgezogen. Mich erinnerten sie ein bisschen an diese Leute, die zur Zeit in aller Munde sind ... Ich glaube, sie haben ihr Lager irgendwo in den Vororten.“

„Ihr meint Gur-Jäger?“

„Ja, genau die. Man hört in letzter Zeit so viele Geschichten über diese Leute ... Tagelöhner, heißt es. Gauner und Kriminelle, wenn ihr mich fragt.“

Astarion überlegte, was er über diese Gur-Leute wusste. Nicht viel, in den Randbezirken hatte er keine Zuständigkeit. Und außer Crespi kannte er dort niemanden. Die Gur-Leute hatten sich vor einigen Monaten ein kleines Lager in Rivington errichtet, woraus ihr Tagwerk bestand, wusste er nicht. Crespi hatte sie gar nicht erwähnt, obwohl sie quasi in seiner unmittelbaren Nachbarschaft wohnten. Wären sie Kriminelle, hätte er sich bestimmt über sie ausgelassen und bei Astarion Maßnahmen gefordert.

Und Astarion hatte auch nicht nach ihnen gefragt, dafür hatte er zu wenig Interesse an ihnen. Er sah wieder auf die Notiz hinab. Ob einer dieser Leute tatsächlich so ein schönes Schriftbild hatte? Was ihn stutzig machte, war die förmliche Anrede. Leider waren sie nicht so dumm, die Notiz mit einem Namen zu unterschreiben. Ihm fiel wieder der Mann ein, den er bei der Taverne Elfgesang angerempelt hatte. Ob er einer von ihnen war?

„Und ihr habt mich den ganzen Weg in euer Anwesen getragen?“, fragte er zweifelnd.

Cazador lachte auf.

„Ich habe zwei Soldaten der flammenden Faust gebeten, mir zu helfen. Ihr wart bewusstlos und schwer verletzt, mir erschien es sinnvoller, euch mit einer Trage zu bewegen.“

Astarion sah seinem Gastgeber ins Gesicht, der erwiderte den Blick ungerührt. Cazador ging zu dem Tischchen zurück und nahm das Buch auf.

„Ihr möchtet euch nach der anstrengenden Nacht bestimmt frisch machen. Ich habe ein Bad vorbereiten lassen, und Wechselkleidung.“

„Wolltet ihr mir nicht erzählen, was ihr mit mir gemacht habt? Ich habe den Dolchstoß gespürt, habe gespürt, wie meine Kleidung sich mit meinem Blut vollgesogen hat ... Ihr habt mir den Angriff auf mich bestätigt, aber an meinem Körper ist nichts ...“

Cazador Szarr legte den Kopf schief.

„Seid ihr ein Wunderheiler?“

„Hahaha, kommt! Das warme Wasser wird euch guttun. Danach reden wir.“
 

„IHR HABT EIN MONSTER AUS MIR GEMACHT!!“

Astarion wollte Cazador Szarr an die Gurgel springen, aber er konnte nicht. Etwas hinderte ihn daran, dem Monster an die Kehle zu gehen, das sich hinter dem fremd klingenden Namen verbarg. Die Augen des Vampirs blitzten.

Sie standen in einem großen Saal, der von Kronleuchtern und Kandelabern erhellt war. Es gab mehrere runde Tische mit Stühlen darum herum. Am Kopfende des Saals stand ein auffälliger Stuhl. Auf Astarion wirkte er wie ein Thron.

Cazador hatte ihn unter dem Vorwand hierher geführt, dass er dringend was essen musste, um wieder zu Kräften zu kommen. Nach dem Bad erschien ihm das plausibel, und Astarion war ihm gefolgt. Doch statt einer anständigen Mahlzeit hatte Cazador ihm nur einen Kelch gereicht. Einen Kelch, aus dem es verräterisch metallisch heraus roch. Astarion hatte den Kelch an die Wand hinter dem Thron geschleudert, als er erkannte, dass es Blut war. Da war Cazador mit der Sprache heraus gerückt.

Astarion hatte geflucht. Er hatte so viele Anzeichen dafür gehabt, dass mit seinem Retter etwas nicht stimmte. Was er von dem Abend erzählte, an dem Astarion angegriffen worden war. Die Wunderheilung seines Körpers. Astarion fragte sich inzwischen, ob Cazador die Gur-Jäger nicht angeheuert hatte, ihn zu verprügeln. Das würde die schön geschriebene Notiz auf dem Pergament erklären, die sie angeblich zurückgelassen hatten. Cazador hatte sie einfach selbst verfasst und ihm dann unter die Nase gerieben.

Jetzt zwang Cazador ihn, auf einem der Stühle Platz zu nehmen. Anders konnte es nicht sein, oder? Er war jetzt ein Vampirbrutling, wenn er Cazadors Lügen Glauben schenkte.

„Ihr vergesst, dass ihr eure Einwilligung gegeben habt. Erinnert ihr euch nicht mehr? ... Ich habe euch dreimal gefragt.“

„Ich lag im Sterben!“

„Manchmal muss der Verstand schnell arbeiten. Eurer war angesichts der Umstände verblüffend klar an dem Abend.“

„Ihr seid ein Monster ...!“

„Das kommt auf den Standpunkt an.“

Cazador nahm ihm gegenüber Platz. Astarion ließ den Kopf hängen.

„Ich verstehe, dass ihr Zeit brauchen werdet, das Geschehene zu verarbeiten. Euch ist schlimmes wiederfahren, ihr müsst mir aber glauben, dass meine Tat nicht in böser Absicht geschah.“

„Nicht in böser Absicht? Ihr habt aus mir ein blutsaugendes Monster gemacht ...“

Cazador seufzte.

„Ich werde nie wieder in die Sonne gehen können, oder?“, fragte Astarion.

Er sah nicht, wie der Vampir leicht den Kopf schüttelte, sah nicht den bedauernden Blick, der sich auf die Tischplatte zwischen ihnen richtete.

„Wie viele habt ihr schon gebissen?“

Cazador sah auf. Astarion hatte den Blick immer noch gesenkt. Seine Augen spiegelten Resignation wieder.

„Ihr seid der erste, den ich gewandelt habe ...“

Astarion riss den Kopf hoch.

„Und das soll ich euch glauben?!“

Er stand auf und fing an, ziellos in dem Raum herumzulaufen, vor sich hinmurmelnd.

„Ich bin schon seit einigen Jahrhunderten selbst ein Vampir, müsst ihr wissen.“

Astarion fuhr herum.

„Warum sollte mich das kümmern? Glaubt ihr allen Ernstes, nach dem, was ihr mir angetan habt, kümmern mich eure Beweggründe?“

Cazadors Augen funkelten.

„Könnt ihr euch nicht vorstellen, wie es ist, jahrhundertelang allein zu sein? Der Einzige einer sehr verhassten Art von Wesen weit und breit?“

„Soll ich euch eure Skrupel glauben?“

Cazador stand auf.

„Sehnsucht nennt ihr Skrupel? Ihr irrt euch. Wir haben ein Geschäft abgeschlossen, ihr habt euch klar artikuliert. Euch als Magistraten muss ich sicher nicht erklären, was das bedeutet.“

„Ihr habt meine Situation ausgenutzt!“

„Wenn ich eure Situation ausgenutzt hätte, hätte ich euch leer getrunken und wäre weitergezogen.“

Astarion starrte ihn an.

„Was wollt ihr mir damit sagen?“

„Übersteigt es eure Vorstellungskraft, dass es einen Vampir nach Gesellschaft dürstet?“

Astarion antwortete nicht. Er blickte Cazador noch einen Moment lang an und wandte sich dann um.

„Wo wollt ihr hin?“, herrschte Cazador ihn an.

„Ich gehe ...“

Der Vampirfürst starrte ihm verdattert hinterher.

„Das könnt ihr nicht, es ist helllichter Tag draußen!“

Astarion hatte nicht viel von dem Palast gesehen. Er vermutete aber, dass der große Saal nah am Eingang lag. Für den Fall, dass ein Vampirfürst Gäste empfing. Er hörte, wie Cazador ihm hinterher stürzte. Das trieb ihn nur noch mehr dazu an, sein Heil in der Flucht zu suchen. Er hielt schnurstracks auf das gegenüberliegende Portal zu.

„Ihr werdet verbrennen, wollt ihr das?“

„Das ist immer noch besser, als ein Monster zu sein!“

„Monster, ich höre ständig nur, ich sei ein Monster. Dabei rettete ich euer Leben!“

Astarion war an der schweren Tür angelangt. Er legte seine rechte Hand auf den Griff und blickte zu Cazador zurück, der nur zwei Meter hinter ihm stand.

„Das nennt ihr Leben?“

„Der Tod war euch gewiss, doch ihr entschiedet euch für ewiges Leben! Das könnt ihr nicht leugnen!“

Astarion würdigte ihn keiner Antwort mehr und stieß das Portal auf. 

Das Sonnenlicht, das von Osten her einfiel, war grell, stach ihn in die Augen, obwohl er noch im Schatten der Tür stand. Unsicherheit überkam ihn. Was, wenn Cazador doch Recht hatte und er in der Sonne verbrannte? Wieder stand er vor einer Entscheidung, bei der es um sein Leben ging. Oder vielmehr um seine Existenz, denn Leben konnte er das nicht nennen. Seine Hand verblieb auf dem Türrahmen.

Wollte er seiner Existenz als Vampirbrut tatsächlich ein Ende setzen? Oder war er nicht vielmehr dazu verpflichtet, um dieser schönen Stadt ein Monster zu ersparen, das nachts Kinder stahl und ihr Blut trank? Allein bei der Vorstellung, wie er seine Fangzähne in einen zarten Jungenhals rammte, wurde ihm schlecht. Er fasste sich ein Herz.

„NEIN!“, schrie Cazador hinter ihm.

Astarion trat ins Freie. Seine Haut, die nicht von Kleidung bedeckt war, fing direkt Feuer. Funken stoben davon, einen Augenblick später brannte sein Wams, brannten seine Haare. Er schrie markerschütternd, der Schmerz war unbeschreiblich, noch schlimmer als die Prügelei und der Dolchstoß, der dieses Drama in Gang gesetzt hatten.

Schließlich griffen kräftige Hände nach ihm, er hörte jemand anderen schreien. Dann wurde er nach hinten gezogen und fiel auf den Rücken. Cazador zog ihn noch weiter in das Haus zurück und schlug die Flammen mit seinen bloßen Händen aus. Astarion konnte nicht aufhören, zu husten. Er musste Rauch von seiner brennenden Kleidung in die Lungen bekommen haben. Die Schmerzen vergingen nur langsam.

„Ihr Einfaltspinsel!“

Astarion hustete immer noch.

„W-warum habt ... ihr das ... getan?“, presste er dann mühsam hervor.

Cazador ignorierte ihn und rieb sich die Hände. Die Brandblasen, die er beim Ausschlagen der Flammen bekommen hatte, waren schon wieder verheilt. Als wäre nichts gewesen.

„Wie ...?“

Cazador warf ihm einen Blick zu, in dem noch so viel mehr stand als die Wut, die er auf Astarion verspürte. Letzterer kämpfte sich auf einen Ellbogen hoch.

„Ihr hättet mich mit eurer Gedankenkraft zurückhalten können ... Warum habt ihr es nicht getan?“

Cazador stand auf.

„Um euch Gelegenheit zu geben, euch freiwillig für mich zu entscheiden. Jahrhunderte der Einsamkeit können einen mürbe machen, mit einem Partner an der Seite jedoch ...“

Seine Stimme hatte einen anderen Ton angenommen. Konnte es tatsächlich sein, dass Cazador ihn aus ganz eigennützigen Gründen gewandelt hatte? Weil er einen Gefährten suchte? Astarion fröstelte, während die Brandblasen begannen, zu verheilen. Er setzte sich auf und blickte dem Vampirfürsten in die Augen. Sie funkelten jetzt wie Rubine. Astarion erkannte ein Verlangen in ihnen, das ihn erschaudern ließ. Cazador bemerkte, wie sein Brutling ihn ansah, und räusperte sich. Das Verlangen verschwand aus seinen Augen.

„Kommt, wir haben viel zu tun.“

Da war sie wieder, diese Kraft, mit der Cazador ihn offenbar kontrollieren konnte. Astarions Muskeln bewegten sich wie von Zauberhand, richteten ihn auf. Cazador achtete gar nicht mehr darauf, was seine Vampirbrut tat. Er wusste ja auch so, dass Astarion ihm folgte. Sie ließen das Sonnenlicht, das durch das noch immer offen stehende Eingangsportal fiel, hinter sich, und verschwanden in den Tiefen des Szarr Palasts.



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