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Ohne Schlips und Tadel

von

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Restalkohol

Thilo stöhnte. Es war das gequälte und abgrundtief leidende Stöhnen eines Mannes, der am Abend und in der Nacht davor zu viel Alkohol konsumiert und – wenn man den Zustand seines Halsinneren in die Rechnung miteinbezog – auch geraucht hatte. Normalerweise hielt Thilo sich von den stinkenden Glimmstängeln fern, aber wenn er betrunken genug, die Stimmung entsprechend und eine Schachtel Kippen in der Nähe war, konnte er manchmal nicht widerstehen. Und mit Tom konnte man sich sicher sein, dass der welche dabei hatte. Stressraucher, wie er gerne betonte. Und Stress hatte Tom immer, deswegen die Zigaretten. Und Thilos Brummschädel.

 

Scheiße.

 

Wahrscheinlichwäre es besser gewesen, gestern gar nicht erst auf Toms Nachricht zu reagieren. Nur war Thilo nach der restlichen Woche tatsächlich nach ein bisschen Spaß gewesen. Spaß hatte zu mehr Spaß geführt, der zu Alkohol, der zu noch mehr Spaß und irgendwann hatte er sich von Tom halt doch in den Club schleppen lassen. Jetzt hatte er einen fetten Kater und zwar keinen von der miauenden Sorte. Und er musste pinkeln.

 

Autsch.

 

Nein, die Senkrechte war heute nicht Thilos Freund, so viel stand fest. Mit der Hand am dröhnenden Schädel befreite er sich aus dem raschelnden Satin und stellte die nackten Füße auf den Boden. Die waren immerhin noch zu zweit, was wohl hieß, dass er sich nichts hatte amputieren oder tätowieren lassen. Nicht, dass das nicht auch schon vorgekommen wäre. Thilo dachte mit Schaudern an die Behandlung zurück, die er hatte durchstehen müssen, bis das blöde Ding wieder weg gewesen war. Jetzt sah man nur noch bei günstigem Lichteinfall einen leichten Schatten auf seiner Schulter. Noch so eine Erinnerung an eine Zeit, in der er jung und unbeschwert gewesen war.

 

Klo.

 

Der Gedanke war inzwischen drängend genug, dass Thilo es schaffte, sich tatsächlich zu erheben. Nur mit Boxershorts bekleidet tappte er zur Tür, über den Flur und ins Bad, wo er sich endlich erleichtern konnte. Auf dem Boden vor der Dusche ein Bündel nach Rauch und anderen Dingen stinkende Klamotten. Offenbar hatte er es zwar noch geschafft, sich auszuziehen, zum Duschen war es dann aber anscheinend nicht mehr gekommen. War ihm jetzt aber auch egal. Er brauchte erst mal ne Aspirin.

 

Begleitet vom Rauschen der Spülung machte Thilo sich auf dem Weg in die Küche. An der Wand, direkt gegenüber des Tresens, der Wohnzimmer und Kochnische voneinander trennte, prangte unübersehbar der weiße Kasten mit dem großen, roten Kreuz. Wenn es nach Thilo gegangen wäre, hätte es zwar auch eine Packung Schmerzmittel irgendwo in einer Küchenschublade getan, aber der Vorbesitzer der Wohnung war wohl der Meinung gewesen, dass Medikamente und Pflaster ordnungsgemäß aufbewahrt gehörten. Als Ergebnis stieß sich Thilo bei jedem zweiten Gang in die Küche fast den Kopf, aber wenigstens hatte er dann ja gleich alles Nötige parat.

 

Es knisterte, als er die rettende Tablette aus dem Blister drückte in ein Glas Wasser fallen ließ. Sprudelnd setzte sie dort ihren Wirkstoff frei, den Thilo im nächsten Moment in einem Zug hinunterschüttete. Danach wollte er sich geradewegs wieder in Richtung Schlafzimmer begeben, doch das Telefon hatte andere Pläne.

 

„Ring!“

 

Thilo knurrte unwirsch. Wer rief denn um diese Zeit an? Noch dazu an einem Sonntag?

 

„Ring!“
 

Er stellte das Glas ab. Es würde Wasserflecken auf dem Holz hinterlassen.

 

„Ring!“

 

„Jaja, ich komm ja schon. Alter Mann ist schließlich kein D-Zug.“

 

Mit immer noch pochendem Schädel und brennenden Augen tappte er ins Wohnzimmer zurück und schnappte sich den Hörer. Erst danach fiel ihm ein, dass er ja auch den Anrufbeantworter hätte rangehen lassen können, aber jetzt war es zu spät. Er hatte schon abgehoben.
 

„Ja?“
 

Freundlich war definitiv anders, aber er war auch nicht in der Stimmung zu telefonieren.
 

„Oh, da ist aber jemand wieder mal gut drauf. Einen wunderschönen guten Morgen, Bruderherz.“

 

Thilo schloss die Augen und ließ sich auf das graue Sofa sinken.
 

„Morgen“, murmelte er und versuchte, die durch die hohen Fensterfronten hereinscheinende Sonne mit dem Arm abzuschirmen. Draußen war sicherlich wundervolles Wetter. Die Leute gingen spazieren, weiße Boote schipperten über die Alster, die nur einen Steinwurf entfernt lag, und im nahen Park walzten Familien die Frühblüher mit ihren Picknickdecken platt. Es war also ein perfekter Sonntagmorgen. Außer für Thilo. Der hatte Kopfschmerzen.
 

„Was willst du?“, brummte er und versuchte, mit dem Fuß die Fernbedienung zu angeln. Vielleicht würden die Nachrichten das Gespräch mit seiner Schwester erträglicher machen. Ein Erdbeben oder ein Börsencrash würden ihn mit Sicherheit aufheitern.

 

„Dich daran erinnern, dass du Liv und mich versetzt hast.“

 

Thilo runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern. Ach ja, da war irgendwas gewesen. Er konnte sich nur nicht …

 

„Brunch im Rosarium? Nachfeiern deines Geburtstags?“, tönte es vorwurfsvoll aus dem Hörer. Thilo verzog das Gesicht.

 

„Hab ich vergessen“, murmelte er und gähnte. In seinem Schritt juckte es und er kratzte sich beiläufig. Er musste wirklich dringend duschen.

 

„Nicht ganz unabsichtlich, nehme ich an.“

 

Tabea klang angesäuert. Vielleicht hätte er sich doch eine Erinnerung machen sollen. Andererseits hätte die in seinem Zustand heute Morgen auch nichts genützt. Er hätte sie schlicht überhört.
 

„Tut mir leid, okay?“

 

In seinem Kopf begann so langsam die Tablette zu wirken. Sie klärte den trüben Schleier und ließ ihn ein wenig klarer in die Welt blicken. Was er sah, gefiel ihm nicht wirklich.

 

„Ich hab’s einfach vergessen.“
 

Das machte es jetzt nicht unbedingt besser, war aber wenigstens ehrlich. Vielleicht das Ehrlichste, was er gerade in seinem Leben zu bieten hatte. Um ihn herum das Boho-Wohnzimmer mit dem perfekt unperfekten Look, der „Gemütlichkeit“ und „hier hat es jemand verstanden“ schrie, nur dass Thilo nicht ein Stück der Wohnungseinrichtung ausgesucht hatte. Er hatte einfach keine Zeit gehabt, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, also hatte er genommen, was gut aussah und einigermaßen erschwinglich war. Die möblierte Altbauwohnung mit den geschliffenen Holzfußböden, dem leicht antiken Bad und dem winzigen Schlafzimmer, in das gerade so ein Schrank und ein Doppelbett hineingepasst hatten. Dafür konnte man im Wohnzimmer Walzer tanzen. Wiener Walzer wohlgemerkt und nicht dieses lahme Rumgestehe im Dreivierteltakt. Nicht, dass Thilo dazu Lust gehabt hätte, aber …

 

Er hörte Tabea am anderen Ende schnaufen.

 

„Es hätte dir vermutlich sowieso nicht gefallen. Hier war heute ne Hochzeit. So mit Braut und Bräutigam und weißem Kleid und allem. Auf der Insel im See. Die hatten da alles dekoriert und es gab eine Sängerin und …“

 

Tabea brach ab und räusperte sich.
 

„Na zumindest war es voll kitschig und hier tausend Leute unterwegs, da hättest du sowieso nur die ganze Zeit rumgeschmollt. War also besser, dass du nicht gekommen bist.“
 

Thilo schloss die Augen. Er hatte genau gehört, wie begeistert Tabea von dem ganzen „Kitsch“ gewesen war. Und er wusste auch, dass sie und Liv wohl schon mal übers Heiraten gesprochen hatten. So ganz unverbindlich natürlich, nur um abzuklären, ob es denn für sie beide eine Option war. Thilo wusste nicht, was bei dem Gespräch herausgekommen war, aber er war sich ziemlich sicher, dass Tabea bei der ganzen Sache eher auf der Pro-Seite stand. Thilo seufzte.
 

„Ja, das hätte ich wirklich ganz schrecklich gefunden“, meinte er versöhnlich. „Deswegen war ich mit Tom auch lieber in einem dunklen Raum voller stinkender, betrunkener, notgeiler Männer, die alle nichts Besseres zu tun hatten, als sich die Klamotten vom Leib zu reißen und es zu treiben wie die Tiere. Testosteron bis über beide Ohren. Du weißt schon.“

 

Er machte ein paar Grunzlaute und hörte seine Schwester am anderen Ende lachen.
 

„Ieh, wie eklig“, rief sie und fügte in ernsterem Tonfall hinzu. „Ich hoffe doch, du warst safe unterwegs.“

 

Thilo brummte unwirsch. Wer von ihnen war denn eigentlich der Spießer?
 

„Natürlich. Und bevor du fragst, nein, ich weiß nicht wie er heißt, ich habe nicht seine Nummer und er ist auch nicht zum Frühstück geblieben.“

 

Eigentlich war er nicht mal mit zu ihm nach Hause gekommen. Thilo erinnerte sich nur noch an ein paar hübsche, blaue Augen und kurzgeschorene Haare, die sich weich unter seinen Fingern angefühlt hatten, als der Typ ihm auf Knien seine Zungenfertigkeit bewiesen hatte. Als Thilo kurz vor dem Abspritzen gewesen war, hatte er aufgehört, war hochgekommen und hatte Thilo ins Ohr geraunt, ob er ihn richtig ficken wollte. Thilo hatte ihn angesehen.
 

„Bist du denn vorbereitet?“, hatte er wissen wollen und der Typ hatte gegrinst.

 

„Klar“, hatte er gemeint und ein kleines Fläschchen irgendwo hergezaubert. Was auf dem Etikett gestanden hatte, hatte Thilo nicht erkennen können, aber das war auch nicht notwendig gewesen. Er hatte auch so gewusst, worum es sich handelte.
 

„Hier? Oder wollen wir woanders hingehen?“

 

Daraufhin hatte der Typ sich nur umgedreht und Thilo seinen nackten Backen entgegengestreckt. Dass er nur Chaps trug, hatte sich dabei als praktisch erwiesen.
 

„Mach’s mir, Daddy“, hatte er verlangt und Thilo hatte geschluckt und dann hatte er getan, was getan werden musste. Er hatte sich ein Kondom übergestreift und es dem Kerl so richtig besorgt. Dafür dass der Spaß hatte, hatten die Drogen gesorgt und seine Hand an eigenen Schwanz. Er war gekommen und kurz darauf hatte auch Thilo das kleine Latexsäckchen mit Sperma gefüllt. Als es vorbei war, hatte er das Ding einfach abgezogen und in eine Ecke geworfen, wo sich schon ein ganzer Haufen von gebrauchten Präsern, leeren Poppers-Fläschen, Glasscherben und einer linken Socke gesammelt hatten. Ein CSI-Squad hätte sicherlich die reinste Freude daran gehabt. Anschließend war er zur Bar zurückgekehrt und hatte sich die Kante gegeben. Danach Filmriss. Er wusste nicht mehr, wie er nach Haus gekommen war, aber er nahm an, das Tom ihm ein Taxi besorgt hatte. Tom passte immer auf ihn auf. Eigentlich von Anfang an schon, spätestens aber seit dieser einen, schlimmen Nacht, in der Thilo nicht gewusst hatte, wen er anrufen sollte. Irgendwann hatte er Toms Nummer gewählt. Da war das Ganze mit ihnen schon mehr als ein halbes Jahr vorbei gewesen. Tom war trotzdem gekommen. Und er war geblieben.

 

Tabea machte ein merkwürdiges Geräusch.
 

„Na, das klingt ja, als hättest du Spaß gehabt.“

 

Thilo zeigte sich selbst die Zähne
 

„Spaß ist mein zweiter Vorname.“

„In welchem Leben?“

 

Thilo lachte pflichtschuldig und wurde dann wieder ernst.
 

„Du, Tabby, ich muss Schluss machen. Ich stinke wie ein Iltis, außerdem hab ich nachher noch was vor.“

„Ach ja? Was denn?“

 

Thilo kräuselte die Lippen. Eigentlich wusste er das selbst nicht so genau.
 

„Ich muss arbeiten.“
 

Jetzt war es an seiner Schwester zu seufzen. Er konnte sich vorstellen, wie sie dabei die Augen verdrehte.
 

„Du hast aber schon mitgekriegt, dass Sonntag ist, oder?“

„Das ist keine Entschuldigung.“
 

Seine Schwester lachte noch einmal, dann seufzte sie wieder.
 

„Na gut, meinetwegen. Dann entlasse ich dich mal in dein furchtbar spannendes Leben voller Arbeit, Arbeit und noch mehr Arbeit. Aber die Verabredung heute holen wir nach, hörst du? Und dieses Mal lädst du mich ein.“

 

Thilo lag auf der Zunge zu sagen, dass es schließlich sein Geburtstagsessen hätte sein sollen und er noch gar kein Geschenk bekommen hatte, aber er hielt sich gerade noch zurück. Am Ende verlängerte sich das Gespräch noch um ne halbe Stunde. Aber wo er gerade so darüber nachdachte, fiel ihm doch glatt etwas ein.
 

„Sag mal, hattest du nicht gesagt, dass du mir die Fotos schicken wolltest? Du weißt schon. Die vom Rathaus.“

 

Nicht, dass Thilo scharf gewesen wäre auf Bilder von sich im pinken Fummel, aber vielleicht …

 

„Ach ja, wart mal. Hier.“

 

Es dauerte keine zwei Sekunden, dann vibrierte Thilos Handy, das auf dem holzfarbenen Couchtisch lag. Thilo fischte es von der Platte und entsperrte den Bildschirm. Acht WhatsApp-Nachrichten. Wollte die ihn verarschen?
 

„Ich meinte alle Bilder, du Doofi.“

 

Ärgerlich wischte Thilo über die Aufnahmen. Die meisten zeigten nur ihn, wie er sich zum Affen machte. Noch dazu mit Perücke. Er stockte, als er zur letzten Aufnahme kam. Bingo.

 

„Selber Doofi“, tönte es empört aus dem Hörer. „Das hier sind schon die besten. Kann ja keiner was dafür, dass du aussiehst wie ein Rhinozeros im Kleid und auf fast allen Bildern nur dein Hintern zu sehen ist.“
 

Thilo war versucht, ihr die Zunge rauszustrecken.
 

„Einige Männer finden meinen Hintern sehr attraktiv.“

„Die sind bestimmt blind.“

 

Während Tabea sich über ihren eigenen Witz kaputtlachte, hing Thilos Blick immer noch an dem letzten Foto. Darauf viel grauer Hamburger Märzhimmel, ein gutes Stück von Thilos pinker Kittelschürze und Ansätze eines fremden Gesichts. Viel erkennen konnte man nicht. Nur ein bisschen braune Haut, ein paar windzerzauste Locken, ein klein wenig des spitzbübischen Lächelns und ein rechtes Auge. Thilo konnte sich noch erinnern, wie es ihn angesehen hatte. Zusammen mit dem zweiten natürlich, aber da war etwas in diesem Blick gewesen, dass Thilo zurückhaben wollte. Die Frage war nur, wie. Ob der schöne Fremde wohl öfter am Rathaus vorbeikam? Dann könnte Thilo ihm in der Mittagspause auflauern. Er könnte ihn ansprechen und dann vielleicht …

 

„Also schön, wenn du willst, schick ich dir die restlichen Pics noch, wenn wir den Rechner anhaben. Liv hat die alle auf ihrer Festplatte.“

 

Thilo wurde aus seinen Gedanken gerissen. Telefonierte er etwa immer noch mit Tabea?

 

„Äh, ja, das wäre lieb.“

 

Schweigen am anderen Ende. Schweigen, das sich verdächtig nach hochgezogenen Augenbrauen anhörte. Und schon kam die verbale Klatsche dazu.
 

„Sag mal, hast du noch Restalkohol? 'Li~ieb'? Ich dachte, das Wort gibt es in deinem Wortschatz gar nicht.“

 

Thilo zog die Nase kraus.
 

„Doch, aber es ist für andere Personen reserviert als nervige, kleine Schwestern.“

„Du mich auch mal, großer Bruder.“

„Hab dich lieb!“

„Arsch!“
 

Damit legte Tabby auf und Thilo war sich nicht ganz sicher, ob sie jetzt echt sauer war oder nur so tat, damit er nicht merkte, dass sie ihn eben doch liebhatte. Er sie ja auch, irgendwie. Nur halt nicht andauernd. Am meisten eigentlich dann, wenn sie schlief.

 

Thilo schloss die Augen. Schlafen hörte sich immer noch verdammt gut an. Er könnte duschen. Zähne putzen und sich dann noch ne Runde hinhauen. Oder er konnte gleich nochmal im Schlafzimmer verschwinden. Die Vorstellung, wie es dort roch, weil er vergessen hatte, das Fenster zu öffnen, ließ ihn allerdings von diesem Plan Abstand nehmen. Also doch erstmal Dusche und dann sehen, was der Sonntag noch so für ihn bereithielt. Vielleicht ja sogar noch eine schöne Überraschung.

 



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