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Eisblumen

Ein stiller Abschied
von

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Eisblumen -

Ein stiller Abschied
 

Ein kalter Schauer suchte sich seinen Weg durch den Körper des Jungen. Für die aktuell vorherrschenden Temperaturen war er falsch angezogen. Dünne Strumpfhose, viel zu kurzer Rock. Da brachte der Wintermantel mit aufgesetzten Pelzapplikationen auch nicht die gewünschte Abhilfe. Wer konnte auch ahnen, dass es zu einem Wintereinbruch in Japans Hauptstadt kommen würde? Hier schneite es doch eh nur alle paar Jahre überhaupt einmal und nun lagen zwanzig Zentimeter, durch die er sich seinen Weg zur nahegelegenen Bahnstation kämpfen musste. Ob überhaupt ein Zug fuhr?

Die Nachrichten hatte er natürlich - blauäugig, wie er war – nicht gecheckt. Aber irgendwie musste er doch zu seiner Verabredung kommen! Den gesamten Monat hatte er sich schon auf diesen Tag vorbereitet. Daher auch sein eher unpassendes Outfit. Heute musste einfach alles perfekt sein. Immerhin stand das Fest der Liebe vor der Tür. In seinem Fall hieß das also, nochmal mehr als nur 100 Prozent geben. Seine sogenannte Liebesbeziehung war sowieso nicht von einfacher Natur. Mal heiß, mal kalt - so konnte man das am passendsten bezeichnen. Aktuell eher wieder kalt. Vor allem, da sie sich uneinig waren, was ihre oder besser seine Pläne für das neue Jahr anbelangten. Natürlich hatten sie sich wieder einmal zerstritten. Ohne Streit kamen sie selten eine Woche aus. Es passierte einfach so. Sie vertraten unterschiedliche Meinungen und schon krachte es. Dabei sprachen die Sterne in ihrem Fall doch von inniger Freundschaft und tiefgehenden Verständnis. Nun ja, vielleicht spielte doch noch mehr eine Rolle als nur die Konstellation der Planeten zueinander, wenn man geboren wurde. Oder sie waren einfach die jeweiligen schwarzen Schafe ihrer Sternzeichen, sodass sie andauernd untypisch aneinander gerieten. Doch eigentlich wollte er heute an diese negativen Aspekte ihrer Beziehung gar nicht denken. Schließlich war Weihnachten, Zeit der Besinnlichkeit und des Verzeihens und sie hatten sich für ein romantisches Date verabredet. Schon vor ihrer Auseinandersetzung. Gut, ‚romantisch‘ hatte er dazu gedichtet. Wenn es nach Kuruto gegangen wäre, hießt es nur ‚wir treffen uns‘. Dann konnte man in Richtung Pizza und Softdrinks denken. Doch in seinem Kopf spielte sich alles an einem schick gedeckten Tisch mit Kerzenlicht ab. Dazu schmalzige Musik, leckeres Essen – Drei Gänge Minimum! - auf richtigen Tellern und vielleicht ein Glas Wein. Romantisch eben. Da sollte man diese dummen Streitereien doch außen vor lassen können.

Trotzdem war Daichi unwohl in der Magengegend. Selten nur verstanden sie einander, ohne dass Dinge explizit angesprochen wurden. Da war wieder das altbekannte Problem ‚In meinem Kopf habe ich es mir so und so ausgemalt‘ vs. ‚Nur, falls du es noch nicht mitbekommen hast: Ich lebe außerhalb von deinem Kopf!‘.

Missmutig rümpfte Daichi seine Nase und schickte noch ein Stoßgebet gen Himmel, dass es heute einfach mal nicht so war. Leicht betrübt versteckte er seine rot geschminkten Lippen hinter seinem dicken Schal.

Sein Gewissen plagte ihn ja doch. Zwar hatte er sein Herz bei seinem Bruder ausschütten können, aber der machte keinen Hehl daraus, dass er mit seiner Partnerwahl nicht ganz konform ging. Das sagte er natürlich nicht, aber sein Verhalten und seine Mimik sprachen eine deutliche Sprache. Das war sogar ihm nicht verborgen geblieben. Trotzdem wollte sich Daichi in diese Sache nicht hineinreden lassen. Brüderlicher Rat, schön und gut, aber auch Masa war nicht allwissend und was Beziehungen anging, war er das erdenklich schlechteste Vorbild der Welt. Daher hatte der Besuch bei seinem Bruderherz seine Unsicherheiten nur teilweise ausräumen können.
 

Wieder sammelte er sich und versuchte nicht, sich in seiner Gedankenwelt zu verlaufen. Er neigte dazu, sich Dinge einzubilden und Szenarien einzureden und zurechtzulegen, die mit einer realistischen Auslegung gar nichts mehr zu tun hatten. Auch dafür bekam er zuweilen die eine oder andere Rüge. Doch den heutigen Tag wollte er nicht versauen. Er wollte das Jahr ruhig ausklingen lassen. Ohne Streit oder Unstimmigkeiten. Keine Missverständnisse. Lediglich eine entspannte Zeit, zusammen mit der Person, die er am meisten schätzte und liebte. Ob Kuruto das auch so sah und ihren Streit vergessen konnte?

Das Jahr neigte sich so schnell dem Ende zu. Alles wurde ruhiger, langsamer, besinnlicher. Es war Zeit zum repetieren und Zeit, um zu hinterfragen, gleichzeitig aber auch, um einen Neuanfang zu initiieren. Neufindung. Genau so fühlte es sich in seinem Fall an. Sie würden heute zusammen essen, über lapidare, unverfängliche Themen reden und sich Gedanken darüber machen, wie die nächsten Monate aussehen könnten. Das kommende Jahr würde fantastisch und intensiv werden. Er hatte Pläne, große Pläne, wollte sich verwirklichen, mit seinem eigenen, kleinen Café, viel erleben und er wollte es definitiv mit Kuruto verbringen, weitere Schritte auf ihn zugehen und dafür sorgen, dass er seine Entscheidung nicht bereute, an seiner Seite zu bleiben. Letzteres beschrieb wohl seinen Herzenswunsch. Positive Gedanken, positive Energien.

Daichi blickte nach oben gen Himmel. Kuruto und er. Das würde funktionieren. Er musste nur fest genug daran glauben.

Es dauerte nicht lange und eine vereinzelte Schneeflocke flog ihm ins Auge. Erschrocken blinzelte er und alles wurde schwarz.

Verdammt, diesem Wetter konnte er einfach nichts abgewinnen. Es war so unglaublich kalt, eisig. Selbst seine Finger sahen bereits bläulich aus. Handschuhe wären eine gute Idee gewesen. Sicherlich würden die Straßen auch bald überfroren sein. Daher sollte er sich besser beeilen und sich nicht weiter seinen erdachten Szenarien hingeben. Kuruto würde letztendlich eh anders reagieren, als er es sich vorstellte. So gut kannte er ihn vielleicht doch nicht, selbst wenn sein Herz immer einen Takt schneller schlug, wenn er ihn nur sah.

Schneller als eben noch schwebte er regelrecht über die Schneedecke. Die Zeit schien wirklich relativ zu sein, denn er konnte nicht mehr sagen, wie viele Minuten oder Sekunden vergingen. Eigentlich war das auch unwichtig. Er wollte nur aus dieser Kälte raus und sich bestenfalls in einer Flauschedecke bei einem heißen Kakao einkuscheln. Umso weniger verwunderlich war es, dass die warmen Lichter der Weihnachtsbeleuchtungen ihn anzogen.

Hinter den Fenstern tauchten sie das Leben in warmes Licht und ließen es unwirklich erscheinen. Dort stand eine Frau, die ihr Baby lachend nach oben stemmte, es dann wieder in ihre Arme gleiten ließ und sich mit ihm im Kreis drehte. Sicherlich spielte Musik. Ob ihn seine Mutter auch so gehalten hatte, als er noch klein war? Daichi wusste es nicht, wusste es nicht mehr, hatte es vielleicht nie gewusst. Generell konnte er sich nicht an die Zeit erinnern, als ihre Eltern noch bei ihnen waren. Viel zu klein war er gewesen, als dieser schreckliche Autounfall ihr Leben aus den Fugen hob. Hatte er so ein kitschiges Weihnachtsfest je erlebt? Mit guten Essen, Geschenken, schrecklichen Weihnachtsfilmen und heimeligen Beisammensein mit der Familie? Nicht zu vergessen, mit solch kunterbunter Beleuchtung? Er würde Masa danach fragen, wenn er ihn das nächste Mal sah! Sicherlich konnte sein Bruder ihm von weiteren Erlebnissen berichten, an die er sich gar nicht mehr erinnern konnte. Es stimmte ihn traurig, dass er um so viele gemeinsame Momente betrogen worden war. Manche Menschen konnte einen niemand ersetzen und so trafen gerade diese Gedanken am Ende des Jahres eine Stelle, die besonders schmerzte. Wieder einmal machte sich Sehnsucht in ihm breit. Sehnsucht nach Erinnerungen, die auch er haben wollte, Sehnsucht nach verlorenen Seelen, bei denen er gern wäre. Vielleicht schwang auch ein Quäntchen Reue in seinen Gedanken mit. Reue, die Zeit nicht richtig genutzt zu haben und Reue, die verflossenen Momente nicht zurückzubekommen, um seine Verfehlungen wiedergutzumachen oder schöne Augenblicke zu erschaffen. Auch diese Gedanken schmerzten und die Melancholie der Vergangenheit umarmte ihn behutsam wie ein alter Freund.

Ein kalter Windhauch verfing sich in seinen Haaren, machte ihn auf seine Umgebung aufmerksam. Er wusste gar nicht mehr, wo er war, wie er hier hergekommen war. Automatisch hatten ihn seine Füße weitergetragen, während seine Augen nun die Schneekristalle erblickten, die der Wintereinbruch gezaubert hatte. Die Welt stand still, bedeckt unter einer weißen Schicht aus federleichten Flocken. Alles glänzte und glitzerte, funkelte. Die Welt bestand aus tausenden Juwelen. So schön wie das Licht sich brach. So faszinierend, wie sich die filigranen Flocken auf seine Jacke legten und er ihre detaillierte Struktur mit dem bloßen Auge erkennen konnte. Nie hatte er sich die Zeit genommen, sich auf die wesentlichen Sachen zu konzentrieren. Alles war so schnelllebig. Termine hier, News da. Verpflichtungen. Schlafen, Essen, durch den Tag rennen, ohne dass bleibende Erinnerungen erschaffen wurden. Durchatmen – Fehlanzeige. Doch gerade in diesem Moment verlor er sich in der Schönheit der einzelnen Schneeflocken, die ihn weiter führten zu dem Haus, zu dem er eigentlich wollte.

Auch hier brannte ein Licht. Nicht einladend, eher flackernd, kalt, blau. Sehnsüchtig warf er einen Blick nach oben, aber Kuruto stand nicht am Fenster seines Zimmers. Lichteffekte zuckten auf, verrieten, dass Kuruto sicherlich am Zocken war. Kein vorbereitetes Essen, kein Kerzenschein, doch eher die Variante der kalten Pizza oder labberigen Pommes mit viel zu viel Mayo. Daichi konnte das Salz auf seinen Lippen bereits schmecken.

Seine Lider senkten sich. Weihnachten war doch die Zeit der Wunder und der Wünsche. Wieso dachte Kuruto dann gar nicht an ihn? Wieso fühlte er sich nicht schlecht wegen ihres Streits? Wieso wollte er ihn nicht genau so sehr sehen und bei ihm sein? Daichi konnte es nicht verstehen. In Filmen gab es immer ein Happy End. Wieso nicht für ihn?

Losgelöst von der Realität warf er einen Blick durch das Fenster und konnte sehen, dass Kuruto wirklich vor seinem Rechner saß. Das riesige Headset verdeckte seine Ohren komplett, während er euphorisch in ein Mikro sprach, sich mit anderen Spielern austauschte. Sein Zeigefinger klickte in kurzen Abständen auf die Maus, während seine Finger auf ausgewählte Tasten seiner Tastatur schnellten. Er war vertieft in eine andere Welt aus Fantasie, Quests und Erfolgen, die er mit anderen, virtuellen Freunden teilte. Hier war kein Platz für ihn. Hier war er nicht gewollt und wurde nicht gebraucht. Das wurde Daichi wieder einmal schmerzlich klar. Einseitige Wünsche eigneten sich eben nicht als Grundlage für ein Weihnachtswunder.

Auch diesmal saß der Stich tief und schmerzhaft. Binnen von Millisekunden bahnten sich seine Tränen ihren Weg. Sehnsucht, nach Momenten, die er gern gehabt hätte, aber die ihm verwehrt blieben. Und wieder die Hilflosigkeit, an seiner Situation nichts ändern zu können. Diesmal wusste er, dass es endgültig war und er auch nicht mehr die Chance bekommen würde, etwas zu ändern. Ihm wurde so kalt und die Traurigkeit legte sich enger um seine Seele. Weihnachten, die Zeit der Wünsche – die nicht jedem erfüllt wurden.

Seine Tränen fielen auf die Fensterbank, wurden unmittelbar zu Eis. Eine Träne. Noch eine Träne. Tausend weitere. Seine Enttäuschung verflüssigte sich, trat nach außen und verwandelte sich in etwas Wunderbares. Immer mehr Kristalle bildeten sich, überzogen die Fensterbank und wanderten weiter zum Glas des Fensters. Dort bildeten sich kleine Kristalle, vervollständigten sich zu einem filigranen Muster: Eisblumen.
 

Und wieder war die Zeit nur relativ. Kuruto sah von seinem Spiel auf, sah zum Fenster. Er wusste nicht, was es war, das ihn lenkte. Besonnen nahm er sein Headset ab, legte es zur Seite, um zu seinem Fenster zu gehen. Ungewöhnlich, dass ein Großteil von Eis überzogen war. Trotzdem betrachtete er sich die einzelnen Kristalle genau. Ein kleines Lächeln huschte über seine Züge, hatte er doch als Kind gern Schneeflocken gefangen, um sich an ihren verschiedenen Formen zu erfreuen, brummelte, als er ihnen zu nahe kam und sein warmer Atem sie zum Schmelzen brachte.

Die Eisblumen, die sich heute über sein Fenster zogen, erinnerten ihn an Rosen. Geschlossene Knospen, ummantelt von Blättern. Rote Rosen … „Daichi“, flüsterte er leise und legte seine Hand an die kühle Glasscheibe seines Fensters. Ihm wurde schwer ums Herz, auch wenn er nicht sagen konnte, woher diese Schwere rührte oder warum er sich gerade jetzt seinen Gedanken an ihn hingab.
 

Da war sie wieder: die Stille. Daichis Blick klebte an Kurutos Lippen, aber immer wieder verschwamm das Bild vor seinen Augen. Es war Zeit, das wusste er. Dennoch kam er nicht drumherum, seine Fingerspitzen an die seines Geliebten zu legen. Verbunden.

„Kuruto“, formten seine Lippen tonlos, während seine Tränen weiter fielen und sich immer mehr Eisblumen auf der Oberfläche des Glases bildeten.

„Daichi? Kommst du? Wir müssen gehen.“ Die sanft gesprochenen Worte seiner Mutter.

„Ja, Mama, ich komme.“

Seine Fingerspitzen glitten von der Glasscheibe, hinterließen fünf Abdrücke in dem Meer aus Blumen.
 

Zurück blieb in dieser eisigen Winternacht nur ein Fenster im zweiten Stock eines Einfamilienhauses, überzogen mit wunderschön funkelnden Eisblumen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Goesha
2022-12-28T00:56:14+00:00 28.12.2022 01:56
Das erinnert mich voll an die Geschichte vom kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern. T_T
Die Beschreibung von den Eisblumen war super... bin aber jetzt trotzdem traurig, weil es kein Happy End gab. Q_Q
Antwort von:  Daisuke_Andou
28.12.2022 10:44
Stimmt. Da gab es ja auch mal so eine Geschichte. Also so ähnlich. Sternentaler oder wie das hieß. Hab ich nie komplett mitbekommen. Aber das Setting würde passen.
Sry, gibt nicht immer ein Happy End. Vielleicht hat Daichi das auch alles nur geträumt und Kuruto war gar nicht böse. ^^‘
Antwort von:  Goesha
28.12.2022 20:18
Nee ich mein schon das traurige. Also wo das Mädchen barfuß im Winter versucht die Schwefelhölzer zu verkaufen. Sie traut sich nicht zurück ohne was verkauft zu haben. Sie guckt dann durch die Fenster und sieht die Leute mit ihren Familien feiern. Um nicht zu erfrieren zündet sie immer wieder ihre eigenen Streichhölzer an und hat dabei schöne Halluzinationen und irgendwann sieht sie ihre Großmutter, die sie dann zu sich nimmt. Am nächsten Tag sieht findet man sie erfroren auf.
Ich dachte tatsächlich auch mal, dass es diese andere Gesichichte ist und hab sie meine Nichte vorgelesen. Ich fands zum heulen und meine Nichte hat mich nur fragend angeguckt. ^^"
Antwort von:  Daisuke_Andou
28.12.2022 22:59
Ok. Nein. Das sagt mir tatsächlich jetzt so nichts. Streichhölzer verkaufen erinnert mich eher an kleine Prinzessin Sara oder wie der Anime hieß. Aber das klingt echt traurig. Daran hab ich mich aber nicht orientiert. Kannte das ja nicht mal. Hier ging es mal wieder nur um Daichi xD


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