Zum Inhalt der Seite

Schokoladenfragen

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Schokoladenfragen

Prüfend hob Toriel die Schüssel hoch. So sehr sie sich auch Mühe gab, die hartnäckigen kleinen Überreste dessen, was einst ein leckeres Apfel-Zimt-Porridge gewesen war, blieben in der Schüssel haften. Ganz offensichtlich hatte sie die Haftfähigkeit von Haferflocken deutlich unterschätzt.

Mit der Zunge laut schnalzend, versuchte Toriel, mit einer ihrer Krallen die einzelnen Überbleibsel herauszukratzen. Was sich mit Gummihandschuhen jedoch als schwierig herausstellte. Zwar hielten diese ihr Fell trocken, doch dafür konnte Toriel mit ihren Krallen kaum noch etwas ausrichten. 

Den Kampf aufgebend, ließ Toriel die kleine Müslischüssel wieder zurück ins Wasser gleiten, sollte doch das Wasser die Arbeit verrichten, zu der sie selbst nicht in der Lage gewesen war.

Stattdessen griff sie zu einem Teller, wie auch wieder zu ihrem Schwamm, als ein bestimmtes Geräusch ihre volle Aufmerksamkeit an sich zog.

Sie konnte hören, wie zwei aufgeregte Stimmen ihr gemeinsames Zuhause betraten und ihr sich durch das Wohnzimmer näherten. Es dauerte nicht lange, bis sie die Küche erreicht hatten.

„Asriel, Chara, willkommen zurück, meine Lieben! Hattet ihr einen angenehmen Schultag?“

Das aufgeregte Geplapper ihrer Kinder verstummte, als vier Augenpaare den Blick von Toriel erwiderten. Dann sahen sie sich gegenseitig an, bevor Asriel auf Toriels Frage einging.

„Ja, der Tag war für uns vollkommen in Ordnung. Wir haben heute ein paar Übungsdiktate geschrieben und wir haben uns wirklich gut gemacht … hey!“

Chara hatte ihren Bruder einen leichten Boxschlag in die Seite verpasst, und während Asriel empört zu ihr hinübersah, musste diese kichern.

„Sei doch ehrlich, Azzy, wenn ich dir nicht heimlich gesagt hätte, dass man Rhythmus mit zwei Hs schreibt, dann wäre das nicht so gut für dich ausgegangen.“

Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen, welches sich ebenfalls in Charas zusammengekniffenen Augen widerspiegelte. Asriel schüttelte mit dem Kopf.

„Ok, ok, du hast Recht, aber die anderen Wörter davor habe ich mit Leichtigkeit geschafft!“

Mit hochroten Wangen verschränkte Asriel die kleinen Arme vor seiner Brust und vermied jeglichen weiteren Augenkontakt mit seiner Schwester.

Nun war es Toriel, die zu lächeln begann.

„Von anderen können wir lernen, da ist doch nichts Schlechtes dabei. Ich bin mir sicher, dass Chara auch etwas von dir lernen konnte, Asriel“, sagte sie und begann, ihre Handschuhe einen nach dem anderen ausziehen. Kaum hatte sie diese auf der Arbeitsfläche abgelegt, sah sie ihre Kinder neugierig an.

„Es ist schön, dass ihr beide offenbar einen schönen Tag hattet. Neues Wissen zu lernen ist immer wieder etwas Wunderbares, besonders, wenn man sich dabei gegenseitig unterstützen kann. Doch ich kann spüren, dass ihr mir nicht alles gesagt habt. Wie sieht es eigentlich mit eurem Geschichtstest aus, habt ihr den mittlerweile wieder zurückbekommen?“

Es war als eine harmlose Frage ohne Hintergedanken gemeint, gestellt von einer neugierigen Mutter. Doch mit der Wirkung, die dieser eine Satz auf die Kinder zu haben schien, hatte sie nicht gerechnet.

Augenblicklich fiel jegliche Fröhlichkeit von ihren Kindern, das Lächeln verschwand von ihren Gesichtern und sie ließen die Schultern hängen. Toriels Herz stockte. Hatte das gemeinsame Lernen in den Tagen vor dem Test etwa nicht ausgereicht? Hatten sie sich etwa auf die falschen Themen konzentriert? Hatten die Kinder vor Schreck ein Blackout bekommen und konnten die Fragen deshalb nicht beantworten?

„Oh, Kinder, es tut mir so leid, wenn ich etwas für euch tun kann, um euren Schmerz zu mildern, lass es mich wissen. Ich weiß, wie hart ihr für diesen Test gelernt habt…“

Je mehr Toriel versuchte, ihren Nachwuchs zu trösten, desto mehr drehten sich die beiden von ihr weg. Die Oberkörper bebten und zitterten, auch konnte sie ihre Gesichter nicht mehr sehen. Toriel ging einen Schritt näher auf sie zu. Dabei streckte sie ihre Arme aus.

„Chara? Asriel? Was ist denn mit euch? Ihr wisst, ihr könnt über alles mit mir reden… Moment.“

Irritiert zog Toriel ihre Arme wieder zurück und sah die Kinder nun nicht mehr sorgenvoll, sondern misstrauisch an.

„Kann es sein, dass ihr beide gerade lacht? Klärt mich auf, was hat das alles zu bedeuten?“

Aus dem leisen, leichten Lachen wurde ein schweres, lautes, als sich die zwei Kinder wieder zu ihrer Mutter umdrehten. Die besorgten Mienen waren verschwunden, stattdessen hängte ihnen die eine oder andere Lachträne im Augenwinkel. Gleichzeitig hielten sie mit ihren Armen die kleinen Bäuche fest.

„Tut uns leid Mama, aber das war Charas Idee. Auch wenn ich ihre Streiche oft nicht so mag, den wollte ich dann doch mitmachen“, sagte Asriel, kaum, dass er sich wieder halbwegs beruhigt hatte.

„Ja, tut uns leid, Mama. Wir haben den Test heute zurückbekommen und natürlich bestanden. Willst du wissen, welche Note wir bekommen haben?“

Doch davon zu erfahren war nicht Toriels Top-Priorität. Stattdessen schloss sie die räumliche Distanz zu ihren Kindern und drückte beide so fest es ihr möglich war, ohne diese zu verletzen. Kinderwangen färbten sich rot und es zauberte beiden ein Lächeln auf die Lippen.

„Ihr beiden! Das hätte ich mir ja denken können. Aber das macht nichts, ich weiß ja, dass ihr es nicht böse gemeint habt. Auch wenn ihr mir damit einen gehörigen Schrecken eingejagt habt.“

Sie verharrten zu dritt für wenige Augenblicke in dieser Position, genossen die Wärme und Berührung der eigenen Familienmitglieder. Doch dann ließ Toriel die beiden los und trat ein wenig zurück, um sie beide in Augenschein nehmen zu können.

„Da wir das nun geklärt haben, welche Note habt ihr denn nun wirklich bekommen? Sagt es mir, aber dieses Mal die Wahrheit, ja?“

Chara und Asriel tauschten kurze Blicke aus, dann nahmen sie ihre Rucksäcke herunter und begannen, darin zu suchen. Sie wurden auch schnell fündig und reichten Toriel jeweils einen ausgefüllten Fragebogen, eingepackt in einer sicheren Glassichtfolie.

Toriel bestaunte die Vorderseiten der Tests, ihr Herz blühte auf und ihre Augen begannen zu leuchten.

„Ihr beide habt den Geschichtstest mit Bravour bestanden! Ich bin so unsagbar stolz auf euch, Kinder. Da hat sich das lange Lernen doch gelohnt. Wenn das euer Vater hört, dass ihr beide eine Eins geschrieben habt … ach, Gorey wird sich so freuen. Ich muss ihm das sofort sagen, wenn er seine heutigen Pflichten erledigt hat. Heute soll es für ihn besonders stressig sein, weil viele Bürger von ihm eine Audienz haben möchten. Und er wird genauso stolz auf euch sein, wie ich es jetzt bin.“

Toriel gab den Kindern ihre Arbeiten wieder zurück, welche sofort wieder in den Rucksäcken verstaut wurden.

„Geht doch schon mal in euer Zimmer und stellt eure Taschen dort ab. Die Hausaufgaben könnt ihr auch in Ruhe nach dem Mittagessen erledigen. Aber bevor ihr euch aufmacht den Tisch zu decken, habe ich noch eine kleine Überraschung für euch. Also seid beide brave Kinderchen und wartet in eurem Zimmer auf euch, ich werde so schnell wie möglich nachkommen.“

Überrascht sahen Asriel und Chara ihre Mutter an, sie wollten unbedingt wissen, was die Überraschung sein könnte. Doch da sie es nie in Erfahrung bringen würden, solange sie sich noch in der Küche aufhielten, drehten sie sich um und rannten so schnell wie möglich aus der Küche heraus.

„Kinder, denkt daran, nicht im Haus zu rennen!“, rief Toriel ihnen noch hinterher, doch da waren die Kinder bereits längst aus ihrer Hörreichweite.

 

„Was glaubst du, was wird die Überraschung sein?“, wollte Asriel wissen, kaum hatten sich die beiden auf sein Bett gesetzt. Die Rucksäcke lagen auf dem Boden ihres Kinderzimmers, darauf wartend, später für die Hausaufgaben erneut geöffnet zu werden.

Asriel wippte mit den Füßen, während Chara die ihren stillhielt.

„Ich weiß nicht. Es hat nicht nach Kuchen oder Muffins gerochen, also hat Mama schon mal nichts gebacken. Vielleicht gibt sie uns Geld? Oder eine Taschengelderhöhung?“

Chara rieb sich bei dem Gedanken zufrieden die Hände.

„Vielleicht schenkt sie uns aber auch einfach nur Spider Donuts, als Rache für den kleinen Streich, den wir ihr eben gespielt haben.“

Auf Charas Lippen lag ein finsteres Lächeln, welches sich verstärkte, als sie Asriels schockierten Gesichtsausdruck sah. Er war ein wenig blass um die Nase geworden.

„Spider Don… Donuts? Du meinst doch nicht etwa genau die Donuts, an die ich gerade denke?“

Charas Lächeln wuchs ein kleines Stück. Dabei stützte sie sich auf ihrem Ellenbogen ab.

„Doch, genau diese Art von Donut meine ich. Spider Donuts, hergestellt von Spinnen für Spinnen, mit Spinnen als Hauptzutat. Hmm, lecker“, sagte Chara und streichelte sich demonstrativ den Bauch. Asriels Gesicht wurde dagegen noch blasser.

„Chara, du bist schrecklich, hör auf. Mama würde sowas niemals machen, sie weiß, dass ich diese komischen Donuts nicht mag“, sagte Asriel und es schüttelte ihn bei der bloßen Vorstellung, erneut in ein solches Gebäckstück auch nur hineinzubeißen.

Chara dagegen brachte die Reaktion ihres Bruders zum Kichern.

„Hey! Das ist gemein!“, beschwerte sich der kleine Prinz in einem Ton, der beiden offenbarte, wie wenig ernst es ihm damit war. Auch auf seinen Lippen lag nun ein Lächeln und er boxte Chara leicht in den Arm hinein.

Mehrere Sprüche lagen ihr auf der Zunge, sie kam jedoch nicht mehr dazu, sich für einen von ihnen zu entscheiden und auszusprechen. Die Tür zu ihrem gemeinsamen Zimmer wurde geöffnet und eine zufrieden aussehende Toriel betrat den Raum.

„Verzeiht, meine Kleinen, dass es so lange gedauert hat, ich hatte die Überraschung wohl doch zu versteckt. Aber ich kenne euch, bei euch muss man ganz genau aufpassen. Meine kleinen, neugierigen Entdecker“, sagte sie und strich Asriel mit der freien Hand über den Kopf. Chara dagegen beobachtete den anderen Arm, den ihre Mutter hinter ihrem Rücken versteckt hielt. Sie versuchte einen besseren Blick darauf werfen zu können, doch Toriel schob sich immer wieder in ihr Sichtfeld.

„Ihr bekommt die Überraschung gleich, ihr müsst nur kurz eure Augen schließen und die Hände nach vorne ausstrecken. Am besten so, damit ich eure Geschenke auch hineinlegen kann“, sagte sie und ihre Kinder gehorchten sofort.

Innerlich versuchten sie zu erraten, was die Überraschung sein könnte, Toriel konnte es an ihren Mienen ablesen. Lächelnd holte sie ihre andere Hand hervor und verteilte den Inhalt zu gleichen Teilen unter den beiden Kindern auf. Was auch immer ihre Kleinen vermutet hatten, mit dem, was sie nun spürten, hatten sie offenbar nicht gerechnet. Für einen kurzen Moment zuckten sie zusammen. Auch ihre Mienen sprachen ihre Irritation aus.

„Ihr könnt eure Augen wieder aufmachen“, sagte Toriel mit warmer Stimme und der Aufforderung gingen die beiden sofort nach.

In ihren Händen hielten die beiden eine längliche, einfach wirkende Schokoladentafel. An jeweils einer Ecke befand sich eine aufgedruckte Schleife, mittig befand sich ein weißer Text. „Herzlichen Glückwunsch“, stand handschriftlich auf der Packung geschrieben.

Asriels Augen weiteten sich vor Freude.

„Schokolade? Und dann auch noch eine von Hielefrau? Wahnsinn, danke Mama, du bist echt die Beste!“

Sofort stürmte der kleine Prinz auf seine Mutter zu und umarmte sie, so fest er konnte. Toriel lächelte ihren Sohn an und streichelte ihm erneut den kleinen Kopf.

„Freut mich, dass es dir gefällt. Ich weiß, du magst die Sorte und wir haben sie dir ja schon lange nicht mehr geschenkt. Aber du und Chara, ihr habt euch beim Lernen so viel Mühe gegeben. Das sollte schon belohnt werden!“

Daraufhin kuschelte sich ihr Sohn noch enger an sie. Toriel wusste, sie würde ihn nicht mehr so schnell losbekommen, doch es war ihr recht so. Während sie ihren Sohn betrachtete, fiel ihr auf, dass Chara bisher keinen Laut mehr von sich gegeben hatte.

„Chara, ist alles in Ordnung? Habe ich einen Fehler gemacht? Magst du etwa keine Schokolade?“, fragte Toriel und sah ihr Kind nun genauer an. Diese stand vor ihr, starrte auf die Tafel in ihren Händen und schwieg. Sie regte sie nicht und gab keinen Ton von sich.

„Chara, mein Kind, ist alles in Ordnung?“

Asriel ließ von seiner Mutter ab und drehte sich zu seinem Geschwisterchen um, den Arm halb ausgestreckt, unsicher, was er nun tun sollte.

Doch Chara sagte nichts. Stattdessen begann ihr ganzer Körper zu zittern und zu beben. Mit einer Hand begann sie ihre Augen zu reiben. Toriel wusste, dieses Mal war es nicht gespielt, sondern eine aufrichtige Reaktion.

„Oh Chara, meine kleine Chara! Komm zu Mama Toriel!“, sagte sie, ging auf ihre Tochter zu und öffnete ihre Arme. Darauf wartend, dass Chara das Angebot annahm. Was sie auch tat, sofort rannte sie los, vergrub ihr Gesicht in Toriels Kleid und ließ ihren Tränen nun endgültig freien Lauf.

„Mein Kind, wenn ich doch nur wüsste, was mit dir los ist. Habe ich dich verletzt? Wenn ja, dann war es nicht meine Absicht…“

Chara schwieg nach wie vor, doch sie schüttelte wild den Kopf. Toriel spürte es, wie die kleine Kindernase an ihrem Bauch entlangrieb, von einer Seite auf die andere und wieder zurück. Sachte tätschelte sie den Kopf ihrer Tochter.

„Lass es ruhig raus, lass es alles raus, damit du dich später besser fühlen kannst“, sagte Toriel und Chara ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie weinte und weinte, während ihre Mutter sie nichts weiter spüren ließ als ihre reine Mutterliebe. Und auch Asriel strich ihr ab und zu über den Rücken.

 

Es dauerte jedoch eine längere Zeit, bis sich Chara so weit beruhigt hatte, dass Toriel sie wieder loslassen konnte. Lange hatte sich Chara mit der Hand in ihrer Kleid gekrallt und sie festgehalten. Wenn Toriel aufhörte, ihre Tochter zu streicheln, brummte diese mürrisch vor sich hin.

So hatte sie immer weiter gemacht. Bis Chara sich schließlich von ihrem Kleid losriss und ein paar Schritte zurückging.

„Hier, für dich“, sagte Asriel und reichte seiner Schwester ein Taschentuch, welches sie annahm und auch sofort nutzte. Kaum hatte sie sich die letzten Tränen wie auch den Rest an Nasenschleim aus dem Gesicht gewischt, sah sie Toriel ins Gesicht.

Der Bereich rund um die Augen rot und verweint, der Blick unsicher und verletzlich.

Toriel hob ihre Hand und legte sie auf Charas Wange.

„Mein Kind, wenn du darüber reden möchtest, kannst du das gerne machen. Aber du musst es nicht, wenn du dich unwohl fühlst.“

Toriel versuchte so verständnisvoll wie möglich zu klingen. Sie alle hatten einen vagen Eindruck von Charas Vergangenheit, wie ihr Leben war, bevor sie das Dorf verlassen und Mount Ebott aufgesucht hatte. Es musste etwas damit zu tun haben, da war sich Toriel sicher. Doch sie wollte ihre Tochter nicht zu Details befragen, die sie offenbar noch zu sehr verletzten.

Dieses Feingefühl fehlte ihrem Sohn, er hatte noch keine schlimmen Erfahrungen gemacht und wusste nicht damit umzugehen.

„Warum weinst du Chara? Magst du keine Schokolade?“, sprach er die Schlussfolgerung aus, zu der sein kindlicher Verstand in der Lage war zu kommen.

Wieder schüttelte Chara wild den Kopf. Dann sah sie wieder Toriel an.

„Danke Mama. Das ist … die ist wirklich für mich?“, fragte sie. Ihre Stimme klang schwach und brach immer wieder ab. Dabei wanderte Charas Blick immer zwischen ihrer Mutter und der Schokolade hin und her. Toriel lächelte sie sanftmütig an.

„Aber natürlich, mein Kind. Das ist allein deine eigene Schokolade. Immerhin hast du dir auch sehr viel Mühe beim Lernen gegeben, nicht nur Asriel. Er isst diese Sorte sehr gerne, also dachte ich mir, dass es dir auch gefallen könnte.“

Chara starrte ihre Schokolade an, als hielte sie den wertvollsten Schatz der Welt in ihren kleinen Kinderhänden.

„Mach sie mal auf und probiere mal ein Stück. Die ist sehr, sehr lecker“, sagte Asriel in einem lobenden Ton. Unsicher, als würde sie auf eine Erlaubnis warten, sah Chara ihre Mutter an.

„Normal sollte man vor dem Essen nichts Süßes zu sich nehmen, aber ich denke, wir können hier eine Ausnahme machen. Du kannst gerne ein kleines Stück probieren“, sagte sie und so begann Chara, ihre Schokolade auszupacken. Erst riss sie die Plastikpackung ein wenig auf, dann schob sie die Alufolie zur Seite.

Darunter steckte eine normal aussehende Schokoladentafel, hellbraun und verführerisch. Chara leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen, dann schob sie vorsichtig die Ecke in ihren Mund – und biss ab.

Sofort liefen ihr weitere Tränen über die Wangen, während sie genüsslich auf dem kleinen Stück Schokolade herumkaute. Ihre Wangen färbten sich rot und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.

„Siehst du! Ich sage doch, dass sie super-duper lecker ist!“, sagte Asriel und grinste stolz seine Schwester an. Diese dagegen wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Vielen Dank, Mama, die ist … so unglaublich lecker. Und wie sie auf der Zunge schmilzt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich irgendwann wieder so eine gute Schokolade essen würde. Und nicht immer diese eklige, die ich sonst immer bekommen habe…“

 

Neugierig blickten die beiden Dreemurrs Chara an, diese dagegen legte ihre Schokolade auf ihrem Nachtkästchen ab.

„Wie meinst du das? Schokolade, die eklig ist? Wie kann Schokolade eklig sein?“, wollte Asriel nun von ihr wissen. Chara drehte sich zu ihm um, das Lächeln war wieder verschwunden.

„Das geht ganz einfach, Asriel. Wenn man nur die billigsten Zutaten verwendet, sie grob verarbeitet und das fertige Produkt so bitter und trocken macht, wie nur möglich. Ich dachte oft, ich esse einen staubigen, bitteren Riegel, wenn ich sie gegessen habe.“

Angewidert verzog Asriel sein Gesicht und streckte die Zunge heraus.

„Das ist ja grausam, was für Menschen machen denn sowas? Das ist furchtbar, einfach schrecklich!“

Asriel verstummte, als er Toriels warnenden Blick sah, doch es schien Chara nicht zu stören. Sie setzte sich auf den Rand ihres Bettes und starrte den Boden an. Als sie ihren Blick wieder hob, war er kalt und leer.

„Menschen wie meine Erzeuger es waren, die machen sowas“, sagte sie ohne den Hauch einer Emotion in der Stimme.

Besorgt legte nun auch Asriel seine Schokolade ab, bevor er sich zu seiner Schwester aufs Bett setzte. Und auch Toriel näherte sich den beiden, bereit, Chara erneut in eine tröstende Umarmung zu nehmen.

„Möchtest du darüber reden, meine Liebe? Wenn nicht, ist das auch vollkommen verständlich“, sagte Toriel vorsichtig, langsam, um Chara nicht unter Druck zu setzen. Diese sah ihre Familienmitglieder an, zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück. Ihr Blick fiel an die Decke und blieb dort haften.

„Nein, ist schon in Ordnung. Ihr seid meine Familie, ich denke, ihr solltet es wissen. Ist nichts Großes dabei, nur ein Teil meiner Vergangenheit“, sagte Chara in einem Ton, der viel zu reif für ihr Alter klang. Ernst, abgestumpft und voller Leere. Ein Ton, wie er kein normales Kind der Welt hinbekommen sollte.

„Ihr wisst ja, wie mich dieses Dorf … diese Menschen behandelt haben. Das habe ich euch schon erzählt“, sagte Chara, kaum dass sie ihren Blick wieder gesenkt hatte. Die Augen verschlossen, setzte sie sich aufrecht hin und wartete auf eine Reaktion. Doch es kam keine. Chara hatte nun das Mikrofon und selbst Asriel spürte, dass er sie dabei nicht unterbrechen wollte.

„Sie haben mich wie Dreck behandelt, gefürchtet und gemieden. Und das alles nur, weil ihnen meine Augenfarbe nicht gepasst hat. Richtige Ungeheuer waren das und doch waren sie es, die Angst vor zwei kleinen, roten Pupillen hatten. Lächerlich, richtig lächerlich.“

Chara atmete tief ein und aus, ihre Hand fiel zur Seite weg und Asriel legte vorsichtig die seine hinein. Sofort drückte Charas Hand fest so, Asriel war ihr Rettungsanker, das konnte selbst er verstehen.

„Naja, eigentlich waren nicht all diese Menschen so furchtbar zu mir. Es gab mal für eine Zeitlang eine alte Frau, die mir auch hin und wieder Schokolade geschenkt hat. Sie hatte nie viel Geld und musste sich immer wieder was auf die Seite legen, wenn sie mir was kaufen wollte. Aber dafür war sie sehr nett. Meine Augen waren ihr egal und überhaupt schien sie mich ganz normal zu behandeln. Nett, so wie ihr es tut.“

Ihr Blick verfinsterte sich, wie immer, wenn sie über ihre Vergangenheit zu sprechen kam. Von der Seite kam ein Schmerzensschrei, erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihre Hände zu Fäusten geballt hatte. Doch in einer davon steckte noch immer die von Asriel. Sofort lockere Chara ihre Finger, aber ihr Bruder gewährte ihr den Halt nach wie vor. 

„Die alte Frau war sehr nett, ich habe sie nur mal rein zufällig getroffen, als ich beim Spielen draußen war“, begann Chara weiter zu erzählen.

„Genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie es angefangen hat. Vermutlich, weil sie so allein in ihrem Garten saß und sie mir irgendwie leidgetan hat. Danach habe ich sie öfters besucht. Sie hat mir immer eine kleine Tafel Schokolade geschenkt und ich habe ihr dafür zugehört, wenn sie mir eine ihrer Geschichten erzählt hat. Alte, neue, oder welche, an die sie sich nicht mehr so gut erinnern konnte. Es hat Spaß gemacht, es war eine schöne Zeit. Sie hatte immer wieder etwas Neues oder Interessantes zu erzählen. Als könnte ich von ihr noch was lernen, für mein eigenes Leben.“

Chara seufzte bei der Erinnerung ein wenig, und ihre Lippen verzogen sich zu einem unsicheren Lächeln. Einem, das von Schmerz und Nostalgie geprägt war.

„Sie war in diesem gesamten Dorf die Einzige, die mich wie einen ganz normalen Menschen behandelt hat. Bei ihr konnte ich mich auch aufgehoben fühlen. Und hatte ich etwas gut gemacht, wie ihr das eine oder andere Mal im Haushalt geholfen, hat sie mich später mit einer besonders leckeren Sorte überrascht. Wenn ich dagegen an meine Erzeuger denke …“

Chara begann mit den Beinen zu schaukeln, sich ihre nächsten Worte gut zu überlegen, bevor sie sie aussprach. Erneut war sämtliche Fröhlichkeit aus ihr gewichen.

„Die alte Frau hatte mich auch immer wieder getröstet oder gelobt, auch hatte sie den einen oder anderen Rat für mich. Meinen Erzeugern dagegen war ich egal, vermutlich hätten sie irgendwann nach einem Weg gesucht, wie sie mich loswerden könnten. Nun, den Teil habe ich ihnen ja dann abgenommen, als ich weggelaufen bin.“

Toriel ging vor ihrer Tochter in die Knie, der Herzschmerz stand ihr ins Gesicht geschrieben. Chara bemerkte dies und bemühte sich um ein schwaches Lächeln.

„Wie … wie meinst du das?“, wollte Asriel nun von ihr wissen.

„Es ist einfach viel passiert, weißt du? Irgendwann hatte ich genug, aber war mir unschlüssig, ob ich es tun soll. Wegzulaufen und woanders ein neues Leben beginnen. Bis dann dieser eine Tag kam …“

„Der Tag, an dem du dich entschieden hast, wegzugehen?“

„Ja, genau“, sagte Chara und lächelte schwach ihren Bruder an.

„An diesem Tag kam ich ein bisschen zu spät zu unserer Verabredung. Ich hatte zuvor besonders schöne gelbe Blumen gefunden, davon habe ich einen kleinen Strauß gepflückt, um ihn der alten Frau zu schenken. Damit sie die in eine Vase stellen und sich freuen kann. Aber als ich an ihrer Tür stand, hat nicht sie mir aufgemacht, sondern die Männer aus dem Dorf. Der Schmied, der Metzger und noch andere. Sie alle standen in dem Haus der alten Frau, als hätten sie nur auf mich gewartet.“

Charas Blick wanderte von Asriel quer durch den Raum, als suchte sie nach Worten oder Halt. Doch sie fand nur eines von beiden.

„Offenbar war das die Dorfälteste, mit der ich so viele schöne Nachmittage verbracht hatte. Sie war im Dorf hoch angesehen und man hatte sich deshalb Mühe gegeben, mich nicht so schlimm zu behandeln. Zumindest in den Momenten, in welchen sie es mitbekommen würde.“

Chara biss sich auf die Unterlippe, ließ diese jedoch los, als sie Toriels warme Hand auf ihrer Wange spürte.

„Bis die alte Frau nicht mehr da war. Ich weiß nicht, was genau passiert ist, aber irgendwann ist sie wohl in ihrem Bett gestorben. Eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Sie haben mir die Schuld gegeben, meinten, ich hätte ihr bei all meinen Besuchen die Lebensenergie ausgesaugt, bis sie keine mehr übrighatte.“

Wieder ballte sie ihre Fäuste, achtete jedoch darauf, Asriel nicht wehzutun.

„Danach wurde ich noch mehr gemieden, aber sie wurden auch … gemeiner. Sie begannen Sachen nach mir zu werfen, ich war schon froh, wenn es weiche Dinge waren wie verschimmelte Tomaten und nicht wieder ihre Stiefel. Irgendwann haben sie eingesehen, dass sie die Stiefel auch wieder einsammeln müssen nach dem Werfen, und dass es ihnen niemand abnehmen würde. Da hatte ich dann genug. Es reichte mir und ich sah nur noch einen Ausweg. Eigentlich hätte ich Pilze sammeln sollen, doch es war mir egal. Ich drehte mich in die Richtung des Bergs und begann zu rennen. Immer weiter und weiter zu laufen. Mein Erzeuger hat mich zwar gesehen, aber nicht aufgehalten. Vermutlich war es ihm ganz recht, dass ich aus seinem Leben verschwinden würde.

Und ich? Ich bin gelaufen, immer weiter und weiter, bis … naja, bis ich die Höhle fand, über eine Wurzel stolperte und hier heruntergefallen war…“

Weiter kam Chara nicht, warme Arme nahmen sie in eine vorsichtige Umarmung, welche sie sofort erwiderte. Tränen liefen über ihre Wangen, doch sie spürte schnell, dass es nicht nur ihre eigenen waren.

Auch Asriel hatte zu weinen begonnen, sie konnte seinen Schluckauf dabei mehr als deutlich hören.

„Mein Kind, es tut mir furchtbar leid, was du alles durchmachen musstest … aber das ist jetzt vorbei. Diese Menschen können dir nichts mehr tun, dafür hast du uns. Deinen Bruder, deinen Vater und auch mich. Egal, was passiert, wir werden immer für dich da sein und uns um dich kümmern.“

Toriel nahm Chara aus der Umarmung heraus und legte sachte ihre Hände um das kleine Kindergesicht.

„Du wirst immer unsere Tochter sein, Chara. Wir werden dich immer lieben, als hätten wir dich selbst in diese Welt gebracht. Du kannst immer zu uns kommen, wir werden mit dir lachen oder mit dir weinen. Die Zeit der Einsamkeit ist vorbei und wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um dich glücklich zu machen. Denn genau das hast du bereits mit uns getan: Uns glücklich gemacht. Nur durch deine reine Existenz.“

„Ja, und ich werde immer dein Bruder sein. Deine Streiche können manchmal ein bisschen fies sein, aber das ist ok, denke ich“, mischte sich nun Asriel ein.

„Außerdem ist an deinen Augen nichts Schlimmes, damit passt du super zu uns. Unsere sind zwar dunkelbraun, aber ein bisschen rot steckt auch drin. Sagt Mama immer.“

Das brachte Chara zum Kichern, wovon sich ihr Bruder schnell anstecken ließ. Auch Toriel begann wieder ein wenig zu lächeln.

„Danke euch beiden, ich fühle mich schon besser“, sagte Chara und sah die beiden abwechselnd an.

„Ja, das hier ist meine Familie und wird es auch immer sein. Für immer und ewig.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück