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Des Nachts sind die Labore still

Wie Josh zu Mael fand
von

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Idiot

Kapitel 12: Idiot
 

Nicht nur ich erstarrte diesen einen Moment. Alle Umstehenden waren für Sekunden wie eingefroren. Keine Ahnung was in ihnen vorging. Ich für meinen Teil fand erst zu mir zurück als meine Hände sich bereits schmerzhaft zu Fäusten geballt hatten, das Weiß meiner Knöchel stach pochend hervor.
 

Joshua ließ von Binks ab. Es war nur ein Küsschen gewesen. Maximal eine Sekunde oder zwei, die sich ihre Lippen berührt hatten. Mir war indes heiß und kalt geworden. Wut füllte meinen Bauch, während mein Herz schmerzhaft verkrampfte. Hinzu kam eine Angst, welche sich in ihrer Gänze bis in meine Glieder ausbreitete, sodass meine Finger binnen von Sekunden eiskalt geworden waren.
 

Binks schlug perplex Richtung Joshua und wischte sich forsch über den eigenen Mund. „ALTER, WAS STIMMT NICHT MIT DIR!“, keifte er los. Beinahe schützend zog er Evelin in seine Arme. „Ich bin nicht schwul, verdammt. Ich hab´ne Freundin! Was soll der Scheiß? Entschuldige dich bei ihr!“
 

Ich fragte mich, warum Joshua sich bei Evelin entschuldigen sollte? Andererseits … vielleicht fühlte sie sich gerade ähnlich wie ich mich und ja, dann war eine Entschuldigung DRINGEND nötig.
 

Joshua stand gelassen da und maß Binks mit kalten Augen. „Schade, ich schon manchmal.“
 

Wäre ich nicht so verdammt wütend, hätte ich sogar über diese Aussage gelacht. Joshua war bi. Manchmal schwul zu sein, stimmte da durchaus.
 

„Aber du bist nicht mein Typ. Zu kleinkariert und kurzsichtig.“ Joshuas Blick wurde noch kälter. Da er größer war als Binks, war es ein leichtes ihn von oben herab anzusehen, wodurch sein Blick noch vernichtender wirkte. „Du hast keine Ahnung und lässt dir die guten Dinge entgehen.“
 

Binks war so perplex, dass statt Worten ein undefiniertes Glucksen seine Kehle verließ. An Evelin gerichtet, switchte Joshua zu einem sanften Lächeln. „Verzeih mir, aber er gehört nun ganz dir.“
 

Ich war noch immer sprachlos. Evelin jedoch schien etwas besänftigter nach diesem Lächeln und den Worten.
 

„Da wir hier fertig sind, hast du jetzt ja Zeit. Komm Mael.“
 

Ich war noch immer an Ort und Stelle festgefroren. Ich spürte mein Gesicht aufflammen vor Scham und brachte kein Wort heraus. Sicher ich hatte gesagt, dass ich keine Lust hatte mit ihnen in eine Bar zu gehen, aber glaubte Joshua, dass ich nach der Aktion mit ihm mitgehen wollte?
 

Es war ein Wort, welches den Rest der Gruppe wieder ins Hier und Jetzt holte. Da mein Blick starr auf Joshua und Binks gerichtet gewesen war, war mir ihre Reaktion völlig entgangen. Nun schienen sie getriggert zu sein. Gerade Tobias verzog misstrauisch das Gesicht. Tobias und Binks kannte ich am längsten. Bis auf die Sache mit dem Verliebt sein, waren sie meine besten Freunde. Wichtiger noch, sie wussten so ziemlich alles über meine Eltern und mich und wie wunderbar unser Verhältnis zueinander war. Anders als Joshua, dem ich davon wohl nie erzählen würde. Einfach weil ich nicht wollte, dass er dieses Kapitel meines Lebens kannte.
 

„Was? Mael? Wer ist Mael?“, fragte Shin, der sich erst in der zehnten Klasse unserer Clique angeschlossen hatte und nicht mal wusste, dass ich zwei Vornamen besaß.
 

„Max‘ Zweitname“, erklärte Tobias schlicht. Mir wurde heiß und kalt. Der Schock von eben löste sich und wandelte sich in heillose Empörung und Fluchtangst.
 

„Echt? Wusste ich gar nicht!“, erwiderte Shin. Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging mit großen Schritten von dannen. Ich sah nicht zurück, ob Joshua mir folgen würde, doch ahnte, hoffte und wünschte ich es mir nicht. Die Anderen blieben in ihrer Traube stehen und ich hörte sie noch viel zu lange Reden.
 

„War ja auch nicht wichtig“, klärte Tobias weiter auf. „Er mochte diesen Namen nie, weil er ihn an das Terrorregime seiner Mutter erinnert.“
 

„Nenn ihn einfach nicht so“, stimmte Binks zu, der sich scheinbar wieder gefangen hatte, als das Thema wechselte.
 

„Hm, ok ok, mach ich nicht. Aber schon komisch oder? Max und der Typ schienen sich zu kennen. Warum darf er ihn dann so nennen?“, sprach Shin weiter.
 

„Als Arbeitskollegen. Aber ihn so zu nennen, selbst wenn sie sich nahestehen, ist wirklich hart für Max.“
 

„Aber … es kann nicht sein, dass Max gemobbt wird oder so was?“, fragte Evelin. „Wisst ihr noch, dass er mal kurz nach Antritt bei jedem angerufen hatte?“
 

„Stimmt. Ich konnte damals nicht, aber er machte viele Angebote, wollte sogar vorbeikommen.“
 

„Er hat euch angerufen? Mich nicht“, sagte Binks.
 

„Sicherlich hat er das. Du hast es bestimmt nicht mitbekommen. Zuerst sollten wir in Erfahrung-“
 

Tobias‘ Stimme riss endlich ab, als ich in eine der engen Gassen abbog. Ich wollte nichts von ihnen hören und ging ohne nachzudenken. Rechts, Links, Rechts, Rechts, Links, ein Stück gerade aus und wieder Links. Was mich aufregte, war nicht, dass Joshua mich Mael genannt hatte, sondern dass ich mich von allen zusammen in eine Ecke gedrängt fühlte. Daher auch die Flucht. Meine Freunde kannten diese Seite von mir und Joshua eine andere. Was Joshua kannte, war aktuell und ebenso wahr, wie das Vergangene. Doch hing ich aus gewissen Gründen nicht mehr dem nach, was mal gewesen war. Lieber wollte ich mit Joshua zusammen neue Ufer entdecken. Aber just in diesem einen Moment kollidierten meine Wünsche miteinander und zeigten mir die Unmöglichkeit dessen auf. Ich konnte nicht alles bewahren. Irgendwas würde ich aufgeben müssen!
 

Ganz in alten Gepflogenheiten gefangen, ersonnen diese Idioten sich was zurecht. Mobbing?! Ich? Hackt es? Es war genau die andere Richtung! Aber wie hätte ich das vor ihnen offen sagen sollen, wenn ich nie auch nur im Ansatz hatte durchblicken lassen, dass ich auf Männer stehen könnte. Binks verschwieg ja alles. Durch Joshuas Aktion war es noch deutlicher geworden, dass Binks Männern eindeutig nichts abgewinnen konnte. Was hatte ich mir nur dabei gedacht ihn mal toll zu finden?!
 

Ich fühlte mich elend und so langsam blieb mir die Luft weg. Ich mochte meine Freunde wirklich sehr. Aber ich hatte mich eben verändert, vor allem im letzten halben Jahr. Sie waren die besten Freunde zu einer Zeit als es angebracht war, gegen Eltern zu rebellieren und sich aufzulehnen. Aber nun brauchte ich Personen, die ruhiger waren, aufgeklärter. Jemand, der gerade genug von mir wusste, um ein Gespräch zu führen. Eben Menschen wie Joshua und Elias.
 

Die Gegend, in welche ich gerannt war, bestand aus vielen alten Fachwerkhäusern. Ihre Anordnung war schon ein Phänomen für sich. Als die Stadt noch jung war, gab es viele Grundbesitzer. Ein jeder baute um sein Haupthaus mehrere Nebenhäuser. Die Anordnung war meist ein runder oder viereckiger Hof. Irgendwann standen die Häuser so dicht beisammen, dass es zwischen ihnen nur noch enge Gassen gab. Es gab nur einen Hauptweg, die heutige Einkaufsmeile, von der ich eben geflohen war, und der Platz bot für zwei Autos dicht nebeneinander. Die fuhren hier zwar nicht, aber mal als Maßstab. Vom Hauptweg abweichend gab es etliche andere Gassen und kleinere Höfe. Ich war in einer dieser Gassen stehen geblieben, welche vielleicht noch knappe zwei Meter in der Breite maß. Die Hauswände zogen sich fensterlos zu beiden Seiten hoch. In gut zwei Metern über mir wurden sie breiter und berührten sich beinahe. Allein das verdunkelte die Gasse um einiges. Hinzu kam die fortschreitende Nacht und dass nur auf den kleinen Höfen davor und danach Laternen standen und Licht spendeten.
 

Ich stand nicht nur im Dunkeln, sondern fühlte mich aufgewühlt und schäbig, perfekt für dunkle Gefilde. Zugleich war mir nach Weinen und Fluchen zumute. Während ich geflohen war, hatte ich die Schritte hinter mir immer wahrgenommen. Sie waren nicht aufdringlich, sondern folgten mir einfach beständig. Ich drehte mich um und blickte Joshua an. Keine Ahnung was ich für ein Gesicht machte, Joshua wich nicht zurück. Wut quoll wieder in mir hoch. Nein, bleib sachlich, frag nach, was das sollte und kläre das, ermahnte mich ein kleiner vernünftiger Teil meines Hirns. Man rechnete meinem Hirn den Einwurf hoch an, doch alsbald ich den Mund öffnete, war jeder klare Gedanke von einem Schwarm aus Emotionen erstickt worden.
 

„BIST DU VON ALLEN GUTEN GEISTERN VERLASSEN?! Du kannst nicht einfach so eine Bombe platzen lassen!“
 

„Die verkraften das schon“, antwortete Joshua viel zu gelassen für mich.
 

„Sie vielleicht, aber was ist mit mir?" Bald werden sie mich mit Fragen löchern. Klar, wenn ich mit Joshua zusammenbleiben wollte, würde das früher oder später eh der Fall sein, aber mir wäre später lieber. Zumal ich noch nicht mal wusste, was das mit Joshua und mir überhaupt war?!
 

„Ist es denn wirklich ok, wenn ich dich so nenne?“
 

„Wie?“, fragte ich fahrig, weil ich gedanklich bereits woanders war.
 

„Mael. Sie sagten gerade, dass du den Namen nicht leiden kannst.“
 

Ich war noch wütend, spürte aber wie meine Wangen heißer wurden. Wie immer, wenn Joshua mich so nannte. Wirklich immer. Warum sollte ich wollen, dass er damit aufhörte?
 

„Is’ok“, nuschelte ich und sah flüchtig weg. Aber eben nur Joshua, niemand anderes. Auch nicht Elias. Das brachte mich zu einem anderen Thema, welches mich brennend interessierte.
 

„Was sollte das eben eigentlich?“
 

Nun war es Joshua, der aus seinen Gedanken gerissen wurde. „Was meinst du?“
 

Verärgert sah ich ihn an, die Fäuste geballt. „Du hast Binks geküsst. Was sollte das?“ Sie sahen sich zwei Sekunden und schon küsste Joshua ihn?! WTF! „Du kennst ihn nicht mal. Was hat er bitte an sich, dass du … er ist nicht an Männern interessiert!“, rief ich laut aus, mein Stimmton scharf, und sah Joshua direkt an. Mein Gesicht war sicherlich eine wunderbare Mischung aus Verzweiflung und Zorn. Ich war vor allem sauer auf Binks. Dieser Typ … reichte doch, dass ich ihm einst verfallen war. Ich erlaubte es nicht, dass Joshua der Nächste sein sollte. Nein, nein, nein. Joshua sollte sich nur für mich interessieren. Und wenn das nicht möglich wäre, dann bitte jeden anderen auf der Welt, nur nicht Binks! Keine Ahnung woher diese Furcht genau kam, doch innerlich zitterte ich so sehr bei dem Gedanken, Joshua an Binks verlieren zu können, dass sogar mein Magen sich verkrampfte.
 

„Dass er an Männern nicht interessiert ist, sieht man auf den ersten Blick.“ Hä? Verdutzt blinzelte ich. Ach, sah man das? „Aber du stehst doch auf ihn, oder nicht? Ich wollte dir nur zeigen, dass bei solchen Typen Hopfen und Malz verloren ist.“
 

Ich habe auf ihn gestanden, sicherlich, aber jetzt doch nicht mehr… Ich … Mein Denken war so lahm geworden, dass ich Joshua weiterhin sprachlos anstarrte. Nur ganz langsam realisierte ich sein verärgertes Gesicht, die leicht nach unten gezogenen Augenbrauen und die abwehrende Haltung.
 

„Normalerweise mische ich mich in so was nicht ein. Aber nachdem du mich geküsst hast, verstärkte sich mein Verdacht, dass du das nur aus flatterhaftem Interesse machst. Zum Ausprobieren.“
 

„B-Bockmist“, entkam es mir ungläubig.
 

„Es war auch offensichtlich, dass du noch wenig Erfahrung mit Beziehungen zwischen Männern hast. Mittwoch wollte ich dich danach fragen, aber das Telefonat kam dazwischen. Ich wollte dir die Zeit geben und dich morgen nach all dem fragen. Ich glaubte auch nicht daran, dass du „andere Männer nicht küsst“. Aber wie sonst auch kam irgendwas dazwischen. Mal bist du total süß und flirtest, dann distanziert du dich und stößt einen weg. Wenn du dich ausprobieren willst, dann mach das, aber sag der Person mit der du spielst, woran sie ist.“
 

„Ich spiele…?“ Wieder überfiel mich ein eiskalter Schauer. Joshuas Worte und sein Blick waren schlimmer als jede Ice-Bucket-Challenge.
 

„Es war nur Zufall, dass ich dich heute getroffen habe. Das mit Binks…“, Joshua zuckte die Schultern. Er wirkte gelassen und gleichgültig. „… war spontan. Falls du ihn wirklich küssen wolltest, kannst du dir den Kuss gerne von mir abholen.“
 

Meine Augen wurden noch größer. Ich hatte keine Beweise, doch glaubte ich, etwas wie Eifersucht oder Missgunst in Bezug auf Binks herauszuhören. Joshua hatte sich alles gemerkt, jedes Fitzelchen, was ich je von mir gegeben hatte und war zu diesem Ergebnis gekommen? Hatte er gefürchtet, dass ich noch in Binks verliebt war? Dass ich nicht sah, wie er in seiner Beziehung aufging und immer noch Hoffnungen hegte? Glaubte er wirklich, dass ich Binks nach all den Jahren immer noch küssen wollte?
 

Mein Herz raste und ich spürte wie ungeduldige Hitze sich in mir breit machte.
 

„DU IDIOT!“, schrie ich ihn an. Mir zitterten die Lippen und mein Blick wurde zu einem Tunnel, der nur noch Joshua wahrnahm. „Der, den ich die ganze Zeit küssen will, bist du!“
 

Ich hatte wirklich keine Ahnung von Geständnissen. Ich war nicht ruhig, nicht cool, nicht niedlich oder charmant. Nichts was ansprechend genug war, damit Joshua mich wählen würde. Stattdessen stand ich völlig aufgelöst vor ihm. Den Tränen nahe, die Hände geballt und ein Wust an Emotionen in mir, dass ich glaubte, der Boden würde schwanken. Die Pause, die zwischen uns entstand, fühlte sich ewig lang an. Joshuas Blick war nicht von mir gewichen. Dafür weiteten sich seine Augen etwas und aller Ärger verschwand aus seinem Gesicht.
 

„Dann mach es doch.“
 

„Was?“
 

Joshuas sah mich wieder ernst an. Aber nicht im negativen Sinne. Er trat auf mich zu und mein Herz machte einen Satz. Schneller als vorher ging es in einen Spurt über als Joshua mir das Kinn anhob und näherkam. Als sich kühle Lippen auf meine legten, blieb mir das Herz fast stehen. Zögerlich nahm ich an. Unsicher legte ich eine Hand auf seine Brust und spürte wie sein linker Arm sich um meine Taille legte. Mir fielen die Augen zu und ich verlor mich für einen Moment. Ich hatte geahnt, dass Joshua gut küssen konnte, aber das hier war weit von dem entfernt, was ich mir gewünscht hatte. Er schmeckte nach Zigaretten und Schokolade. Verglichen mit früheren Küssen mit Anderen, die sich in der Ausführung kaum unterschieden hatten, verschlug dieser mir den Atem und ließ meine Arme und Beine weich werden. Ich stand nur noch, weil ich mich gegen Joshua lehnte und beide Arme um seinen Nacken geschlungen hatte.
 

Als wir voneinander ließen, war ich hin und weg. Mein Blickfeld hatte sich komplett Rosa verfärbt und ich hatte das Gefühl vor Glück überzuquellen. Besonders als ich Joshuas Gesicht sah. Seine Augen glänzten und eine feine, kaum erkennbare Röte hatte sich auf seine Wangen gelegt. Ich grinste unwillkürlich. Mehr noch als mir aufging wie geschockt Binks sich verhalten hatte. Dabei war es für mich das größte Glück von diesem Mann hier geküsst und so angesehen zu werden. Aber jedem das Seine.
 

Meinen Beinen traute ich gerade nicht, weshalb ich weiterhin an Joshua lehnte und mich mit beiden Armen um seinen Nacken an ihm hochzog. Durch die beiden starken Arme, welche sich irgendwann um mich geschlungen hatten, fand ich den nötigen Halt und blieb Joshua so nah wie nur möglich.
 

„Zählt der denn?“, fragte ich und blickte Joshua von einem ins andere Auge. „Das war doch der Kuss von Binks. Obwohl …, wenn er so gut küssen kann, sollte ich viellei-“
 

Joshua hatte eben noch mit mir um die Wette gegrinst. Doch je mehr Blödsinn ich erzählte und ihn aufzog, desto mehr verschwand dieses Lächeln hinter einer grimmigen Miene. Bis er es nicht mehr aushielt und mir einfach den Mund mit seinem verschloss. Ich grinste nur, zog mich näher und sah wenig später noch immer amüsiert in die grauen Augen.
 

„Wenn du unbedingt die Küsse zählen willst, nur zu. Aber ich sorge dafür, dass es bald zu viele sein werden, als das du noch mitkommst.“ Joshuas Blick blieb erst, ich schluckte ungewollt. Wenn er es so sagte, glaubte ich ihm sofort. Scheinbar froh meinen Unsinn unterbrochen zu haben, legte sich ein Grinsen auf Joshuas Lippen, welches seine Augen selbst in dieser dunklen Gasse noch leuchten ließ. Dieser diabolische Hauch, welchen ich dann und wann bereits bemerkt hatte, bescherte mir eine Gänsehaut und ein unsicheres Mundwinkelzucken.
 

Jetzt, wo die größte Anspannung fort und mein Gemüt deutlich ruhiger war, erreichten mich auch wieder die anderen Eindrücke um mich herum. Eben war meine Welt, meine ganzen Sinne, nur auf die Person vor mir gerichtet gewesen. Wie er mich hielt, mich ansprach, mich ansah, wie er küsste. Nun erreichte mich erst die zunehmende Kälte der Nachtluft, gefolgt von der Tatsache, dass ich mit Joshua in einer engen, dunklen Gasse stand. Was für ein Klischee, dachte ich bei mir, machte zugleich aber keine Anstalten mich zu lösen. Ich brauchte noch einen Moment, ehe ich sicher sein konnte, dass meine Beine mich trugen. Joshua sah sich ebenfalls um. Jeder von uns hatte einen Lichtschein im Rücken, welcher zugleich das Gesicht des anderen etwas erhellte. Diese kleinen Verbindungsgassen waren wirklich nicht lang. Während meine Ohren die Geräusche der fernen Einkaufsstraße wahrnahmen, betrachteten meine Augen jeden Zentimeter des Gesichtes vor mir. Joshua indes sah sich um. Seine Hände strichen meinen Rücken hinauf und gaben mir zugleich mehr Raum. Schließlich landeten diese begabten Hände auf meinen Armen und ich zog sie, wenngleich etwas widerwillig, zurück. Stehen klappte ja ganz gut. Leider. Und ich wollte nicht sofort wie eine Klette wirken.
 

„Ist dir kalt?“ Laut der enormen Gänsehaut auf meinen Unterarmen, ja. Doch ich schüttelte den Kopf. „Du hattest doch eine Jacke.“
 

DAS stimmte. Ich trug sie bis eben noch über meinem Arm, aber, aus mir unerfindlichen Gründen, lag sie dort nicht mehr. Joshua erspähte sie auf dem Boden neben mir. Ganz der Gentleman bückte er sich, schüttelte sie einmal aus und legte sie mir um die Schultern. Ich brauchte nur noch meine Arme durchzustecken. Wir waren uns immer noch nah, doch die hitzige Stimmung von eben ebbte ab und unser beider Verstand kehrte zurück.
 

„Dann ist zwischen dir und dem Typen nichts mehr?“
 

Die Frage traf mich etwas unvorbereitet. Die Zeit zum Scherzen war vorbei. Nun kam es auf Fakten an. Ehrlichkeit. Ich hielt es mit der Ehrlichkeit groß, wenngleich ich die Wahrheit oft und gerne außen vorließ oder nur teilweise wiedergab. Mit Joshua war es bisher immer etwas anders gewesen. Er, unter allen Menschen, sollte mir unbedingt glauben. Sollte meine Ehrlichkeit verstehen, nein, noch mehr, ich wollte, dass er mich wirklich verstand! Meine verdrehte Denkweise, meine unausgegorenen Gefühle, meine Unsicherheit und meine Ängste. Die ganze Wahrheit über mich als Person und Mensch. Nur hatte ich keine Ahnung, wie ich ihm das alles auf einmal begreiflich machen sollte.
 

Ich richtete meine Jacke und den Kragen. Dann sah ich auf die Knöpfe, die ich in aller Ruhe schloss, während ich ihm antwortete: „Zwischen uns ist nie etwas gewesen. Ich … ich hatte mich in ihn verliebt, aba das is‘ bereits Jahre her. Ich hab‘s ihm damals auch gestanden, bekam aba’n Korb. Wie du dir denken kannst, war er nicht sonderlich rücksichtsvoll dabei... Er wies mich an, wegen all dem meine Klappe zu halten. Naja“, ich zuckte mit den Schultern und blickte entschuldigend auf. „Meine Freunde denken, ich stehe nur auf Frauen. Wie hätte ich nach diesem Korb noch was anderes sagen können?“
 

„Hast du es nie versucht?“
 

„Doch, manchmal. Aber nachdem ich mir eingeredet hatte, da wäre nichts und alles weiter lief wie vorher, ging es nicht mehr.“ Ich schwieg einen Moment. Es war nicht nur, dass sie mich als Wendehals hätten beschimpfen können, sondern auch … „Ich denke, ich hatte Angst es ihnen zu sagen. Diese Worte von Binks waren so eindringlich, dass ich befürchtete, meine Freunde zu verlieren, wenn ich ihnen nicht entsprechen würde.“
 

Es war bereits eine implizierte Macke von mir, etwas vorweisen zu müssen, um einen Freund zu bekommen. Wie eine Rückversicherung, eine Begabung, welche mich für diesen Freund unverzichtbar machte. Sachlich betrachtet wusste ich, dass Freundschaft ohne eine solche Dienstleistung definiert wurde. Emotional war ich viel zu ängstlich und zurückhaltend. Dieses Thema wollte ich jetzt zumindest nicht näher erläutern. Joshua hielt es ähnlich. Er legte seine Hand an meinen Hinterkopf und zog meine Stirn zu sich, um mir einen Kuss darauf zu setzen.
 

„Wenn es echte Freunde sind, bleiben sie, egal auf was du stehst oder wie oft du deine Meinung änderst.“
 

„Mhm.“
 

„Dann … was wolltest du mir morgen sagen?“, fragte Joshua etwas zögerlich nach. Mein Schmunzeln wurde breiter und ich sah auf. So nah wie ich ihm war, hätte es genügt mich auf die Zehenspitzen zu stellen, um ihn zu küssen. Für jetzt begnügte ich mich mit einem vielsagenden Blick. Joshua spannte sich an und ich bemerkte aus den Augenwinkeln, dass er schluckte.
 

„Ich wollte dir von meinen Freunden erzählen und dass ich in einen von ihnen mal verliebt gewesen war. Dann wollte ich dir versichern, dass ich das, was ich bisher getan habe, nicht tat, weil ich zu der Sorte gehöre, die sich ausprobieren wollen oder weil es mir Spaß macht andere zu quälen und zappeln zu lassen.“ Obwohl ich unbewusst wirklich einige Bewerber hatte zappeln lassen. „Und dann wollte ich dich fragen, ob du trotz allem noch Interesse daran hättest mit mir auszugehen.“
 

Ich hatte meinen Blick nicht eine Sekunde von Joshuas Augen genommen. Nun wurden diese größer und Unglauben über meine Worte machte sich breit. Zugleich vernahm ich, dass er die Luft anhielt. Ich hob meine Hand und strich über seine Wange, ehe ich sie auf seiner Brust ruhen ließ. Verlegen senkte ich den Blick und sah schüchtern wieder auf. Ich bemerkte nicht einmal, wie ich mit meiner Mimik spielte. Es machte einfach nur Spaß Joshuas unmittelbare Reaktionen auf mein Handeln zu sehen.
 

„Damit meine ich … ob du … würdest du …“ Die Aufregung hatte mich doch wieder gepackt und ich begann, Wörter suchend, auf meiner Unterlippe zu kauen. „I-Ich mö- … B-Bitte geh mit mir aus!“, platzte es aus mir heraus. Ungewollt hatte ich mich in sein Shirt gekrallt und die Augen zugekniffen. Erst nach meinen patzigen Worten sah ich auf, hochrot im Gesicht und fügte an: „A-als mein f-fester Freund.“
 

Ob man das wirklich so machte? Ich war mir nicht sicher. Ich war mir absolut nicht sicher! Binks war ich damals mit: „Ich bin in dich verliebt. Gehst du mit mir aus?“, gekommen. Joshua wollte ich nicht die gleichen abgedroschenen Worte an den Kopf werfen. Allerdings fiel mir vor Aufregung und flatternden Herzen nichts Adäquates und Stilvolles ein. Ich blubberte und stotterte vor mich hin und verlangte sogar gleich, sein fester Freund zu werden, ohne eine gewisse Probezeit von ein paar Dates zu gewähren.
 

Unter meiner auf Joshuas Brust liegenden Hand spürte ich, dass er wieder zu atmen begann. Erst jetzt bemerkte ich, dass auch ihm eine ordentliche Röte ins Gesicht gestiegen war. Es schien ihm nicht minder peinlich zu sein wie mir. Seine Lippen pressten sich immer wieder fest aufeinander, formten eine dünne Linie, ehe die Lippen etwas rosiger und voller geöffnet wurden. Schlussendlich umarmte er mich fest. Da ich noch einen Arm zwischen uns hatte, fühlte ich mich etwas wie in einer Sardinenbüchse. Aber das war mir egal, als eine tiefe Stimme leise, süße Worte nahe meinem Ohr flüsterte:
 

„Sehr, sehr gerne. Es wäre mir eine Ehre.“ Ich schluckte schwer und fühlte mich federleicht.
 

Wie kam ich diesen Abend nach Hause? Nun, ich schlief nicht bei Joshua und er nicht bei mir. Wir fielen auch nicht sofort über einander her und trieben es die ganze Nacht. Nicht, dass ich so etwas erwartet hatte. Die Love Novels, welche ich derzeit angefangen hatte zu lesen (in Vorbereitung und Interesse), waren diesbezüglich sehr freizügig gespickt. In einigen wurde die erste gemeinsame Nacht, nach dem Liebesgeständnis, zu einer schlaflosen und erotischen Nacht ausgebaut. Es war nicht mein Stil. Auch wenn ich in einigen Fällen verstehen konnte, dass die Hauptcharaktere Druck hatten, so … nein, auch dann nicht. In meinen Augen wurde immer noch ein Organ des Körpers penetriert, welches nicht ursprünglich dafür ausgelegt war. Sicherlich, durch Übung und Sorgfalt würde nichts Schlimmes passieren, dachte ich mir. Ansonsten müssten ja alle Pornodarsteller ein gewaltiges Problem haben. Jedoch fand ich selbst nach eingehender Internetrecherche nicht zu 100% heraus, was mich erwarten würde. Weder davor, während dessen und danach schon gar nicht. Eigentlich hatte ich nur bewiesen, dass man im Internet alles fand, aber nicht die Antwort auf die eigentliche Frage. Da waren Foren, in welchen Menschen von ihren ersten Malen berichteten und dem danach. Von Liebesschmerz bis Schmerzen bei gewissen Notdurften war alles dabei. Leider auch zu viele Dinge, die ich so gar nicht hatte wissen wollen.
 

Aber zurück. Am Freitagabend hatten Joshua und ich nach ganzen zehn Minuten, und etlichen Ecken und Gassen, endlich zurück zur Hauptstraße gefunden. Eigentlich war es kein solches Labyrinth, aber wenn man kopflos in dieses Gassen-Hinterhof-Gewirr hineinlief, konnte man schnell die Orientierung verlieren.
 

Joshua war mit dem Auto da. Er bot an mich heim zu fahren. Diesmal direkt bis vor meine Haustür. Unschlüssig saßen wir im Auto. Ich hatte zwar vorhin große Töne gespuckt, aber nun wusste ich nicht recht, wie ich mich verabschieden sollte. Einfach gehen, eine Umarmung oder ihn noch mal küssen? Bei den letzten beiden Möglichkeiten schlug mein Herz schneller. Ich nestelte am letzten Knopf meiner Jacke herum. Als ich aufsah, bemerkte ich, dass Joshua mich beobachtete und sich dabei amüsierte. Es war schon gemein, wenn dein Gegenüber deutlich geübter und erfahrener war als man selbst. Von irgendwoher kratzte ich etwas Mut zusammen und küsste ihn auf die Wange. Mehr schaffte ich nicht. Ich flüsterte ein „Bis morgen“ und erhielt eine sehr heitere Erwiderung.
 

In der Wohnung und im Bett liegend, war ich noch viel zu aufgekratzt. Erst als ich unerwartet die Nachricht erhielt, dass Joshua auch heil gelandet war, fühlte ich mich etwas ruhiger werden. Zumindest so weit, dass ich einschlafen konnte. Als ich am Samstagmorgen aufwachte und die Erinnerungen zurückkamen, verkroch ich mich gleich zurück unter die Decke. Gott! Ich hatte ihm alles gesagt und wir hatten uns geküsst. Mitten in der Stadt! Die Peinlichkeit, mit der ich diesen Morgen begann, war phänomenal.
 

Es war jedoch nichts im Vergleich zu dem was mich noch erwarten würde.
 

Überpünktlich im Labor angekommen, waren nur wenige Kollegen zu sehen. In der Kaffeeküche war bereits Kaffee gekocht worden, dessen Duft durch alle Flure zog. Ich atmete tief ein und marschierte zum Labor. Mit klopfendem Herzen betrat ich dieses.
 

„Guten Mo-“ Es war noch niemand da. Ich schluckte meine Worte runter und war erleichtert und enttäuscht zu gleich.
 

„Guten Morgen.“
 

Die Stimme kam von einer Stelle hinter mir. Sehr nah hinter mir! Ich erschrak so sehr, dass ich einen Satz nach vorne machte und mich zugleich umdrehte. Als ich sah, dass es Joshua war, glühte mein Gesicht. Sowieso … bei beinahe jeder Kleinigkeit wurde ich rot. Peinlichkeit über mein Handeln, Verlegenheit über die Nähe, Freude und Empörung über seine Amüsiertheit. Nur fachliche Gespräche ließen mich und mein armes Herz ruhen.
 

„M-Morgen“, erwiderte ich. Auch stottern würde demnächst zu einer Art Gewohnheit für mich werden. Joshua lächelte und verweilte einen Moment. Er maß mich mit seinem Blick, dann ging er zu seinem Tisch. Da er nichts machte, entspannte ich mich etwas. Als Joshua seine Tasche wirklich auspackte und nichts machte, stattdessen einfach seinen Kitteln holte, wurde meine Entspannung zu leichter Enttäuschung. Warum machte er nichts? War das noch zu früh oder war meine Reaktion zu heftig gewesen? Aber … ich war das wirklich nicht gewohnt. Ich fragte mich sowieso, was die Frauen so toll an mir fanden, warum sie mir nahe sein wollten. Das fragte ich mich bei Joshua auch, jedoch bestand hier der kleine und signifikante Unterschied, dass ich in diesen Laboradonis verschossen war. Jede seiner Bewegungen und Blicke triggerten mich auf die ein oder andere Weise. Wie also sollte ich nicht unschlüssig sein? Es war das zweite Mal überhaupt, dass ich verliebt war. Das erste Mal, dass es erwidert wurde. Was sollte ich tun? Wann sollte ich es tun? Würde er es mögen? Über solche und ähnliche Fragen zerbrach ich mir den ganzen Morgen bereits den Kopf.
 

Nicht wissend wie lange ich bereits still dastand und dabei von Argusaugen beobachtet worden war, wollte ich mich zu meinem Tisch aufmachen. Weit kam ich nicht, da mir der Weg versperrt wurde. Ich sah auf und wurde rot – wie gesagt, passierte gerade ständig – als ich in klare hellgraue Augen sah. Mein Kinn wurde sanft gegriffen und ich bekam einen sanften Kuss auf die Lippen. Ein Kribbeln schoss direkt bis in meine Fingerspitzen. Joshua beobachtete genau meine Reaktion. Eine gewisse diabolische Verspieltheit legte sich auf sein Gesicht. Oh man …
 

„Bist du jetzt wach?“
 

„Mhm“, murrte ich zu hoch. „I-ich zieh mich schnell um.“
 

Wir begannen den Tag gemütlich. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass eine gewisse Anspannung zwischen uns herrschte. Wie üblich gingen wir das Skript durch. Als ich mich über den Tisch lehnte und nach einer Probe griff, ballte Joshua eine Faust und stand stocksteif da. Wenn ich mir durch die Haare ging oder beim Umblättern seine Finger berührte, spürte ich einen ungewohnt heißen Blick. Es erleichterte mich, dass Joshua auch nicht vollends cool blieb.
 

Ich stahl mir einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht, ehe ich auf die Probenschale sah, welche er in der Hand hielt. Mein Wunsch damals eine Probenschale zu sein, damit Joshua mich mit seinen Händen ebenso sanft hätte halten können, war nun irgendwie doch wahr geworden. Als sein Freund würde er mich doch bestimmt so halten, oder? Aber war das blubberige Gefasel von gestern ausreichend gewesen, dass wir wirklich zusammen waren? Ich fühlte mich kaum anders als vorher. Abgesehen von dem vermehrten Herzrasen bei jeder Kleinigkeit. Allerdings war heute unser erster Tag als Paar. Ein Kuss zur Begrüßung war schon nett gewesen, aber was machten Paare sonst den lieben, langen Tag? Den Sex schob ich noch auf, denn darauf musste ich mich erst seelisch und körperlich vorbereiten.
 

„Gib mir mal die Schalen dahinten bitte“, bat Joshua und ich reichte ihm das Gewünschte.
 

Wie lange würde Joshua eigentlich warten? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er ein Abstinenzler war. Aber ein Rammler sicherlich auch nicht. Manchmal konnte er unheimlich böse gucken, böse verspielt, diabolisch. Wenn er das tat, fühlte ich mich gleich ganz anders. Gut anders, aber zugleich unheimlich nervös. Hieß das er hatte einen komischen Fetisch? Dass er diesen Blick aufsetzte, weil ich es war, den er ansah, konnte ich nicht glauben. Schließlich war ich nichts Besonderes.
 

„Ich füge drei Tropfen von Essenz A bei mir hinzu und du einen Tropfen von Essenz B bei dir.“
 

Ich nickte abwesend, nahm meine Probenschale und stellte sie vor mich. Ich griff nach Essenz B und schraubte den Deckel mit der Pipette darin ab. Mein Geständnis gestern war nicht wirklich gut gewesen. Hielt er sich deshalb zurück? Oder war ich ihm doch zu kindisch und fordernd? Ich konnte mich ja schlecht dauernd damit herausreden, dass ich keine Erfahrung in diesen Dingen hatte. Weder im Beziehungen führen noch im Freund sein. Lag es am Geständnis? Am Ort? Joshua hatte schließlich auch gestanden, dass …
 

Ich fühlte mich als hätte jemand mir einen Eiswürfen in den Kragen geschüttet. Ungewollt verkrampfte sich meine Hand und drückte eine ordentliche Menge aus der Pipette, welche direkt in die Probenschale in meiner Hand fiel.
 

„Nur einen- Mael?!“
 

Sein Rufen riss mich aus meinen Gedanken und ich sah auf meine Hand und die Probenschale. Das Erzeugnis blubberte und begann zu dampfen. In Gedanken hatte ich die Probenschale wieder aufgenommen, was nicht sonderlich professionell war. Solche Dinge sollte man immer auf festen Oberflächen stehen lassen. Zudem … hatte ich nicht erst behauptet, während der Arbeit konzentriert zu sein?
 

„Ah- Tschuld-“
 

„Weg damit!“
 

Ich kam nicht dazu etwas zu sagen, da reagierte Joshua bereits. Er riss mir die Schale aus der Hand und warf sie, einer Frisbee gleich, in das nahe Waschbecken. Mir nahm er die Pipette aus der Hand, steckte sie zurück in das Glas und zog mich ein paar Schritte vom Tisch weg. Schuld spülte über mich hinweg. Wieder hatte ich eine Probe durch Unachtsamkeit kaputt gemacht.
 

„Tut mir leid“, sagte ich matt und senkte meinen Blick. Joshua indes griff nach meinen Schultern und hätte mich wohl am liebsten geschüttelt.
 

„Nicht schlimm“, tat er meine Unfähigkeit ab. „Aber was ist los? Du bist gar nicht richtig da. Woran hast du gedacht? Du bist mit mal ganz blass geworden.“
 

Ich schluckte trocken. Ich war sogar blass geworden? Mir raste das Herz. Meine Lippen bewegten sich ohne einen Ton von sich zu geben. Ich fand meine Stimme nicht und hätte gar nicht gewusst wie und wo ich hätte anfangen sollen!
 

Joshua seufzte. Ich fühlte mich gescholten. Dann zog er mich in seine Arme und hielt mich fest. Er hielt mich einfach nur und ich beruhigte mich. Nach einer Weile ließ meine Anspannung nach und ich sank gegen Joshua, mein Kopf ruhte schwer auf seiner Schulter. Ich drehte mein Gesicht zu ihm und sah doch nur den markanten Adamsapfel vor mir. Wieder schluckte ich.
 

„Ich hab‘ keine Ahnung, ob ich‘s richtig mach‘“, begann ich und mein Herz setzte zum Spurt an. Joshua spürte es sicherlich, er musste! Dennoch rührte er sich keinen Zentimeter. Nur seine Stimme vibrierte direkt vor mir.
 

„Meinst du das Experiment?“
 

Ich schüttelte meinen Kopf.
 

„Meinst du wegen uns?“
 

Ich nickte und spürte eine altbekannte Versagensangst in mir. Ich biss die Zähne zusammen und meine Hände hoben sich, um sich auf Joshuas Rücken in seinen Kittel zu krallen. Mir war als hörte ich ein flüchtiges Grinsen über mir. Doch Joshuas Stimme blieb ruhig und akkurat als er weitersprach: „Was willst du denn richtig machen? Das war doch erst gestern. Du musst dich deswegen nicht stressen.“
 

„Dir scheint‘s nichts auszumachen.“
 

„Meinst du wirklich?“
 

„Du wirst gar nicht rot oder stotterst.“
 

„Das ist eine süße Eigenschaft, die dir viel besser steht als mir.“
 

Na toll. Danke auch!
 

„Du hast nichts gesagt.“ Stille kehrte für einen Moment ein und meine Gefühle rasten bereits in den Keller. Dass er schwieg, bewies eindeutig, dass er es nicht absichtlich vergessen hatte. Joshua hob seinen Kopf und ich spürte, wie er auf mich nieder sah.
 

„Was nicht gesagt?“, seine Stimme klang verwundert. Machte er sich über mich lustig? „Meinst du das Geständnis?“
 

Was denn sonst? Ich presste meine Kiefer zusammen, um ihn nicht vorwurfsvoll anzuschnauzen. Als Antwort nickte ich nur.
 

„Du doch auch nicht.“ Empört drückte ich mich von ihm ab. Sein Blick war ruhig und studierte mein aufgeplustertes und aufgelöstes Gesicht. Mir lagen die Widerworte bereits auf der Zunge, als ich innehielt. Joshua hatte Recht.
 

„Du hast nur gesagt, dass du mit mir ausgehen möchtest. Und das möchte ich sehr gerne“, seine Stimme war ganz sanft und seine Hand, welche sich an meine Wange legte, ebenso. „Ich sehe schon, du zerdenkst das alles zu sehr. Mach dir nicht solche Sorgen, sondern genieße es mehr. Ich gehe mit dir aus, weil ich dich nicht nur interessant und sehr schlau finde, sondern weil du es schaffst, mich mit kleinsten Dingen abzulenken und durcheinander zu bringen.“
 

Hä? ICH brachte Joshua durcheinander? Mein Gesicht spiegelte meine Verblüfftheit und den Unglauben wider. Joshua lächelte und fügte hinzu: „Dachtest du, ich würde nichts empfinden? Manchmal ist dein Gesicht ein offenes Buch und manchmal hat es sieben Siegel. Jetzt gerade sehe ich deutlich, was du denkst. Erst glaubst du mir nicht, dann glaubst du mir doch und es ist dir peinlich. Sieh nicht weg.“ Ich war dabei meinen Kopf wegzudrehen, doch auf seine Bitte hin sah ich ihn wieder an. Sein warmer Daumen strich sanft über mein Jochbein und die Wange. Immer knapp unter meinem Auge, aber nicht störend. „Wenn du rot wirst, leuchten deine Augen richtig.“
 

In einer einzigen Sekunde erstarrte ich innerlich, hörte ein lautes PUFF in meinem Schädel, lief noch dunkler an, zog Luft ein und hielt sie an. Joshua lachte.
 

„Du … du bist so … so …“ Mein Gesicht glühte regelrecht und mein Kopf war zu geschädigt von den süßen Worten, um Beschimpfungen von sich geben zu können. Joshua lachte noch immer. Noch ehe er aufgehört hatte, griffen beide Hände nach mir und zogen mich zu ihm. Wärme bedeckte meine Lippen und ich schloss langsam die Augen, als ich spürte, dass es nicht nur ein Schmatzer werden würde.
 

Joshua hatte Recht. Ich hatte tatsächlich noch nie gesagt, was ich für ihn empfand. Dass ich mir albern vorkam, behielt ich für mich. Dafür war der Kuss eben zu schön gewesen. Neben den Glücksgefühlen durchzog mich Reue. Die Probenschale war hin. Die Reaktion hatte aufgehört, kurz nachdem Joshua die Schale ins Waschbecken gefrisbeed hatte. Ich entschuldigte mich noch ganze drei Mal. Joshua machte mir keinen Vorwurf. Er vermerkte es nur im Protokoll und ich setzte eine neue Kultur an. Etwas geknickter ging ich zurück an die Arbeit.
 

Mein kleiner Ausbruch hatte etwas Gutes mit sich gebracht. Die Nervosität, welche uns beiden unbewusst zugesetzt hatte, war nun fort, das Eis gebrochen. Nachdem wir uns unseren ersten Kaffee des Tages gemacht hatten, gingen wir einen etwas längeren Weg zurück ins Labor. Das hieß, wir machten den Umweg mit den äußeren Parkbereichen, umrundeten dabei drei andere Labore und kehrten über die inneren Flure zurück. Joshua fing wie selbstverständlich an, mich auszufragen und ich antwortete. Ich gestand ihm, dass ich absolut keine Erfahrung in irgendwas hatte. Weder Beziehungen noch Freund sein, noch der Freund eines Mannes zu sein. Joshua lachte etwas, aber ich nahm es ihm nicht übel. Dann gestand er mir, dass es gar nichts schlimmes wäre. Ich sollte ihn indes als sehr, sehr, sehr guten Freund mit großen Plus betrachten. Ich wurde rot und schwieg. Das klang … oh Gott, wie das klang… Bevor Joshua seine nächste Frage stellen konnte, stellte ich klar, dass ich aber keine Jungfrau mehr war. Überrascht lachte er auf. Lauter als vorher. Diesmal nahm ich es ihm übel …
 

„Entschuldige. Mit dieser Aussage habe ich gar nicht gerechnet“, meinte Joshua noch immer grinsend. „Das heißt du hast mit Männern und Frauen geschlafen?“
 

Ich sah beleidigt weg. Aber auch, um meine Röte zu verbergen. „Mit Frauen ja. Da ich es bisher immer verdrängt habe zuzugeben, dass ich auf Männer stehe, waren es nur Frauen.“
 

„Mhhh.“ Sein Ton klang so amüsiert, dass ich ihn doch wieder ansah. Sein Gesicht zierte ein breites, gefälliges Grinsen. Dieser! „Da wir dich als Bi einstufen, bist du nur zur Hälfte keine Jungfrau mehr.“
 

Ich wollte protestieren, doch ging mir auf, dass Joshua, so rein theoretisch, wieder Recht hatte.
 

„N-na- NA UND?!“, blaffte ich hochrot los. „Dann lerne ich es eben! Gibt ja genügend Medien zum Studieren.“ Ich hob meine Kaffeetasse und wollte gerade trinken, als mein Kinn in eine ganz andere Richtung dirigiert wurde. Ein sanfter Kuss drückte sich geschmeidig auf meine Lippen und ich sah hochamüsierte graue Augen.
 

„Ich helfe dir gerne beim Lernen und Studieren.“
 

Abermals gab es einen Kurzschluss in meinem Hirn und es puffte laut. Meine Ohren rauschten und mein Blick war blank auf Joshua gerichtet. Meine Wangen brannten und ich bemerkte das leise Plätschern zu spät. Joshua bemerkte es vor mir und griff nach meinem Handgelenk um es zu stabilisieren und die Tasse geradezurücken. Trotzdem hatte der herausgelaufene Kaffee Spritzer auf meinem Hosenbein hinterlassen. Joshua kommentierte meinen Totalausfall nicht, sondern lächelte nur charmant.
 

Mal ehrlich … Ich hätte nie gedacht, dass ich innerlich so überquellen konnte vor Glück und Zuneigung. Keine Ahnung wie es Joshua ging, aber wenn dieser Laboradonis so weiter machte, würden jene Worte bald von selbst aus mir heraussprudeln. Gerade war es ziemlich knapp gewesen.
 

Der Samstag lief so und ähnlich ab. Schlussendlich war ich froh daheim zu sein und mich nach einer kurzen Verschnaufpause abermals überglücklich über meine Couch zu rollen. Meine nicht vorhandenen Kenntnisse wichen ersten Erfahrungen. Ich war zwar immer noch total aufgeregt und schreckhaft, wenn er mir plötzlich zu nah kam, aber ein winziges Bisschen glaubte ich, dass es sich normalisierte. Der Anfang war schwer gewesen, aber dann lief es doch ganz gut. Und recht normal dazu. An die Küsse hatte ich mich viel zu schnell gewöhnt. Zu gerne nahm ich sie an und dehnte sie aus, wenn die Zeit es erlaubte.
 

Morgen würde es nochmal besser werden! Da war ich fest von überzeugt. Anders als Joshua, der sich jedes aberwitzige Detail von mir und meiner Person merkte, hatte ich bereits einige signifikante Delikatessen vergessen. Ich konzentrierte mich so sehr auf unsere Unterhaltungen, die Küsse, die Themen, welche Joshua hoffentlich bei Laune hielten, dass ich ungewollt in meine übliche Freundeshaltung fiel. Mir war bewusst, dass wir mehr als Freunde waren, beziehungsweise, dass wie beide noch mehr daraus machen wollten. Jedoch war ich allein schon deswegen glücklich und zufrieden, gut mit Joshua auszukommen. Seine Nähe genügte mir vollends. Die Küsse waren mehr als ich zu träumen gewagt hatte. Sein Lachen so melodisch und manchmal verspielt böse. Wir agierten als Team fachlich hochkonzentriert und alberten locker in den Pausen dazwischen herum. Binnen von eineinhalb Tagen, nach jener peinlichen Nacht in den Gassen, war es für mich völlig normal geworden Joshua näher als nah in meiner Nähe zu haben. Es war als hätte sich mein sonstiges Alarmsystem meiner Komfortzonen aufgelöst und alle Schilde heruntergefahren.
 

Umso erschrockener war ich, als ich bemerkte was ich hier genau mit Joshua machte. Ich flirtete. Nicht nur etwas, sondern heftig. Technisch gesehen kannten wir uns bereits seit zwei Monaten und waren auch oft genug zusammen ausgegangen. Dass ich mit ihm flirtete, bemerkte ich kaum, da alles was wir taten, sich richtig und gut angefühlt hatte. Dennoch …
 

Seine Berührung war nicht unsittlich im eigentlichen Sinne. Sie war pikant, setzte erste Andeutungen in eine gewisse Richtung und schleuderte mich zurück in meine gewohnte Abwehrhaltung.
 

Zu früh, schoss es mir durch den Kopf. Das war zu früh!
 

„Mael?“
 

Ich war erschrocken zurückgestolpert und mit hochrotem Gesicht vor Joshua davongelaufen. Dumm nur, dass der Flur gut einzusehen war und meine Fluchtroute daher kein Geheimnis darstellte. Ich versteckte mich vor Joshua in der Vorratskammer der Küche. Das Herz schlug mir bis zum Hals und meine Knie waren weich.
 

„Mael!“
 

Ich wusste nicht einmal, dass die Vorratskammer so groß war! Und es gab so viele leckere Dinge hier drinnen. Die Tür ging auf. Natürlich fand er mich.
 

Joshuas Blick war voller Feuer, während ich ihm ängstlich entgegen blinzelte. Meine Wangen glühten noch und ich bekam mal wieder keinen anständigen Satz heraus. Joshua suchte erst gar nicht nach Worten, sondern griff nach meinem Handgelenk und zog mich aus der Kammer in seine Arme. Ich wurde so fest an ihn gedrückt, dass ich sein wild klopfendes Herz fühlte. Es schlug sogar noch schneller als meines.
 

„Verzeih mir.“
 

So schnell ich geflüchtet war, so schnell beruhigte ich mich wieder. Ich atmete aus und schüttelte meinen Kopf. „Nein. Ich muss mich entschuldigen.“ Ich versuchte aufzusehen, doch Joshua drückte mich viel zu fest an sich. Diese Panik war schon etwas süß. Was er gerade wohl dachte?
 

„Josh?“
 

Ich vernahm ein Brummen und wie sich seine Arme um mich herum anspannten. So mussten sich Nüsse in einem Nussknacker fühlen, dachte ich beiläufig.
 

„Josh, ich … ich wollte dich damit nicht zurückweisen“, begann ich und spürte wie seine Anspannung nachließ. Wie könnte ich auch? Er hatte nichts Schlimmes gemacht. Ich war nur unvorbereitet gewesen.
 

Eben als wir am Aufräumen waren, wusch ich mir die Hände und trocknete sie, als sich Arme von hinten um mich schlossen. Ein Körper presste sich behutsam an meinem. Nicht nur der Oberkörper, sondern auch unten rum. Zudem spürte ich Lippen an meinem Hals und ein vorsichtiges Ziehen an meiner Haut nahe der Halsbeuge. Mein Blick wanderte starr in den Spiegel und wurde sogleich von einem scharfen wie hungrigen Blick grauer Augen gefangen. Sie waren nicht hell wie sonst, sondern um Nuancen dunkler. Seine Lippen an meinem Hals lassend, sah Joshua mich durch den Spiegel hinweg an und wirkte wie ein Raubtier, dass gerade Beute gemacht hatte. Ich stockte, schluckte. Dann zogen die Arme sich fester um mich und was sich hinter meinen Po befand, drückte sich mit überdeutlicher Manier an mich. Ich gestand, ich bekam Angst und schob Joshua unbedarft von mir.
 

„Ich habe mich erschrocken, ja, aber …“
 

„Nein, schon ok. Ich dachte nur …“, Joshua schüttelte den Kopf. „Ich war zu voreilig. Verzeih mir.“
 

Ich biss mir auf die Lippe und fühlte mich bei seinem Anblick schuldig. Nun da er mich losgelassen hatte und ich ihn in Ruhe betrachtete, wirkte er wie ein gescholtener Hund. So wollte ich ihn nicht sehen! Eilig griff ich nach seinem Oberarm und brachte ihn mit diesem Ruck dazu mich anzusehen.
 

„Gib mir eine Woche!“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Morphia
2022-06-27T13:35:30+00:00 27.06.2022 15:35
🥰 Ich liebe die Story! Ich hoffe, es geht bald weiter.
Antwort von:  mikifou
28.06.2022 11:20
danke dir ^^
bald, bald, ganz bald XD
Von:  Carmion2
2022-06-23T19:04:43+00:00 23.06.2022 21:04
In dem Kapitel ist echt eine Menge passiert, im positiven Sinne. Es ist schön zu lesen wie sich ihre Beziehung langsam aufbaut.
Antwort von:  mikifou
24.06.2022 09:13
es hat mir auch Spaß gemacht diese Szenen zuschreiben ^^
Antwort von:  Carmion2
24.06.2022 21:03
Das merkt man. 😁


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