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Des Nachts sind die Labore still

Wie Josh zu Mael fand
von

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Wer Anderen eine Grube gräbt...

Kapitel 5: Wer Anderen eine Grube gräbt …
 

Nachdem ich ausschlafen hatte, fragte ich mich mehrfach, ob ich die Sache mit dem Plan nicht nur geträumt hatte. Ich hoffte irgendwie, dass es nur ein Traum war. Auch wenn es in dem Fall schade um die verschwörerischen Bilder von Joshua und mir in meinem Kopf wäre. Einmal ins Bett gefallen, war ich samt Klamotten eingeschlafen. Der gestrige Tag war lang gewesen und ich hatte die Nacht davor schlecht geschlafen, da ich mir doch mehr Gedanken um Joshuas Projekt gemacht hatte, als nötig gewesen wäre. Immerhin kannte ich ihn kaum und er war erwachsen genug, sich selbst um seine Anliegen zu kümmern. Ich hätte uns derzeit als gute Bekannte eingeordnet. Somit hatte ich nicht mal das Recht eines Freundes mir seinetwegen Sorgen zu machen. Leider war es eine meiner wohl schlechteren Eigenschaften, dass ich manche Menschen mehr und schneller ins Herz schloss als andere. Demnach nahm ich mir auch Sachen zu Herzen, die mich gar nichts angingen. Wie hatte ich nur so vorwitzig sein können und Joshua so einen Plan vorgeschlagen?! Noch wichtiger. Warum hatte Joshua zugestimmt? Und warum zum Geier hatte Elias zugestimmt?! Ich hielt im Zähneputzen inne und schaute mich so missfallend wie möglich an. Was bin ich doch für ein Idiot…
 

Ich war nicht wirklich ausgeschlafen, erschien dennoch pünktlich zum Mittag im Labor. Mittwochs Mittag … ich grinste für mich nur wegen des Wortlautes und schüttelte zu gleich den Kopf. Müde dachte ich an die dämlichsten Dinge… Heute würde ein kurzer Tag werden. Das war meine einzige Hoffnung den Tag zu überstehen. Ich war eben keine Zwanzig mehr. Meine Planidee kam mir immer idiotischer vor. Vor allem, wenn es stimmte, dass Johannes etwas für Joshua empfand, empfunden hatte, empfinden könnte … wie auch immer! Wenn ich es runterbrach, spielte ich aufs Gemeinste mit den Gefühlen eines Anderen und das, wo ich ein Verfechter von „Unschuldig bis die Schuld erwiesen wurde“ war. Aus Erfahrung wusste ich, wie schnell man missverstanden werden konnte und wie schnell andere sich ein falsches Bild zurechtlegten. Oft war es nur ein Mangel an Informationen. Aber dem gemeinen Volk reichten oft schon Bruchstücke, um zu entscheiden, ob jemand gut oder böse war. Anderseits ging es gar nicht was Johannes abgezogen hatte. Er ging ohne Erlaubnis an den Schreibtisch eines Kollegen. Er fertigte ein falsches Skript an, um seine Sabotage zu verschleiern. Er verunreinigte mindestens drei Proben eines Kollegen. Ob vorsätzlich oder absichtlich, konnte ich nicht sagen. Aber allein diese drei Punkte reichten aus, um mein Gefühlsleben von mitleidig auf leicht genervt mit Gerechtigkeitssinn umzuswitchen.
 

Letzte Nacht kamen Joshua und ich zu dem Schluss, dass es am Wichtigsten war, die restlichen Proben zu schützen. Die neuangesetzten Proben würden gerade noch zur Zwischenabgabe fertig werden. Da es zu auffällig sein würde, wenn Joshuas Proben einfach fort wären, präparierten wir Probenschalen mit einem harmlosen, schnellwachsenden Pilz. Dieser sah in seinen Anfangsstadien den eigentlichen Proben recht ähnlich. Wir platzierten die Finten in Joshuas Probenschrank und die echten Proben in einem ganz anderen Labor. Witzig war, dass es jener Probenschrank war, um den sich letzte Woche noch die Gerüchte gerankt hatten. Nun hatte der Graf der Nacht ihn doch bekommen! Ob ich das den werten Damen von Sekretariat berichten sollte?
 

Das war Teil Eins des Plans. Teil Zwei sah vor, dass wir Johannes dazu brachten von selbst zu gestehen. Daraus war letzte Nacht noch eine recht tiefgreifende Diskussion erwachsen. Joshua hatte gleich zum Chef gehen wollen, um ihm alles zu berichten. Er sah die reinen Fakten: Johannes verstieß gegen mehr als eine Regel und Sabotage wurde im Labor ziemlich geahndet. Selbst mit einer sehr guten Begründung (obwohl es für so was keine Begründung geben konnte), würde Johannes suspendiert werden. Im schlimmsten Fall kündigte man ihm.
 

Ich hingegen war zarter besaitet. Ich wollte, dass Johannes gestand und seien Fehler einräumte. Bestraft werden konnte er danach immer noch. Auf diese Weise könnte er auch mit Joshua reinen Tisch machen und klar sagen, was ihm missfallen hatte. Ich sah Joshua an, was er denken musste, denn ich tat es selbst, nachdem ich mich das laut hatte sagen hören. Ich war ein Tagträumer! Warum um den Feind oder eine schlechte Person Gedanken machen? Johannes hatte all das schließlich alleine verursacht, also sollte er auch für seine Fehler haften. Was aber wenn hinter all seinen Aktionen mehr steckte?
 

„Du willst ihm die Möglichkeit einräumen, sich zu entschuldigen und zu Kreuze zu kriechen. Gut, machen wir. Aber was machst du, wenn er nicht einlenkt? Wenn er deutlich macht, dass er einfach ein schlechter Kerl ist?“, fragte mich Joshua abschließend.
 

„Dann … das überlege ich mir, wenn es so weit ist. Aber ich finde es nicht schlimm, ihm diese Möglichkeit einzuräumen. Und ehe du fragst, dass würde ich auch bei dem nächsten Idioten machen, der sich so verhält.“
 

Teil Eins Komma Fünf des Plans sah vor, dass wir Elias einweihten. Ich rief ihn gegen halb sechs am Mittwochmorgen an, doch er drückte mich weg. Trocken lachte ich und erklärte, dass er sicherlich mit seinen Kindern zu tun hatte oder gerade nicht rangehen konnte. Ich versicherte Joshua, dass Elias gleich zurückrufen würde. Wir warteten fünfzehn Minuten, dann griff Joshua nach seinem Handy und wählte eine Nummer.
 

„Du kennst seine Nummer auswendig?“, fragte ich verblüfft.
 

„Habe sie gerade bei dir gesehen. Scheinbar hat er sie seit zehn Jahren nicht geändert.“ Er lauschte kurz und ich hörte wie der Hörer abgenommen wurde. Ich verstand nicht was Elias sagte, aber er klang überrascht. Joshua hingegen: „Morgen. Seit wann gehst du nicht ans Handy, wenn ein Arbeitskollege anruft, der unter dir arbeitet? Hatte ich dir nicht mal eingeschärft jeden Anruf ernst zu nehmen? Er- Unterbrich mich nicht. Er hätte auch einen Unfall haben können, zwei Straßen von dir entfernt und wäre vielleicht mittlerweile verblutet.“ Ich war baff. Joshua so autoritär zu erleben war faszinierend und beängstigend. Zumal er mit meinem Vorgesetzten, einem Vizeabteilungsleiter, redete. Er lauschte kurz. Dabei glättete sich seine eben noch düstere Miene. „Du schiebst deine Kinder vor? Ist deine Frau da? Na also. Ihr redet doch miteinander. Du hast also keinen Grund gehabt Max wegzudrücken. … Du weißt schon, dass wir längst fertig sein könnten, wenn du nicht alles verkomplizieren würdest?“ Meine Ohren fingen an zu kribbeln, als er meinen Namen ausgesprochen hatte. Das war das erste Mal gewesen, dass er meinen Namen sagte! Da das Gespräch länger zu dauern schien, hatte ich angefangen mich für die Kordeln meines Pullis zu interessieren. Kurz darauf schritt ich demonstrativ langsam durch den Raum und bemühte mich dieses aufwallende, tuffige Gefühl in meinem Magen zu beruhigen. Richtig gelang es mir das erst, als ich Joshuas Handy an meinem Ohr hatte und Elias‘ Stimme hörte. Kurz und bündig hatte ich ihn in den Plan eingeweiht. Elias war nicht begeistert. Zunächst war er derselben Meinung wie Joshua. Ich versuchte zu argumentieren. Schließlich war es Joshua der Elias dazu brachte zuzustimmen.
 

Trotzdem … je mehr ich mit halbwegs ausgeschlafenen Synapsen darüber nachdachte, desto irrsinniger fand ich all das. Was war das nur mit dem Vize und dem Grafen? Es interessierte mich brennend, was früher zwischen ihnen gelaufen war. Immerhin klangen Elias‘ Erzählungen alle positiv. Auch wenn sie sich lange nicht mehr wirklich unterhalten oder getroffen hatten, wie ich vermutete. Aber selbst dann sprach es für eine sehr feste Freundschaft, dass Joshua einfach nur anrufen musste und Elias ging ran. Und gehorchte.
 

Wie dem auch sei. Diesen Tag passierte wenig. Elias begrüßte mich zerknirscht und musterte mich mit solchen Argusaugen, dass ich eine Gänsehaut bekam.
 

„Ist was?“
 

„Hast du etwas geschlafen?“, fragte Elias.
 

„Ja, ich bin sofort ins Bett gefallen.“
 

„Bei dir zuhause?“, fragte er weiter und verwirrte mich damit etwas.
 

„Jaaaa… Oder hätte ich im Labor schlafen sollen?“ Ich blickte in skeptisch an und konnte mich gerade noch davon abhalten einen Schritt zurück zu gehen als er einlenkte.
 

„Na dann ist ja gut. Pass auf dich auf, wenn du nachts unterwegs bist.“ Immer noch verwirrt legte ich meinen Kopf schräg und verschränkte die Arme. Irgendwas lief falsch mit Elias. Ob das an dem Anruf von Joshua lag? Oder waren seine Kinder zu anstrengend?
 

Ich ließ das Thema fallen und ging zum Probenschrank. Die Fälschungen sahen verblüffend echt aus.
 

„Sehen gut aus“, meinte Elias neben mir. Im selben Moment öffnete sich die Tür und Johannes kam herein.
 

„Ja, ne?“ Ich wandte mich vom Schrank ab und meinem Kollegen zu. „Moin Johannes. Hast du schon gesehen? Deine Probe scheint durchzukommen.“ Ich klang verdammt fröhlich und optimistisch. Ein Hoch auf meine Schauspielkunst.
 

Elias war derweil zu seinem Schreibtisch gegangen und hatte sich wieder vor den Rechner gesetzt. „Du kannst die Probe jetzt auch zu deinen anderen stellen. Ich habe meine vorhin alle rausgenommen. Für ein paar Tage hast du also genügend Platz um alle Schalen unterzubringen.“
 

Johannes wirkte verwirrt, bedankte sich aber schnell. Ich fand seine Schauspielkünste auch ziemlich gut. Insgesamt hielten Elias und ich das Thema Joshua und Grafen der Nacht den ganzen Nachmittag aufrecht. Wir gingen sogar soweit und verließen zusammen das Labor. Leider tat, noch sagte Johannes irgendwas, was ihn verraten könnte. Ich vermutete, dass seine Schmerzgrenze extrem hoch war und er ein ziemlich dickes Fell besaß.
 

Zugegeben, es frustrierte mich etwas, dass wir mit Teil Zwei so schleppend vorankamen. Aber noch mehr als mein Frust, verunsicherte mich Elias mit seinen Fragen. Man bedachte bitte, dass ich erst ein halbes Jahr unter ihm arbeitete und er quasi mein Chef war. Ich mochte ihn echt gerne, wie einen großen Bruder, den ich nie hatte, da er einfach so freundlich und beständig war. Heute jedoch glänzte er durch Fragen, die ich persönlich sehr ungerne hörte und beantwortete.
 

Wir hatten uns einen Kaffee aus der Mensa geholt, um länger aus dem Labor raus zu sein. Die Sonne schien und wir flanierten durch die schlichte Grünanlage um die Gebäude herum zurück zu unserem Trakt.
 

„Sag mal Max, bist du eigentlich vergeben?“
 

Ich verschluckte mich volle Kanne an meinem Kaffee. Als ich mit Husten fertig war, blickte ich ihn zurückweichend an. „Du bist verheiratet, das weißt du ja? Und ich fange grundsätzlich nichts mit verheirateten an.“ Elias lachte mich aus. Das war schon gemein, aber beruhigte mich auch. Scheinbar ging es ihm um etwas anderes, was mich wiederum beunruhigte.
 

„Und ich werde meine Frau auch nie für dich verlassen. Sorry.“
 

„Keine Ursache“, bestätigte ich ihn. Ich nahm einen Schluck und schielte aus dem Augenwinkel zu ihm rüber. „Warum fragst du?“
 

Elias blieb lässig und zuckte mit den Schultern. „Nur so. Wir hatten gestern über Joshua geredet und da hab ich mich gefragt, was mit dir ist.“
 

„Das eine hat mit dem anderen doch nichts zu tun.“
 

„Findest du? Josh hat mich seit Jahren nicht mehr angerufen. Und so wie heute Morgen hab ich ihn lange nicht mehr erlebt“, sagte Elias.
 

„Aha? Und wie war er da?“ Autoritär? Cool? Heroisch? Elias bemaß mich mit einem amüsierten Lächeln, das beinahe unheimlich wirkte. Noch eine Taschenlampe von unten an sein Gesicht gehalten und die Fratze wäre perfekt.
 

„Er hat sich für dich eingesetzt. Das habe ich bei ihm lange nicht mehr erlebt. Ich wollte nur herausfinden, ob da was zwischen euch läuft.“ Mir war die Sache schon komisch vorgekommen. Nun war der Sinn dahinter klar.
 

Ich schüttelte langsam meinen Kopf. „Hast du nicht eben selbst erzählt, dass du ihn seit Jahren nicht mehr gesprochen hast? Zumindest nicht so privat? Kann es nicht auch einfach sein, dass er sich in den Jahren etwas geändert hat und du weißt es nur noch nicht?“ Obwohl ich mir das nicht vorstellen konnte. Selbst wenn man sich geändert hatte, verfiel man aufgrund alter, neuronal-eingeprägter Verhaltensweisen immer zurück in den Zustand, den man einer bestimmten Person gegenüber früher eingenommen hatte. Das war sogar wissenschaftlich belegt und besaß einen Namen, den ich mir nun wirklich nicht merken konnte. „Er war sicherlich nur müde, schließlich hat er die Nacht durchgearbeitet.“ Ich nahm einen Schluck Kaffee und spürte Elias‘ bohrenden Blick.
 

„Bist du sicher, dass es nur das ist?“, fragte der Vize nach.
 

Ich nickte. „Bestimmt. Außerdem stehe ich auf Frauen“, bekundete ich mit meiner perfekt geübten Lässigkeit. Ich dachte, damit wäre das Thema vorbei. Aber Elias fragte munter weiter. Wann meine erste Beziehung war, das erste Date und was ich an Frauen so toll fände. Warum ich gerade ledig war und so weiter und so fort. Ich wiegelte alles mit Bravour ab und gab ihm Antworten, die er hören wollte. Meist waren es Halbwahrheiten. Echte Lügen wurden zu schnell durchschaut und so vergesslich wie ich manchmal war, würde ich mich selbst verraten.
 

Bei Halbwahrheiten war diese Gefahr um ein Vielfaches gemildert. Ein Beispiel: Elias fragte, was ich an Frauen mochte. Ich erwiderte, dass ich ihre Bewegungen mochte. Viele erscheinen sinnlich und fließend. Ihre Konturen waren weich. Natürlich setzte das meine Vorliebe für schlanke Frauen voraus. Diese Fakten entsprachen der Wahrheit und lenkten durch die Länge meiner Antwort vom eigentlichen Sinn seiner Frage ab. Anders Beispiel: Elias fragte, wenn du nicht vergeben bist, warum suchst du dir hier niemand festes? Ich antwortete, dass ich aufgrund meiner Arbeit erstmal nicht dazu kam. Dazu kannte ich mein Viertel und die Stadt noch nicht so gut. Gute Bars oder Lokale zum Flirten hatte ich mir noch nicht angesehen. Zudem sei ich jung und vielleicht lief mir ja jemand in der Tram über den Weg. Auch das stimmte alles. Aber … Wäre ich wirklich ehrlich gewesen, hätte ich Elias erzählt, dass ich mich schwer tat neue Bekanntschaften zu schließen, die von vornherein auf Liebe und Beziehungen aufbauten. Das ich Nähe zu anderen Menschen nur suchte, wenn ich ihnen vollends vertraute, und auch damit tat ich mich schwer.
 

Wenn ich das so formulierte, fand ich mich selbst ein bisschen soziophob. Dabei mochte ich es unter Leuten zu sein, auszugehen und Spaß zu haben. Dumm nur, dass ich mir angewöhnt hatte, meine Neigungen nicht zu zeigen. Meine Eltern hätten sich dafür auch nicht interessiert. Wahrscheinlicher wäre es gewesen, dass sie den Pastor gebeten hätten, mich zu exorzieren. Schließlich bewohnte der Teufel die Aufsässigen und Andersartigen. Mir war das nie wirklich aufgefallen. Erst als ich ins Studentenwohnheim gezogen war, bemerkte ich, dass ich mich belogen hatte. Ich ließ mich von meinen Mitbewohnern anstecken, allerlei Blödsinn zu machen. Mentos in Cola zu stecken und über den Kopf eines schlafenden Mitbewohners zu halten, war das Harmloseste, was wir getan hatten. Es gab viele Geschichten, große und kleine. Jeder probierte sich aus und auch ich fand zu mir. Alles konnte ich nicht bereinigen und gelegentlich verfiel ich in meine defensive Haltung zurück.
 

Im Gespräch mit Elias blieb ich standhaft. Ich vertrat meine Meinung im Moment ziemlich glücklich mit meinem Singlestatus zu sein. In jenem Moment glaubte ich an das, was ich ihm erzählte. Auf dem Weg nach Hause verlor sich mein Lächeln und als die Haustür hinter mir ins Schloss fiel, brach dieses klapprige Gefühlsgebilde zusammen. Ich wusste nicht mal genau, was mich runterzog. Die Halbwahrheiten? Dass Elias alles geglaubt hatte? Dass Johannes nicht gestanden hatte? Dass ich Joshua nicht aus meinem Kopf bekam?
 

Wer gab schon gerne zu, dass er sich alleine fühlte? Diese Freundschaft zwischen Elias und Joshua machte mich neidisch. Meine besten Freunde lebten in einem anderen Stadtteil. Sie waren nicht aus der Welt, aber auch nicht nahe bei. In dem letzten halben Jahr hatte ich mir alle Mühe gegeben, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Tobias und Shin waren mit ihrer Arbeit vollends ausgelastet. Marcel hatte eine neue Freundin und keine Zeit. Jene die bereits verheiratet waren, bekamen Kinder oder hatten einfach zu viel mit ihrem Alltag zu tun. Ende vom Lied war, dass keiner Zeit fand und ich nach dem dritten Versuch aufgab mich zurück in andere Leben zu drängeln. Ich sprach mir zu, dass ich mein Bestes gegeben hatte und wenn meine Freunde wollten, könnten sie sich ja bei mir melden.
 

Leider hielt mich das nicht von ziemlich langen Abenden daheim ab. Umso dankbarer war ich, ein Experiment zu haben und stürzte mich mit allem was ich hatte hinein. Jetzt endete mein Experiment. Ich war fertig mit Schreiben und hatte Freizeit. Die Nächte mit Joshua und dem Grafen der Nacht lenkten mich gut ab. Inzwischen sah ich die beiden nicht mehr als eine Person an. Der Graf war eine Tratschgestalt und Joshua war Joshua. Aber das Leben war grausam. Wenn ich dachte, es ginge mir gut und mir machte es nichts aus, sah ich Leute wie Joshua und Elias, die sich Jahre nicht gesehen hatten und binnen von Sekunden wie früher waren. Ich war so neidisch. Mir fehlte die turbulente Gesellschaft meiner Freunde. Umso weniger wollte ich vor Elias zugeben, dass ich privat gerade nicht glücklich war.
 

Obwohl ich früh zu Bett ging, grübelte ich bis spät in die Nacht hinein und fühlte mich am nächsten Morgen matter als zuvor. Meine Laune war wirklich nicht die Beste. Aber sich schlecht fühlen und schlecht geben, waren zwei Paar Schuhe. So schob ich meine Bedenken zur Seite. Mit dem durchziehen meiner Chipkarte, legte sich ein Lächeln auf meine Lippen.
 

Es war kurz nach acht Uhr und ich schritt durch das Foyer. Es war belebt und wuhlig. Ich fühlte mich gleich viel wohler.
 

„Heute keinen Kaffee?“, fragte mich jemand von hinten.
 

„Nein. Ich werde auch ohne wa-ach.“ Beim Antworten drehte ich mich um und wollte dem vorwitzigen Kollegen mein überlegenes Lächeln zeigen. Mit Joshua hatte ich nicht gerechnet.
 

„Guten Morgen“, begrüßte er mich nachträglich. „Ist was?“
 

Mir war vor Schreck das Herz stehen geblieben! Ich bemerkte, dass ich ihn immer noch anstarrte wie einen Fisch den Mond und rief mich zur Räson. „Nein, gar nicht. Eh… was machst du hier, wenn ich Fragen darf?“
 

„Ich habe gehört, dass ihr gestern mit Teil Zwei nicht weit gekommen seid. Da es um meine Arbeit geht, dachte ich mir, komme ich persönlich her.“ Es war eine logische Erklärung und eine strategisch gute Maßnahme. Trotzdem starrte ich noch immer. „Ist wirklich nichts?“, fragte Joshua nach.
 

„Ah, du … weißt du, ich … hatte nicht damit gerechnet dich tagsüber zu sehen. So im Sonnenlicht und so. Irgendwie…“ …redete ich mich um Kopf und Kragen! Joshua grinste beifällig und es stand ihm ausgezeichnet.
 

„Etwa wegen dieser Gerüchteküche-Grafensache?“
 

Ich blinzelte perplex. „Schon … ein kleines bisschen.“ Er schnaufte amüsiert. Nun starrte nicht nur ich ihn an. Einige waren stehen geblieben und für das Foyer war es für wenige Sekunden erstaunlich ruhig geworden.
 

„Magst du mir von den Gerüchten erzählen?“
 

„Klar … sicher“, bestätigte ich und folgte ihm dabei ganz entspannt den Weg zu unserem Labor. Mein Herz klopfte vor Freude und meine trübe Stimmung war beinahe behoben. Ich wusste, dass es mir unter Menschen besser gehen würde. Äußerlich war ich gefestigter und grinste munter zurück. „Mehr Gerüchte ja? Hmm, wo fang ich da nur an.“ Ich ließ meinen Blick schweifen und bemerkte den Besen, den eine Reinigungskraft scheinbar vergessen hatte. „Das erste Gerücht, dass mir zu Ohren gekommen war, fand ich überhaupt nicht glaubwürdig. Eines Nachts soll sich ein Besen oder Mopp von selbst den Gang hoch und runter bewegt haben. Der Kollege hatte nur den Stiel gesehen und wie dieser sich bewegte. Dazu waren Geräusche zu hören, wie von einem viel zu nassen Wischmopp.“
 

„Wie albern“, erwiderte Joshua. „Das ist doch leicht zu erklären. Ich hatte nicht bemerkt, wie ich den ganzen Flur mit Kaffee bekleckert hatte. Beim ersten Mal war ich mit einem Tuch langgegangen, aber das hinterließ Streifen auf dem Boden. Dann bin ich mit dem Mopp drüber, aber der war zu nass gewesen. Ich hatte es eilig gehabt, darum musste es schnell gehen. Im Endeffekt machte ich es nur schlimmer. Also hab ich mir einen der kleinen Rollhocker genommen und die Spuren per Hand beseitigt. Den Mopp hat er sicher nur alleine tanzen sehen, als ich mich gebückt hatte. Wenn man sich im Flur hinhockt, wird man von den Blenden komplett verdreckt.“ Ich sah zu den Blenden neben mir. Sie waren wirklich sehr hoch und hingehockt würde man jemanden auf der anderen Seite des Innenhofes nicht mehr erkennen können. Hach, wieder ein Gerücht bereinigt.
 

„Gut, das war einfach. Aber was ist damit: eine Kollegin hat mal gesehen, wie jemand mit einem schwarzen Umhang durch den Flur getanzt war. Erst ist er nur hin und her gelaufen, dann kam er zurück, und tanzte mit dem Anatomieskelett aus Labor Sieben durch den Flur. Mehrfach. Das Skelett wurde am nächsten Tag mit besagtem Umhang, einer Zigarette im Mund und einem Strauß Blumen im Schoß im Sekretariat gefunden.“ Ich hatte Joshua immer wieder angesehen, um seine Reaktion abzufassen. Ich war mir sicher, dass er wusste wovon ich redete.
 

Dennoch war seine Antwort schlicht: „Das sagt mir nichts.“ Ich war etwas enttäuscht und wollte nachbohren. Leider waren wir schon im Labor angekommen.
 

„Guten Morgen“, begrüßte Joshua die Runde.
 

„Morgen“, sagte ich. Johannes und Elias murmelten ihre Grüße zurück, ehe sie beide überrascht auf unseren Besucher starrten.
 

„Josh! Moin, was machst du denn hier?“ Elias war aufgesprungen und umarmte seinen Kumpel herzhaft. Ich trat einen Schritt zurück und an ihnen vorbei. Wenn ich nicht hinsah, würde ich nicht eifersüchtig werden, richtig?
 

„Meine Arbeitszeit anders einteilen“, war Joshuas schlichte Erwiderung. Johannes indes blieb wie angewurzelt stehen. Ich beäugte ihn von der Seite. Joshua begrüßte ihn nochmal, auch wenn es recht kalt und distanziert klang. Johannes zuckte dabei kaum merklich zusammen. Er ballte eine Hand unterm Tisch zur Faust und zwang sich ein Lächeln ab.
 

Da ich wenig zu tun hatte, beobachtete ich ungewollt die anderen. Elias und Joshua waren typische Freunde. Elias und Johannes waren zwar irgendwie vertraut, verhielten sich aber mehr wie Chef und Untergebener zueinander. Joshua und Johannes hingegen boten ein Schauspiel, das hatte ich noch nicht gesehen. Joshua blieb gelassen, beinahe gleichgültig, während er an seinen Fakeproben arbeitete oder sich mit den anderen unterhielt. Elias preschte oft dazwischen und erinnerte beide an alte Kamellen. Joshua grinste dann, lächelte schwach oder wies Elias mit einem Spruch zurecht.
 

Johannes hingegen fand nicht in seinen Arbeitsrhythmus rein. Er wirkte immer mehr wie ein Nervenbündel oder jemand der auf der Hut. Lag es an seiner Sabotage? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Vielleicht war an meiner Idee, dass er Gefühle hegte, doch etwas dran. Ich konnte nur nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es Zuneigung oder Abneigung war.
 

In der Mittagspause ging ich allein zur Mensa. Ich mochte Gesellschaft, aber diese drei waren irgendwie anstrengend. Ich fühlte mich vom vielen Beobachten ausgelaugt, darum ließ ich mir etwas Zeit mit dem Essen. Auf dem Rückweg ging ich teilweise durch die Anlage und die restliche Hälfte direkt durch die Trakte. Ich passierte einige Türen, die nach draußen führten. Eine von ihnen war offen und ich merkte fast zu spät wer da gesprochen hatte. Verwundert ging ich zurück und lauschte den Stimmen von Elias und Joshua, die die Tür mit einem Stein offenhielten. Es war nur ein Spalt und ich sah sie auch nicht, wunderte mich trotzdem warum sie so weit weg vom Labor vor die Tür getreten waren. Das hier war nicht gerade auf dem direkten Weg irgendwohin. Es war eindeutig ein Umweg.
 

„Also stimmt es?“, fragte Elias.
 

„Wenn du es weißt, warum fragst du?“, Joshua klang etwas aufgewühlt.
 

„Ich weiß es nicht. Es ist eine Vermutung. Ich würde es bevorzugen es aus deinem Mund zu hören. Also … was hast du vor?“
 

„…“
 

„Wenn du dir nicht sicher bist, dann lass es lieber. Du erinnerst dich, was das letzte Mal passierte? Wie war das mit Jessi?“, fragte Elias. Er klang streng und erzieherisch.
 

„Das war von Anfang an nur eine kurzweilige Sache.“
 

„Und klein Fred?“
 

„Der ist jeden angesprungen, der ihn gekrault hat.“ Joshua schnaufte verärgert aus. Wovon redeten sie?
 

„Stimmt. Und-“
 

„El, ich will ihn nicht einfach zum Zeitvertreib. Ich habe gründlich darüber nachgedacht, glaube mir. Ich frage dich hier auch nicht um Erlaubnis, sondern nur um deine Meinung.“
 

Elias schwieg eine ganze Weile. Ich dachte schon das Gespräch sei zu Ende, als er sagte: „Er ist ein Welpe.“
 

„Ich weiß.“
 

„Weißt du das wirklich? Ich hab ihn mir angesehen. Er ist unabhängig und unbedarft. Du kennst seine Neigungen nicht. Das ist bei solchen Welpen immer ein Risiko. Er könnte sich anders entwickeln als du es dir wünschst.“ Sie schwiegen. Wieder brach Elias die Stille. „Ich weiß, dass du eine ganze Weile allein warst. Aber ist-“
 

Ich hörte den Rest nicht mehr, da ich mich schnell zurück in den Gang flüchtete. Jemand kam und ich wollte nicht beim Lauschen erwischt werden. Trotzdem war es interessant gewesen. Scheinbar wollte Joshua sich ein Haustier anschaffen. Einen jungen Hund? Nun, seine Arbeitszeiten waren flexibel. Und es sprach für die beiden, dass Joshua sich bei Elias um dessen Meinung erkundigte. Ich fragte mich nur warum? Elias hatte, soweit ich wusste, keine Hunde, da seine Frau allergisch war. Hatte er früher mal einen gehabt? Wie immer türmten sich mehr Fragen als Antworten in meinem Kopf. Meine Gedanken surrten richtig!
 

Ich bog um die nächste Ecke und lief beinahe in eine mir entgegenkommende Person. Es war Johannes. Er erschrak sich genauso sehr wie ich. Für wenige Sekunden herrschte peinliches Schweigen, ehe ich mich verlegen lächelnd an ihm vorbeischob. Ich war nicht so scharf drauf alleine mit ihm zu reden. Selbst wenn Johannes nichts von der Finte ahnte, was ich stark hoffte, war es mir allein deswegen unangenehm, weil ich davon wusste. Und der Drahtzieher war. Demnach wollte ich möglichst schnell zurück ins Labor oder dahin, wo noch andere waren, wie Elias oder Joshua.
 

Meine stille Bitte wurde enttäuscht. Wie auch nicht. So war das eben, wenn man jemanden uuuunbedingt nicht sehen wollte. Das Universum funktionierte anders. Nach nur zwei Schritten, die ich an Johannes vorbei war, hielt er mich auf.
 

„Max warte mal.“
 

Innerlich fluchend, blieb ich stehen und sah ihn fragend an. „Was denn?“ Meine Freude normal zu klingen, verflog ebenso schnell wie sie gekommen war.
 

„Du hattest doch letzte Woche Nachtschicht, nicht wahr?“
 

„Ja“, antwortete ich schlicht. Kurz und Bündig war ein Gesprächskiller und wirkte oft unsympathisch.
 

Johannes nickte und sah sich um. Dann schritt er auf mich zu und begann gedämpfter zu reden. Ich bemerkte das erste Mal, dass auch Johannes größer war als ich. War ich wirklich der Kleinste im Labor? Wie unfair! „Du hast mit Josh zusammengearbeitet, nicht wahr?“ Rhetorische Frage. Er wusste es und redete eh bereits weiter. „Ich wollte dich schon die ganze Zeit fragen, was du zu ihm sagst. Mit Elias im selben Raum geht das nicht.“
 

„Was hat meine Meinung mit Elias zu tun?“, fragte ich leicht verwirrt.
 

„Zum einem ist er unser Chef und zum anderen sind er und Josh best Buddys. Auch wenn keiner das zugeben würde. Schau sie dir an und sag mir, dass ich da falsch liege. Außerdem redet Elias anderen gerne ins Wort.“
 

Ich erinnerte mich an alle Momente, die beiden betreffend, zurück und konnte es nicht verneinen. Wer wenn nicht best Buddys würden sich nach so langer Zeit, die sie sich nicht gesehen hatte, so gut verstehen?
 

Ich zuckte als Antwort mit den Schultern, beantwortete ihm dafür seine vorherige Frage. „Joshua ist zielstrebig und engagiert. Sehr genau in seiner Arbeit.“ Dazu überaus elegant und stylisch. „Ich vermute, dass er Menschen nicht sonderlich mag oder zumindest nicht so viele. Und die Gerüchte um ihn fand ich von Anfang an affig.“ Nun hatte ich doch mehr geredet, als ich gewollt hatte.
 

„Wortkarg und eigenbrötlerisch war er schon immer“, bestätigte Johannes. „Das ist aber nur die nette Seite, die er jedem zeigt. Ich geb‘ dir einen Rat. Halt dich von ihm fern. Er hat nichts als Arbeit im Kopf. Chemie, Forschung, immer mehr neue Titel. Freunde und sowas sieht er nicht als solche, sondern eher als Ballast an. Verfalle ihm nicht. Das würde nur schief gehen.“
 

Wenn Joshua Dr. Jekyll wäre und keine Freunde hätte, warum blieb Elias dann bei ihm?
 

„Er ist der totale Egomane und schnappt dir alle guten Aufträge weg, wenn dir einer angeboten wird“, fuhr Johannes fort. Ich beobachtete ihn. Seine Mimik war eindringlich. Seine Augen eine Mischung aus Furcht und Hochachtung. Auch wenn die Worte gemein klangen, sein Ton schien beinahe bewundernd. Johannes widersprach sich in seiner gesamten Präsentation. Wollte er wirklich, dass ich mich von Joshua fernhielt, um mich vor einem korrupten Kollegen zu beschützen?
 

„Johannes… ist es wirklich das? Soll ich mich von ihm fernhalten, weil ich sonst meine Karriere beschädigen könnte? Oder soll ich ihm fernbleiben, weil er bi ist und auf mich stehen könnte?“
 

Johannes verstummte und sein Gesicht wurde blasser.
 

„Tut mir leid“, fügte ich hinzu. „Aber so wie du über ihn sprichst und dich gibst, kommst du mir vor wie eine verschmähte Liebschaft.“ Johannes riss die Augen wutentbrannt auf.
 

„Bist du total bescheuert?! Wie könnte ich! Dieser Idiot sieht niemanden außer sich selbst. Selbst einen Co-Worker würde er nie akzeptieren. Seine ganzen Liebschaften waren nur, um sein Ego zu puschen. Zu echten Gefühlen ist der doch gar nicht fähig.“ Johannes wurde lauter. Einige Kollegen drehten sich um, gingen aber weiter.
 

Ich betrachtete den Boden und sprach leiser, um ihn zu beruhigen und weil ich nicht wirklich gehört werden wollte. „Du hast ihn als Freund gesehen und für ihn alles getan, auch wenn er es nicht gesehen hatte. Du wolltest immer sein Bestes, denn du mochtest es, wenn er über das ganze Gesicht gestrahlt hat. Du wolltest keinen Dank für deine Bemühungen, du würdest es hundertfach wieder tun. Nur ein bisschen Anerkennung. Aber er hat dich nie gesehen. Nicht wahrgenommen, was du für ihn getan hast. Also hast du aufgehört mit ihm zu reden, ihn ignoriert und zum Konkurrenten gemacht. Die netten Zeiten waren vorbei. Du wolltest, dass er dieselbe Frustration spürte wie du sie spürst, nicht wahr?“
 

Mein Mund war trocken und mein Herz schlug viel zu schnell. Ich mied dieses Thema immer. Aber gerade jetzt fühlte ich, dass Johannes mir in diesem einem Thema viel zu ähnlich war. Als dieser kaum merklich nickte, brachte das Adrenalin meinen Puls in ungeahnte Höhen.
 

„Ich hätte nicht gedacht, dass das jemand kennen würde“, gab Johannes zu. „Aber selbst wenn, so wie du guckst, hast du keine Lösung für dieses Problem. Also tu mir den Gefallen und halt dich von ihm fern. Du bist ein netter Kerl. Es wäre schade, wenn er dich mit in den Abgrund reißt.“
 

„Wie meinst du das?“
 

„Wie schon! Sobald er sein jetziges Projekt versemmelt hat, wird er flie-“, Johannes brach ab. Etwas zu spät bemerkte er, dass nicht ich diese Frage gestellt hatte, sondern jemand hinter ihm. Ich schluckte trocken und wollte definitiv nicht in Johannes‘ Haut stecken. Auch wenn ich mir lebhaft vorstellen konnte, wie er sich jetzt fühlen musste.
 

Der, der gesprochen hatte, war Joshua. Ich konnte nicht sagen, wie lange die beiden bereits zugehört hatten, aber seit wenigen Sekunden standen er und Elias hinter Johannes. Die Arme vor der Brust verschränkt, sahen beide so ernst drein, als hätte jemand den roten Knopf ausversehen gedrückt.
 

„Wie sollte Joshua sein Projekt denn versemmeln?“, fragte Elias nach. Johannes hatte sich den beiden zugewandt. Ich konnte seine Mimik nicht mehr sehen, doch hörte ich seine Zähne knirschen.
 

„Glaubst du wirklich, nur weil ich meine Arbeit etwas später abgebe, werde ich gleich gefeuert?“
 

Wenn man mit dem Rücken zur Wand stand, gab es nur zwei Möglichkeiten. Nachgeben und vielleicht überleben oder voranschreiten und kämpfen, um mit Sicherheit zu sterben. Johannes wusste um seine Position. Ich konnte nur erahnen, wie lange er mit sich hatte kämpfen müssen. In diesem Moment entschied er sich ein für alle Mal. Es würde gut werden, dachte ich irgendwo in den hintersten Ecken meines Hirns. Denn egal, wie er sich entschied, Johannes wäre danach von dem befreit, was ihn so sehr fesselte.
 

Johannes hatte beide Hände zu Fäusten geballt. Das Weiß der Knöchel war deutlich zu sehen. Dann plötzlich entspannte er sich, hob den Kopf und sah den anderen beiden hochmütig entgegen. „Wirklich? Du glaubst, nur weil du die Proben mit Pilzsporen ausgetauscht hast, finde ich die eigentlichen Proben nicht?“
 

Ich sah Johannes erschrocken an. Hatte er sie wirklich gefunden? Joshua hatte ein deutliches besseres Pokerface. Seine verschränkten Armen bewegten sich kein bisschen. Nur sein Zeigefinger am Oberarm zuckte einmal kurz.
 

„Was hast du mit meinen Proben gemacht?“, fragte Joshua.
 

„Hmpf, was habe ich nicht mit ihnen gemacht? Du glaubst, dass du nur die offensichtlich verunreinigten erneuern musstest? Als wüsste ich nicht wie du vorgehst. Ich weiß genau wie diese erste Überprüfung funktioniert. Das Wachstum ist klar zu berechnen und es sind genügend Indikatoren bekannt, die das Wachstum verlangsamen, aufhalten oder erst nach mehreren Tagen exponentiell vernichten können.“
 

Joshuas Augen weiteten sich kaum merklich. Elias sah seinen Freund fragend an. „Stimmt das, was er sagt?“
 

Joshua brummte bestätigend, dem Kiefer fest zusammengedrückt. Ich fragte mich wieso? Joshua überprüfte doch regelmäßig einen Teil der Proben. Dann dämmerte es mir und ich schlug mir innerlich auf die Stirn. Das war es gewesen! Die Überprüfungen. Darum war Joshua sicherlich so ausgetickt, als ich den Inhalt der Probe abbekommen hatte. Sie war verunreinigt gewesen. Jedes dieser Reagenzgläser hatte einen Niederschlag gehabt. Die Tönung war auch differenziert gewesen. Wenn in der Probe mehr enthalten war, als ich angenommen hatte, hatte ich wirklich Schwein gehabt, dass Joshua so geistesgegenwärtig gewesen war. Mit mir unbekannten Erregern wollte ich mich nicht infizieren.
 

„Natürlich stimmt es“, sagte Johannes lächelnd. „Er muss es bei seinen Überprüfungen bemerkt haben. Aber selbst er wäre nicht auf die Idee gekommen, die Probe von Grund auf zu untersuchen, denn das hätte Zeit beansprucht, die er nicht gehabt hätte. Für gute Ergebnisse nimmt er halt auch falsche Grundlagen in Kauf, nicht wahr?“ Joshua schwieg und auch Elias schien einen Moment sprachlos zu sein. „Du warst schon immer leicht zu durchschauen. Hättest du nur einmal ein bisschen mehr auf andere geachtet, würdest du nun nicht so erbärmlich dastehen.“
 

„Warum wolltest du unbedingt mein Experiment ruinieren?“, fragte Joshua. „Weil ich es bekommen habe und nicht du?“
 

Johannes schnaubte abfällig. „Zu Anfang war das die Idee, aber eigentlich hast du es verdient mal so richtig auf die Fresse zu fliegen. Während andere sich ihr Leben hart erkämpfen müssen, bekommst du alles zugeworfen. Nicht gerade fair, oder?“ Das Leben war nicht fair, dachte ich für mich. Joshuas Gesicht wurde so unlesbar wie ein Stein und Elias schaute nun nervös von Johannes zu Joshua. Oder … nein, warte mal!
 

„Also hasst du mich, weil ich mehr Glück im Leben hatte als du?“
 

Johannes zuckte mit den Schultern. „Das auch. Aber nicht nur.“
 

„Genug jetzt! Streitereien zwischen Kollegen sind nur mit Supervision gestattet. Die Sabotage von Experimenten ist gänzlich untersagt.“ Ich war bereits einen Schritt zurückgetreten und stand direkt an der Wand. Elias' Blick vorhin galt nicht Johannes, sondern demjenigen, der sich hinter ihm und mir positioniert hatte. Wie auf Bestellung war der Chef erschienen. Rüdiger McFloyd. Ein Zielstrebiger alter Opa. So empfand ich es. Er war streng und unbiegsam wie Unternehmer und Führungsleute es in seinem Alter und seiner Position eben waren. Manchmal jedoch wirkte er so freundlich wie ein Opa, den man lange nicht mehr gesehen hatte.
 

Ich war zur Seite getreten, um aus der Schusslinie zu kommen. McFloyd hatte mich kurz beäugt und angelächelt. Aber dieses Lächeln war gruselig gewesen. Es erreichte seine Augen nicht, welche ungerührt und kalkulierend waren.
 

McFloyd begann wortwörtlich damit, den Fußboden mit Johannes zu wischen. Er stellte glasklar dar, was erlaubt war und was nicht. Dass er von dem Vorfall erfahren hatte und dieses Vorgehen in keinster Weise billigte. Ich schluckte schwer. Wenn er es so formulierte, konnte er auch meine Finte meinen. Mein mulmiges Gefühl nahm zu und ich war mir sicher, dass nicht nur Johannes sein Fett wegbekommen würde.
 

Joshua hatte Recht behalten. Es wäre das Beste gewesen, gleich zum Chef zu gehen.
 

Johannes wurde umgehend suspendiert. Nächste Woche würde er seine Ansichten vor dem Ausschuss rechtfertigen müssen. „Die Anderen sehe ich am Montag in meinem Büro“, sagte McFloyd. Er nickte Elias zu und schenkte Joshua einen vielsagenden Blick. Mich betrachtete er auch und mir rutschte das Herz in die Hose. Demütig neigte ich meinen Kopf.
 

Vielleicht musste nicht nur Johannes sich eine neue Arbeit suchen…



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