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Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Nanu, was passiert jetzt ... Allgemeines Outing, Heart-to-Heart und sogar so was wie Plot?! Komplett anzeigen

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Akt IV - Balsam: 8-2

8-2: YURI
 

»Fühlt sich echt gut an, man spürt sie gar nicht«, bemerkte Yuri und sah zufrieden an sich herab. »Schade, du willst sie bestimmt wiederhaben, oder?«

Dante schüttelte entschieden den Kopf. »In unserer Zeit will niemand Unterhosen wiederhaben, Hyuga, glaub mir. Niemand.«

Diese Antwort machte Yuri für den Moment ziemlich zufrieden.
 

Es war unübersehbar, wie froh Dante war, Trish wieder um sich zu haben. Yuri hatte es nur schwer ausgehalten, ständig dieser Mischung aus Niedergeschlagenheit und passiver Aggressivität ausgesetzt zu sein, die zuletzt nicht zu knapp auf ihn abgefärbt hatte. Zu seiner Erleichterung wirkte Dante nun wie ausgewechselt: Er war vergnügt wie ein kleiner Junge, dessen bester Freund lange verreist war und mit dem er nun endlich wieder durch das Haus toben konnte. Seine Probleme waren gelöst. Schon am nächsten Tag hatte er ein wenig aufgeräumt, und zu Yuris großer Überraschung hatte er sich wieder ordentlich rasiert – eine nur kleine äußerliche Veränderung, die ihn jedoch um Längen gepflegter aussehen ließ. In anderen Klamotten hätte er einen anständigen Schwiegersohn abgegeben. Jedenfalls war der neue Zustand angenehm, denn Trishs Rückkehr hatte Dante auch im Verhalten völlig verwandelt. Verschwunden war seine Verbitterung, er war munter und zuversichtlich, dabei auf geradezu irritierende Weise charmant. Es schien, als könne absolut nichts ihn aus der Ruhe bringen, und den Unbilden des Alltags begegnete er mit einer Gelassenheit, die an Gleichgültigkeit grenzte.

Außerdem fiel auf, wie nahe Dante und Trish sich standen. Wenn sie sich nicht kabbelten wie ein altes Ehepaar, flirteten und kokettierten sie miteinander, auf eine leicht spöttische, aber liebevolle Art und Weise. Yuri war schnell klar, dass in ernsthaften Angelegenheiten Trish diejenige war, die das Sagen hatte. Dante ließ sich nur allzu bereitwillig, fast mit einem gewissen Genuss, in den kleinen Dingen von ihr dominieren.

»Bei dir ist er viel weniger nutzlos«, bemerkte Yuri zu Trish, als Dante ohne großen Protest das unter dem Sofa verstreute Popcorn aufgekehrt hatte.

»Es geht schon«, antwortete sie. »Man muss ihm nur klar kommunizieren, dass man von ihm will, dass er etwas tut.« Yuri vermutete, dass diese Kommunikation multiple Arschtritte beinhaltete.
 

Da Jin immer noch nicht willens schien, seine Ohnmacht aufzugeben – Yuri vermutete dahinter einen Schutzmechanismus seiner Seele, falls davon noch etwas übrig war –, blieb den Anderen nichts weiter übrig als zu warten. Dante war ob seines wiedergekehrten Seelenfriedens zum Klugscheißer mutiert, der viele gute Ratschläge verteilte, wenn der Tag lang war, und so führte er Yuri in die Geheimnisse der Lederpflege ein, nachdem er sich über den Zustand seines Mantels ausgelassen hatte. Yuri, der beim Betrachten des Kleidungsstücks stets nur noch mit düsterem Tunnelblick vor Augen hatte, wie er Alice’ wächsernen, eiskalten Körper darin einhüllte, protestierte nicht. Also lernte er, wie man mit Sattelseife die Oberfläche des Leders reinigt, Lederfett zum Erhalten der Geschmeidigkeit in die Poren reibt und zuletzt mit einem weichen Tuch duftendes Bienenwachs als Schutzschicht aufträgt.

So zurückgeworfen auf seine eigenen dunklen Erinnerungen wuchs in ihm wieder das Unverständnis gegenüber Jin. Mitleid hätte ihn gewöhnlich milde stimmen können, aber nicht in diesem Fall; Jin hatte ein Verbrechen gegen sein und Dantes (aber vor allem seins!) Vertrauen begangen, das sich mit der Bedrohung durch Devil nicht entschuldigen ließ. Jin konnte unmöglich dieselbe Verzweiflung kennen wie Yuri selbst, was also rechtfertigte sein rücksichtsloses Handeln? Gern hätte Yuri Jin gehasst oder zumindest verabscheut, aber er konnte es nicht. Zu ähnlich waren sie sich in vielen Dingen. Und ein Arschloch wollte Yuri auch nicht sein. Er wusste selbst, dass er grob und verletzend sein konnte, aber er war nicht der Typ, der Anderen ans Bein pisste. Das machten schon genug andere Leute.

Gelangweilt setzte er sich ans Kopfende des Sofas, auf dem Jin lag, und starrte auf seinen Gefährten wider Willen hinab. Seit der letzten Nacht lag Jin ganz still, als er wäre er nach seinem inneren Kampf in ein Koma gesunken, so tief, dass sein Körper nicht mehr tun konnte als atmen und überleben.

Auf dem Tisch zwischen den beiden Sofas lag sein Mobiltelefon. Es blinkte im Sekundentakt, gab aber keinen Ton von sich. Yuri griff nahm dem kleinen Wunderding, klappte es auf und drückte ein paar der glatten Tasten, bis der kleine Bildschirm seine Funktionen präsentierte. Yuri hielt sich das strahlende Gerät ganz dicht vor die Augen; die kleinen Bilder leuchteten von innen heraus in satten Farben. Er hatte keine Ahnung, wie das funktionierte. Egal. Alle Beschriftungen und Menüs waren auf Japanisch oder schlimmstenfalls Englisch, und obwohl seiner Meinung nach Zeichen fehlten oder anders aussahen, konnte er bis auf wenige Wörter alles lesen. Zu seinem Erstaunen entdeckte er ein Erdbebenwarnsystem (sicher ungemein nützlich für jeden, der in Japan lebte), und auch dabei fragte er sich, wie so etwas überhaupt funktionieren sollte. Das Blinken, so stellte er fest, rührte von nicht entgegengenommenen Anrufen her; eine dazugehörige Grafik zeigte das sterile Portrait einer blonden Frau mit leidenschaftsloser Miene. Dreimal hatte sie Jin zu erreichen versucht. Yuri ließ die Anrufliste hinter sich und spielte stattdessen mit einer Funktion herum, die offensichtlich Zugriff auf japanische Unterhaltungsmedien gewährleistete. Er manövrierte sich durch Terrorwarnungen und Bilder von brennenden Häusern, gestylten Nachrichtensprechern und nackten Demonstranten, bis er sich in einer Liste wiederfand, deren sehr bunte Bildchen eher auf Kinderunterhaltung schließen ließen. Wie passte das bloß alles auf dieses winzige Gerät? Das war ja wie Zauberei! Niemand in seiner eigenen Zeit würde an so etwas auch nur denken! Aber Yuris Erstaunen wurde noch größer, als er plötzlich durch die Berührung des Displays eines der Bildchen in Bewegung setzte. Es plärrte los, und er hätte es beinahe fallen lassen. Ein bewegtes Bild! Es war nur gemalt, aber es bewegte sich von selbst! Yuri kannte Filme ohne Farben oder Ton – im Foyer eines Varietés hatte er einmal einen gesehen. Dieses hier war nicht nur bunt, es machte auch Geräusche! Da redete jemand!

Perplex starrte Yuri auf das gezeichnete Filmchen und hörte der Frauenstimme zu, die es mit einer Geschichte untermalte:

»Mokujin machte sich auf, um den dunklen Herrscher zu besiegen, der aus einem laaaangen Schlummer erwacht war.« Mokujin – ›Baummensch‹ – war in der Tat eine Figur aus zylindrischen Holzklötzen. Immerhin hatte er Boxhandschuhe … und ein Automobil, in dem er zu Klaviermusik durch die Landschaft fuhr. »Er durchquerte Gebirge … Ozeane … und Wüsten. Schließlich fand er seinen Weg zum Schloss des dunklen Herrschers.« Schwarz, verzerrt und von Fledermäusen umkreist ragte dieses absurde Bauwerk in den Himmel, als Mokujins stilisiertes blaues Vehikel vorfuhr. »Nach einem grimmigen Kampf …« ZACK, Mokujin zog dem roboterartigen Halunken eins über. »… besiegte Mokujin den dunklen Herrscher …« Na, wenigstens siegte das Gute. Auch wenn die Geschichte ansonsten ziemlich lahm war. »… und nahm seinen Platz auf dem Thron des dunklen Herrschers ein. Ende.« Moment, was? Der Holzmensch saß jetzt tatsächlich auf einem finsteren Thron, seine Gestalt schwarz und mit böse glühenden Augen, während hinter ihm die Blitze zuckten und vor ihm zwei Reihen identischer Holzmenschen wie Maschinen salutierten. Die Szene war so unerwartet bedrohlich, dass Yuri sekundenlang darauf starrte wie ein Schwachsinniger.

Dann, plötzlich, bewegte sich Jin.

Yuri fuhr zusammen und ließ das Telefon auf den Teppich fallen. Schnell hob er es wieder auf und sah aus dem Augenwinkel, wie Jin ihn durch halbgeschlossene Lider mit glasigem Blick beobachtete.

»Guckst du dir immer so einen Rotz an?«

Jin blinzelte langsam. »Was … was machst du da?«

»Nichts.« Demonstrativ legte Yuri das Handy wieder auf den Tisch, als hätte er das Interesse verloren. Plötzlich hatte er wieder große Lust, Jin die kalte Schulter zu zeigen. »Na? Munter?«, fragte er ohne große Anteilnahme.

Jin zog eine zittrige Hand unter der Decke hervor und fuhr sich durch die verklebten schwarzen Strähnen, die ihm vorn in die Stirn fielen und in denen der Schweiß getrocknet war. »Wie lange?« Seine Stimme war dünn.

»Fast zwei Tage. Schön geträumt?«

Jin antwortete nicht. Sein abgewandter Blick war, soweit sich das beurteilen ließ, beschämt. »Ist Sarris entkommen?«

»Jap.«

»Meinetwegen?«

»Jap.«

Ein Seufzen hob seine Brust unter der Decke. »Das alles tut mir leid.«

Yuri schnaubte. Ach ja? Es tat ihm leid? Das konnte er schön zusammenrollen und sich in den Arsch stecken. Yuri stand auf und stolzierte davon. Dante und Trish schäkerten in der Küche; sollten sie sich doch um den armen Jin kümmern, der einfach gar nichts auf die Reihe kriegte außer denen, die ihm helfen wollten, in die Eier zu treten.
 

Dante sah das Ganze weit weniger dramatisch, das wurde Yuri sofort klar, denn der Teufelsjäger hielt sich nicht mit Vorwürfen auf. Als er Jins verhuschten Blick sah, sagte er lediglich: »Entspann dich. Wir sind hier, du bist hier, alles gut.« Und ging wieder. Erst später (als er offenbar merkte, dass Yuri es nicht tun würde) fragte er Jin, wie er sich fühlte und ob er etwas bräuchte. Jin schwieg sich zu beidem aus. Trish – die einzige anwesende Person mit immerhin einem Hauch von Fürsorgeinstinkt – brachte ihm trotzdem einen Tee und etwas Brühe, und er trank beides klaglos und artig.

»Hyuga!«, rief Dante, als Yuri geglaubt hatte, der Lage erfolgreich den Rücken gekehrt zu haben. »Die Bude ist zu klein, um sich aus dem Weg zu gehen. Hör auf zu schmollen und beweg deinen Arsch hierher.« Man hörte ihn nur selten schmutzige Wörter benutzen, und jetzt klang es, als fände er Gefallen daran. Es schwang kein wirklicher Ärger in der Aufforderung mit; Dante war immer noch viel zu aufgekratzt, um für Provokationen empfänglich zu sein. Trotzdem gehorchte Yuri widerwillig.

Er stellte fest, dass Jin, der nun aufrecht auf seinem Lager saß, immer noch seinen Blick mied.

»Wir müssen reden.« Dante kam dazu und stellte die Stahlkanne offen auf den Tisch, randvoll mit der schwarzen Brühe, die man hier für Tee hielt. Von den Tassen schob er jedem eine zu, überlegte es sich dann anders, zog sie zurück und begann, sie der Reihe nach vollzugießen. »Ich will die ganze Sache geklärt haben, kapiert? Jin. Woran erinnerst du dich?« Er stellte eine volle Tasse vor dem Japaner hin.

»An fast alles, denke ich.« Jins Stimme klang schon etwas kräftiger und sein Tonfall mutiger. »Ich bin zu Sarris gegangen … «

»Freiwillig«, ergänzte Yuri.

Dante patschte ihm die Hand auf den Mund. »Was weißt du danach noch?«

»Nur, dass ihr plötzlich auch dort wart … in diesem … Schacht. Devil hatte mich überwältigt, etwas hat ihn gerufen. Doch plötzlich war er weg … vertrieben. Ich weiß nichts weiter. Nur noch, dass du mich geschlagen hast.« Jins Blick heftete sich an Yuris, fest, aber auch fragend.

»Tut mir nicht leid«, gab Yuri eisig zurück.

»Was hat Devil gerufen?«, hakte Dante nach.

Jin öffnete den Mund, rang aber mit den Worten. »Er … Azazel. Der Dämon, den Sarris erwecken wollte. Er … hat geantwortet.«
 

Dante und Trish starrten Jin an, und Yuri sah zwischen ihnen hin und her.

»Konntest du Azazel abwehren?«, fragte Dante ruhig.

»Zum Teil«, antwortete Jin. Es klang nicht voll überzeugt.

Yuri konnte sich nicht länger beherrschen. Die Ungerechtigkeit nagte an seinem Verstand, und so platzte er heraus: »Erklär uns endlich, warum du zu ihm gegangen bist, Mann! Wie konntest du das machen? Wie konntest du zu diesem Spinner rennen und uns in den Rücken fallen? Erklär’s mir!«

Falls er erwartet hatte, dass Jin zusammenzucken würde, so hatte er sich getäuscht. Der Blick des Anderen flog in seine Richtung, und die dichten Brauen senkten sich grimmig. »Erstens«, sagte Jin kühl, »habe ich es getan, damit er Trish gehen lässt. Er hat zugegeben, dass er Dante nicht mehr braucht. Er klang sehr vernünftig –«

»Vernünftig?«, wiederholte Yuri.

»Fall mir nicht ins Wort!«, sagte Jin plötzlich scharf. »Zweitens hat er Gründe. Hörst du zu? Er hat Gründe. Dante hat uns nicht die ganze Wahrheit gesagt.«

Das kam überraschend. Yuri blickte zu dem Dämonenjäger, der gelassen dasaß und die Anschuldigung offenbar hatte kommen sehen, denn er sagte nüchtern: »Ich habe aber auch nicht gelogen. Ich habe mit nichts gelogen, das weißt du.«

»Er aber auch nicht«, entgegnete Jin.

Dante schüttelte den Kopf. »Ich hab dich nicht für so gutgläubig gehalten.«

»Doch«, fuhr Jin auf. »Doch, Dante, hast du. Du hast mir nur einen Bruchteil dessen verraten, was wirklich hinter seinem Plan steckt. Du hast gesagt, er wäre einfach nur wahnsinnig, weil er etwas verloren hätte.«

»Und so ist es auch. Er ist wahnsinnig, hast du das nicht gesehen?«

»Ich habe gesehen, dass er verzweifelt ist. Genauso wie ich.« Jin atmete schnell, aber beherrscht.

»Dann weißt du das mit seiner Tochter«, stellte Dante fest.

»Natürlich weiß ich das«, gab Jin kalt zurück. »Du hast sie im Stich gelassen. Sie und ihn.«

»Das hat er gesagt?«

»Er sagt, er hätte dich angefleht, seine Tochter zu retten. Ein Auftrag, der dich keine Mühen gekostet hätte. Aber du hast dich geweigert.«

»Nein.« Dante erwiderte den anklagenden Blick gleichmütig. »Das ist das, was du dir zusammengereimt hast. Er hat es bestimmt anders gesagt – nämlich dass er sie zurückholen wollte und dass ich mich geweigert habe, ihm zu helfen

»Wo ist der Unterschied?«

»Seine Tochter ist tot. Das ist der Unterschied.«

Yuri merkte, dass er Dante anstarrte. Und Jin tat das ebenfalls; seine Miene war nun nicht mehr nur ausdrucks-, sondern auch verständnislos. »Er hat so von ihr gesprochen, als wäre seine Tochter irgendwo ganz in der Nähe. Nicht, als wäre sie unerreichbar. Es hat sich angehört, als müsste sie nur jemand holen gehen, ein paar Teufel erschlagen und sie mitnehmen.« Er schüttelte den Kopf. »Bist du sicher, dass sie tot ist?«

»Allerdings«, antwortete Dante, »denn er hat sie hergebracht und mir auf den Schreibtisch geworfen. Hat mich angeschrien, ob ich denn ein so schönes und sanftes Wesen wirklich den Qualen der Hölle überlassen könnte.« Er stützte das Kinn auf die Faust und blickte scharf von Jin zu Yuri. »Habt ihr schon mal jemanden gesehen, der erhängt wurde? Wisst ihr, wie das aussieht?«

Yuri wusste es. Er kappte diesen Gesprächsfaden: »Also das, wovon wir hier reden, das ist –«

»Nekromantie«, sagte Dante. »Er will sie von den Toten zurückholen.«

Yuri ließ den Kopf sinken. Davon verstand er etwas – mehr, als er wollte, viel mehr.

»Gibt es so etwas wirklich?«, fragte Jin.

Dante hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich hatte noch nie damit zu tun. Aber es gibt Dämonen, es gibt Rituale, Beschwörungen, Siegel, schwarze Magie … funktioniert alles wirklich. Es würde mich wundern, wenn die Wiederbelebung von Toten nicht auch irgendwie möglich wäre. Die Frage ist nur, ob das Ergebnis das ist, was man erwartet hat.«

»Nein«, hörte Yuri sich sagen. »Meistens nicht.«

Dante beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, während er fortfuhr: »Dafür jedenfalls braucht Sarris noch ein anderes komisches Buch. Eins, das Tote wiederbeleben kann.«

Yuri nickte. »Ich weiß. Die Émigré-Schrift.«

»Ah, du kennst es?«

»Es ist auf Griechisch verfasst und sieht aus wie ein Schädel. Es heißt auch Manuscript of the Exiles.« Er wusste, es konnte sich um kein anderes Buch handeln. Und dass überhaupt noch jemand davon wusste, entsetzte ihn. Hier, in dieser Zeit, fühlte Yuri sich persönlich verantwortlich für die Émigré-Schrift und ihr schreckliches Erbe. Er durfte nicht zulassen, dass dieses Buch jemals wieder einem Psychopathen in die Hände fiel. Von denen hatte es schon zu viele gegeben, und jedes ihrer kranken Experimente hatte eine enorme Bedrohung auf die Menschheit losgelassen. »Hat er … noch was darüber gesagt?«, fragte Yuri vorsichtig nach.

»Er hat es nicht. Noch nicht. Aber er weiß, wo es ist.«

»Scheiße.«

»Also weißt du es auch.«

»Ja.«

»Etwa genau da, wo auch diese fehlenden Seiten vom Dschaizan-Buch sind?«

»Sehr wahrscheinlich.« Diese Pille war bitter, aber er schluckte sie. Es war seine Verantwortung. »Denkst du, er weiß, wie man … das Ritual durchführt?«

Dante blickte ratlos über den Tisch. »Kann sein. Er kann kleine Dämonenbeschwörungen und so was. Azazel könnte ’ne Nummer zu groß für ihn sein. Und eine Totenerweckung, tja … Ich verstehe nicht mal, was das eine überhaupt mit dem anderen zu tun hat.« Er sah Yuri an. »Idee dazu?«

Yuri schüttelte den Kopf. Über Azazel wusste er nichts.

Jin wandte sich an Dante: »Welche Rolle solltest eigentlich du dabei spielen? Hat Sarris erwartet, dass du diese Rituale für ihn ausführst?«

»Glaube ich nicht. Ich vermute, er wollte mich nur als eine Art Backup, falls … irgendwas schiefgeht. Du und Devil bringt ihn seinem Ziel offenbar näher als ich.«

»Dann weiß er zumindest, dass was schiefgehen wird«, brummte Yuri.

»Das hält den nicht auf. Seit ich Nein gesagt habe, versucht er, mir Schuldgefühle anzuhängen. Weil er seine Tochter nicht beschützt hat. Das Schlimme ist, es funktioniert! Ich habe angefangen, mich zu fragen, ob es wirklich einen Ort in der Hölle gibt, wo …« Dante brach ab und machte eine abwinkende Geste. »Egal, verzerrte Wirklichkeit. Nicht mal ich weiß, was mit schlechten Menschen passiert, ob irgendwas mit denen passiert.« Das typische Schulterzucken begleitete diese Aussage. Dante hatte wirklich kein großes Repertoire an Körpersprache. »Glaubt nicht, ich hätte nicht versucht, ihm das zu erklären. Er hat mir leid getan. War verzweifelt, vor Kummer abgemagert. Hat mir auch ’ne Menge Kohle angeboten. Ich musste ihn wegschicken. Und seitdem ist nie Ruhe. Als letzte Hoffnung bedroht er mich jetzt, steckt Trish in irgendein Loch … Soll ich wirklich noch Sympathie für ihn aufbringen?«

Yuri wies halbherzig auf Jin. »Er hat also gedacht, wenn er einen gutgläubigen Kerl wie den da einer Gehirnwäsche unterzieht, kriegt er einen willigen Schergen.« Er sah Jin dabei nicht an. »Einen, der sogar dämonische Kräfte zu bieten hat.«

Dante nickte beipflichtend. »Deal für beide. Aber das Problem ist Azazel, dieser Teufel, den Sarris haben will. Der spielt bei diesem Wiederbelebungs-Hokuspokus irgendeine Rolle, und ich weiß nicht, welche. Deshalb schlage ich mich mit dem Kram rum –« Er deutete zum Schreibtisch. »– ohne dass ich irgendwas rausfinde. Und jetzt müssen wir uns außerdem noch fragen, was Azazel eigentlich mit Jin zu tun hat.«

»Er hat gar nichts mit mir zu tun«, behauptete Jin steif.

»Quatsch. Sarris ist begeistert von dir. Und du weißt, warum, richtig?«

Da war Jin still, und jetzt wirkte er nachdenklich. Seine Augen waren klar und blank und seine Haltung nach außen gefasst, doch angesichts der vielen Fragen musste in seinem Kopf ein ziemliches Chaos herrschen. Schließlich sagte er: »Sarris hat kaum etwas darüber gesagt, aber ich habe es gefühlt … Devil hat Azazels Präsenz gespürt. Sie reagieren aufeinander. Sarris nannte Devil … Azazels … Saat.« Unheilvoll hing das Wort einen Moment im Raum. Dann fuhr Jin fort: »Er hat behauptet, niemand könnte Azazel töten, auch nicht du, Dante. Das könnte nur jemand, der … von ihm verflucht ist.«

»Also du.« Dante sah ihn unverwandt an. »Denk nicht mal dran, Kazama. Du hast keine Ahnung, ob er weiß, wovon er da redet.«

»Ich … glaube ihm auch nicht.«

Yuri hob den Kopf. Das war der Moment, um einzugreifen, und er verdrängte vorübergehend die Émigré-Schrift. »Wo wir gerade bei Lügen sind … Dante, wir haben da noch was offen. Los, du hast es versprochen. Jetzt leg die Karten auf den Tisch. Pack aus.« Er warf dem Dämonenjäger einen herausfordernden Blick zu. Nun hatte Dante keine Ausreden mehr, um sein Geheimnis weiter zurückzuhalten. Erwartungsvoll griff Yuri nach seiner Teetasse, um den Moment der Wahrheit zu genießen.

Dantes Ausdruck wurde missmutig, und er stieß ein Seufzen aus. Doch dann hielt er sich an sein Wort. »Na gut, alles klar. Bringen wir’s hinter uns. Habt ihr je von Sparda gehört?«

Jin deutete ein Kopfschütteln an.

»Ja«, antwortete Yuri bereitwillig, stolz, dass er erneut mit Wissen glänzen konnte. »Irgend so eine lokale Legende, oder? Angeblich war das ein Dämon, der … ein, zwei Jahrtausende bei den Menschen lebte, im Verborgenen sozusagen. Er hat sie vorher irgendwie gerettet und konnte danach nicht zurück in seine Welt. Oder so. Naja. Viel ist nicht bekannt über den.« Er setzte die Teetasse an, um einen tiefen Schluck zu nehmen.

»Er ist mein Vater«, sagte Dante.

Yuri verschluckte sich und hustete. Der Tee spritzte über den Tisch, von dem Jin neben ihm schnell zurückwich. »Was?«, krächzte Yuri und versuchte, die Flüssigkeit in seiner Kehle loszuwerden. »Verarschst du uns?«

Dante genoss es sichtlich, ihn derart kalt erwischt zu haben, und lehnte sich auf der Couch zurück. Er wandte sich an Jin: »Kazama. Du hast mich mal provokant gefragt, was ich machen würde, wenn ich zur Hälfte das wäre, was ich am meisten hasse. Wie du siehst, hab ich mich nicht vor einen Zug geschmissen.«

Yuri hatte einen faden Geschmack im Mund. Irgendwie hätte er das ahnen müssen. Es musste irgendwas in der Art sein, anders waren Dantes übermenschliche Fähigkeiten schließlich nicht erklärbar, doch Yuri hatte mit etwas viel Simplerem gerechnet – schließlich war das Jahr 2008 für ihn völlig fremd. Dass Dante der Sohn eines Teufels war, war keine Erklärung, die einen ruhig schlafen ließ. Trotz der ungewissen Vorahnung, die er gehegt hatte, breitete sich der Schock nun langsam in seinen Eingeweiden aus. Vorsichtig sah er zu Jin, doch der starrte immer noch Dante an. Nein, Jin hatte mit nichts dergleichen gerechnet, so viel stand fest.

»Du bist also ein …«

»… Halbdämon«, sagte Dante ruhig.

Jin sah tief verunsichert aus, da half seine Fassade diesmal wenig. Doch er nickte gefasst. »Das ist also der Grund, aus dem Devil dich so verabscheut.«

»Wahrscheinlich. Mein Vater hat einen gewissen Ruf.«

»Und wozu siehst du dich zugehörig? Bist du ein Mensch oder ein Dämon?«

Yuri fand die Frage ziemlich dumm, da für ihn die Antwort offensichtlich war – schließlich lebte Dante bei den Menschen als einer von ihnen und nicht irgendwo in der Unterwelt.

Zu seiner Überraschung blieb Dantes Antwort sehr vage. »Es ist egal, wie ich das sehe. Dämonen nennen mich Mensch, Menschen nennen mich Dämon. So richtig will mich keine von beiden Seiten.«

»Und das macht dir nichts aus?«

»Nein. Übrigens …« Dante nickte zu Trish, die sich die ganze Zeit über vornehm zurückgehalten und nur an ihrem Tee genippt hatte. »… Sie ist auch ein Dämon.«

Das überraschte Yuri irgendwie gar nicht. Er betrachtete die elegante Blondine, und sie zwinkerte ihm zu.

»Sonst noch etwas?«, fragte Jin tonlos.

»Ja, eins noch.« Dante wandte sich mit einem herablassenden Lächeln an Yuri. »Für dein bescheuertes Verhalten in letzter Zeit verpetze ich dich jetzt.«

»Mach doch«, entgegnete Yuri und vermied es, Jin anzusehen, während Dante diese letzte Wahrheit aufdeckte.

»Yuri ist ein Harmonixer, er kann mit Dämonen verschmelzen und ihre Stärke nutzen. Also, wo du eine Faust aus Eisen hast, hat er ein Hirn aus Granit.«

Jin ging gar nicht darauf ein. Ein wenig hatte Yuri gehofft, dass es ihn erschrecken würde, doch Jin tat ihm den Gefallen nicht. Er betrachtete Yuri einmal flüchtig von der Seite und wandte sich dann wieder Dante zu: »Sarris wollte dich also für sein Ritual, weil du auch dämonische Kräfte hast. Nicht nur als Sicherheit.«

Dante hob träge die Schultern. »Weiß ich nicht. Ich weiß einfach nichts über diese Totenbeschwörungsnummer.« Er sah Yuri an. »Aber du anscheinend.«

Yuri fühlte sich unbehaglich. »Ähm. Ich weiß … vielleicht … etwas darüber, aber was ein Dämon namens Azazel oder du oder Devil oder sonst jemand damit zu tun haben soll, kann ich euch nicht sagen.« Das Thema war abgegrast. »Du hast auch nichts von Sarris dazu aufgeschnappt, oder, Jin?«

»Nein, nichts.« Jin ließ den Blick sinken. »Es tut mir leid«, sagte er dann, und diesmal klang es so aufrichtig, dass ein Teil von Yuris Groll zu schmelzen begann. »Ich dachte, es wäre richtig, was ich tue. Und Sarris, er wirkt so … reell.«

»Ja.« Dante seufzte. »Er ist aufrichtig. Das ist das Problem. Aber er kann dir wahrscheinlich nicht helfen, Kazama. Deshalb solltest du lieber uns vertrauen als ihm. Versuch’s wenigstens.«

Jin sah wieder auf. »Ich werde versuchen, dir zu vertrauen, wenn du mir vertraust. Wenn du aufhörst, mich einzusperren und zu bevormunden. Tu das nie wieder, Dante.«

Yuri sah die Ernsthaftigkeit in seinem Blick, und Dante sah sie anscheinend auch, denn er nickte beinahe feierlich. »In Ordnung.«
 

Skeptisch beobachtete Yuri Jins ersten Versuch, vom Sofa aufzustehen. Es gelang ihm nicht sofort. Seine Knie schienen ihn nicht tragen zu können; jeder seiner Muskeln zitterte in versagender Anstrengung, bis er sich am Tisch festhielt. Seine Verwirrung war offensichtlich. »Was ist das?«

Yuri trat zu ihm und fasste ihn an der Schulter, um ihm aufzuhelfen – und ließ sofort los, als Jin vor der Berührung zurückzuckte. »Oh, hoppla. Tut dir was weh?«

Jin antwortete nicht, doch seine Reaktion hatte klargemacht, dass er Berührungen nicht schätzte. Yuri fragte sich, woher das kam.

»Die Beschwörung hat deine Kräfte aufgezehrt«, erklärte er etwas unbeholfen. »Du musst deine Reserven wiederherstellen.«

»Geh erst mal duschen«, schlug Dante vor.

»Genau, das knallt total!«

»Du kennst dich ja inzwischen aus, deine Sachen sind alle hier. Lass dir Zeit. Wir machen währenddessen was zu futtern.«

»Wir machen was zu futtern?«, wiederholte Trish mit gehobenen Augenbrauen, während Jin sein Gleichgewicht allmählich wiederfand und sich Richtung Badezimmer vorkämpfte.

»Tu nicht so, als würde das nie passieren«, gab Dante zurück.

»Oh, doch, einmal im Jahrtausend. Und meistens nicht von dir aus. Aber gut, was hast du im Sinn?«

Yuri schaute zum Badezimmer, in welches Jin sich endlich verkrochen hatte. »Habt ihr Reis?«, fragte er.

»Ja«, sagte sie, » irgendwo in der Küche.«

Also suchten sie irgendwo in der Küche. In einem dunklen Schrank fand Yuri zu seiner Überraschung Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch. Alles keimte munter vor sich hin und versuchte zu entkommen, aber nichts war schimmelig. Im selben Schrank war auch der Reis – geschälter vorgekochter Langkornreis, der gewöhnlichste von allen. Was Yuri hingegen nicht fand, war das geeignete Gerät, um ihn zuzubereiten.

»Habt ihr keinen Reiskocher?«

»Wozu denn?«, antwortete Dante, der darauf zu spekulieren schien, nicht in den Kochprozess involviert zu werden. »Nimm einen Topf.«

»Warum muss ich in deiner Küche alles zusammensuchen?«

Trish streckte den Kopf herein. »Unter der Spüle. Ich gehe Grünzeug holen, denn das findest du hier nicht, egal wo du suchst.«
 

Es stellte sich heraus, dass Dante in der Küche nicht so unbrauchbar war wie befürchtet. Trish nutzte seine Fingerfertigkeit mit Klingen, um ihn ziemlich zackig alles Gemüse zu Würfeln, Rauten, Ringen oder Spalten zu verarbeiten. Nur die Zwiebeln zu schneiden lehnte er ab, also beschloss Yuri, sich derer selbst anzunehmen. Dante beobachtete ihn, den Rücken an die Schrankzeile gelehnt.

»Du schneidest wie ein Anfänger. Erstaunlich, dass deine Finger noch dran sind.«

»Schon mal ’ne Zwiebel in der Fresse gehabt?«, brummte Yuri und drohte mit der zweiten Hälfte.

»Schon gut.« Dante ließ den Schrank los, beugte sich zu ihm und stützte einen Ellenbogen auf die fleckige Arbeitsfläche. Sein Blick war nachdenklich. »Hör mal, Hyuga … Verstehst du Jin? Ich meine – verstehst du ihn?«

Yuri hielt inne. »Keine Ahnung. Ich bin schon vielen Leuten begegnet, in so vielen Ländern, aber ihn … kann ich kaum einschätzen.«

»So geht’s mir auch. Er ist ruhig, er ist höflich, er ist alles, was Devil Jin nicht ist. Und was ist dahinter? Wenn man ihm in die Augen sieht, weiß man nicht, ob er ein netter Kerl ist oder ein Arschloch.« Dante zuckte die Achseln. »Ich kann nichts mit ihm anfangen.«

Yuri konnte damit mehr anfangen, als ihm lieb war. Er spürte die unterschwellige Gefahr, die von Jin ausging. Es gab Momente, in denen er nicht wusste, ob es richtig war, ihm zu helfen. So ein Moment war der gewesen, in dem er erkannt hatte, dass Jin freiwillig zu Sarris gegangen war; die Erkenntnis, dass Jin nicht nur der brave Junge war, den man ihm aufgrund seines höflichen Auftretens sofort unterstellte. Diese reservierte Kälte, die er unentwegt ausstrahlte, war wie eine Warnung. Jin bedeutete nichts Gutes – und er wusste es.

»Er kann anscheinend nicht lächeln«, fuhr Dante fort, »und lachen schon gar nicht.«

Yuri schob mit dem Messer die fertig geschnittenen Zwiebelwürfel zusammen. »Ich weiß nicht … wenn wir ihm helfen, ob wir ihm dann … helfen

»Richtig.« Dante schob sich die Stückchen auf die Hand und warf sie in die Schüssel. »Machen wir irgendwas besser, oder machen wir alles noch schlimmer? Weißt du«, fuhr er fort, während er das Messer in die Spüle fallen ließ, »Jin hat außer diesem Teufel noch ganz anderen Stress. Ein Haufen Leute will ihn tot sehen, darunter sein Vater und sein Großvater, die engsten Verwandten, die er noch hat. Familienbande bedeuten da wohl nicht viel, die wollen sich alle gegenseitig umbringen. Klingt nach viel Spaß auf Familienfesten.« Nachdenklich starrte Yuri in den köchelnden Reis vor sich auf der Herdplatte und harkte sich mit der Rechten durch seinen zerzausten Haarschopf. Zu Dante waren seine Gedanken nach dessen verstörendem Outing ebenso oft zurückgekehrt, und er fragte vorsichtig: »Sag mal, dass du halb Dämon bist … hat dich das früher fertig gemacht? Ich meine, du hasst Dämonen, und dann bist du zur Hälfte selber einer … Wie gehst du damit um?«

»Es geht irgendwie«, war Dantes simple Antwort. »Ich war als Kind anders als heute, weißt du, ziemlich friedlich, geradezu langweilig brav. Erst irgendwann nach dem Tod meiner Mutter wurde bei mir ein Schalter umgelegt. Ich hab das Schwert meines Vaters genommen und mein Erbe angetreten. Und ich setze es gegen das ein, was meine Mutter getötet hat.« Er öffnete einen Oberschrank und nahm vier Teller heraus. »Der Unterschied ist: Ich hab das unter Kontrolle, ich nutze es als Vorteil und als Waffe. Bei Jin funktioniert das nicht. Wir alle müssen unseren Fluch ertragen, jeder für sich, aber …«

»… Aber Jin packt es nicht«, beendete Yuri unumwunden den Satz. »Und seinetwegen werden wir noch verdammt viel Ärger haben.« Er sagte das nicht nur so daher, sondern war überzeugt, dass es stimmte.
 

Die Einzige, die etwas von Gewürzen verstand, war Trish. Sie erzählte Yuri ohne Umschweife, wie sie sich in alle Bereiche des menschlichen Lebens eingearbeitet hatte, um ein normales und unabhängiges Leben zu führen. An Dantes Rockzipfel zu hängen war nie eine akzeptable Option für sie gewesen. Yuri bewunderte ihre Zähigkeit und den Umstand, dass sie trotz ihrer Vergangenheit völlig im Reinen mit sich war.

Als das Essen fertig war, brachten Dante und Yuri es an den Couchtisch. Jin saß dort mit feuchtem Haar und einem immer noch ziemlich leeren Gesichtsausdruck und wandte verdrossen den Blick von den Speisen ab.

»Komm schon«, forderte Trish ihn nachdrücklich auf. »Sei kein Baby.«

»Ich soll dieses Ding also füttern«, gab Jin noch undeutlicher als sonst von sich und blickte stur beiseite.

Yuri spürte seine Finger kribbeln und kämpfte gegen das Bedürfnis an, sie zur Faust zu ballen und Jin erneut kräftig eine zu langen. Der schien es wirklich nötig zu haben. Allerdings hatte er keine Lust auf das Echo, also zog er stattdessen achselzuckend seine Mir-doch-scheißegal-Wand hoch und bediente sich am Reis.

»Du willst dagegen kämpfen«, erinnerte Dante derweil Jin an seinen Plan. »Und du gibst doch wohl wegen eines Rückschlags nicht auf.«

Jin zog krampfhaft Luft ein und stieß sie wieder aus. »Nein, das hab ich nicht vor«, behauptete er und wandte sich widerwillig der Mahlzeit zu.

Sie aßen schweigend und ohne viel Blickkontakt. Yuri futterte so schnell wie immer, zeigte aber seine besten Tischmanieren; da die Anderen ihn ohnehin für einen Rüpel hielten, konnten sie ruhig seine gute Erziehung zur Kenntnis nehmen.

Irgendwann fragte Dante ihn: »Was hast du eigentlich in deiner Zeit zuletzt gemacht, Hyuga? Außer die Welt gerettet.«

Yuri hörte einen Moment lang auf zu kauen. Das war wieder so ein Scheißthema, das er eigentlich gar nicht bearbeiten wollte. Hoffentlich würde es ihm gelingen, das schnell abzuhaken.

»Bin verflucht worden«, antwortete er mit halbvollem Mund. »Von einem Kirchentypen. Sollte meine Seele auslöschen.« Und ich war schon so weit, aufzugeben. Der Gedanke entsetzte ihn mit einem Mal. »Will nicht drüber reden«, fügte er noch undeutlicher hinzu und rührte mit der Gabel in Reis und Gemüse, bis nur noch ein bunter Brei auf seinem Teller war. Ich wäre fast verloren gewesen. Ein Körper ohne Seele. Eine leere Hülle.

Er hörte, wie Jin mit den Zähnen knirschte; die Erschöpfung verminderte seine Konzentrationsfähigkeit.

»Verkrampf dich nicht, Kazama«, sagte Dante gemütlich. »Wir haben Zeit.«

»Nein, wir haben keine Zeit«, schnappte Jin und ließ die Gabel auf den Tisch fallen. »Ich kann ihn hören, verstehst du? Seine Stimme ist in meinem Kopf!« Er warf das Messer hinterher und erhob sich so ruckartig, dass der Tisch über die Dielen schrubbte und seine Kante gegen Yuris Knie stieß. Dann war er auch schon auf dem Weg nach draußen.

»Hey!«, rief Dante, aber nur halbherzig, ließ es dann sein und blickte, als die Haustür zugefallen war, Yuri an. »Das ist mehr als Frust, oder?«

»Wenn Azazel nach Devil ruft«, wandte Trish stirnrunzelnd ein, »wird Jin eine schwere Zeit haben. Wir müssen die vierzehn Seiten finden, Dante.«

»Und dann? Wie können wir Azazel dazu bringen, die Klappe zu halten?«

Ungeduldig meldete sich Yuri zu Wort: »Ich hab euch doch gesagt, wen wir fragen können. Roger. Er weiß einfach alles. Er ist auch Dämonologe.« Er hoffte, dass man ihm nicht ansehen möge, wie eigennützig dieser Vorschlag war. Er war sicher, dass Roger oder irgendetwas, das er hinterlassen hatte, ihm dabei helfen konnte, in seine eigene Zeit zurückzukehren.

Dante sah ihn ungläubig an. »Das war also kein Witz, als du gesagt hast, du würdest Roger Bacon kennen?«

»Nein, Mann! Wie gesagt, der hat das Dschaizan-Dings kopiert und die bösen Seiten rausgenommen. Der weiß nicht nur, wo sie sind, der kann uns auch hundertpro sagen, was die können. Wir müssen zu Roger, wenn wir irgendwas erreichen wollen. Alleine haben wir doch keine scheiß Ahnung, was zu tun ist!«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass dieser Typ noch lebt«, gab Dante fast belustigt zurück. »Rechne mal aus, wie alt der jetzt wäre!«

»Oh, die hundert Jahre machen Roger nichts aus. Er war schon siebenhundert oder so, als ich ihn das erste Mal getroffen habe.«

»Du spinnst, Hyuga. Hör auf mit dem Mist.«

»Oh, na schön!«, schnappte Yuri. »Wenn dir was Besseres einfällt! Aber das wird nicht passieren, und deshalb müssen wir nach Wales

»Nach Wales, sag mal, hast du eine Ahnung, wie weit Wales von hier weg –«

Die Tür klappte erneut, und beide Männer schlossen den Mund. Jin kam wieder herein, mit genau derselben Miene wie zuvor. Yuri hätte ihm prophezeien können, dass der Anblick der Slum Avenue ihn nicht aufheitern würde.

»Ihr wollt nach Wales?«, fragte der Japaner müde.


Nachwort zu diesem Kapitel:
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