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Meteoritenfänger

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Vorwort zu diesem Kapitel:
Warnung für Gewalt und Anger Management Issues in diesem Kapitel. Komplett anzeigen

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Seymchan

An dem Tag, an dem Boris Kai die Nase brach, regnete es.

Boris hatte eigentlich gedacht, dass er sich im Griff hatte. Sie waren seit zwei Tagen unterwegs und befanden sich auf halbem Weg zwischen Moskau und der Meteoriten-Einschlagstelle. Vielleicht hätten sie schneller vorankommen können, aber es war ja immer noch der Weg das Ziel und so ließen sie sich Zeit. Einen Tag lang hatte Boris das Gefühl, dass er mit Kai umgehen konnte, besonders wo dieser sich scheinbar vorgenommen hatte, sich ein wenig zurückzunehmen. Daher verlief die zweite Übernachtung mitten in der sibirischen Pampa auch wesentlich diskussionsfreier als jene davor.

Er wusste nicht genau, was ihn am dritten Tag so reizte. Aber irgendwann legten sie einen Stop in einem Kuhdorf ein, um zu tanken und sich die Beine zu vertreten, und Boris verschwand im Tankstellenstore, um ihnen allen - ja, auch Kai - Sandwiches und Getränke zu besorgen. Als er zurückkam, saß Yuriy entspannt auf dem Rand des geöffneten Kofferraums und Kai lehnte neben ihm. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt, so nahe, dass sich ihre Sonnenbrillenränder berührten, und Kais Fingerspitzen glitten sachte an Yuriys entblößtem Arm auf und ab, während der mit seiner sanften Stimme der Faszination zu ihm sprach.

„305 775 Kilometer“, sagte er gerade, „so weit kann man in einer guten Nacht ins Universum sehen. Hast du eine Ahnung, wie unfassbar weit das ist? Die Andromeda-Galaxie, die wir manchmal sehen können, ist 15 mal 10^18 Meilen von uns entfernt!“

„Wieviel ist das in Kilometer?“, fragte Kai amüsiert.

Yuriy blinzelte ihn über den Rand seiner Sonnenbrille an. „Gib mir einen Stift und ein Stück Papier und ich zeichne es dir auf.“

„Hier hast du einen Kugelschreiber. Du kannst es auf meinen Arm schreiben.“

„Alle Nullen?“

„Alle“, bestätigte Kai und in seiner Stimme lag ein rauer, sinnlicher Unterton, der Boris‘ Blut zum Kochen brachte - nicht unbedingt im negativen Sinn. Aber auch nicht unbedingt nur im negativen Sinn. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren.

„Essen“, sagte er laut und deutlich, woraufhin Yuriy und Kai hochblickten und dann beide reflexartig die Sandwiches auffingen, die er ihnen zuwarf. Er ging an ihnen vorbei, nahe genug, dass er Kai mit der Schulter anrempelte, dann entfernte er sich weit genug, um Ivan anrufen zu können.

„Na, fehlt irgendwem schon ein Körperteil?“, meldete der sich optimistisch wie immer.

Boris schnaubte. „Noch nicht. Aber Kai führt einen gefährlichen Balanceakt mit meinen Nervenseilen auf.“

„Tut er das nicht immer?“ Boris sah förmlich vor sich, wie Ivan auf seinem Bett saß und mit den Augen rollte. „Wie weit seid ihr schon?“

„Übermorgen sollten wir bei der Einschlagstelle sein.“

„Und dann nochmal so lange heim? Das heißt ja, dass ich ‘ne ganze Woche lang Ruhe vor euch habe. Noch dazu, wo Serjoscha sich auch irgendwo in der Gegend herumtreibt und kaum da ist.“

Boris horchte auf. „Was? Was macht der?“

„Ja, wie kann er es nur wagen, ein eigenes Leben zu haben“, sagte Ivan sarkastisch, „dieser Arsch. Nein, keine Ahnung, was er macht, ich frage ihn das nächste Mal, wenn er wieder daheim ist. Hast du aus ‘nem bestimmten Grund angerufen oder wolltest du nur einen Mord verhindern?“

Boris brummte, weil er die Antwort auf diese Frage nicht sagen konnte und kratzte sich am Hinterkopf. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Yuriy Kai einen Krümel von der Wange wischte und atmete tief durch, um die glühende Wut niedrig zu halten, die versuchte, aus ihm heraus zu explodieren. Verdammte Scheiße, er hatte gedacht, dass er es mittlerweile im Griff hatte. Was half die jahrelange, verfickte Therapie eigentlich, wenn es nur einen zu tiefen Blick aus Kai fucking Hiwataris Glutaugen brauchte, um ihn an die Decke gehen zu lassen?

„Was hat er eigentlich gemacht?“, wollte Ivan wissen.

„Nichts“, grollte Boris mit einem weiteren Blick zu Yuriy und Kai, die einander gerade Servietten reichten. Boris atmete erneut tief durch. „Ist es dämlich, dass es mir lieber wäre, wenn Kai immer noch der gleiche egozentrische Wichser von vor ein paar Jahren wäre?“

Ivan war einen Moment lang still. Dann sagte er sehr nüchtern: „Nö. Kann ich schon verstehen.“

„Ach ja?“

„Sicher“, sagte Ivan und Boris sah sein Schulterzucken förmlich vor sich. „Das wäre einfacher. Viel, viel einfacher. Aber Borja - ist dir klar, dass es auch helfen könnte, wenn du zulassen würdest, dass du ihn manchmal leiden kannst?“

„Danke, Dr. Papov.“

„Das macht 7900 Rubel, Boris Petrowitsch.“

Gegen seinen Willen stieß Boris ein hyänenhaftes Lachen aus. „Du kannst mich mal, du Goblin.“

„Das würde dir so passen!“

Sie tauschten noch ein paar wohlmeinende Beleidigungen aus, dann legte Boris auf. Als er zum Jeep zurückkehrte, hatte ihn die Unruhe noch immer nicht verlassen. Yuriy warf einen Blick in sein Gesicht und weigerte sich, ihn fahren zu lassen, was vermutlich eine gute Idee war, aber gleichzeitig das Brodeln in seiner Brust noch mehr verstärkte. Ein klarer Teil von ihm war sich bewusst, dass er am Eskalieren war, ohne dass es einen Grund dafür gab. Der Rest von ihm sah dem Entgleisen des Zugs nicht nur tatenlos zu, er wartete auch hungrig auf den Aufprall und die Explosion. Er konnte sich während der Fahrt anders als bisher kaum konzentrieren, wenn Yuriy sprach, und Kais Stimme war wie ein rotes Tuch. Seine Laune verschlechterte sich genauso schnell, wie der Himmel über ihnen dunkler und dunkler vor schweren Wolken wurde. Schließlich begann es zu regnen und Yuriy, der aus irgendeinem Grund besonderen Respekt vor Aquaplaning hatte, fluchte vor sich hin. Er erwischte sich dabei, wie er auf die kleinste Regung von Kai lauerte, auf den kleinsten Grund, die Bombe zu zünden.

Und Kai gab ihm einen Grund.

Allerdings erst, nachdem Yuriy im nächsten Nest vor dessen einziger Gästepension geparkt hatte, die gleichzeitig das Gasthaus des Ortes zu sein schien.

„Wartet hier“, sagte Yuriy und marschierte durch den strömenden Regen hinein.

Augenblicklich riss Boris die Autotür auf und kletterte aus dem Auto. Alles, alles war besser, als minutenlang schweigend alleine mit Kai in einem Wagen zu sitzen. Die Luft war ihm augenblicklich zu eng geworden. Jetzt schien er zu viel davon zu haben; der Sturm rauschte in seinen Ohren, während der Regen auf ihn einprasselte. Sein Herz brannte in seiner Brust, als ob er einen Marathon lief. Er schloss die Augen und versuchte bis tief in seine Bauchgegend hinab einzuatmen, dann wieder aus, während er langsam von einundzwanzig bis sechsundzwanzig zählte.

Hinter sich hörte er das Zuknallen einer Autotür. Der Sturm schien in seine Hände zu fahren wie der Teufel in die Seele. Boris ballte sie zu Fäusten und drückte sie an die eigene Brust, biss sich auf die Innenseiten der Wangen, bis er Blut schmeckte.

„Boris”, sagte Kai ruhig hinter ihm, „was zum Fick ist dein Problem?”

Ein Teil von ihm ermahnte zur Ruhe. Leider war es nur ein kleiner Teil.

Der Rest von ihm wirbelte herum und zischte: „Du bist mein verdammtes Problem.”

Kai hob eine Augenbraue. „Ganz ehrlich, so dämlich und schnaubend, wie du dich hier gebärdest, bin ich hier nicht das Problem.”

Das Wasser perlte von seinen Haaren und seiner Nase ab, durchtränkte seine Kleidung, ohne dass es ihn zu kümmern schien. Er stand mit verschränkten Armen da und musterte ihn fast gelangweilt, als ob Boris ein nicht ernstzunehmendes Kleinkind war, als ob er nichtig war, seine Emotionen und Gedanken nicht mehr als ein Blatt in Kais Fahrtwind-

„Wichser”, zischte Boris und rammte ihm die Faust ins Gesicht.

Ein Knacken ertönte, hörbar selbst durch den heftigen Regen. Kai gab einen gequälten Laut von sich, fasste instinktiv in sein Gesicht - dann flammten seine Augen auf, zwei Irrlichter in einem Wasservorhang, und er trat mit schnellen Schritten an ihn heran, um ihn mit beiden flachen Händen hart gegen die Brust zu stoßen.

„Ich bin nicht dein gottverdammter Sandsack, Kuznetsov”, sagte er hart, „aber wenn du unbedingt auf die Fresse willst, dann kriegst du auf die Fresse.”

Boris hatte einmal versucht, Yuriy zu erklären, wie die Wut sich anfühlte. Er hatte es mit einem roten Nebelschleier beschrieben, der sich über alles und jeden legte, und mit Strom, der ihm durch den ganzen Körper fuhr, auf der drängenden Suche nach Ableitung. Nicht umsonst hatte sein Therapeut sich vor allem darauf konzentriert, die Umlenkung dieser Impulse einzustudieren, eine Umlenkung in Positives, Schöpferisches.

Sich auf Kai zu stürzen und ihn in den Matsch zu pressen war weder positiv noch schöpferisch, aber es fühlte sich in diesem Rotnebelmoment genauso gut an.

Kai hatte nämlich keine Ahnung von Deeskalation dieser Art. Es war nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt anstrebte, weil er Boris ungehemmt mindestens genauso gut gab, wie er einsteckte. Als seine Faust Boris’ Auge traf, explodierte greller, unversöhnlich sauberer Schmerz in seinem Kopf. Sie verhakten sich ineinander, rollten durch den Matsch wie zwei besinnungslos verkeilte Eber - und dann, fließend, von einer Minute auf die andere, spürte Boris peinvoll klar seine Körperlichkeit, eine Körperlichkeit, die Kai auf sehr ähnliche Weise teilte, und geleitet von diesem Spüren lenkte er den namenlosen, schreienden Impuls, der ihn Kai in tausend Stücke zerreißen lassen wollte, in etwas Positives um. Etwas Schöpferisches.

Er grub die Finger in Kais Wangen und Nacken und ließ die Lippen auf seine krachen.

Zähne rissen Lippen auf. Der Geschmack von Blut flutete Zunge und Mund. Kai, schlammbeschmiert und mit schreienden Augen, riss an seinen Haaren und wölbte sich ihm entgegen. Er war wild, und Boris wollte, oh, hatte er die ganze Zeit gewollt? War es das, was Yuriy in Kai sah, diese Wildheit eines Dimensionen entfernten, stetig brennenden Sterns? Boris schmeckte es in Blut und Atem und einem Zittern, das sie beide erfasst hatte.

Dann packte ihn eine feste Hand am Shirt und zog ihn mit einem Ruck nach hinten.

Der Nebelschleier zerstob. Boris blieb am Boden zurück, beinahe benommen, und versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen, der dem fehlenden Strom nicht hinterherkam. Yuriy ragte über ihnen beiden auf, die blauen Augen blitzend vor Wut und etwas, das Boris nicht deuten konnte. Er schubste sie beide auseinander, dann wischte er sich die feuchten Haare aus dem Gesicht. Boris sah zu Kai, der sich Blut und Wasser aus dem Gesicht wischte und den Kopf wandte, als ob er Boris’ Blick auf seiner Haut spürte. Er erwiderte ihn ohne Scheu, ohne Ärger. Ja, da waren die Glutaugen wieder, die zusammen mit einem kleinen, fast verspielt-herausfordernden Lächeln in seinem schönen, zerstörten Gesicht brannten.

Einen Moment lang sagte niemand etwas. Der Regen trommelte unermüdlich auf sie ein und der Schmerz in Boris’ Auge wurde zu etwas Dumpfem, Unangenehmen. Er wischte sich den Matsch von den Armen und machte es damit nur schlimmer.

Dann machte Yuriy einen tiefen Atemzug.

„Zehn Minuten lasse ich euch allein”, murmelte er, rieb sich die Nasenwurzel, dann straffte er die Schultern. „Schön. Scheinbar stört’s euch ja weniger, als ich befürchtet habe, dass es nur noch ein Zimmer gab. Rein mit euch. Ihr stellt euch jetzt unter die Dusche, und dann reden wir verdammt nochmal über das, was hier gerade passiert ist.”



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  kylara_hiku_Lamore
2020-09-16T06:52:36+00:00 16.09.2020 08:52
Du schreibst das ganze ja schon fast poetisch! 🥰 Es liest sich einfach so unglaublich spannend dass mann es einfach in einem zug durchlesen muss!
Wie du das ganze aus Boris Sicht schreibst kann mann seine innere Wut sehr gut nachvollziehen auch wenn Kai recht hatt er ist den jenige der ein problem hat! ☺️
Antwort von:  Mitternachtsblick
12.10.2020 12:33
Danke vielmals für das schöne Kompliment, ich bin auch sehr froh zu hören, dass man die Gefühle gut nachvollziehen kann :D
Von:  LittleLionHead
2020-08-10T14:34:34+00:00 10.08.2020 16:34
Oh fucking hell. Ich LIEBE ES! Allein der erste Satz. Das ist alles so... So intensiv. Ich konnte Boris Anspannung, seine Wut spüren. Und wie das ganze dann umkippt. Ich hab voll Gänsehaut! Nase gebrochen ist übrigens echt nicht schön, hatte ich auch mal. Ich feiere diese Geschichte sooo sehr!
Antwort von:  Mitternachtsblick
12.10.2020 12:33
Intensiv ist gut! Boris und Kai sind für mich zwei sehr intensive Leute (Yura auch, aber auf eine andere Weise),deswegen freut's mich, wenn das im Kapitel widergespiegelt wurde. :3
Von:  Phoenix-of-Darkness
2020-08-10T11:35:29+00:00 10.08.2020 13:35
Ich bin soooo verliebt. Das war so sexy.

Boris Unruhe und Wut waren sehr greifbar. Es war nur eine Frage der Zeit bis er explodiert. Daher war es gut, dass Yuriy ihn nicht fahren lassen hat. Blöderweise hat er Boris und Kai alleine gelassen. Die kleine Assoziation mit dem Sturm hat mir auch wieder gefallen und Kais ruhiges "Boris" hat da eine richtige Schneise gezogen.
Tja...sein Schlag saß...die schöne Nase...
Ich hoffe es gibt noch ne ärztliche Behandlung, wenn die tatsächlich gebrochen ist.
Anderseits würde mich die gemeinsame Nacht interessieren und auch das Gespräch und nach wie vor das erste Bo(Yu)Ka
Antwort von:  Mitternachtsblick
12.10.2020 12:32
Lol die ärztliche Behandlung kommt von Yuriy, der nicht lang fackelt und die Nase wieder einrenkt, bevor sie schief zusammenwächst - ich sag nicht, dass die super vernünftig sind. XDD
Freut mich, dass es dir gefallen hat!
Von:  FreeWolf
2020-08-10T11:02:29+00:00 10.08.2020 13:02
Sehr schöpferisch-brutal, das ganze. Jetzt bin ich gespannt, wie sie darüber sprechen werden.
Antwort von:  Mitternachtsblick
12.10.2020 12:31
Damn. Irgendwie fällt mir grad auf, dass sie so wirklich nicht drüber geredet haben, aber ... es geht sich hoffentlich dennoch aus? *sweats*


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