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Wohin das Licht nicht reicht

Die Kinder der Abtei
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Immer wenn ich ein Buch von Juliet Marillier lese, habe ich danach das dringende Bedürfnis aus der Egoperspektive zu schreiben. Diesmal hat es Spencer getroffen, der uns in vier Geschichten durch das Leben in der Abtei führen wird.

Ich wünsche viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen

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Angst

Angst
 

Die lauten Schritte schwerer Stiefel hallen in den hohen Korridoren der Abtei und schlagen unnachgiebig den Takt zur allmorgendlichen Routine. Wo die Schritte an Lautstärke zunehmen, verblassen die Stimmen aus zahllosen Gesprächen hin zu vollkommenem Schweigen. Der Saum der langen Mäntel schleift leise raschelnd über den abgenutzten Holzboden, auf den die alten Mauern lange Schatten werfen, im Wechselspiel mit dem blassen Dämmerlicht, das durch die trüben Scheiben der großen, gewölbten Fenster fällt. Schüler weichen gehorsam in die Türrahmen zu ihren Zellen zurück, die im Obergeschoss des alten Hauptgebäudes über dem ursprünglichen Kreuzgang liegen. Sie senken die Köpfe in der trügerischen Hoffnung nicht gesehen zu werden, dass nicht sie es sind, vor denen die beiden dunklen Gestalten stehen bleiben. Ihre argwöhnischen Blicke folgen den beiden Wachen bis nur noch der Nachhall der Schritte an ihr Vorbeiziehen erinnert. Wie ein dunkles Damoklesschwert schwebt die Ungewissheit über dem Wohntrakt. Wen wird es an diesem Morgen treffen?
 

Ich komme gerade aus dem Waschsaal, nur in Shorts und ein Unterhemd gekleidet. Strähnen meines blonden Haares kleben nass an meiner Stirn und Wassertropfen laufen über meinen Nacken in das weiße Handtuch um meine Schultern. Der frostige Hauch des Novembermorgen erfüllt den langen, kaum beheizten Korridor und lässt mich leicht schaudern. Der Winter hat Einzug in die alten Hallen der Abtei gehalten und bald schon wird es noch kälter werden.
 

Die energischen Schritte verstummen, als die beiden hochgewachsenen Männer in ihren grauen Mänteln vor meiner Zelle stehen bleiben und mit grimmigen Mienen in meine Richtung blicken. Sie stehen dort wie dunkle Unheilsboten, denen man die schlechte Nachricht bereits an den strengen Gesichtern ablesen kann.
 

Nicht, dass sie jemals frohe Botschaften überbringen.
 

Mein Magen zieht sich unwillkürlich zusammen und ich spanne unbewusst jeden Muskel in meinem Körper an. Ein nervöses Kribbeln breitet sich in meinem Bauch aus, als ich an die beiden Wachen herantrete, meine Schultern straffe und mit starrem Blick zu ihnen aufsehe. Ich kann nicht riskieren, dass einer von ihnen mein Unbehagen bemerkt, selbst wenn es im Angesicht ihrer Anwesenheit durchaus gerechtfertigt ist. Die offene Zurschaustellung von Emotionen – gleich welcher Art – hat keinen Platz im erbarmungslosen Alltag der Abtei.
 

„Sergeij,“ spricht der Älter der beiden Wachen mich mit tonloser Stimme an. Im Schatten der Kapuze zeichnen sich deutliche Falten um seine dunklen Augen und die nach unten gezogenen Mundwinkel herum ab. Sie verleihen seinem Gesicht einen harten, ungnädigen Ausdruck. Er mustert mich einen Moment lang, ehe sein Blick teilnahmslos, beinahe apathisch wird, als würden seine Augen durch mich hindurch auf das alte Mauerwerk hinter mir starren. Es gibt nur zwei Arten von Wachen in der Abtei: jene, die sadistische Freude darin finden uns herumzuschubsen und sich daran ergötzen, wenn wir um jeden Rest an Selbstbeherrschung ringen, und jene, die uns schon gar nicht mehr als Menschen wahrnehmen, deren Augen blind und deren Ohren taub geworden sind. „Gospodin lässt dich rufen.“
 

Jeder Muskel in meinem Körper verhärtet sich beim Klang dieser Worte und das Kribbeln in meinen Eingeweiden verdichtet sich zu einem pulsierenden Knoten. Meine Gedanken beginnen zu rasen auf der Suche nach einem Grund für diese plötzliche Anweisung. Habe ich einen Fehler gemacht? Ich atme langsam ein und aus und bemühe mich darum die Übelkeit zurückzudrängen, die langsam meinen Hals empor steigt. Meine Lippen bilden eine blasse, schmale Linie, als ich mit einem steifen Nicken ein „Verstanden“ hervor presse. Die beiden Wachen wissen genau welches Schicksal mir bevorsteht, doch es berührt sie nicht. Mich lassen sie im Ungewissen. Ich bin nur einer der vielen Jungen der Abtei. Wir tragen unsere Namen wie Seriennummern, die nur dazu dienen uns auseinander zu halten.
 

„Zieh dich an,“ befiehlt mir der Ältere der beiden Wachen dumpf. „Wir warten hier auf dich.“
 

Ich nicke erneut, gehe an ihnen vorbei und betrete die spärlich eingerichtete Zelle. Zwei Metallbetten, deren Beine bereits Rost ansetzen und mit dünnen Matratzen ausgestattet sind, stehen dort. Je eines auf jeder Seite. Daneben gibt es jeweils einen schmalen Spind, in dem wir unsere wenigen Habseligkeiten aufbewahren. An der Wand direkt gegenüber der Tür befindet sich ein kleines, vergittertes Fenster, das den Blick auf den Innenhof der Abtei freigibt. Es ist noch früh, doch wir haben das morgendliche Ausdauertraining bereits absolviert und nun bleibt uns nur eine knappe halbe Stunde um uns zu waschen, ein kurzes, nahrhaftes Frühstück einzunehmen und zu den Unterrichtsräumen zu gehen. Der Zeitplan der Abtei ist strikt und straff, keine Minute wird vergeudet und jeder Trödler hart bestraft.
 

Auf dem linken Bett sitzt Nikolai, mit dem ich mir das kleine Zimmer teile. Ein schmaler, blasser Junge mit kurzem braunen Haar und einer schlichten Brille auf der Nase. Er hat sich bereits umgezogen und bereitet seine Unterlagen für den Unterricht vor. Als ich hereinkomme blickt er zu mir auf und ich sehe in seinen Augen, dass er jedes Wort mitangehört hat. Es ist uns nicht erlaubt Sorge zu zeigen, weder um uns selbst noch um andere, und dennoch kann ich die Dunkelheit sehen, die über seine grauen Augen huscht wie die Schatten der Wolken über die glatte Oberfläche eines Teichs an einem klaren Herbstmorgen. Vor ein paar Jahren noch wäre ich seinem Blick mit einem aufmunternden Lächeln begegnet, nun bleibt meine Miene ausdruckslos und meine Augen leer.
 

„Irgendeine Ahnung, worum es geht?“ frage ich halbherzig um das drückende Schweigen zu brechen, das mir wie eine schwere Last auf den Schultern liegt, während ich mit steifen Schritten an meinen Spind herantrete und frische Kleidung herausnehme. Ich ärgere mich über meine Stimme, die mehr und mehr einem heiseren Krächzen gleicht.
 

Nikolai ist nicht der beste Beyblader, doch er ist verdammt klug und hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis, in dem er die individuellen Strategien jedes einzelnen Abteischülers abspeichert. Oder zumindest kommt es mir manchmal so vor. Er spricht nicht viel, doch er hört umso mehr. Er weiß viel, besonders von Dingen, die gewöhnlich nicht für unsere Ohren bestimmt sind. Auf meine Frage hin schüttelt er jedoch nur stumm den Kopf. Ich habe nichts anderes erwartet. Er tut gut daran sein Wissen für sich zu behalten. Als ich mich umdrehe, glaube ich etwas wie Mitleid in seinen hellen Augen aufblitzen zu sehen, ehe er den Blick schnell von mir abwendet. Nikolai ist es irgendwie gelungen sich diese jedem Abteischüler strikt verbotene Emotion zu bewahren und ich bin sicher, dass es ihm eines Tages zum Verhängnis werden wird. Man treibt sie uns nicht umsonst aus.
 

Diese offen Zurschaustellung von Gefühlen, ist ein so seltener Anblick, dass mir schlagartig erneut übel wird, während die wahre Aussichtslosigkeit meiner Lage langsam in meine Gedanken sickert.
 

Geschlagen ziehe ich mir die Hose an und den grauen Pullover über den Kopf, ehe ich mich bücke um meine Schuhe zu binden. Dann atme ich tief ein und richte mich auf, straffe meine Schultern und nehme mein Beyblade. Meine Finger schließen sich fest darum und die scharfen Kanten des Angriffsring bohren sich tief in meine Haut. Der Schmerz ist ein willkommener Verbündeter im Kampf gegen die anhaltende Lähmung, die jede meiner Bewegung zu einem Kraftakt werden lässt und zu einer Prüfung meiner Willensstärke.
 

„Wünsch mir Glück,“ sage ich tonlos zu Nikolai, als ich das Zimmer verlasse ohne eine Antwort abzuwarten, denn Nikolai wird nicht darauf antworten – nicht wenn er klug ist.
 

Die beiden Wachen setzen sich wortlos in Bewegung und gehen voraus. Ich folge ihnen schweigend. Die ersten, blassen Sonnenstrahlen fallen durch die hohen Fenster in den Korridor, doch ein kurzer Blick nach draußen bestätigt meine Vorahnung. Finstere, graue Wolkenmassen rücken bereits an und trüben das Licht, ehe sie es ganz verschlingen. Moskau im November bietet einen ziemlich trostlosen Anblick. Die nahen Wohngebäude und die Hochhäuser in der Ferne verschmelzen zu einer unscharfen, grauen Masse, die sich kaum gegen den grauen Himmel abzeichnet. Die Bäume entlang der hohen Mauer, welche die Abtei umgibt, haben ihr farbenfrohes Herbstkleid bereits abgeworfen. Die Blätter sammeln sich in feuchten Haufen am Straßenrand und vermischen sich mit dem trüben Wasser der Pfützen zu einer braunen, matschigen Pampe. Es wird noch bis zum Ende des Monats dauern ehe sich eine feste Schneeschicht über all dem Dreck bildet und den Schmutz der Stadt unter einem friedlichen Teppich aus endlosem, reinen Weiß begräbt.
 

Noch ehe wir die Treppe erreichen, hat sich die Wolkendecke bereits zugezogen und ein leichter Schneeregen eingesetzt. Ich vergrabe mein Kinn im Kragen des Pullover als ein kalter Luftzug durch das Treppenhaus herauf fegt. Dunkle Stimmen in meinem Kopf warnen mich davor auch nur einen weiteren Schritt zu tun. Ich kenne sie nur allzu gut. Sie flehen mich an umzukehren, davonzulaufen, obgleich sie wissen, dass mir keine Wahl bleibt. Ich schlucke eine neue Welle der Übelkeit hinunter und kämpfe gegen das lähmende Gefühl an, das sich unwillkürlich in meinen Gliedern ausbreitet um mich daran zu hindern auch nur einen weiteren Schritt in Richtung meines gewissen Untergangs zu tun.
 

Wir steigen hinab ins Erdgeschoss und von dort aus weiter hinunter. Unsere Schritte hallen laut auf den alten, massiven Steinstufen. Die Trainings- und Forschungseinrichtungen der Abtei liegen, im Gegensatz zu den Wohn- und Unterrichtsräumen, tief unter der Erde. Gut vor den neugierigen Blicken Fremder verborgen. Dort unten gibt es keine Fenster, die Gänge sind schmal und stellenweise – dort wo die alten Gewölbekeller und Katakomben liegen – nur spärlich mit flackerndem Neonlicht beleuchtet. Die Luft ist kühl und die Decke niedrig.
 

Ich achte nicht wirklich darauf, wohin wir gehen. Es fällt mir schwer meine Gedanken von der Begegnung abzulenken, die mit unausweichlich bevorsteht. Wie ein schweres Gewicht liegt mir die dunkle Vorahnung auf der Brust und jeder Atemzug fällt schwer. Ich versuche die nagenden Stimmen auszublenden, die sich hartnäckig in meinen Kopf festbeißen und mir jeden noch so kleinen Fehler in Erinnerung rufen, den ich den letzten Tagen und Wochen gemacht habe. Es gelingt mir nicht ganz, denn ich weiß, dass sie nicht ganz unrecht haben. Einer dieser Fehler hat Boris Aufmerksamkeit erregt und die nächste Stunde wird unweigerlich über meine Zukunft entscheiden – oder darüber ob ich eine haben werde.
 

Zwei weitere Wachen kreuzen unseren Weg. Sie grüßen die beiden nicht, die mich begleiten, nicken ihnen noch nicht einmal zu, als würden sie einander gar nicht wahrnehmen. Einer der beiden Männer, die wortlos an uns vorbei gehen, mustert mich für einen winzigen Augenblick, dann zeigt sich plötzlich ein boshaftes Grinsen im Schatten seiner Kapuze, als wisse er um mein Schicksal. Ich starre wortlos zurück. Die Ungewissheit macht mich krank.
 

Ich kenne die Geschichten der Kinder, die zu Boris gerufen werden, jeder hier kennt sie. Leise wispernde Stimmen pulsieren durch das unüberschaubare Labyrinth aus endlos verzweigten Gängen und Korridoren wie das Blut in den Adern einer lebenden Kreatur. Sie sind allgegenwärtig und es ist unmöglich ihnen zu entkommen. Geschichten und Gerüchte, eines entsetzlicher als das andere. Man schnappt sie beiläufig auf, ohne es wahrzunehmen und bemerkt erst viel später bewusst, dass sie haften geblieben sind, wie eine klebrige, zähe Masse.
 

Es gibt zahllose Geschichten drüber was mit den Kindern geschieht, die zu Boris gerufen werden, doch sie alle haben eines gemeinsam: Keiner hat sie jemals wieder gesehen.
 

Unwillkürlich frage ich mich, ob mich dasselbe Schicksal ereilen wird und spüre sofort wieder den Druck auf meiner Brust, der mir das Atmen schwer macht und meine Hände zittern lässt. Ich schiebe sie hastig in meine Hosentaschen und presse sie gegen die Oberschenkel um das Zittern zu unterdrücken.
 

Wissen kann ein wertvolles Gut sein an einem Ort wie diesem, der keinen Zugang zur Außenwelt ermöglicht und dessen unterirdische Säle voller Geheimnisse stecken, – oder ein gefährliches. Es kann den Sieg bringen oder ins Verderben stürzen. Man muss es vorsichtig nutzen, denn sich blind darauf zu verlassen, dass jedes Gerücht, das in der Abtei umhergeht, wahr ist, wäre wie alleine durch die nächtlichen Straßen Moskaus zu streifen – dumm und lebensgefährlich, zumindest in manchen Winkeln der Stadt. Ganz gleich was die Stimmen versuchen einem Glauben zu machen und wie überzeugend sie klingen, man darf sich niemals auf sie verlassen. Mindestens jede zweite Wahrheit, die in der Abtei verbreitet wird, ist gelogen, denn wahres Wissen ist zu kostbar, als dass es unsere Ohren erreicht.
 

Ich bin nicht dumm und auch nicht lebensmüde, die Stimmen sind ein zweischneidiges Schwert und sie zu konsultieren ein heikles Unterfangen. Wissen mag eine mächtige Waffe sein, die aber ebenso gegen dich selbst gewandt werden kann und dennoch – dennoch kann ich meine Gedanken nicht davon abhalten jedes Gerücht und jede Geschichte abzurufen.
 

Man könnte meinen, die Kinder der Abtei haben besseres zu tun als zu tratschen. Die Wachen versuchen die Verbreitung von Gerüchten zu unterbinden, aber Gerüchte haben ihre eigenen Wege unter die Leute zu kommen. Die einzigen Worte denen wir Glauben schenken dürfen, sind die der Wachen und Gospodins. Sie sind unsere Wahrheit. Es ist uns nicht erlaubt an ihnen zu zweifeln oder zu widersprechen.
 

Es ist die Furcht, die Geschichten am Leben hält, sie nährt und weiter durch die Adern der Abtei pulsieren lässt. Furcht, die man uns lehrt abzuschalten, auszublenden, als wären wir Maschinen, keine Menschen. Wem es nicht gelingt, für den gibt es keine Zukunft, nicht in der Abtei und vielleicht auch nirgendwo sonst.
 

Die Kinder der Abtei werden schnell erwachsen, denn wenn sie es nicht tun, machen sie es nicht lange. Ich bin seit einigen Jahren hier, seit ich sieben war, als Mutter krank wurde und Vater uns verließ. Meine Mutter ist wahrscheinlich längst gestorben, an ihrer Krankheit oder an Sorge um ihren Sohn, der eines Tages nicht wieder nach Hause kam. Allerdings halte ich letzteres für eher unwahrscheinlich, schließlich konnte sie sich zuletzt nicht einmal mehr an mein Gesicht, geschweige denn meinen Namen erinnern. Ich bin weggelaufen um alles hinter mir zu lassen. Ich bin hinaus auf die Straße gelaufen und direkt in Boris offene Arme. Er hat mir versprochen, wovon ich nur träumen konnte: Ein warmes Bett, ausreichend Nahrung und Sicherheit. Ein Leben, eine Zukunft. Natürlich hat er damals nicht den Preis erwähnt, den ich würde zahlen müssen, doch vermutlich hätte ich auch dann zugestimmt. Mut war noch niemals eine meiner Stärken und wenn es einen sicheren Pfad gab, so bin ich ihn noch jedes Mal gegangen.
 

Meine Geschichte ist keine besondere. Jedes Kind der Abtei weiß eine ähnliche zu erzählen.
 

Die Wachen biegen vor mir in einen breiteren Korridor ab, der plötzlich vom angenehm weichen Licht heller Halogenlampen beleuchtet wird. Wände und Boden sind nun weiß verkleidet. Wir sind in den neuen Trakt des unterirdischen Labyrinths vorgedrungen, wo die gewölbten Kellerräume großen, modernen Laboratorien weichen. Ich kann nur raten, was hinter den zahllosen massiven, vollautomatischen Metalltüren vor sich geht, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es nicht herausfinden will. Diejenigen von uns, die dem strikten, anspruchsvollen Ausbildungsplan der Abtei nicht standhalten, verschwinden hinter diesen Türen und werden niemals wieder gesehen.
 

Die beiden Wachen bleiben vor einer automatischen Stahltür stehen, die sich unter leisem Zischen wie von selbst öffnet, als ich näher komme. Mein Herz schlägt mit einem Mal schneller und kalter Schweiß bedeckt meinen Rücken. Meine Begleiter treten zur Seite und geben den Weg frei. Ich wische meine feuchten Handflächen an meiner Hose ab und schließe die Augen um erneut gegen das lähmende Gefühl anzukämpfen. Ich kann nicht zulassen, dass es überhand gewinnt, denn ich lebe nun schon lange genug an diesem Ort um zu wissen, dass Furcht in einer Situation wie der meinen noch niemandem geholfen hat. Ich habe gesehen was mit jenen Schülern der Abtei geschieht, denen es nicht gelingt ihre Angst zu überwinden, sich von ihr zu befreien. Sie sind wie gelähmt und schaffen oder wagen es nicht all ihre Kräfte zu mobilisieren. Ich gehe an den beiden Männern vorbei, die starr wie Säulen zu beiden Seiten der Tür stehen, hebe das Kinn und straffe meine Schultern. Vielleicht lügen die Stimmen. Vielleicht ist keine der Geschichten wahr. Vielleicht habe ich noch immer eine Chance. Noch ist nichts entschieden.
 

Wer weiß, was die Stimmen sich über mich erzählen, doch mit Sicherheit nicht, dass ich leicht zu verängstigen bin. Sie wissen es nicht besser. Sie dürfen niemals die Wahrheit erfahren.
 

Es ist ein großer Raum, dessen Boden und Wände mit einem hellen, widerstandsfähigem Material verkleidet sind. Es gibt zwei Beyarenen in der Mitte des Raums und in eine der Wände sind zwei große Fenster mit blickdichtem Sicherheitsglas eingelassen, hinter denen sich vermutlich eine ganze Horde an Wissenschaftler und Gerätschaften tummeln. Boris Balkov steht bei den Arenen, die Hände in die Hüften gestemmt und ein leichtes, schales Lächeln auf den Lippen. Neben ihm steht ein Junge mit hellem, beinahe grauem Haar, den ich schon einmal irgendwo gesehen habe. Wahrscheinlich beim Training. Bryan ist sein Name, fällt es mir schließlich ein. Ein ungewöhnlicher Name in diesem Teil der Welt und irgendwie habe ich das Gefühl, dass es nicht sein echter ist. Er verschränkt die muskulösen Arme vor der Brust. Der Anflug eines schmalen, boshaften Grinsens liegt auf seinen blassen Lippen, sein Blick folgt mir wie ein Raubvogel seiner Beute. Ich starre grimmig zurück. Seine hellen Augen kennen keine Furcht.
 

An der Wand hinter ihm lehnt ein weiter Junge. Graues und blaues Haar, wachsame rote oder violette Augen – je nachdem wie das Licht hinein fällt – beobachten jede meiner Bewegungen. Kai Hiwatari, es gibt keinen Grund ihn vorzustellen, jeder kennt ihn und weiß, er ist ein Unruhestifter. Ich beneide ihn um seinen Mut, der wie eine helle Flamme an diesem dunklen Ort brennt, doch das Licht zieht Aufmerksam auf sich, vor der ich mich lieber im Schatten verberge. Wohin er auch geht, Schwierigkeiten folgen und wie jeder andere halte ich mich besser von ihm fern. Keine noch so helle Flamme brennt lange an einem Ort wie der Abtei.
 

Ein wenig von den anderen entfernt steht ein dritter Junge. Tala. Beim Klang seine Namens erbleichen Gesichter, Blicke werden abgewandt und Stimmen bis auf ein leises Flüstern hinter hervor gehaltener Hand gesenkt. Er ist blass, etwas kleiner als Bryan und bis auf sein feuriges, rotes Haar kann ich nichts besonderes an ihm erkennen. Weder seine Statur, noch seine Haltung wirken auf mich sonderlich bedrohlich und entsprechen seinem unheilvollem Ruf, der ihm seit einiger Zeit unweigerlich vorauseilt.
 

Dann hebt Tala plötzlich den Kopf und seine Augen fixieren mich. Ich erwidere seinen Blick und bemerke mit Entsetzen, wie jeder einzelne Muskel in meinem Körper unwillkürlich erstarrt. Ich bleibe stehen und schaffe es nicht genügend Willenskraft aufzubringen um meinen Blick von dem seinen zu lösen. Ein eiskalter Schauer läuft mir über den Rücken und jagt eine Gänsehaut auf meine Arme. Ich starre in Talas eisblaue Augen, wie auf die gefrorene Oberfläche eines Sees an einem klirrend kalten Wintertag. Ich spüre, wie sein Blick sich tief in die dunkelsten und verborgensten Winkel meiner Seele bohrt und ich wage nicht zu ahnen, was sie dort entdecken.
 

Ich kenne meine Schwäche, denn ich kämpfe gegen sie an mit jedem Schritt, den ich mache, seit ich vor sieben Jahren zum ersten Mal über die Schwelle der Abtei getreten bin. Ich darf sie nicht zeigen, nicht an einem Ort wie diesem. Niemand darf sie sehen.
 

„Sergeij,“ begrüßt mich Boris mit einem Lächeln und der Bann ist gebrochen. Ich wende schnell meinen Blick ab, fokusiere ihn auf die weiße Wand hinter Boris. „Willkommen!“ Meine Hände zittern noch immer und ich wage es nicht noch einmal zu Tala hinüber zu sehen.
 

„Du fragst dich bestimmt, warum du heute morgen hier herunter gebeten wurdest.“ Ich schweige wie es von mir erwartet wird und mein ausdrucksloser Blick begegnet Boris dunkle, berechnende Augen. Das freundliche Lächeln um seine Lippen ist eine Maske, die seine Grausamkeit verbirgt. Ich weiß es besser, als mich davon blenden zu lassen. Ich erreichte eine Mauer um mein Innerstes, denn er darf dort nicht hinunter blicken. Er darf meine Schwäche nicht entdecken, die Angst, die jeden meiner Schritte lähmt und jeden Atemzug begleitet. Er darf nicht sehen, dass ich vor Furcht beinahe erstarrt bin. „Wir haben entschieden dich in unser Elite-Team aufzunehmen. Das sind Bryan, Kai und Tala, ab heute werdet ihr gemeinsam trainieren.“
 

Erleichterung rauscht wie eine Flutwelle über mich hinweg, nun da meine düsteren Erwartungen unerfüllt geblieben sind. Dann schaue ich von einem meiner neuen Teamkameraden zum anderen und frage mich ob Erleichterung tatsächlich angebracht ist oder ob mir das Schlimmste noch bevor steht.
 

Angst und Zweifel gehen oft Hand in Hand.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe die Geschichte hat euch gefallen! :)
Es ist beabsichtigt, dass Spencer bei seinem russischen Namen genannt wird, Tala und Bryan aber nicht.

Im nächsten Kapitel wird sich Spencer mit Bryan auseinandersetzten müssen.

Eine frohe Vorweihnachtszeit euch allen! Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  KradNibeid
2015-12-29T20:25:33+00:00 29.12.2015 21:25
Dein Stil ist einfach unglaublich. Die Geschichte ist so dicht geschrieben, sie umschlingt einen, zieht einen in ihren Bann und lässt einen nicht los. Man geht jeden Schritt mit Spencer, atmet mit ihm, fühlt mit ihm die Angst. Einfach phantastisch.

Die Metaphern, die du verwendest, sind passend und genial eingesetzt, und... ich kann es nciht in Worte fassen, aber es ist toll. Wie du die Abtei beschreibst, die Abläufe - die Namen. Den Wert von Wissen.
Es ist, als wäre das Kapitel ein einziger Zauberspruch, der einen mit einem Bann belegt. Wundervol!!
Antwort von:  Nordwind
02.01.2016 15:31
Bei so vielen Kommentaren auf einmal weiß ich ja gar nicht wo ich mit antworten anfangen soll! :D
Vielen Dank erstmal dafür!

Feedback zu dieser FF war mir sehr wichtig, da ich nicht einschätzen konnte wie sie ankommt, weil ja eigentlich nicht gerade viel passiert. ^^° Umso glücklicher bin ich, dass sie dir gefällt! :D
Ich hab sehr lang daran gearbeitet, seit Juli oder August und immer wieder ein bisschen was dran verändert, um alles so lebendig und glaubhaft wie möglich darzustellen.
Antwort von:  KradNibeid
02.01.2016 15:40
Es hat sich in jedem Fall gelohnt! Ich meine, generell hast du einen tollen Schreibstil, aber ich finde, dass du dich in dieser FF nochmal selbst übertroffen hast. Sie ist einfach so rund und in sich abgeschlossen dass ich gar nicht weiß was ich schreiben soll, weil sie mir so gut gefällt. >w<
Von:  Kirri
2015-12-12T12:04:47+00:00 12.12.2015 13:04
Dein Stil gefällt mir wirklich verdammt gut :) Ich freue mich auf das nächste Kapitel! Lieben Gruß
Kirri
Antwort von:  Nordwind
13.12.2015 16:58
Freut mich sehr, dass es dir gefällt! :)


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