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Ein einfaches Ende

Yamato Ishida x Taichi Yagami
von

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Mit dem Verklingen der letzten Töne entferne ich mich von dem Mikrofon, welches ich bis eben fest umklammert hielt, und gehe zu einem der Stühle, auf dem ich meine Sachen bei meiner Ankunft ablegte. Sorgfältig verstaue ich die Bassgitarre in der dafür vorgesehenen Tasche.

„Yamato?“, spricht Kozue mich irritiert an und lässt ihre Drumsticks sinken.

„Ich muss nach Hause“, erkläre ich knapp, wobei ich hastig meine Jacke anziehe und anschließend den Schal mehrfach um meinen Hals wickele.

„Wir proben aber gerade“, weist sie mich tadelnd zurecht.

„Nach fünf Jahren müsstest du Yamato doch langsam kennen, Kozue. Er macht doch seit jeher, was er will“, wirft Naoki lachend ein und stellt seine E-Gitarre beiseite.

„Ihn kennen?“ Nachdenklich betrachtet sie mich. „Dazu müsste Herr Ishida erst einmal etwas von sich preisgeben, nicht wahr?“ Unsere Schlagzeugerin zwinkert mir liebvoll zu. Ein Lächeln legt sich auf meine Lippen. Auch wenn sie mich gerne neckt, weiß ich, dass sie mich akzeptiert, wie ich bin. Nie würde sie mich bedrängen, sobald es um meine eigene Person geht.

„Es tut mir leid, nur… der Umzug… in der Wohnung herrscht das reinste Chaos.“

„Schon gut, Yamato. Du musst dich nicht rechtfertigen.“ Kozue greift nach der kleinen Wasserflasche, die neben ihr auf dem Boden steht, und trinkt einige Schlucke.

„Können wir dir vielleicht helfen?“ Fragend schaut Masao mich an.

„Nein, die Kartons muss ich schon selbst ausräumen.“ Zwar erzählte ich meinen Bandmitgliedern von dem Umzug, aber dass ich nicht allein wohne, verschwieg ich. Ebenso meine Beziehung mit Taichi. Die drei hätten mit meiner Homosexualität kein Problem, dessen bin ich mir sicher, trotzdem möchte ich mein Privatleben lieber privat lassen. Beiläufig drückt Masao einige Tasten seines Keyboards, während seine Augen weiterhin auf mir ruhen. Er ist süß, doch ich glaube, sowohl er als auch Naoki haben eine Freundin. Ohnehin würde ich nie mit einem Bandkollegen ins Bett gehen. Und Kozue interessiert sich weder für Männer noch für Frauen. Vermutlich macht mir ihre Gegenwart deshalb nichts aus. Ich mag sie sogar. Nur manchmal frage ich mich, wie sie mit ihrer Asexualität auf meine Vergangenheit und zum Teil auch Gegenwart reagieren würde.

„Die verlorene Zeit sollten wir morgen vielleicht dranhängen“, schlägt Kozue vor. „Immerhin ist der Gig bereits nächste Woche.“ Ich überlege kurz, nicke anschließend und schaue dann fragend zu Naoki und Masao, die ebenfalls mit einem Kopfnicken zustimmen.

„Das Lied, an dem ich gerade schreibe, ist auch fast fertig. Wenn ich mich ranhalte, könnten wir es vielleicht für den Auftritt noch einstudieren.“ Behutsam hänge ich mir die Tasche mit der Gitarre um und gehe zur Tür.

„Yamato?“, ruft Masao mir hinterher. „Es ist nicht schlimm, falls du es nicht schaffen solltest, okay?“ Ich drehe mich zu ihm um. Er lächelt sanft. Manchmal kommt mir der paranoide Gedanke, dass dieser junge Mann mehr über mich weiß, als er vorgibt.

„Danke“, murmle ich verlegen und verlasse eilig den Proberaum.
 

Leicht außer Atem schließe ich die Tür zur Wohnung auf. Es ist angenehm, nicht mehr bis in den vierten Stock, sondern nur noch eine Außentreppe nach oben laufen zu müssen. Im Flur entledige ich mich meiner Schuhe sowie der wärmenden Winterjacke und betrete die Küche. Müde lasse ich mich auf einen der Stühle fallen und schließe für einen kurzen Moment die Augen. Das Pulsieren in meinem Kopf ist in diesem Ruhezustand deutlicher spürbar, sodass ich meine Handballen fest gegen meine Schläfen drücke. Dann entnehme ich der Schachtel, welche auf dem Tisch liegt, eine Zigarette und zünde diese mit dem Feuerzeug an. Tief atme ich den Rauch ein.

„Du bist schon da?“ Taichi schaut mit einem überraschten Gesichtsausdruck in den Raum.

„Ja, aus Kartons zu leben nervt, also verkürzte ich die Bandprobe.“ Mein Freund betritt die Küche und holt aus dem Schrank zwei Tassen.

„Kaffee?“

„Ja, danke.“

„Und deine Leute sind einverstanden, wenn du kurz vor einem Konzert die Proben schwänzt?“

„Ich schwänze nicht“, entgegne ich mürrisch und ziehe an der Zigarette. Tai schaltet die Kaffeemaschine ein und setzt sich mir gegenüber, seinen Kopf in seine Hände gestützt.

„Du kannst echt froh sein, eine derart geduldige und tolerante Band zu haben. Bei all den Eskapaden, die du dir leistest.“ Etwas gereizt drücke ich den letzten Rest der Zigarette im Aschenbecher aus.

„Selbst Schuld, sie hätten mich in Ruhe lassen können. Ursprünglich wollte ich ihrer Band überhaupt nicht beitreten. Letztlich war es mein Vater, der mich dazu brachte, meine Meinung zu ändern, weil er wollte, dass ich etwas Sinnvolles mit meiner Zeit anfange.“ Sehnsucht ergreift Besitz von mir. „Nur für ihn habe ich die Uni beendet“, füge ich gedankenversunken hinzu. Mein Gegenüber erhebt sich, füllt die Tassen mit dem heißen, koffeinhaltigen Getränk und stellt sie auf dem Küchentisch ab. Sogleich ziehe ich eine der Tassen zu mir heran, halte sie in meiner Hand vor meinen Mund und puste, um die Flüssigkeit etwas abzukühlen. Eine Weile schweigen wir, immer wieder vorsichtig und schluckweise Kaffee trinkend. „Warum bist du eigentlich zu Hause?“, frage ich schließlich und betrachte müde seine markanten Gesichtszüge. Inzwischen ist Taichi ein sehr attraktiver Mann, der leider den Geschmack vieler Frauen trifft. Allein unter seinen Kolleginnen sind etliche Verehrerinnen, die durch ihre Penetranz beziehungsweise bloße Existenz meine mordlüsternen Fantasien nähren.

„Ich konnte mir beim Sender freinehmen. Momentan finden nicht so viele Sportevents statt, bei denen ich unbedingt anwesend sein muss oder über die es sich zu berichten lohnt. Und dieses Chaos in der Wohnung nervt mich ebenso wie dich.“ Mein Freund grinst mich an.

„Dann sollten wir allmählich anfangen.“ Ohne auf meine Aussage einzugehen, steht Tai auf und kommt auf mich zu. Voller Verlangen küsst er meine Lippen, seine Zunge spüre ich fordernd in meinem Mund. Ich lasse mich auf ihn ein, schließe meine Augen und vergrabe meine Finger in seinen, wie immer, zerwuschelten Haaren. Erregung erfasst meinen Körper, weshalb ich meinen Gegenüber leicht von mir drücke.

„Widmen wir uns lieber den Kartons. Die packen sich nicht von allein aus.“

„Ich habe aber gerade etwas Interessanteres gefunden“, raunt Tai mir lüstern ins Ohr, während er mit seiner Hand meine Oberschenkelinnenseite entlangstreicht und schließlich zwischen meine Beine greift. „Anscheinend möchte dein Körper eher meinem Begehren als deiner Vernunft nachgeben.“

„Uns bleibt nicht allzu viel Zeit. Heute Abend muss ich noch zur Abeit.“ Sofort lässt mein Freund von mir ab und schaut mich an. Genervt erhebe ich mich und gehe an ihm vorbei zur Tür. „Spar dir deine Worte, ich werde diesen Job nicht kündigen. Und ich diskutiere bezüglich dieses Themas auch nicht mehr mit dir. Du weißt genau, dass ‚So easy’ zu unbekannt sind, um davon den Lebensunterhalt zu bestreiten. Wir haben nicht einmal ein Plattenvertrag.“

„Yamato.“ Taichi seufzt.

„Der Laden ist seriös. Ich bediene lediglich die Kunden.“

„Fragt sich nur mit welcher Art Dienstleistungen.“ Der misstrauische Unterton und die Eifersucht sind deutlich herauszuhören.

„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es kein Hostclub oder dergleichen ist, sondern ein ganz normaler Nachtclub?“

„Allerdings im Schwulenviertel Shinjuku ni-chōme. Gehört es da nicht zum Service, eine kleine Nummer mit den Gästen zu schieben?“

„Du bist doch bescheuert!“, werfe ich ihm aufgebracht an den Kopf. „Vertraust du mir überhaupt nicht?“ Tai lächelt schmerzlich.

„Nein, Yamato. Wundert es dich?“ Ich schaue zu Boden, meine Hand zur Faust geballt. Ganz unrecht hat er nicht, denn ich habe nie aufgehört meinen Körper zu verkaufen. Seit ich mich vor sechs Jahren von Shinya losgesagt habe, ließ ich mich hin und wieder von Fremden ficken, um meinem Selbsthass nachzugeben. Im Zuge dessen begann ich erneut GHB zu konsumieren. Mit meiner Arbeit hat all das allerdings nichts zu tun und die Häufigkeit dieser Handlungen hält sich meiner Meinung nach in Grenzen.

„In dem Fall können wir die Unterhaltung beenden. Egal, was ich sage, deine Meinung kann ich vermutlich nicht ändern. Außerdem bin ich es leid, immer die gleiche Diskussion zu führen. Dahingehend bist du meinem Vater wirklich sehr ähnlich.“
 

„Hey, Yamato. Bringst du diese Getränke bitte den beiden Herren auf dem Ecksofa? Und bevor du gleich Feierabend machst, lass uns draußen noch eine Zigarette rauchen. Ich möchte kurz mit dir reden.“

„In Ordnung“, stimme ich zu und nehme das Tablett entgegen. Bei den Gästen angelangt, stelle ich die Bestellung kommentarlos auf der Tischplatte ab und ziehe mich sofort wieder zurück, da ich die Männer, die auf sehr intime Art miteinander beschäftigt sind, nicht stören möchte. Es handelt sich um Stammgäste, bei denen ich mich allerdings jedes Mal frage, ob sie den Club nicht mit einem Lovehotel verwechseln. Erschöpft begebe ich mich in das kleine Hinterzimmer, entledige mich meiner Arbeitskleidung und ziehe meine Jeans sowie einen dicken Strickpullover an. Dieses Jahr ist es ungewöhnlich kalt für Dezember, weshalb Schnee zu Weihnachten nicht auszuschließen wäre.

„Schade, du bist schon umgezogen“, schmollt mein Kollege und tritt von hinten an mich heran.

„Wenn du da bist, muss ich ja auch auf meinen Hintern aufpassen“, entgegne ich monoton.

„Stimmt.“ Er umfasst meine Hüfte und zieht mich dichter an seinen Körper. „Lass mich doch einfach ran, Yamato“, haucht er anzüglich, wobei ich seinen warmen Atem an meinem Ohr spüre. Mit seiner Hand gleitet er zwischen meine Beine.

„Es reicht“, wehre ich ihn ab. Bestimmt löse ich mich aus seiner Umklammerung, nehme Abstand zu ihm. Mein Arbeitskollege lacht.

„Seit inzwischen drei Jahren versuche ich dich ins Bett zu kriegen. Noch nie habe ich eine dermaßen zugeknöpfte und verklemmte Person getroffen. Ich will dich nicht heiraten, Yamato. Nur ein bisschen Spaß haben.“

„Es gibt genügend andere Typen, die sich gern von dir flachlegen lassen würden, also warum…“

„Weil du mit deiner reservierten Art sexuelle Fantasien in mir auslöst. Du glaubst gar nicht, was ich in meinen Gedanken schon alles mit dir…“

„Ich glaube es. Und behalte deine Perversionen bitte für dich, okay? Hier, ich gebe eine aus.“ Mein Gegenüber nimmt das Angebot mit einem Lächeln an und zieht zwei Zigaretten aus meiner Schachtel, wovon er mir eine reicht. Vor der Tür entzünden wir die kleinen Suchtmittel und ziehen den Rauch tief in unsere Lungen. „Worüber willst du mit mir sprechen?“, lenke ich die Aufmerksamkeit auf das eigentliche Thema.

„Naja, eigentlich möchte ich dich um etwas bitten. Kannst du morgen meine Nachtschicht übernehmen? Ich weiß, es ist dein freier Tag und…“

„Lass mich raten. Du hast wieder irgendeinen Kerl abgeschleppt, mit dem du es ein paar Mal treiben willst, nur um ihn letztlich abzuschießen, weil er dir zu langweilig wird.“

„Wenn du das so sagst, klingt es, als wäre ich einer dieser kleinen, billigen Strichjungen, bei denen man nie so genau weiß, woran man ist.“

„Das weiß man bei dir doch auch nicht“, bemerke ich abfällig.

„Ist das der Grund, weshalb du mich nicht ranlässt? Du hast Angst, verletzt zu werden, sollte ich nach dem Sex das Interesse an dir verlieren.“ Kurz muss ich lachen.

„Träum weiter.“ Ich ziehe ein letztes Mal an meiner Zigarette und drücke sie flüchtig aus. „Egal, wie oft du es noch versuchst, von dir lasse ich mich nicht ficken.“

„Prima, die Rollenverteilung wäre somit geklärt.“ Vielsagend zwinkert er mir zu. Der Typ hört mir einfach nicht zu. Ich seufze.

„Kein Problem. Deine Schicht kann ich übernehmen.“ Durch diese Entscheidung provoziere ich vermutlich erneut einen Streit mit Taichi, da der nicht will, dass ich nachts arbeite. Dabei ist die Uhrzeit nicht der einzige Faktor, der ihm missfällt.

„Danke, du hast was gut bei mir“, reißt mich mein Kollege aus meinen Gedanken.

„Vergiss es einfach“, winke ich ab.

„Nein, ich vergesse es nicht. Nur jetzt muss ich rein, bevor der Boss mich wieder zurechtweist. Immerhin hat er die Pause nicht genehmigt.“ Mein Gegenüber drückt nun ebenfalls seine Zigarette aus und küsst mich leicht auf die Wange. „Pass auf dich auf.“ Ich wende mich zum Gehen und schlage die Richtung zur U-Bahn ein, doch ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass die letzte Bahn bereits vor mehr als einer halben Stunde fuhr. Kurz bleibe ich stehen und überlege, ob ich in einem Hotel übernachten soll oder doch Taichi bitte, mich mit dem Auto abzuholen. Inzwischen ist er seit mehr als sieben Jahren trocken, sodass er sich vor zwei Jahren zutraute, den Führerschein zu machen. Trotzdem will ich ihn nicht ständig als Taxifahrer missbrauchen… andererseits, wenn ich nicht nach Hause komme…

„Entschuldigung.“ Ich zucke zusammen, als ich spüre, wie mich jemand am Hangelenk festhält. Zögernd drehe ich mich um. Überrascht mustere ich einen jungen Mann, der mich mit schüchterem und zugleich merkwürdig durchdringendem Blick anschaut. Seine Augen erinnern mich an Tai, sie haben denselben schönen Braunton. „Lust?“ Offenbar handelt es sich bei dem Kleinen um einen Stricher, der noch sehr unerfahren ist. Ich zweifle stark an seiner Volljährigkeit. Dennoch muss ich zugeben, dass ich ihn unglaublich süß finde. Er wirkt zerbrechlich und sehr feminin, vermutlich sind seine Freier eher ältere Männer. Die zahlen zwar meist gut, haben oft aber auch die perversesten Vorlieben.

„Wie alt bist du?“, frage ich, statt zu antworten.

„Spielt das eine Rolle? Spielte es bei dir eine Rolle, Yamato?“

„Was?“ Verwirrt betrachte ich meinen Gegenüber und versuche seinem Gesicht einen Namen zuzuordnen, obwohl ich mir eigentlich sicher bin, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Das Lächeln, welches er mir entgegenbringt, zeugt von keinerlei Emotionen.

„Mit Jüngeren treibst du es also nicht. Des Geldes wegen?“

„Ich glaube, du verwechselst mich.“

„Heißt du nicht Yamato? Deinen Nachnamen weiß ich leider nicht, sonst hätte ich dich bereits eher ausfindig machen können. Nur durch Zufall sah ich dich vorhin in der Bahn und folgte dir bis hierher. Ich wartete. Du warst lange in diesem Club. Triffst du da deine Freier oder musst du arbeiten, weil dir die Bezahlung für deine Dienstleistungen nicht mehr reicht?“

„Was willst du von mir, wenn du sogar stundenlang in dieser Kälte wartest?“

„Dir die Schwere deiner Schuld vor Augen führen. Ein Gewissen scheinst du nicht zu haben.“ Hasserfüllt bringt er mir seine für mich unverständlichen Vorwürfe entgegen, den Griff um mein Handgelenk verstärkt er schmerzhaft.

„Es ist unhöflich, seinen Namen nicht zu nennen“, sage ich mit leicht verzerrter Stimme. Ich versuche ein Grinsen aufzusetzen. „Und du bist stärker, als du aussiehst.“

„Shota Takano.“ Mein Körper verkrampft und meine Augen weiten sich. „Anhand deiner Reaktion erkenne ich, dass du dich an mich erinnerst. Es ist lange her, nicht wahr? Damals war ich zu klein, um deine Besuche bei uns richtig zu deuten. Ich mochte dich, denn wenn du da warst, war mein Vater irgendwie entspannter. Heute weiß ich, warum. Du bist sein kleiner Stricher. Ihr treibt es miteinander, nicht wahr? Was hast du mit ihm getan, dass er so geworden ist? Dass er sich sogar an seinem eigenen Sohn vergreift.“ Der letzte Satz löst Panik in mir aus.

„Shota, hat dein Vater dich…“ Eine kräftige Ohrfeige bringt mich zum Schweigen.

„Du scheinheiliger Bastard! Als hätte dich je etwas anderes interessiert, als von meinem Vater gefickt zu werden!“, schreit mein Gegenüber mich wütend an. Einige der umstehenden Typen unterbrechen ihre Konversationen und richten neugierig ihre Blicke auf uns. „Deinetwegen ist meine Familie zerbrochen. Wie fühlte es sich an, als mein Vater sich für dich und gegen meine Mutter und mich entschied?“

„Shota…“

„Liebst du ihn überhaupt? Bist du glücklich? Kannst du solche Gefühle überhaupt empfinden? Für mich bist du einfach nur skrupellos und egoistisch.“ Ein Schwindelgefühl überkommt mich und Übelkeit ergreift Besitz von mir. Ich nutze den Umstand, dass mein Gegenüber mein Handgelenk noch immer fest umschlossen hält, und ziehe ihn dicht an mich.

„Hasse mich, wenn es dir dann besser geht. Was passierte, kann ich nicht rückgängig machen und sollte dein Vater…“

„Er fasste mich an, ging ein wenig weiter, aber ich denke nicht, dass seine Handlungen bereits als Vergewaltigung gelten“, flüstert Shota mit zitternder Stimme. Seine gesamte Wut scheint von ihm abzufallen und er beginnt heftig zu weinen. Ich drücke den Jungen, der inzwischen genauso groß ist wie ich und neunzehn Jahre alt sein müsste, voller Zuneigung an mich und streiche beruhigend durch sein weiches, schwarzes Haar. „Lass mich los, verdammt!“ Plötzlich stößt Shota mich derb von sich, sodass ich für einen Moment ins Taumeln gerate. „Fass mich nie wieder mit diesen Drecksfingern an! Du hast mir meinen Vater weggenommen und meine Familie zerstört, du elender Heuchler! Hoffentlich wird dir deine Abartigkeit zum Verhängnis, indem einer deiner Freier sich auf schlimmste Weise an dir vergeht, dir unerträgliche physische und psychische Qualen zufügt, dich schließlich brutal absticht und elendig ausbluten lässt!“ Voller Verachtung spuckt er mir vor die Füße, wendet sich um und rennt die Straße entlang, bis er zwischen den Menschen und in der Dunkelheit der Nacht aus meinem Blickfeld verschwindet. Auf wackeligen Beinen schleppe ich mich in eine unbelebte Seitengasse und übergebe mich krampfartig. Dann sinke ich zu Boden. Gegen die Wand gelehnt und mit gesenktem Kopf beginne ich leise zu lachen. Welch Ironie, versuchte ich damals doch eigentlich mit meinem Körper Shinyas Sohn zu schützen.
 

Schweigend sitze ich im Auto, den Kopf an die Scheibe gelehnt und verfolge mit meinen Augen teilnahmslos die vorbeiziehenden Häuser. Mein Körper fühlt sich schwer an, nahezu gelähmt, und ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Die Begegnung mit Shota lastet schwer auf mir, meine Kehle ist wie zugeschnürt. Seine Vorwürfe sind berechtigt, schließlich war ich der Strichjunge seines Vaters, diesbezüglich werde ich ihn nicht anlügen. Dabei frage ich mich, warum die Tatsache, Shota wehgetan zu haben, so sehr schmerzt, obwohl sich meine Emotionen andere Menschen betreffend normalerweise eher in Grenzen halten. Auch spüre ich noch immer seinen bebenden, eng an mich gepressten Körper, sowie den Hass und die Verachtung, welche er mir sehr offen entgegenbrachte. Die Erinnerung an seinen verzweifelten Gesichtsausdruck schnürt mir weiter die Kehle zu, ebenso wie die unterdrückte Sehnsucht nach seinem Vater, die nun erneut unerträglich präsent ist. Von der Situation völlig überfordert weiß ich nicht, was ich im Moment fühle, fühlen soll oder ob ich überhaupt gerade in der Lage bin, etwas zu empfinden. Meine Eingeweide verkrampfen. Wieder steigt Übelkeit in mir auf, dabei erbrach ich vorhin bereits die wenige Nahrung, die ich am Abend zu mir genommen hatte.

„Leg ruhig eine andere CD ein, wenn diese dich nervt“, meint Taichi plötzlich. Bis jetzt hatte ich die hämmernde, unmelodiöse Industrialmusik nicht bewusst wahrgenommen, doch nun dröhnt sie einhergehend mit den Kopfschmerzen penetrant in meinem Schädel.

„Hm“, entgegne ich lediglich, ohne zu reagieren. Mein Freund regelt die Lautstärke nach unten.

„Was ist eigentlich los? Du bist schon die ganze Zeit so abwesend. Ist auf der Arbeit etwas vorgefallen?“

„Nur das Übliche“, antworte ich monton.

„Also hat sich dieser Wichser Reiji wieder an dich herangemacht“, stellt Tai hörbar verärgert fest. „Warum sagst du ihm eigentlich nicht, dass du vergeben bist? Vielleicht lässt er dich dann endlich in Ruhe. Ich verst…“

„Wie oft muss ich es dir noch erklären? Mein Privatleben geht niemanden etwas an. Weder Reiji noch meine Bandkollegen.“

„Manchmal drängt sich mir der Gedanke auf, dass du durch deine Verschwiegenheit versuchst deine Vergangenheit ungeschehen zu machen oder wenigstens zu vergessen.“

„Ich habe kein Problem mit der Vergangenheit. Sie geht einfach niemanden etwas an. Du sprichst ebenso nicht über deine Alkoholabhängigkeit, oder?“, kontere ich entnervt. Mein Freund schweigt. „Außer mir brauchst du niemanden. Es ist somit nicht nötig, andere Bekanntschaften zu machen“, füge ich leise an. Im Augenwinkel sehe ich, dass sich ein Lächeln auf Taichis Lippen legt. Ich richte meinen Blick wieder aus dem Fenster. Niemals hätte ich Shota einfach so gehen lassen dürfen. Aber was sollte ich sagen? Seiner Wut entgegenzuwirken wäre meiner Meinung nach der falsche Weg gewesen. Ich berühre meine Wange, die von der Ohrfeige nach wie vor leicht schmerzt. Hoffentlich ist sie nicht gerötet, sonst muss ich mir eine glaubhafte Erklärung einfallen lassen, da ich nicht möchte, dass Tai von der Begegnung mit Shinyas Sohn erfährt. Es würde vermutlich sein Misstrauen erwecken und Diskussionen diesbezüglich will ich mir definitiv ersparen. Die meisten Streits zwischen uns basieren ohnehin auf seinem mangelnden Vertrauen, deshalb sollte ich es nicht unnötig strapazieren und besser schweigen.

„Willst du im Auto übernachten?“, vernehme ich plötzlich die Stimme meines Freundes.

„Was?“

„Wir sind da. Wo bist du nur schon wieder?“ Ohne zu antworten, steige ich aus dem Auto, laufe die Treppe nach oben und krame in meiner Tasche nach dem Schlüssel. Taichi ist allerdings schneller und öffnet die Tür zu unserer Wohnung. Im Flur entledige ich mich meiner Schuhe sowie Jacke und gehe anschließend sofort in die Küche, um Kaffee aufzusetzen.

„Soll ich dir noch etwas zu Essen machen?“, fragt mein Freund, tritt von hinten an mich heran, legt seine Arme um meine Taille und sein Kinn auf meine Schulter.

„Nicht nötig. Ich habe auf der Arbeit bereits etwas gegessen“, lüge ich und löse mich aus der Umarmung. Tai betrachtet mich skeptisch. Die Übelkeit hat nicht nachgelassen, weshalb ich sicher bin, feste Nahrung im Augenblick nicht bei mir zu behalten. Er würde es aber wie immer als Ausrede deklarieren, weshalb ich mir angewöhnt habe, auf bestimmte Sachverhalte nicht weiter einzugehen und diese unkommentiert zu lassen. Erschöpft sinke ich auf einen der Stühle und zünde mir eine Zigarette an.

„Du rauchst zu viel und isst zu wenig. Allmählich wirst du wieder von deiner Essstörung beherrscht.“

„Wenn du mir nur Vorhaltungen machen willst, dann geh bitte, Taichi. Dafür habe ich gerade überhaupt keinen Nerv“, herrsche ich ihn gereizt an.

„In letzter Zeit bist du von allem genervt. Und wahrscheinlich am meisten von dir selbst“, gibt mein Freund in einer mich rasend machenden Gelassenheit zurück, als wäre er über alles und jeden erhaben. Ich verdrehe die Augen, nehme einen kräftigen Zug von meiner Zigarette und puste den Rauch geräuschvoll in die Luft der Küche.

„Yagami, lass mich einfach in Ruhe, okay? Bis morgen muss ich noch einen Song fertigschreiben, da kann ich deine dumme Besserwisserei nicht gebrauchen.“ Mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck wendet Taichi mir den Rücken zu und verlässt den Raum. Ich drücke die Zigarette im Aschenbecher aus, hole mir eine mit Kaffee gefüllte Tasse und entzünde erneut eine Zigarette. Mein Freund hat Recht, das wissen wir beide. Nach all den Jahren und meinem Psychoterror frage ich mich, warum er jetzt sogar mit mir zusammengezogen ist. Warum tut er sich mich überhaupt an? Warum? Ich betrachte die glimmende Glut der Zigarette. Der Schmerz könnte helfen, mich etwas zu sortieren. Seufzend drücke ich die erst zur Hälfte gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus, verschränke die Arme vor mir auf dem Tisch und bette meinen Kopf darauf. In den letzten Jahren funktionierte dieses dumpfe, gesellschaftsfähige Existieren einigermaßen. Ich schaffte es zumindest, nicht noch einmal in die Psychiatrie eingewiesen zu werden und sogar die Universität abzuschließen. Ich habe Kontakte zur Außenwelt, spiele in einer Band, verdiene Geld durch einen Nebenjob und wohne mit Taichi endlich in einer eigenen Wohnung. Die Probleme bezüglich Essen und Drogen bilde ich mir ein im Griff zu haben. Es müsste alles gut sein. Ich müsste glücklich sein. Was erwarte ich eigentlich? Wie lange kann man durch bloßes Existieren am Leben bleiben? Taichi scheint zu spüren, dass sich etwas verändert. Er ist alarmiert. Er kennt mich gut. Zu gut. Ich bin müde. Ich will weg. Weg von diesem Leben. Weg von mir. Taichi, ich verliere allmählich meinen Halt, oder? Taichi, hilf mir! Tränen brennen in meinen Augen, als ich erschöpft einschlafe.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Muto_Yuugi
2014-12-03T13:14:04+00:00 03.12.2014 14:14
Es ist sehr berührend das du Schöne zugleich am Anfang eingebaut hast. Es macht hungern mehr und wirft gleichzeitig viele Fragen auf. Zu dem Frage ich mich okay und Yami es beide schaffen Einander treu zu bleiben wenn es mal zusenden geht. yama leidet so sehr aber er sollte auch mal Tai betrachten. Ich bin neugierig auf mehr und hungrig nach einem happy end. Ich freu mich drauf wenn du weiter schreibst. Es war bereits jetzt voller Emotionen ich kann das nächste Kapitel kaum erwarten!
Von: abgemeldet
2014-11-25T21:33:13+00:00 25.11.2014 22:33
Ein klasse Kapitel^^
Schreib bitte schnell weiter^^


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