Unterm Kirschbaum
Das Gefühl zu fallen riss Nanami aus dem Schlaf. Panisch strampelte sie sich von der erdrückend schweren Bettdecke frei um sich aufzusetzen. Ihr Atem ging schnell und unregelmäßig, ihr Herz raste. Irgendjemand hatte gerufen. Sie verfolgt. Dann war sie gefallen. Der Pyjama klebte unangenehm an ihrem Körper. Ihr war heiß und kalt zugleich. Jemand beobachtete sie.
Zögernd setzte Nanami einen Fuß vor das Bett. Als keine kalte Hand ihren Knöchel umschloss ließ sie den zweiten folgen. Sie wollte aufstehen und ins Bad gehen, doch irgendetwas hielt sie davon ab. Erst jetzt hörte sie den Sturm, der draußen wütete. Der Wind riss tosend an den Zweigen der Bäume, von denen einige an ihrem Fenster kratzten. Rief da nicht jemand ihren Namen?
Vorsichtig näherte sie sich dem Fenster. Ihr Blick fiel direkt auf den Kirschbaum, dessen Blüten selbst in der Dunkelheit schimmerten. Der Sturm schien ihnen nicht viel anhaben zu können. Ein greller Blitz durchzuckte den Himmel und tauchte die Szenerie für den Bruchteil einer Sekunde in grelles Licht. Nanami erstarrte. Ihr war mit einem Mal eiskalt.
Direkt unter dem Kirschbaum, neben einem riesigen Loch im Boden, stand ein kleiner Junge, keinesfalls älter als 6 oder 7. Er war schmutzig, als wäre er aus der Erde gekrochen. Und er starrte nach oben, direkt auf ihr Zimmerfenster, direkt auf sie. Konnte er sie sehen? Er kam ihr bekannt vor.
Mit einem Mal traf sie die Erkenntnis. „Shô…?“ flüsterte sie lautlos. Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Doch der nächste Blitz ließ ihre Ahnung zu Gewissheit werden. Es war Shôtaro, Nanamis bester Freund aus Kinderzeiten. Am Abend vor ihrem ersten Schultag war er spurlos verschwunden. Nun stand er in ihrem Garten, unter dem Kirschbaum, den sie gemeinsam gepflanzt hatten und starrte sie an. Keinen Tag älter als damals.
Donnergrollen ließ sie zusammenfahren. Sie drehte sich um und rannte die Treppen hinunter, durch das Wohnzimmer in den Garten hinaus. Er stand noch immer da. Er stand da! Stumm. Und starrte sie an. Vorsichtig trat Nanami einen Schritt nach vorn, als er unvermittelt seine Hand anhob und auf das Loch neben sich zeigte. Eine unbestimmte Angst beschlich sie. Ohne den Blick von dem Jungen zu lösen, ging sie langsam auf ihn zu, als ein scharfer Schmerz ihren Fuß durchzog. Sie war auf einen vom Sturm gebrochenen Ast getreten. Verärgert warf sie ihn beiseite.
Als sie ihren Blick wieder hob, war der Junge verschwunden. Ein kalter Schauer kroch ihre Wirbelsäule hinauf. Sie wurde noch immer beobachtet. Sie fühlte es.
Vorsichtig ließ Nanami den Blick durch den Garten schweifen, wagte jedoch nicht sich umzudrehen, als ein sanftes Pfeifen an ihr Ohr drang. Abrupt wandte sie ihren Kopf wieder dem Kirschbaum zu. Da saß er. Hoch oben in den wippenden Zweigen der Baumkrone. Erneut zeigte er auf das Loch in der Erde.
Umsichtig tat Nanami die letzten Schritte. Das Loch war leer. Irritiert sah sie nach oben. Shô saß noch immer da und blickte stumm zurück. Es war der Junge aus ihrer Kindheit, daran bestand kein Zweifel. Erneut zeigte er auf das Loch. Kurzerhand ging sie in die Hocke, doch so sehr Nanami ihre Augen auch anstrengte, sie konnte nichts darin ausmachen. Es half wohl alles nichts. Widerstrebend stieg sie in das Loch hinab. Der Rand war auf Höhe ihrer Hüfte. Mit einem Seufzen ging Nanami auf die Knie und begann den Boden mit ihren Händen abzutasten, bis ihre Finger auf etwas kaltes Hartes stießen. Metall? Ein Stift? Ein Griff!
Hastig begann Nanami die Erde von dem Gegenstand zu entfernen, der sich als Box entpuppte. Angestrengt ächzend brachte sie schließlich all ihre Kraft auf, um ihn aus der Erde zu ziehen. Erneut sah sie nach oben. Shô nickte sein bezauberndes Lächeln, mit dem er stets die Herzen aller Erwachsenen gewonnen hatte. Auch Nanami lächelte.
Sie stellte die Box an den Rand der Grube, eh sie zurück auf den Rasen kletterte und ihren Pyjama notdürftig abklopfte. Ihr Blick streifte das Haus, als sie sich aufrichtete. Nanami erstarrte in der Bewegung. Auf der Terasse stand ihr Vater. Intuitiv wich Nanami einen Schritt zurück und verlor den Boden unter den Füßen.
Das Gefühl zu fallen riss Nanami aus dem Schlaf. Panisch strampelte sie sich von der erdrückend schweren Bettdecke frei um sich aufzusetzen. Ihr Atem ging schnell und unregelmäßig, ihr Herz raste. Sie versuchte sich zu erinnern, während ihr Blick panisch das sonnige Zimmer durchsuchte. Der Anblick ließ sie innehalten. Alles war von Kirschblüten bedeckt, die Schränke gleichermaßen wie ihr Schreibtisch und der Fußboden. Nanami blickte an sich herunter. Ihre Bettwäsche und Pyjamahose waren schmutzig, voller Erde. Ebenso ihre Füße und Hände.
Nanami wollte aufstehen, als ihr Blick auf die blaue Box neben ihrem Kopfkissen fiel. Sie erkannte sie wieder. Als Shôtaro für tot erklärt wurde, hatte sie darin stellvertretend einen Brief und Fotos unter dem Kirschbaum beerdigt. Mit zitternden Händen hob sie die Box auf den Schoß und öffnete das Zahlenschloss. 1-2-3-4.
Der Brief lag vergilbt oben auf. Sie entfaltete das Papier und erstarrte. Durch ihre kindliche Schrift war in fetten Zeichen nur ein Wort gerissen. Sie warf den Brief beiseite und nahm die Fotos zur Hand, während die Schritte ihrer Mutter auf der Treppe ertönten. Ein Foto nach dem anderen warf sie beiseite. Es klopfte an ihrer Zimmertür. Jedes Bild war zerkratzt. Jedes Bild hatte die gleiche Botschaft.
Flieh.