Zum Inhalt der Seite

Der Traum des Fräuleins Alfredine

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Ungeduldig sah die junge Frau auf die Uhr. Der Chauffeur verspätete sich. Eigentlich sollte er sie um 14.00 abholen. Jetzt war es schon 14.02. Pünktlichkeit war eine Tugend, die er wohl nicht besass.

Das würde ihren Tagesplan durcheinander bringen. Sie starrte auf die Strasse. Diese unzuverlässigen Angestellten! Genauso unnütz wie der pazifistische Zivildienstler. Oder der Mann an der Rezeption. Der hockte auch nur seine Zeit bis zur Rente ab.

Schaudernd dachte sie an die Anstalt. Sie geht vor die Hunde. Ihr Vater hätte nicht in Rente gehen dürfen. Die Patienten machten, was sie wollten. Entsetzlich.

Endlich hörte die Frau den Wagen. Der Oldtimer rollte die Strasse entlang. „Das hat gedauert. Noch einmal so einen Lapsus und ich melde es meinem Vater.“ Der Chauffeur nickte nur und hielt ihr die Wagentüre auf.

Innerlich fluchte der Mann über das vorlaute Gör. Arrogant wie Doktor Marcel. Manchmal wünschte er sich, es wäre in dieser Nacht anders ausgegangen. Jetzt musste er sich mit einem weiblichen Doktor Marcel herumschlagen. Und das Schlimmste war, dass das Original wieder im Lande war. Hätte ruhig noch länger mit seinem Hausboot auf dem Meer herum schippern können.
 


 

„Alfredine, wie ich sehe, bist du brav an den Hausarbeiten dran.“

„Sind Sie schon zu Hause, Herr Vater? Hatten Sie einen angenehmen Tag?“

An ihrer weissen Schürze wischte sich die junge Frau ihre Hände trocken, sie war gerade am Abwaschen, und nahm dem Doktor den Mantel ab. Zufrieden schaute sich der Mann im Haus um. Alles glänzte wie frisch gefallener Schnee und kein Staubkörnchen thronte auf der Wohnungseinrichtung. „Setzten Sie sich hin. Das Abendessen ist schon fertig.“ Die Frau eilte in die Küche, um das Essen zu holen.

Man hörte nur das leise Klappern von Besteck. Im Kamin prasselte ein kleines Feuer. Hin und wieder stand Alfredine auf, um ihren Vater zu bedienen. Doktor Marcel lächelte gelassen.
 

Die Korrektur war wirklich ein voller Erfolg. Das Übel war der Hase. Kaum hatte Edna ihn zerstört, entfaltete sie sich zu einem neuen Menschen. Bis jetzt lief alles ausgezeichnet. In den zwei Jahren gab es keine Schwierigkeiten. In aller Ruhe und Gelassenheit konnte er sich seinen Steckenpferden widmen. Alfredine mauserte sich zu einem gut erzogenen, jungen Fräulein. Mattis war einfach zu schwach und verweichlicht. Nun, er hatte seine Fehler in der Erziehung büssen müssen.

„Herr Vater, haben Sie noch einen Wunsch?“ Er schüttelte kultiviert den Kopf und faltete die Stoffserviette. „Alfredine, du machst deinen alten Vater wirklich stolz.“ Der Doktor erhob sich und sah sie lange an.
 

Schon lange spürte er keinen Zorn mehr wegen der Sache mit seinem Sohn. Hatte er noch nie. Edna war nur ein Kind. Ja, ein Kind, das seinen einzigen Sohn umgebracht hatte. Jedoch arbeitete Doktor Marcel schon zu lange mit psychisch kranken Menschen. Hat schon zu oft in die Abgründe der Seelen geblickt. Er war abgestumpft. Und so hart wie es sich anhörte, war der Tod von Alfred notwendig. Ohne seinen Tod hätte der Mann Edna nie einer Korrektur unterziehen können. Alfred war für eine gute Sache gestorben.

Sie zog sich erst zurück, als ihr Doktor Marcel die Erlaubnis gab. Zufrieden lass der Mann die Abendzeitung. Das Feuer knisterte währenddessen im Kamin. Das Radio dudelte vor sich hin. In der Küche vernahm man das Geräusch von Wasser und Geschirr. Die Frau summte leise vor sich hin.

Neben dem Kamin hing ein Foto. Doktor Marcel und seinen Fang, der ihm Gold brachte beim Angeln. Daneben die Pokale und Artikel über seine Forschungen, Artikel und Entdeckungen. Zuoberst thronte ein gerahmtes Bild von den Herren Doktor und seinem Fräulein Tochter.
 

Die junge Frau verzog das Gesicht. Schmunzelnd musterte der Mann sie. Wirklich faszinierend. Alfredine mochte das Sanatorium immer noch nicht. Würde sie es aber wagen, ihm zu widersprechen? Achtsam griff Alfredine nach der geblümten Tasse. Trank einen Schluck Kaffee.

„Wenn es Euer Wunsch ist, begleite ich Euch.“

„Wie ich gehört habe, schätzt du den meinen Nachfolger nicht.“

Ihre Augen glitzerten, als sie die Tasse auf den Unterteller knallte. „Natürlich, Herr Vater! Er ruht sich auf Ihren Erfolgen aus. Die Anstalt geht den Bach runter!“ Ruhig faltete der Mann die Zeitung zusammen. „Ist das so, meine Liebe?“ Überrascht blinzelte die Angesprochene. „Ja“, sagte sie trotzig.

Gelassen stand Doktor Marcel auf. Schritt hinter den Stuhl seiner Tochter. Sanft, aber bestimmt, legte er seine rechte Hand auf ihre Schulter. Nur das Ticken der Uhr war zu hören. Nach einer Weile erhob er seine Stimme: „Auch wenn dies der Fall wäre, gehört es sich nicht so über jemanden herzuziehen. Gerüchte und Mutmassungen sind die Wurzeln des Neides.“ Alfredine wollte schnippisch auflachen.
 

Auf was sollte sie bitteschön neidisch sein? Auf das billige Toupet des Möchtegernsseelendoktors? Auf die gefälschte Schweizertaschenuhr?

Sie liess es aber. Ihr Vater gab ihr das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. „Vater, ich … Verzeihung. Ich habe wohl meine Beherrschung verloren.“
 


 

Unruhig schaute die Frau aus dem Autofenster. Sie fuhr mit den Fingern durch ihre Haare. Hatte versprochen, sich zu benehmen. Auch wenn er sie auch nicht mochte. Doch sie würde ihren Vater keine Schande bereiten - oder sich eine Blösse geben. Elegant griff sie nach ihrer Handtasche. Aus echtem Leder, massgeschneidert und exklusiv für sie angefertigt. Das Buch Krieg und Frieden nahm die Frau hinaus. Alfredine liebte es, Bücher in Original zu lesen.

Es schauderte die junge Frau. Hoffentlich begegnete sie niemanden. Besonders keinen Verrückten. Allein der Gedanke machte sie nervös. Merkwürdig. Es ging ihr immer so, wenn sie das Gebäude betrat. Sie folgte dem Doktor. Irgendwie wollte Alfredine nicht alleine in den Gängen herumlaufen. Reiss dich zusammen! Was sollte mir schon passieren? Das sind nur Menschen, die mit ihren Macken und geistigen Verstand nicht in die Gesellschaft integriert werden können. Absolut ungefährlich. Es kann mit nichts geschehen. Nicht mit meiner Abstammung!
 

Schnauben nahm Alfredine eine Akte an der Kante hoch. Diese Unordnung. Wie kann da ihr Vater so ruhig bleiben?!

Das Büro hatte dieser unbedeutende Direktor auch noch um dekoriert. Familienfotos. Kinderzeichnungen. Sogar ein ultrakitschiges Plüschtier sass auf dem Kamin. Warum konnte der Kerl sich nicht wie ein würdevoller Leiter benehmen? Vielleicht wurde er selber verrückt? Zum Glück war sie ja normal. Genervt blickte die Frau auf den Plüschfrosch. Plüschtiere. Was gab es Gruseligeres als Plüschtiere?

Es juckte sie in den Fingern. Sie musste einfach aufräumen. Besonders dass der Mann die Akten auf dem Tisch liegen gelassen hatte, machte sie wütend. Überrascht stellte die Frau fest, dass nicht nur Dokumente über die Patienten offen da lagen. Auch über die Mitarbeiter. Sie schnappte sich das erste Blatt und warf einen Blick darauf. Amüsiert lächelte die Frau.
 

Junior von Stiesel. Stiesel Junior. Stiesselchen.

Diesen Gesellen kannte sie nur zu gut. Aus irgendeinem Grund mochte er sie nicht, obwohl sie ihm nie was getan hatte. Aber er war ja weg. Seine Oma schickte ihren Enkel nach Schottland. Ein exklusives Internat.

Ein grosser Verlust war er zwar nicht für die Heilanstalt. Nur, dass sie jetzt keinen Depp vom Dienst mehr hatten, war ein wenig doof. Die Anzeige für einen neuen Praktikanten war schon annonciert.

Mit dem Versprechen „Wenig Arbeit. Viel Lohn!“. Das zog immer.

Der Koch kam auch bald wieder. Der Zwangsurlaub war demnächst vorüber. Wegen des Vorfalles mit dem Essen. Nichts Weltbewegendes. Solange man die Dosen mit dem Katzenfutter besser entsorgte.
 

Die Patientenkartei war auch geschrumpft. Der Typ, welcher sich für einen Fahrkartenverkäufer hielt, weilte nicht mehr unter ihnen. Herzinfarkt. Der Arzt meinte, er musste nicht lange leiden.

Dafür ging es dem Hypernervösen schlagartig besser. Nach zwei Wochen konnte er zum ersten Mal wieder in die Gesellschaft hinaus. Nach einem halben Jahr konnte er entlassen werden.

Genauso wie Juppi Juppsen. Wie glücklich er war, als er seinen Sohn zum ersten Mal in die Arme nehmen konnte. Und der Kleine bekam ein Geschwisterchen. Nur noch drei Monate. Ach ja, das überraschte Gesicht, welches der Mann machte, ging Alfredine nicht mehr aus dem Kopf.

Bedauerlicherweise musste das Institut einen weiteren Todesfall melden. Der Barmann verstarb bei dem Versuch, den besten Cocktail aller Zeiten zu kreieren. Immerhin brachte er es zustande, in einem grünen Licht zu glühen. Männer in schwarzen Anzügen und Sonnenbrillen interessierten sich für den Leichnam. Wenigstens würde der Körper noch für einen guten Zweck dienen. Und die finanzielle Vergütung konnte sich auch sehen lassen.

Interessiert las die Frau den Bericht über einen neuen Patienten, der ein Faible für die Grundfarben hatte und den ganzen Tag Cherry Cherry Lady sang, da ging die Türe auf.
 

Überrascht blickte der neue Direktor den Gast an.

"Was für eine Überraschung. Wie habe ich deinen Besuch verdient?“

"Meinem Vater gehört dieses Sanatorium immer noch. Ich darf mich frei in dem Gebäude bewegen. Mich umsehen. In jedem Raum.“

Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Mannes. "Deinem Vater gehört das Sanatorium“, wiederholte er und seine Augen blitzten auf. Nur mit Mühe konnte er ein Lachen unterdrücken. Wütend fixierte Alfredine ihn. Um sich abzulenken, sortierte die Frau die Akten. Sie spürte, wie er sie musterte.

"Darf ich erfahren, was so unglaublich erheitern ist?“

"Na na na, fehlt in deinem Satz nicht eine Bitte?“

So würdevoll wie es trotz ihrer Entrüstung ging, sagte die Frau Bitte. Der Mann legte seinen Kopf schief. Schweigend lief er zu seinem Stuhl und setzte sich hin. Alfredine wartete ab. Als der Mann gedankenversunken, jedoch immer noch mit einem fetten Grinsen im Gesicht, über das Foto seiner Kinder strich, hüstelte sie leise. "Ach ja, ich schulde dir noch eine Antwort, Fräulein Marcel.“ Er drehte sich um und schaute sie an.

"Du liebst deinen Vater, nicht wahr?“

"Was soll diese Frage bedeuten?“

Alfredine wollte Zeit gewinnen. Diese Frage erwischte sie auf dem falschen Fuss. Der Mann betrachtete sie lauernd. "Ich liebe meine Kinder. Für sie würde ich alles tun.“ Er lächelte. "Auch mein Leben opfern.“ Zischend starrte die Frau den Sprechenden an. "Was soll das werden? Ein Verhör? Eine Besprechung?“ Alfredine war sauer. Sie fühlte sich verschaukelt. "Edna, sei doch nicht so bissig.“ Schnaubend verliess sie den Raum. Er muss verrückt geworden sein. Er kennt mich nicht einmal mehr meinen Namen.
 

Aufgeregt kichernd stopfte die blonde Frau Wachsmalstifte in die Knete. "Guckt, ein niedlicher, kleiner Igel!“ Da niemand reagierte, nahm sie ihr Kunstwerk und tänzelte im Raum herum. "Jetzt ist es ein Schmetterling. Ein Li-la-lo Schmetterling“, sang die Frau fröhlich. Kopfschüttelnd sah ein Mann in grauen Jogginghosen weg.

"Deine Freundin ist wieder einmal sehr aufgeregt.“

"Sie ist nicht meine Freundin.“

"Hach, junge Liebe.“

"Du liebst mich also? Ach, mein Heeeld!“

Die Frau mit dem Igeling sprang überglücklich auf den Schoss des Mannes in den Turnhosen. Der Bienenmann trank einen Schluck Kaffee. Er zitterte, genoss jedoch das Getränk. Das Ohrenschmalz floss ungehindert auf den Tisch. Peter seufzte unglücklich, während Petra sich glücklich an ihn schmiegte.

„Was hast du gemalt?“ Ungefragt griff sie nach der Zeichnung ihres Herzblattes.

„Ach, Peterchen. Warum malst du immer Schwarz?“

„Warum?“, fragte der Mann im Tierkostüm und sah auf, „Hat er wieder eine tote Katze in einer Kiste gemalt?“ Petra schüttelte den Kopf. „Ein kleines Fröschen im laufenden Mixer?“ Wieder ein Kopfschütteln. „Einen Mann auf Schienen, der gegen einen rasenden Zug läuft?“ Zum dritten Mal schüttelte die Frau den Kopf. „Ich gebe es auf“, sprach der Bienenmann und leerte seinen Pappbecher. Petra zeigte ihm das Blatt.
 

„Wow, wie formvollendet. Ein wertvoller Beitrag für die zukünftige Menschheit. Wie nennst du es?“

„Ein Stück Papier, das schwarz angemalt wurde“, antwortete Peter und versuchte so wenig wie möglich die Frau zu berühren. Was schwierig war, da sie sich so richtig bequem auf ihm gemacht hatte. Der Bienenmann hob eine Augenbraue. Er war gerade damit beschäftigt, sein Ohrenschmalz in den Becher zu füllen.
 

Die illustere Runde wurde durch einen gedämpften Streit von ihrer Tätigkeiten unterbrochen. Petra spitzte die Ohren. Bevor sie aufgehalten werden konnte, sprang sie auf und rief überglücklich: „Das ist meine beste Freundin Edna!“ Schneller als ein geölter Blitz rannte die Frau aus dem Bastelraum. Peter seufzte. Warum war er nicht auch im Auto gewesen? Die Mehrzahl der Mitfahrer war entweder verschwunden oder gestorben. Wen die Gerüchte stimmten. Der Bienenmann füllte den zweiten Becher mit Ohrenschmalz und erhob sich. „Wir sollten Petra nicht alleine lassen. Besonders nicht, wenn Fräulein von und zu Gehirngewaschen schlecht gelaunt ist. Und nach ihrer Stimme nach hat sie schlechte Laune.“
 

„Vater. Ich werde mich nicht entschuldigen. Ich habe nichts getan.“ Alfredine schüttelte heftig den Kopf. Ihr Dutt ging auf.

„Vater glaub mir. Ich habe nichts getan.“

„Der geschätzte Kollege meint jedoch, du hast ihn beleidigt.“

Wütend warf sie ihre Haare nach hinten. „Hat er auch gesagt, was er getan hat? Er wusste nicht einmal meinen Namen-angeblich!“ Der Doktor hob eine Braue nach oben. „Liebes Töchterlein. Er möchte dich nur reizen.“ Schmunzelnd fügte er hinzu: „Vielleicht mag er dich.“ Der Blick von der jungen Frau hätte Eisberge schmelzen können. „Vater, warum nennt er mich immer Edna?“

Petra, die nun beim Gitter angelangt war, der den Gang abgesperrte, hätte gern was dazu gerufen. Jedoch stoppte Droggelbecher sie. Er hielt ihr klassisch den Mund mit der Hand zu. Eigentlich war er nur hier, um für König Adrian mitzulauschen. Seine Hoheit litt an einer leichten Erkältung und konnte darum nicht höchstpersönlich nach dem Rechten sehen. Der Bienenmann schlenderte zu den zwei. Droggelbecher sah zu dem Kostümierten. „Peter kann sich nicht verletzen. Alle spitzen Gegenstände sowie den Kleister und die Papierschnipsel habe ich entfernt. Nicht, dass er wieder seine Körperöffnungen damit zu kleistern will.“ Er blickte zu Petra.

„Warum, geschätzter Leibwächter unseres geliebten Königs, hältst du Petra den Mund zu?“

„Droggelbecher. Droggel Droggelbecher. Droggel Droggel Droggelbecher.“

Der Mann im Bienenkostüm sprang regelrecht zurück. „Petra! Du weisst doch, was uns passiert, wenn wir Alfredine mit ihren richtigen Namen ansprechen. Der Doktor macht aus uns …“

Der ehemalige Leiter hat den Leuten geschworen, dass er ihre Körper den Tierfutterfabrikaten zur Verfügung stellen würde.
 

Die Diskussion Vater gegen Tochter ging weiter. Der Doktor liess seine Tochter weiterreden. Sie liefen gerade hoch, an dem Gitter vorbei. Alfredine, die einen kurzen Blick auf die Verrückten warf und angewidert mit den Augen zuckte, blickte bittend zu ihrem Vater. „Alfredine, ich denke darüber nach. Beruhige dich jetzt.“ Sie atmete tief durch. Petra hüpfte auf und ab. Winkte. Der Doktor sah zu seiner Tochter. Seufzend ging Alfredine zum Gitter. Sie hasste Petra. „Du musst nicht traurig sein. Schau, schau, das schenk’ ich dir“, flötete die blonde Frau und quetschte irgendwie das Tierchen durch das Gitter. „Na, na? Geht es dir jetzt wieder besser? Mein Igelling wird dir Glück bringen.“ Schweigend betrachtete Alfredine das Kunstwerk. „Dankeschön, Petra“, sagte sie gedehnt und lief nach draussen. Der Doktor lächelte wissend, warf den Insassen ein beschwörender Blick zu und folgte seiner Tochter.

„Petra, ich werde die Vermutung nicht los, dass dich das Fräulein Marcel nicht mag.“

„Warum?“

„Droggel Droggel. Droggelbecher.“

„Ach was. Wir sind die besten Freundinnen.“

„Wie du meinst, Petra. Wie du meinst.“
 

Sie sass genervt im Auto. Dieser Tag war so was von verschwendet. Sie verabscheute diesen Ort. Auch wenn sie es nie zugeben würde, bekam sie jedes Mal Alpträume, wenn sie hier war. Träumte merkwürdiges Zeug. Von Treppen. Schreienden Kindern. Scheren. Toiletten. Schlüsseln. Kirchen. Autos. Und von einem Pastor, der sie vorwurfsvoll ansah, während er blutüberströmt aufgehängt wurde.

Zitternd schloss die junge Frau ihre Augen. Warum träumte sie von diesen Dingen? In den Büchern von Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Alfred Adler, Jacques Lacan oder Anna Freud fand sie keine brauchbaren Hinweise. Sie glaubte, dass die Luft im Auto stickiger wurde. Eigentlich sollte sie im Auto warten. Aber Alfredine hielt es nicht mehr aus. Hastig verliess sie das Auto. Lehnte sich an den Oldtimer. Ich will nicht verrückt werden. Es sind Träume. Nur Träume.
 

„Kann ich dir helfen?“ Schreiend drehte sich die Frau um. Der Praktikant schaute sie erschrocken an. „Ich brauche keine Hilfe. Lass mich in Ruhe“, zischte sie. Bevor sie wieder ins Auto stieg, drückte Alfredine ihm das Tonfigürchen in die Hände. Perplex sah der brünette Pfleger das Werk an. Er klopfte an die Scheibe.

„Was soll ich damit?“

„Verschenke es. Spüle es das Klosett hinunter. Verwende es als Türstopper. Ich will es nicht sehen.“

Der Mann seufzte und spielte mit dem Kunstwerk. Vielleicht sollte er es dem Pförtner schenken. Oder in den Selbsthilferaum stellen? Ja, das war eine gute Idee.
 


 

Schweigend sassen Vater und Tochter im Wohnzimmer. Zufrieden zog der Mann an seiner Pfeife. Alfredine war in ihrer Lektüre vertieft. „Meine Liebe, du nimmst dein Studium wahrlich sehr ernst.“ Sie legte ihr Buch zur Seite und blickte ihren Vater an. „Ich tue, was ich kann.“ Langsam nickte der Arzt. „Alfredine, das Leben besteht nicht nur aus Erfolg und Arbeit.“ Lächelnd stand er auf. Betrachtete seine Tochter.

Da sass der ehemalige Wildfang. Aus ihr war eine kultivierte, junge Dame geworden. Nichts mehr mit allem zerstören. Nun, ihr Temperament besass sie immer noch. Das machte sie nur noch attraktiver.

„Alfredine, hast du über das Angebot nachgedacht?“ Die Angesprochene schloss die Augen. Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Herr Vater, ich kann diese Frage nicht so schnell beantworten. Das Angebot ist schmeichelhaft. Jedoch ist es nicht das Einzige.“
 

Wie am Morgen stand der Vater hinter seinem Kind, die Hände ruhten auf ihren Schultern. Dieses Mal fühlte die Frau jedoch keine Schuld. „Meine Liebe, lass dir Zeit mit deiner Entscheidung. Es ist wichtig für dein weiteres Leben.“ Ein väterliches Lächeln huschte über Doktor Marcels Gesicht, während er ihre Haarklammer löste. Sanft nahm er eine Haarsträhne und spielte mit dieser. Alfredine legte eine Hand auf seine. Stille bereitete sich im Raum aus. Beide genossen die familiäre Stimmung.

„Herr Vater? Werden Sie traurig sein, wenn ich heirate?“

„Jeder Vater ist unglücklich, wenn er seine Tochter in die Hände eines anderen Mannes gibt. Besonders weil, sie sein einziges Kind ist.“

Zärtlich umarmte er Alfredine. „Ja, ich werde traurig sein. Dich als Braut zum Altar führen, wird mir schwerfallen.“ Die Frau lächelte.

Das war ihr Vater. Denn sie liebte und schätzte. Egal, was die Anderen sagten. Auf ihr Herz konnte sie hören.
 

Sorgfältig bürstete sie ihre langen Haare. Lächelte ihr Spiegelbild an. Morgen würde sie mit einem Kollegen ihres Vaters ausgehen. Golf spielen. Er war ein netter Mensch mit einem guten Beruf. Besass ein Ferienhäuschen in der Toskana und ein eigenes Schiffchen. Und ihr Vater meinte, dass er zu ihr passte.

Sie gähnte leise und suchte nach ihrem Tagebuch. Gewissenhaft schrieb die junge Frau auf, was sie heute erlebt hatte. Strich einige Punkte mit ihren Zielen durch. Zufrieden nickend legte sie den Füller weg. Schloss das Tagebuch ab und legte es in ihre Schublade. Alfredine stand auf und streckte sich. Leise schritt sie aus dem Raum. Kontrollierte die Zimmer. Ob das Licht ausgeschaltet und die Türen und Fenster verschlossen waren. Aus dem Zimmer ihres Vaters erklangen noch Geräusche. Vermutlich arbeitet er noch. Oder übt für das nächste Poloturnier.

Zufrieden legte sie sich ins Bett.
 

Der Mond schien hell. Glitzerte in einem mysteriösen blau.

Lieder wurden gesungen. Kinderlachen erklang. Die Frau versuchte, sich zu orientierten. Aber sie fühlte sich wohl. Sie hörte ein neckisches kichern hinter sich. Langsam drehte sie sich um. „Lass uns spielen. Unternehmen wir was Lustiges?“ Das Plüschtier lächelte verspielt. Nahm die junge Frau an die Hand. Sie lächelte glücklich. Er war ihr Freund. Das spürte sie.

Sie spielten fangen. Amüsierten sich beim Verstecken spielen. Die Kinder kamen näher. Sie lächelten die Frau freundlich an. Besonders ein Junge mit schwarzen Haaren freute sich riesig, sie zu sehen. Er sprang ihr regelrecht in die Arme.

Schritte ertönten. Zwei Männer unterhielten sich. Die Frau sah sie nicht.

„Sie wären ein schönes Paar, nicht wahr?“

„Pah! Mein Sohn verdient was Besseres.“

„Meine Tochter ist nur ein bisschen verspielt.“

„Und gefährlich!“

Das Plüschtier fauchte. Die Kinder verschwanden. Der Mond verdunkelte sich. Nur noch der Junge war noch da. Er sah sie ängstlich an.

„Du verlässt mich doch nicht?“

„Warum soll ich dich verlassen?“, fragte die junge Frau. Traurig flüsterte das Kind: „Weil du mich schon einmal vergessen hast, Edna.“

Das Plüschtier sprang der Frau auf den Rücken. „Los! Lass mich das machen. Er muss weg. Diese doofe Petze hat es nicht anders verdient. Er darf nicht bei uns sein.“ Bevor sie es verhindern konnte, fiel der Knabe schreiend in ein Loch. Das Plüschtier kicherte schadenfroh und sagte stolz: „Gut gemacht, Edna!“ Sie hörte das Kind wimmern. Konnte sein Gesicht aber nicht mehr sehen.
 

Schweissgebadet wachte Alfredine auf. Brauchte einen Augenblick, um sich zu fassen. „Ich bin so dumm. Das war nur ein unbedeutender Traum. Von so was sollte ich mich nicht mehr fürchten.“ Seufzend stand sie auf. Schlich sich in die Küche, um sich einen Schluck warme Milch zu gönnen. Für die Nervenberuhigung mit einem grossen Schluck Whisky drin.

Plüschtiere. Genauso unheimlich wie Puppen. Zum Glück war sie aus diesem Alter. Und alle Fotos von ihr als Kind hat ihr Vater verschachtelt. Sie konnte es sich eh nicht vorstellen, ein Bild von sich mit einem putzigen Plüschtier zu sehen.

Langsam drehte sie sich um. Die Zimmer sahen im Dunkel der Nacht fast unheimlich aus. Lächelnd wanderte die junge Frau in den Räumen herum. Alles war auf seinem Platz. Hier konnte ihr nichts passieren. Als sie vor der Schlafzimmertüre ihres Vaters stand, überkam sie den Wunsch seine Nähe zu suchen. Bei ihm Trost zu finden. Schnell schritt sie von der Türe weg. Das war kindisch! Sie würde sich nicht von einem Traum einschüchtern lassen!
 

In ihrem Zimmer angelangt, öffnete die Frau das Fenster. Setzte sich davor, um den Mond zu betrachten. Der Mond. Sanfter Vater, der still tröstete. Auch wenn Alfredine nicht daran glaubte, beruhigte es sie. Der Mond war immer für sie da. Sie konnte vor ihn sie selbst sein.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2018-12-08T17:59:10+00:00 08.12.2018 18:59
Mir gefällt wie du die Geschichte nachdem Edna/Alfredine durch die Charakterkorrektur "geheilt" ist weitererzählst.
Es zwar schon eine weile her das ich das Spiel gespielt habe aber ich finde du hast die Charaktere sehr gut getroffen. (Petra ist so herrlich aufgedreht, positiv und fröhlich das es ansteckend ist!)
Doktor Marcel, ich finde ihn noch immer etwas gruselig, kommt überraschend fürsorglich rüber. Die Vater-Tochter-Beziehung zwischen den beiden ist interessant.
Der Traum zeigt wohl das mit Harvey wohl doch nicht alles verschwunden ist... Irgendwie könnte ich mir gut vorstellen, dass die Vergangenheit Alfredine früher oder später doch nochmal einholt.
Antwort von: Lupus-in-Fabula
31.12.2018 12:44
Endlich komme ich dazu dir ein Dankeschön zurückzugeben!
Vielen Dank für deinen tollen Kommentar, ich habe mich wirklich sehr gefreut :)


Das ich die Charas gut getroffen habe, freut mich sehr. Das war die Schwierigkeit, weil sie eben so unterschiedlich sind.
Aber auch die Beziehung zwischen Vater/Tochter war eine Knacknuss. Ich wollte Marcel nicht als Monster da stellen. Er ist meiner Meinung ein Mensch, der einen Verlust erlitten hat und sich um seine Mitmenschen sorgt. Jedoch eben auf seine Weise.
Ich plane schon länger eine Fortsetzung dieser Geschichte. Aber bis jetzt bin ich nicht dazu gekommen.

Ja, der Taum. Ich möchte nicht zu viel Spoilern, aber in meiner Fortsetzung würde die Vergangenheit und der Traum eine grössere Bedeutung haben.


Nochmals Entschuldigung für die längere Wartezeit, bis ich ein Danke zurückkam.
Ich habe mich wirklich riesig gefreut :)

Grüsschen
Lupus



Zurück