Zum Inhalt der Seite

Vergeltung

Version II
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Suche

Es roch ungewöhnlich muffig in der alten Bibliothek, sodass Eve beim Betreten angewidert die Nase gerümpft hatte. Der Wunsch, ein Fenster zu öffnen, war geradezu unwiderstehlich gewesen, doch sie hatte genügend Willensstärke aufbringen können, um sich diesen Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Draußen pfiff ein scharfer Wind und eine einzige verirrte Windböe hätte ausgereicht, um die Bibliothek auf den Kopf zu stellen. Überall lagen alte Papiere oder Pergamente herum, die ohne weiteres davon gesegelt wären. Zum Teil unbezahlbare Kostbarkeiten, deren Verlust Eve weder mit Freundlichkeit und Charme noch mit Geld irgendwie hätte aufwiegen können. Somit hatte sie sich schweren Herzens dazu durchgerungen, die abgestandene Luft zu ertragen.

Inzwischen hatte sie diesen Umstand jedoch schon wieder völlig vergessen. Seit gut zwei Stunden hockte sie nun hier und war so sehr in die Quellen vertieft, dass sie gar nichts mehr um sich herum wahrnahm. Auch Liam, der vor ungefähr einer halben Stunde bei ihr aufgetaucht war und sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte, hätte sie fast nicht bemerkt gehabt. Sie war ganz und gar von ihrer Arbeit gefesselt, verbissen suchte sie nach Antworten.
 

Ihr Tisch war nur noch ein einziges Chaos, Bücher und Schriftrollen stapelten sich übereinander. Jedem Buchliebhaber hätte dieser Anblick gegraust.

Aber Eve kümmerte sich nicht darum. Ihr war nur der Inhalt wichtig. Ob da ein paar Seiten umgeknickt waren, war für sie völlig nebensächlich.

In ihren Händen hielt sie gerade einen Brief aus der Zeit der Revolution 1848 in Deutschland. Ein reicher Handelsmann hatte einem Freund in England von ungewöhnlichen Ereignissen berichtet, die ihn nicht zur Ruhe hatten kommen lassen. Mehrere Menschen seien verschwunden und an Wänden hätten sich mehrere Zeichen gefunden, deren tiefes Rot stark an Blut erinnert hätte.

Eve war klar, dass dies mit den Sieben in Zusammenhang gebracht werden konnte. Die Historiker der Dämonenjäger hatten schon vor einigen Jahren herausgefunden, dass sich der Vampirclan während der Deutschen Revolution in Berlin aufgehalten hatte. Es war ein absolut typisches Verhalten für Vampire, Gemetzel zogen sie geradezu magisch an. Kriege und Revolten waren in ihren Augen wahre Freudenfeste. Dem Geruch des Blutes konnten sie nicht widerstehen.
 

Interessanterweise hatte Eve sogar einen Bericht ihrer Ururgroßmutter gefunden, der sich auf die Sieben bezog. 1890 war Mary Hopkins, damals als Jägerin in London stationiert, in engeren Kontakt mit diesen Vampiren gekommen, als übernatürliche Ereignisse die Stadt in Atem gehalten hatten. Sie war sowohl Alec als auch Elias und Annis, den berühmt-berüchtigten Zwilligen, mehrmals begegnet und hatte letzten Endes mit Stolz behaupten können, überlebt zu haben. Und ihre Beschreibung Alecs passte haargenau zu dem, was auch Eve empfunden hatte: „Ich würde gerne behaupten, dass man auf dem ersten Blick zu sehen vermag, welch ein unberechenbares Monster er ist. Aber er trägt eine Maske, ein Lächeln, einen unschuldigen Blick. Schon unzählige haben sich davon täuschen lassen und es werden in Zukunft noch viele mehr sein. Man möchte glauben, dass noch etwas Menschlichkeit in ihm steckt, und muss sich manchmal selbst daran erinnern, dass er ein Vampir ist, da man diese Tatsache wieder schnell vergessen kann, wenn man mit ihm redet. Er ist charmant und wortgewandt, doch man sollte sich immer vor Augen halten, dass er nur seine eigenen Ziele verfolgt. Und sollte man diesen in irgendeiner Weise im Weg stehen, wird er nicht davor zurückschrecken, sein wahres Wesen zu zeigen.“

Eve hätte es kaum besser ausdrücken können. Alec hatte so charmant und anziehend gewirkt, dass sie ihre Instinkte, die sich von Anfang an gewarnt hatten, einfach ignoriert hatte. Normalerweise verließ sie sich immer auf ihr Bauchgefühl, aber diesmal hatte sie sich selbst irgendwelche halbgaren Ausreden aufgetischt, um sie nicht weiter beachten zu müssen.

Und somit war sie auf ihn hereingefallen. Wie ein dummes, naives Mädchen, das absolut nichts von der Welt und ihren Gefahren verstand.

Und Eve war sicher nicht gewillt, dies einfach auf sich sitzen zu lassen. Sie wusste zwar, wie leichtfertig und maßlos es klang, wenn sie behauptete, es mit einem weit über zweitausendjährigen Vampir aufzunehmen, dennoch ließ sie sich nicht davon abbringen. Selbst Alec war nicht unverwundbar. Jeder hatte einen Schwachpunkt, eine empfindliche Stelle.

Eve hatte gehofft, diese bei ihren Recherchen zu entdecken. Ihr war schon früh aufgefallen, dass Vampire es nicht allzu sehr mochten, wenn man in ihrer menschlichen Vergangenheit herumstocherte. Ihnen schien der Gedanke nicht zu behagen, dass sie einst dermaßen schwach gewesen waren.

Alec war in dieser Angelegenheit bestimmt nicht viel anders. Doch zu ihrem Bedauern hatte Eve nichts über ihn finden können. Seine Zeit als Mensch war ein Mysterium, wie das der meisten Mitglieder der Sieben. Je älter sie waren, desto schwerer wurde es, ihrem Werdegang zu folgen, ganz zu schweigen davon, dass sie im Laufe der Zeit so viele unterschiedliche Namen und Titel erhalten hatten, dass man nicht immer mit Sicherheit sagen konnte, von wem überhaupt gesprochen wurde.

Eve seufzte. Wahrscheinlich war diese ganze Sucherei völlig sinnlos.
 

„Darf man fragen, was du da machst?“, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihr. Eve wirbelte erschrocken herum und blickte direkt in Richards blaue Augen. Interessiert musterte er die vor Eve ausgebreiteten Werke.

„Ich lese“, brummte sie leicht verärgert. Ihr waren Richards zuckende Mundwinkel nicht entgangen. Wahrscheinlich freute es ihn ungemein, dass er sie derart hatte überrumpeln können.

„Das sehe ich“, meinte er amüsiert. „Aber die Wahl deiner Lektüre ist ein wenig merkwürdig. Ich persönlich würde ja einen guten Krimi bevorzugen ... aber du scheinst mehr auf blutige Tatsachen zu stehen.“ Er legte seinen Kopf schief. „Wenn du vorhattest, mehr über Alec rauszufinden, dann vergiss es. Das haben andere schon vor dir versucht und sind kläglich gescheitert.“

Eve verzog ihr Gesicht. Sie gab Richard ungern Recht, aber es sah tatsächlich danach aus. Ihre stundenlange Suche hatte nichts Vielversprechendes zutage gebracht.

„Außerdem würde ich dir sowieso dringend raten, es sein zu lassen“, warnte er eindringlich. „Du solltest dich mit diesem Typen überhaupt nicht beschäftigen. Er ist nicht nur ein Vampir, sondern ein Sa’onti. Das geht niemals gut aus.“

Eve seufzte. Seine Logik war unglücklicherweise unumstößlich.
 

Sa’onti war ein Begriff aus der Dämonensprache, auch Höllenzunge genannt. Eben jener Sprache, die vorrangig den übernatürlichen Wesen vorbehalten war und universal auf der ganzen Welt eingesetzt wurde. Die genaue Deutung des Wortes war schwer zu erfassen, aber Eve hatte gehört, dass es viele mit ‚Totgeburt‘ oder ‚geboren, um zu sterben‘ übersetzten.

Sa’onti standen in der Vampirhierarchie an der obersten Stelle, sowohl was Macht als auch was Einfluss anging. Ihre Anzahl war, nach Erkenntnissen der Jäger, recht überschaubar, aber viele vermuteten, dass die Dunkelziffer weitaus höher lag. Die Berichte waren zum Teil sehr vage und verschwommen, zumal man rein äußerlich einen Sa’onti sowieso nicht von einem gewöhnlichen Vampir zu unterscheiden vermochte.

Wie sich das alles genau entwickelt hatte, war ebenfalls lange Zeit ein Rätsel gewesen. Früher hatte man gerne von Schicksal und Vorsehung gesprochen, inzwischen bezog man sich mehr auf die Genetik. Vor Jahrtausenden hatte sich das vampirische Gen mit dem menschlichen vermischt – zum Beispiel durch den Biss eines Untoten und dem damit einhergehenden Kontakt mit dessen Speichel – und war über die Generationen erhalten geblieben. Es schien nicht besonders häufig bei den menschlichen Nachkommen aufzutauchen und selbst bei vielen, die es irgendwo tief versteckt in ihrem genetischen Code mit sich trugen, blieb es absolut inaktiv. Zahlreiche Tests seit den 1980er Jahren hatten dies bestätigt.
 

Wenn es jedoch ausbrach, war es für den Betroffenen alles andere als angenehm. Im Grunde glaubte der Körper, ein Vampir zu sein, ohne je eine Verwandlung durchgemacht zu haben. Stattdessen war die menschliche Physiognomie nicht dafür geschaffen, die Fähigkeiten eines Vampirs lange zu ertragen, und ging stattdessen qualvoll zugrunde. Es gab zwar nicht viele Überlieferungen, die davon erzählten, aber man sprach von einem endlosen Leid, das nur durch den Tod oder die Transformation in einen Vampir ein Ende finden konnte.

Weitere Erkenntnisse fehlten jedoch. Die Sa’onti hielten sich größtenteils bedeckt und agierten nicht besonders auffällig mit der Welt der Menschen. Es gab Gerüchte von Sa’onti, die einzeln durch die Länder reisten, und ebenso einigen, die große Ansammlungen von Vampiren um sich geschart hatten. Asrims Clan hingegen war der einzig bekannte, der ausschließlich aus Sa’onti bestand, und demnach gefürchteter war als alle anderen. Möglicherweise gab es aber noch mehr, vielleicht existierte sogar irgendwo versteckt eine riesige Armee, die nur auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um die Weltherrschaft zu übernehmen, doch allein der Gedanken daran war dermaßen unerfreulich, dass sich niemand lange damit beschäftigen wollte.
 

„Ich soll demnach einfach aufgeben?“, hakte Eve missbilligend nach. „Ich soll die Tatsache, dass er mich angegriffen hat, einfach vergessen und weiter mein Leben leben?“

Sie fuhr sich über den Bluterguss an ihrem Hals, den Alec ihr am Vorabend zugefügt hatte. Eine ständige Erinnerung daran, dass sie vollkommen machtlos gewesen war.

„Selbst wenn du tatsächlich irgendetwas finden solltest, was macht es für einen Unterschied?“, fragte Richard. „Es wird ihn nicht beeindrucken, wenn du ihm Geschichten aus längst vergangener Zeit erzählst.“

Eve schnaubte. „Wenn es die richtigen Geschichten sind, dann schon.“

Richard seufzte, als er sich auf einem Stuhl niederließ und eine Schriftrolle aus dem antiken Ägypten inspizierte. Er studierte die alten Hieroglyphen mit solch einer Konzentration, dass man fast hätte denken können, er könnte wirklich Altägyptisch lesen.

„Wenn es dir wirklich so wichtig ist, würde ich dir raten, Seamus auszusuchen“, meinte er schließlich. „Wenn dir einer helfen kann, dann er.“

„Seamus?“, fragte Eve verdutzt.

„Kennst du ihn nicht?“, meinte Richard erstaunt. „Er ist ein Historiker, der zwar nicht offiziell für uns arbeitet, aber uns immer wieder hilfreiche Tipps zukommen lässt. Soweit ich weiß, beschäftigt er sich schon seit Jahren mit den Sieben. Das ist so ein komisches Hobby von ihm. Er scheint das Ganze wirklich faszinierend zu finden.“

Richard schüttelte nur verständnislos den Kopf.
 

Eve war währenddessen nachdenklich geworden. „Und du denkst, er könnte mir helfen?“

Ihr Gegenüber hob die Schultern. „Möglich. Zumindest weiß er einiges über diese besonderen Vampire.“

Eve musste zugeben, dass das vielversprechend klang. Zumindest schien es ihr besser, als sich stundenlang durch irgendwelche alten Bücher zu wälzen und hinterher nicht viel schlauer zu sein als zuvor. Für Recherchearbeiten war sie einfach nicht geschaffen.

„Wo wohnt denn dieser Seamus?“, erkundigte sie sich.

„Irgendwo in Ealing“, meinte Richard nach kurzem Überlegen. „Die genaue Adresse hab ich zwar nicht im Kopf, aber die lässt sich schnell rausfinden.“ Er musterte sie intensiv. „Aber sei trotzdem gewarnt.“

Eve runzelte verwundert die Stirn. „Weswegen?“

Richard seufzte. „Seamus ist ... na ja, ein bisschen seltsam. Er kommt nicht viel unter Menschen, weißt du?“

Eve nickte verstehend. Sie war es so oder so gewohnt, mit sonderbaren Gestalten zu verkehren, da würde sie ein Gelehrter wohl kaum überraschen können.
 

„Und ich weiß, dass ich eigentlich mit einer Wand spreche und meinen Atem lieber sparen sollte, aber sei vorsichtig!“, wiederholte er noch einmal mit Nachdruck. „Alec ist ein Bluthund! Das sind sie alle. Die können vermutlich zehn Meilen gegen den Wind riechen, was du zu Mittag gegessen hast.“ Er lehnte sich vor. „Wenn er glaubt, dass du Informationen über diesen Seth hast, wird er dich weiter beschatten. Er wird sicher nicht lockerlassen.“

Eve zog ihre Mundwinkel nach unten, als sie sich daran erinnerte, wie Alec ihr versprochen hatte, dass es nicht ihre letzte Begegnung sein würde. „Und was erwartest du von mir? Dass ich rund um die Uhr mit Bodyguards herumrenne? Dass ich mich hier verkrieche, bis alles vorbei ist?“

„Also das klingt eigentlich gar nicht so schlecht ...“

Eve schlug lautstark das Buch zu, das sie vor sich liegen hatte. „Ich werde mein Leben sicher nicht umkrempeln, nur weil mir gestern Abend ein Vampir aufgelauert hat. Das ist wirklich nicht das erste Mal.“

Richard nahm sie scharf ins Visier. „Wir reden hier immerhin von demjenigen, die in den alten Quellen stets als Angelus Mortis[1] bezeichnet wird, schon vergessen?“
 

Wie hätte ihr das entfallen können? Ihr Körper war wie gelähmt gewesen, sein Blick eisig und so stechend, dass sie einen schwachen Moment lang wirklich geglaubt hatte, er könnte sie tatsächlich auf diese Art und Weise töten.

Eve hasste es, was er mit ihr angestellt hatte. Und sie war bestimmt nicht bereit, nun klein beizugeben.

„Auf jeden Fall musst du wachsam sein“, mahnte Richard sie eindringlich, nachdem er offenbar erkannt hatte, dass selbst die vernünftigsten Warnungen keine nennenswerte Wirkung erzielen würden. „Du scheinst aus irgendeinem Grund zwischen zwei Fronten geraten zu sein. Seth auf der einen und die Sieben auf der anderen Seite. Bleibt nur die Frage, wer schlimmer ist.“

Eves Blick fiel wieder auf die Aufzeichnungen von Mary Hopkins.

Wer war nun schlimmer? Die Monster oder derjenige, der sie jagte und dabei keinerlei Rücksicht auf Verluste nahm?

Wer von beiden war das herzlosere Ungeheuer?

 

 

 
 

*  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *

 

Von irgendwo ertönte das Schlagen einer Kirchenglocke. Dumpf, leise und doch beständig. Nichts würde sie aus der Ruhe bringen können, nicht mal, wenn plötzlich ein gewaltiger Krieg losbrechen sollte.

Sharif hatte sich nie besonders zum Christentum hingezogen gefühlt, aber die Bauten hatten es ihm seit jeher angetan. Beeindruckt hatte er die Architektur in sich aufgesogen, die gewaltigen Gebäude betrachtet und sich immer wieder aufs Neue gefragt, wie ausgerechnet die verdorbene Menschheit so etwas Schönes zu erschaffen vermochte.

Der Klang von Glocken konnte Sharif derweil immer noch einen jähen Schauer über den Rücken jagen. Er hatte im Laufe der Jahrtausende viel gesehen und erlebt, hatte am eigenen Leib erfahren, wie Reiche gegründet, gewachsen und wieder zugrunde gegangen waren. Nichts schien für die Ewigkeit geschaffen, alles befand sich in ständiger Bewegung.

So kam es ihm fast vor, als wären die Glocken die einzige Konstante. Er hatte sie damals während der Französischen Revolution gehört, ebenso wie während des Dreißigjährigen Krieges, der großen Pestwelle im Hochmittelalter und allgemein jeden einzelnen Tages, sofern er sich an einem einigermaßen bevölkerten Ort befunden hatte. Sie klangen immer gleich – hoheitsvoll und ehrfurchtgebietend – und hatten sich seit Urzeiten in ihrem Klang nicht geändert.

Ein letztes Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten.
 

 „Warum hier?“ Oscars Stimme drang unvermittelt zu Sharif durch. Der hochgewachsene Vampir mit den stechenden Augen und dem stets säuerlichen Gesichtsausdruck hielt eine qualmende Zigarette zwischen den Fingern und starrte übellaunig auf die Stadt herab. All die blinkenden Lichter und die strahlenden Reklametafeln machten ihn nervös.

Auch in der Wohnung, die Sharif für die Anwesenheit in London okkupiert hatte, hatte er alle Lichter ausgeschaltet. Er konnte zu viel künstliche Helligkeit einfach nicht vertragen. Tageslicht machte ihm nicht das Geringste aus, auch mit der Sonne konnte er ganz gut leben, aber sobald irgendetwas blinkte und funkelte, das nicht in erster Linie von der Natur erschaffen worden war, zog er sich meistens sofort zurück.

„Du meinst, warum wir diese Wohnung ausgesucht haben?“ Sharif ließ seinen Blick durch das spießige Appartement mit der Blümchentapete und den Fotos von strahlenden Enkelkindern, die man fein säuberlich in den Regalen aufgereiht hatte, schweifen. „Ich weiß, der Innenarchitekt hat nicht gerade gute Arbeit geleistet, aber ich hatte ehrlich gesagt auch nicht vor, meinen Lebensabend hier zu verbringen. Die Besitzer sind zumindest gerade im Urlaub und ihre Wohnung liegt günstig. Hier in der Nähe sind schon drei Gebäude abgebrannt.“

„Nein, nicht die Wohnung“, erwiderte Oscar zischend. „England. London. Warum sucht sich ein Feuerleger ausgerechnet einen Ort aus, an dem es dauernd regnet? Zumindest um diese Jahreszeit. Wenn er wenigstens im Sommer zugeschlagen hätte, würde ich das vielleicht noch verstehen, aber im Herbst?“
 

Sharif konnte nur ahnungslos mit den Schultern zucken. Das hatte er sich bereits auch schon gefragt, aber keine passende Antwort gefunden. Auch Asrim war sehr schweigsam gewesen, als der Ägypter ihn darauf angesprochen hatte. Doch wenn Sharif es recht bedachte, war sein Schöpfer in letzter Zeit sowieso nicht besonders redselig.

„Und warum wir alle?“ Oscar gestikulierte dermaßen wild mit der Hand herum, dass er Sharif beinahe mit der Zigarette erwischt hätte. „Wozu sind wir denn alle nötig, um einen kleinen Fisch zu fangen?“

Es hatte die Zeit im deutschen Hinterland, seiner alten Heimat, sehr genossen, sodass die Aussicht, ins menschenreiche London zu reisen, ihn nicht mal ansatzweise mit Freude erfüllt hatte. Seit seiner Ankunft sah er so aus, als hätte er die Stadt am liebsten bis auf ihre Grundmauern niedergebrannt.

„Ich habe keine Ahnung“, gab Sharif seufzend zu. Auch bei diesem Thema hatte Asrim nur irgendetwas Rätselhaftes gemurmelt und war dann von dannen gezogen.

„Und wen jagen wir eigentlich?“, wollte Oscar wissen. „Einen Jäger? Einen Magier? Oder vielleicht einen Feuerdämon? Was denn eigentlich?“
 

Der Vampir schien kurz davor zu stehen, irgendwem den Hals umzudrehen. Oscar hatte früher durchaus noch so etwas wie Geduld und Zuversicht besessen, aber seitdem die Welt sich mit jedem Tag immer weiter veränderte, war er äußerst mürrisch geworden. Den technischen Errungenschaften der Menschen stand er mehr als nur feindselig gegenüber, sodass es ihn sogar tatsächlich mit Stolz erfüllt hatte, als ihn Elias noch letztens als wandelnden Anachronismus verspottet hatte. Er kümmerte sich nicht um Zahnräder und Elektrizität und Computer, sondern mied diese Spielereien, so gut es ihm möglich war.

 „Was auch immer hier in London für Unruhe sorgt, es macht die anderen Vampire ziemlich nervös“, meinte Sharif.

„Die anderen Vampire.“ Oscar schnaubte abfällig. „Das sind doch alles bloß Memmen, die sich nie von ihrer menschlichen Existenz lösen konnten. Wenn du dir diese Weicheier tatsächlich zum Vorbild nimmst, nehm ich am besten direkt das nächste Flugzeug zurück nach Deutschland.“

Aus einem der hinteren Winkel des Zimmers war ein Lachen zu hören. Oscar wirbelte herum und bedachte den dort befindlichen Alec mit einem harten Blick. Dieser saß auf einem Stuhl, hatte seine Beine auf den Esstisch gelegt und die ganze Zeit über mit einer Streichholzschachtel gespielt, während er den beiden anderen Vampiren zugehört hatte. Sharif hatte seine Anwesenheit schon fast vergessen gehabt.
 

„Was gibt es da zu lachen?“, knurrte Oscar.

Alec grinste breit. „Hab ich dir eigentlich in den letzten paar Tagen gesagt, wie sehr ich dich liebe, Bruder?“, hakte er amüsiert nach. „Du bist immer so freundlich und mitfühlend, selbst gegenüber Fremden, die du noch nie zuvor gesehen hast. Mir geht jedes Mal das Herz auf.“

„Wenn du willst, kann ich dir dein gammliges, kleines Herz gerne herausreißen“, schlug Oscar knurrend vor.

Sharif konnte derweil nur mit den Augen rollen. Es war immer wieder dasselbe mit den beiden ...

Sie waren Unikate, ohne Zweifel. Unterschiedliche Pole, heiß und kalt, Hund und Katze. Es gab kaum etwas, über das sie sich einig waren, ständig lagen sie sich in den Haaren und sprachen mehr Morddrohungen aus, als es Sharif pro Tag hätte zählen können. Sie nur zehn Minuten in einen Raum gemeinsam einzusperren, hätte wahrscheinlich katastrophale Folgen nach sich gezogen.

Anfangs hatte Sharif wirklich befürchtet, diese gegenseitige Abneigung würde zu einem endgültigen Bruch zwischen den beiden führen. Oscar war ein ehemaliger keltischer Stammesführer, der sich durch sein autoritäres Auftreten den uneingeschränkten Respekt seiner Männer versichert hatte, und Alec ein Dieb, der sich noch niemals von irgendwem etwas hatte vorschreiben lassen. Sie passten einfach nicht zusammen und Sharif hatte eher früher als später mit einem großen Knall gerechnet. Mit irgendetwas so Gewaltigem, das nicht mal die Zeit imstande gewesen wäre, die tiefen Wunden zu heilen.

Doch zu seiner großen Überraschung trat nichts Derartiges ein. Die beiden stritten sich weiter, fanden im Grunde so gut wie nie einen gemeinsamen Nenner, aber gleichzeitig entdeckte man auch eine seltsame Art von Zuneigung, wenn man sie länger beobachtete. Blicke, die ausgetauscht wurden und offenbar keiner Erklärung bedurften. Kleinigkeiten, die geteilt wurden, meist dann, wenn sie glaubten, niemand würde es bemerken. Gespräche, die tief reichten oder auch völlig oberflächlich blieben.

Sie beiden waren auf jeden Fall ein überaus sonderbares Paar.
 

„Hättet ihr beide vielleicht die Güte, euch erst gegenseitig zu zerfleischen, sobald dieser Feuerleger tot zu unseren Füßen liegt?“, hakte Sharif nach. „Im Sinne der allgemeinen Höflichkeit?“

Alec wirkte über alle Maßen missbilligend. „Seit wann gebe ich denn was auf Höflichkeit?“, konterte er. „Außerdem ist das echt nicht meine Schuld. Ich sage Oscar, dass ich ihn liebe wie einen Bruder, und er droht, mich zu zerstückeln. Wer ist hier also unhöflich?“

Sharif hob warnend seinen Zeigefinger, als Oscar gerade dabei war, seinen Mund zu öffnen, um zu einem – zweifellos harschen – Gegenargument anzusetzen.

„Alles, was aus deinem Mund kommt, klingt wie eine Provokation, Alec“, entgegnete der Ägypter. „Also lass es gut sein, okay? Du weißt sehr wohl, dass Oscar schon seit mehreren Jahrhunderten davon fantasiert, dir den Kopf abzureißen. Und irgendwann bin ich an einem Punkt angekommen, an dem ich ihn nicht mehr daran hindern werde, verstanden?“

Alec hob eine Augenbraue, sagte aber nichts. Seinem Blick war jedoch zu entnehmen, dass ihn das alles viel zu sehr amüsierte, als dass er es irgendwie ernstnehmen könnte.
 

„Konzentrieren wir uns einfach auf den Pyromanen, was haltet ihr davon?“, schlug Sharif vor. „Ich habe nämlich genauso wenig Lust hier zu sein wie ihr. Je schneller der Mistkerl unter der Erde liegt, desto eher können wir diese verfluchte Insel verlassen.“

 „Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?“, fragte Oscar übellaunig. „Asrim will uns nichts verraten, wir stehen ohne die geringsten Informationen da. Ich bin jetzt schon seit drei Tagen in dieser stinkenden Stadt und bis jetzt habe ich keinerlei Anzeichen für irgendetwas Gefährliches ausmachen können. Allmählich glaube ich, dieser mysteriöse Feuerleger existiert gar nicht.“

Alec runzelte die Stirn. „Deine Sinne sind ganz schön vernebelt, kann das sein? Riechst du nicht die Asche und das Feuer?“

Oscar knirschte hörbar mit den Zähnen. „Ich rieche bloß den Regen und den Mief selbstgerechter Menschen. Das ist mehr als genug.“ Er zog seine Mundwinkel nach unten. „Was ist mit der Hexe? Hat sie eine Ahnung, wo sich unser Feuerliebhaber aufhält?“

„Necroma?“ Sharif grinste, als wäre dies der beste Witz, den er seit langem gehört hat. „Du kennst sie doch. Sie hatte wahrscheinlich schon unzählige Zukunftsvisionen, hat aber keine Lust, sie mit uns zu teilen.“

Oscar zog an seiner Zigarette. „Irres Miststück“, grummelte er.

Sharif wandte derweil seinen Blick zu Alec, der noch vor ein paar Stunden verkündet hatte, dass er eine Spur aufgenommen hätte, was den Feuerteufel betraf. Der Ägypter wusste zwar nicht, ob dies tatsächlich mehr war als bloß heiße Luft, aber wahrscheinlich war es trotzdem allemal besser, als auf Necroma zu vertrauen.
 

Oder auf Asrim, so musste sich Sharif widerwillig eingestehen. Ihr Schöpfer benahm sich auf alle Fälle mehr als seltsam und das lag Sharif ausgesprochen quer im Magen.

Wenn der Vampir es nicht besser gewusst hätte, hätte er behauptet, Asrim wäre besorgt. Aber das war unmöglich. Asrim war niemals in Sorge.

Er hatte immer alles unter Kontrolle, wie ein Puppenspieler seine Marionetten. Durch nichts ließ er sich aus der Ruhe bringen.

Es musste schon der Weltuntergang bevorstehen, bevor Asrim in Sorge geriet.


Nachwort zu diesem Kapitel:
[1] Angelus Mortis (lat.) = Todesengel

Die hier erwähnte Mary Hopkins wird übrigens noch eine Rolle in meiner Story Unterwelt spielen, die ich hier auch demnächst hochladen werde ;) Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (5)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2014-09-22T18:02:02+00:00 22.09.2014 20:02
Ich mag Oscar und Alec!
Und dabei belass ich es einfach mal... XD

Hach, ist das Kapitel wieder voll mit Informationen. Sehr, sehr tollen Informationen. Ich fand den Bericht von Eves Großmutter (mit einigen ur's davor) sehr schön. Das passte wirklich so ziemlich zu dem, was auch mir so durch den Kopf gegangen ist bei ihrer Begegnung mit Alec. Erwähnte ich schon, dass ich ihn mag? Ich hab ne Schwäche für provokante, aufmüpfige Typen. Es sei mir verziehen, oder? SamAzo wird wissen, was ich meine. ;D
Jedenfalls... ich schweife ab. Wenn so viele tolle Charas im Spiel sind, leidet meine Konzentration immer etwas.
All die Sachen, die du so schilderst, wirken wirklich so wunderbar recherchiert. Klar, es sind, was die Vampire angeht, größtenteils erfundene Sachen, aber es wirkt nicht so, verstehst du? Es kommt einem vor, als wäre es wirklich genauso. Als gäbe es irgendwo wirklich Dokumente über diese Sa'onti und anderen magischen Wesen, weil du es so schreibst, dass der Leser gar nicht anders kann, als sich in diese magische Welt so vollkommen einzulassen.
Ganz wunderbar und wenn ich das schon sage, wo ich eigentlich selten Fantasy lese, außer mir ist mal danach, dann heißt das auch was!
Ähm... jedenfalls konnte ich jezze noch einen abhaken, der den Regen und England allgemein nicht mag. Bei Alec bin ich mir noch nicht sicher. Wenn der die Asche an Eve gerochen hat, scheint ihn der sonstige Geruch ja nicht weiter zu stören, was ich einfach mal ein wenig auf sein Leben vor dem Vampirdasein schiebe. Als Dieb ist man ja auch gern mal... mitten drin im Leben und damals hieß das ja so viel wie... mitten im Dreck.
Ist übrigens auch sehr schön zu sehen, wie herzlich die Vampire untereinander umgehen. Da geht einem das Herz auf.

*oscar und alec in einen raum sperrt, einfach um zu genießen, was passiert*
Von:  _Myori_
2014-09-21T09:13:28+00:00 21.09.2014 11:13
Du hast dir da wirklich unglaublich interessante Charakte ausgedacht, Hut ab!
Da ist einer schlimmer als der andere :D Ich glaub, würde die man alle zusammen in einen kleinen Raum sperren, würde am Ende des Tages nicht mehr viel von diesem übrig bleiben ^^"

Kurze Frage zu den Sa´onti: vielleicht hab ich das auch einfach überlesen, aber warum genau sind die so viel gefährlicher? Wenn ich das richtig verstanden hab, sind das ja quasi Menschen mit "Vampir-Genen", die irgendwann aktiv werden und dann kann sie nur noch die Verwandlung retten. Sind Sa´onti deswegen besonders stark, weil sie irgendwie schon immer Vampire waren?

So. Draußen braut sich die nächste Sintflut zusammen; perfekter Zeitpunkt, um ein paar Kapitel aufzuholen ;)
Ansonsten bummel ich ja noch in drei Jahren hinterher...
Liebe Grüße!
Antwort von:  Nochnoi
21.09.2014 21:49
Ach, die sind doch alle ganz lieb und nett ;)
Aber ok, ich geb's zu, wenn du zumindest Alec und Oscar in einen kleinen Raum sperren würdest, könnt's echt unangenehm werden!

Und ja, genau, da die Sa'onti es im Gegensatz zu anderen Vampiren schon seit ihrer Geburt in ihren Genen haben, werden sie allgemein als gefährlicher eingestuft. Bei den Sieben kommt dann noch zusätzlich ihr hohes Alter und die Tatsache, dass es Asrims Blut, war was sie verwandelt hat, hinzu.

Und ich hoffe, du wurdest von den Fluten nicht fortgerissen ;)
Antwort von:  _Myori_
22.09.2014 10:25
Danke für die Erklärung ^^
Ja, das Haus konnte dem reißenden Stron gerade noch so stand halten :P
Antwort von:  Nochnoi
22.09.2014 18:54
Gut zu hören, dass es noch steht ;)
Von:  Enyxis
2014-08-10T20:16:10+00:00 10.08.2014 22:16
Oscar und Alec xDD Muss echt nervtötend auf Dauer sein, wenn die sich als ankeifen xD

Soso u__û Dieser Seamus soll etwas seltsam sein, was? Na, da bin ich gespannt... Noch eine seltsame Gestalt für Eve xD

Klasse Kapitel!
Von:  SamAzo
2014-06-14T20:04:42+00:00 14.06.2014 22:04
Hach Oscar...
Er ist so gut zu verstehen. Manchmal sitz ich hier und denke mir, das all dieser ganze Technikkram sowas von überflüssig ist. Dann überlege ich, wie es wäre ohne das meiste davon zu leben und komme doch wieder zu dem Schluss, das ich ohne das Internet nicht sein möchte. xD

Aber das da so viel Abneigung London gegenüber besteht... tz - Also echt mal.
Das ist die tollste Stadt der Welt!
Und dabei ist es schwer zu fassen, was genau sie dazu macht. Es ist einfach das Gefühl, das sie erzeugt. Aber gut... vielleicht ist das nur bei mir so. ^^"

Mary Hopkins also, ja?
Da bin ich ja gespannt, was es da so von ihr zu lesen gibt. ^_^
(Irgendetwas klingelt bei dem Namen, aber mein Hirn geht nicht ran...)
Antwort von:  Nochnoi
14.06.2014 22:12
Ja stimmt schon, so ein paar technische Annehmlichkeiten möchte man heutzutage nicht mehr missen ;) Aber Oscar hat es Tausende von Jahren ohne sowas geschafft, der braucht dann halt was länger, um damit warm zu werden. Wenn 2015 die Hoverboards rauskommen, ist der voll dabei xDD (ich glaub, ich müsst mal wieder Zurück in die Zukunft schauen *lol*)

Und Mary Hopkins ... hm, es gibt, glaub ich, ne Sängerin, die zumindest einen ähnlichen Namen hat - vielleicht klingelt's ja da ;p

Auf jeden Fall wie immer vielen Dank für deinen Kommentar ^^


Zurück