Prolog
Französische Nordküste (824 v. Chr.):
Schwer atmend sank er auf die Knie.
Ein kalter Wind blies ihm vom Meer entgegen, fast so scharf und schneidend wie ein Messer. Ein schwerer Sturm schien sich anzubahnen und bereits auf den direkten Weg zum Festland zu sein. Nichts und niemand würde ihn dabei von seinem Vorhaben abbringen können. Erbarmungslos würde er über das Land fegen und sich nicht darum kümmern, ob er den Tagesablauf der Menschen völlig durcheinanderbrachte.
Er war bloß der Wille der Natur.
Neyo sah hinaus aufs Meer. Die Sonne war bereits vor einiger Zeit untergegangen, dennoch sorgte der noch ungewöhnlich helle Vollmond für eine ausgezeichnete Sicht. Erst wenn der Sturm und die Wolken näher rückten, würde die Dunkelheit alles überziehen und Neyo das letzte bisschen Licht rauben, dass ihm vielleicht noch blieb.
Das letzte Licht, das er jemals im Leben sehen würde.
Er schluckte schwer, während seine Hand wie von selbst zur Wunde an seinem Bauch wanderte. Er spürte das warme Blut, fühlte die Energie, die in Strömen aus seinem Körper floss. Nach und nach verließen ihn seine Kräfte.
Er wusste gar nicht mehr, wie er es überhaupt bis an den Strand geschafft hatte. Er erinnerte sich nur noch an den Schmerz, die Pein und an den Wunsch, an jenen Ort zurückzukehren, wo damals alles angefangen hatte.
Wo sein Leben begonnen hatte und damit gleichzeitig sein Tod.
Seine Beine mussten ihn irgendwie von selbst an den Strand gebracht haben. Schritt für Schritt hatte er sich vorwärtsgekämpft, stets mit der nahenden Bewusstlosigkeit ringend. Einige Male war es sogar kurz schwarz um ihn herum geworden, doch der Drang, den Sand zwischen seinen nackten Zehen zu spüren und wenigstens noch einmal die Salzluft zu riechen, hatte ihn weiter angetrieben. Sich gegen das Sterben auflehnend war er seinen Weg gegangen.
Und nun waren seine letzten Reserven aufgebraucht.
Er wollte weinen, wollte schreien, wollte seiner Qual einfach nur freien Lauf lassen, aber selbst dafür reichte seine Kraft nicht mehr aus. So kniete er nun an jenem Strand, den er sosehr liebte, färbte den Sand rot von seinem Blut und wartete auf das Ende.
Auch wenn er ganz sicher nicht bereit war, zu sterben.
Er war jung, er war lebenslustig und mehr als überzeugt gewesen, dass ihm noch viele Sommer bevorstanden. Er hatte Pläne gemacht, hatte sich ein kleines Haus vorgestellt, erfüllt mit ansteckenden und unschuldigen Kinderlachen. Erfüllt von Glück und Harmonie. Er als stolzer Vater und sie als Mutter seiner Kinder.
Er hatte es sich von ganzen Herzen ersehnt, auch wenn ihm im Grunde vorherein klar gewesen war, dass es niemals soweit kommen würde.
Zumindest war das Glück nie für lange an seiner Seite gewesen. Nur stets eine gewisse Weile, sodass er schon anfing, sich in Sicherheit zu wiegen, um dann letztlich noch erbarmungsloser zuzuschlagen. Um ihn brutal den Boden unter den Füßen wegzuziehen und ihn in ein tiefes Loch stürzen zu lassen.
Nie war es ihm hold gewesen.
Nie.
Auch als er die Gestalt bemerkte, die sich neben ihm aus den Schatten schälte, war ihm sofort bewusst, dass es nicht etwa die Göttin des Glücks war, die ihm Gnade zuteilwerden ließ. Mancher hätte es vielleicht so gesehen, hätte gejubelt und gesungen, doch Neyo wandte bloß seinen Blick ab und hoffte, dass der Tod nicht zu lange auf sich warten lassen würde.
„Du bist nicht erfreut, mich zu sehen.“ Der Mann hockte sich neben Neyo und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ganz selbstverständlich, als würde es sich bei ihnen um langjährige und innige Freunde handeln.
Dabei hatte Neyo diesen mysteriösen Mann erst vor wenigen Wochen kennengelernt.
„Du weißt, warum ich hier bin, nicht wahr?“ Er sprach leise und sanft, fast schon behutsam, als hätte er Angst, Neyo in irgendeiner Weise zu verschrecken. Dieser wiederum bemühte sich, den Neuankömmling zu ignorieren und nicht weiter auf ihn einzugehen.
Ein Unterfangen, das schwierig und sogar letzten Endes völlig unmöglich war.
Denn Neyo schaffte es einfach nicht, sich diesem Mann zu entziehen. Seine Aura schien derart stark, dass es einem jedes Mal aufs Neue die Sprache verschlug. Dass es einem gleichzeitig heiß und kalt wurde.
Neyo hatte versucht, sich zu entziehen, hatte versucht, diesen Mann – dieses Wesen! – nicht näher an sich heranzulassen, doch es war vergebens gewesen. Als hätte eine übermenschliche Macht von ihm Besitz ergriffen.
Er war das gewaltige, lodernde Feuer und Neyo die dumme, kleine Motte, die nicht wusste, wie ihr geschah.
Man spürte die Macht dieses Mannes in jeder einzelnen Faser des Körpers. Als würde sie durch die Luft strömen und jede Person befallen, der sie habhaft wurde.
Wie eine schreckliche Krankheit.
Eine schreckliche und gleichzeitig wunderbare Krankheit.
Denn aus irgendeinem Grund verspürte Neyo trotz alledem weder Sorge noch Angst. Er wünschte sich zwar aus tiefstem Herzen, dies zu empfinden, um nicht als unnormal zu gelten, doch es gelang ihm nicht. Er konnte diesem Wesen in die blutroten Augen schauen und die Gier dahinter sehen und dennoch war da keinerlei Furcht.
Nicht mal ein kleines bisschen.
Und gerade dieser Umstand beunruhigte Neyo mehr als alles andere.
„Bitte … geh“, flehte er. Die letzten Minuten seines Lebens wollte er nicht mit dieser Kreatur verbringen. Er brauchte nur den Mond und das Meer. Alles andere war unwichtig.
„Du stirbst“, sagte der andere in einem vollkommen ruhigen Tonfall. „Du stirbst, weil du dich von niederen Menschen hast übertrumpfen lassen.“
Neyo schnaubte. „Ich sterbe …“, begann er, mühevoll nach Atem ringend, „weil ich … dumm war. Dumm und töricht.“
„Du bist vieles, Neyo, aber ganz gewiss nicht dumm.“ Der Mann strich ihm leicht über den Kopf, was einen eiskalten Schauer durchs Neyos Körper jagte und seinen Schmerz noch zusätzlich verstärkte. Qualvoll stöhnte er auf.
„Lass mich dir helfen“, forderte das Wesen ihn auf.
„Geh einfach … Asrim“, nannte er es bei dem Namen, den es ihm bei ihrer ersten Begegnung anvertraut hatte. Damals, bloß vor wenigen Wochen. Es kam Neyo jedoch wie eine Ewigkeit vor.
„Ich kann dich nicht einfach zurücklassen“, erwiderte Asrim geduldig. „Sie haben dir Leid und Kummer gebracht und ich möchte, dass du die Gelegenheit erhältst, dich an ihnen zu rächen.“
„Rächen?“ Neyo schüttelte nur den Kopf. Was für eine unsinnige Vorstellung! „Ich soll mich Magiern gegenüberstellen? Ich?“
Er lachte auf, nur um es im nächsten Moment bitter zu bereuen. Scharf sog er die Luft ein, während er seine Hand fest auf die Wunde presste und sich unwillkürlich fragte, wie viel Blut wohl noch aus seinen Adern fließen musste, ehe sein Körper vollends versagte.
Zumindest konnte nicht mehr viel übrig sein.
„Lass mich … einfach nur in Frieden … sterben“, meinte Neyo schwach. Sein Kopf sackte nach unten, sein ganzer Leib erschlaffte immer mehr. Einen kurzen Augenblick dachte er darüber nach, sich auszustrecken und hinzulegen, doch Asrims Anwesenheit hielt ihn zurück. Schon schlimm genug, dass er auf dem Boden kauerte. Da wollte er sich nicht noch auf eine niedrigere Stufe begeben.
„Du willst ihre Taten also ungesühnt lassen?“, hakte Asrim nach. „Du lässt zu, dass sie dich einfach so töten?“
Neyo schloss kurz die Augen, während er mühevoll versuchte, die Stimme dieses Wesens auszublenden. Aber seine Worte rasten durch seinen Kopf, wollten ihn einfach nicht in Ruhe lassen. So verrückt und wahnsinnig sie auch sein mochten.
Er sollte sich gegen das Schicksal stellen? Gegen den Weg, den die allmächtigen Magier für ihn bestimmt hatten?
„Ich weiß, dass du denkst, du wärst nichts wert“, meinte Asrim. „Dass es das gute Recht dieser hohen Herrschaften war, mit deinem Leben zu verfahren, wie es ihnen gefällt. Dass du sowieso nichts dagegen tun kannst.“
Neyo betrachtete den blutgetränkten Sand. Von seiner Perspektive aus war die Entscheidung der Magier relativ endgültig gewesen.
„Du weißt, dass ich dir helfen kann“, sagte Asrim. Seine Stimme derart lockend und verführerisch, dass sich Neyo mit seinen Fingernägeln selbst in das Fleisch seiner Handinnenfläche schnitt, um einen einigermaßen klaren Kopf behalten zu können. „Ich vermag dir ein neues Leben zu schenken.“
„Ein untotes Leben!“, erwiderte Neyo zischend.
„Dein Herz wird weiter schlagen, deine Lunge wird weiterhin Luft in sich aufnehmen.“ Asrim lächelte leicht. „Du wirst lebendiger sein als so manches Wesen auf dieser Erde. Man wird dich beneiden und lieben und fürchten.“
Neyo hatte das Gefühl, als würde er geschlagen. Er wehrte sich vehement, mit der letzten Energie, die ihm zur Verfügung stand, doch die Worte waren einfach viel zu betörend und einladend, um sie ohne weiteres abzutun. Um sie einfach zu ignorieren.
„Du wirst ein König sein“, versprach Asrim. „Ein Gott.“
Neyo schüttelte den Kopf, wollte all das nicht hören. Der Tod war das einzige, was ihm geblieben war.
„Du willst deine Mörder also davonkommen lassen?“, hakte die Kreatur nach. „Hast du denn schon vergessen, was sie dir angetan haben? Was sie ihr angetan haben?“
Neyo erzitterte am ganzen Körper. Allein ihre Erwähnung war wie ein furchtbarer Stich ins Herz.
„Es war … ein Unfall“, brachte er mühsam hervor.
„Das versuchst du dir einzureden“, erwiderte Asrim. „Aber wir beide wissen, dass es nicht stimmt, nicht wahr? Tief in deinem Herzen ist dir klar, dass er sie tot sehen wollte. Er konnte mit ihrer Wahl nicht leben.“
Er konnte nicht damit leben, dass sie mich gewählt hat, schoss es Neyo durch den Kopf. Heiße Tränen bahnten sich ihren Weg, während er an ihre letzten Atemzüge dachte. Wie sie sterbend in seinen Armen gelegen, ihn schwach angelächelt und ihm versichert hatte, dass alles wieder gut werden würde.
Aber nichts war wieder gut geworden.
Ihr Tod hatte alles nur noch viel schlimmer werden lassen.
„Willst du sie nicht rächen?“ Asrim hatte sich zu ihm hinunter gebeugt und flüsterte ihm verlockend ins Ohr. „Willst du nicht seinen Schreien lauschen? Ihren Schreien? Möchtest du nicht hören, wie sie jammern und um Gnade betteln? Wie sie erbärmlich um ihr Leben flehen?“
Neyo wollte den Kopf schütteln, wollte all das nicht wahrhaben, doch eine innere Sperre hinderte ihn daran. Stattdessen sah er ihr Gesicht vor sich, ihr blasses Gesicht, das von Schmerz und Tod gezeichnet gewesen war. Wie sie angestrengt versucht hatte, ihre Augen offenzuhalten, und es letzten Endes einfach nicht geschafft hatte.
Sie war gestorben.
Und das nur, weil ihre Familie geglaubt hatte, über ihr Leben bestimmen zu können.
„Schließ dich mir an“, wisperte Asrim. „Werde einer von uns.“
Einen Moment zögerte Neyo. Er spürte den kalten Wind, schmeckte das Salz auf seiner Zunge und fragte sich, ob alles anders werden würde, wenn er Asrims Worten Folge leistete. Würde sich der Sand dann noch so kalt und kratzig anfühlen? Wäre die Brise immer noch derart frisch, dass sich automatisch eine Gänsehaut bildete?
Oder würde sich einfach alles radikal verändern?
„Dein Weg ist vorherbestimmt“, entgegnete die Kreatur mit dem Anflug eines Lächelns. „Ich habe die Zukunft in meinen Träumen gesehen. Du wirst unter vielen Namen bekannt sein, doch du selbst wirst dich Alec nennen. Die Mächtigsten und Einflussreichsten der Welt werden dich fürchten und allein bei deiner Erwähnung erzittern.“
„Alec?“
„Ich weiß, ein sonderbarer Name“, musste auch Asrim zugeben. „Aber in tausenden von Jahren ist er absolut gewöhnlich.“
In tausenden von Jahren?
Neyo fiel es schon schwer, an die nächsten paar Minuten zu denken. Jahrtausende vermochte er sich somit erst recht nicht vorzustellen.
Ebenso erschien Asrims Prophezeiung mehr als unglaubwürdig und dennoch konnte sich Neyo nicht dazu zwingen, spöttisch aufzulachen oder sich zumindest selbst davon zu überzeugen, dass Asrim ihn bloß anlog, um seinen Willen durchzusetzen. Stattdessen dachte er an all die Magier, die er im Laufe seines Lebens kennengelernt hatte, und die bisweilen erstaunliche und atemberaubende Fähigkeiten an den Tag gelegt hatten. War es demnach weit hergeholt, wenn es tatsächlich jemanden gab, der in die Zukunft zu sehen in der Lage war?
Wenn man bedachte, mit welch animalischer Leichtigkeit sich dieses Wesen fortbewegte und alles und jeden, dem es begegnete, in Angst und Schrecken versetzte – selbst die mächtigsten Magier des Landes –, dann war ein kleiner Blick in die Zukunft fast schon unspektakulär.
„Räche dich!“, drängte Asrim, während seine dämonenhaften Augen noch heller aufleuchteten als der Vollmond.
Und obwohl dieser Anblick Neyo eigentlich das Fürchten hätte lehren sollen, verspürte er keine Angst. Bloß eine seltsame Verbundenheit zu diesem Wesen.
Und ehe er überhaupt wusste, was er tat, nickte er.