Die eiserne Faust
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"Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen."
- Immanuel Kant
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An der Teitan-High-School, einer traditionsbewussten Privatschule, stand Disziplin an oberster Stelle. Eliteschüler aus aller Welt wurden auf ihrem mühsamen Weg des Erwachsenwerdens von staatlich-geprüften Lehrern begleitet, die ihnen die Werte und Normen der heutigen Gesellschaft durch Vorträge lehrten. Neu erworbene Schüler hatten die Aufgabe sich anzupassen, allmählich im Strom der Allgemeinheit unter zu tauchen, wie in einem Meer voller unentdeckter Schätze.
Ein opalschwarzer Bauer, gezeichnet von tiefen Einkerbungen, kämpfte sich durch das majestätische Feld. Es beinhaltete eine hölzerne Landschaft mit abwechselnd dunklen und hellen Platten, worüber sich Türme, in Form von Schließfächern, kleinere Waschbecken und Putzeimern aneinander schmiegten. Ein wütendes Streitgebrüll, gefolgt von unkontrolliertem Getrampel war hörbar. Gemeinsam mit seinen Gefolgsmännern hoffte der Bauer durch schnelle, präzise Züge den polarweißen König, das Unschuldslamm, endlich stürzen zu können, jedoch hatte er die Rechnung nicht mit den stahlgrauen Türmen gemacht. Wie ein Schild boten sie der wichtigsten Spielfigur Schutz, kesselten die dunklen Läufer hermetisch ein, bauten ein rätselhaftes Labyrinth auf. Konnte dem König noch ein Dolch durch sein Herz gerammt werden?
"Dort hinten ist das Arschloch!", brüllten einige Schüler mit erhobenen Fäusten durch den Flur. Es brodelte in Narutos Magen. Der innere Vulkan wartete auf seinen glorreichen Moment, auf eine leise Unachtsamkeit, an dem er seine aufgestauten Innereien ans Tageslicht bringen konnte. Schleichend kroch die Hitze durch den fleischlichen Panzer, suchte sich wie eine listige Schlange den Weg aus dem körperlichen Gefängnis. Ihm war übel. Speiübel. Mit zittrigen Fingern strich er sich für einen Augenblick über den Bauch. Mehr Zeit hatte er nicht, denn er musste vor uniformlosen Schülern flüchten, die ein nettes Kaffeekränzchen bei gemütlicher Runde abgelehnt hätten.
Schade aber auch, das braune Heißgetränk wäre sicherlich lecker gewesen.
Seitenblicke lieferten ihm den Beweis, dass sein Vorsprung gegenüber den zukünftigen Akademikern minimal war. Nur eine Haaresbreite trennte die gierigen Hände der Verfolger von der Jacke des blonden, jungen Mannes. Er konnte die Kluft zwischen sicherem Leben und düsterem Ende förmlich riechen, es war als würden Wespen durch seine Nasenhöhlen wandern, stechend sein Hirn benebeln. Bald wären sie da. Gab es ein Entkommen?
Naruto bog um eine Ecke. Er hatte sich nicht an dieser Schule beworben, um viele Auszeichnungen zu erhalten. Die Elite war nichts, was er anstrebte. Er war hier, weil sein Ziehvater hier unterrichtet wurde und dessen Vater auch dieser Tradition nachgefolgt war. Kinder mussten die Fackel der älteren Generationen annehmen, das lodernde Feuer der Familie weitertragen, bis der nächste Träger dieser Ehre nachkommen durfte. So wurde es gemacht. Punkt. Umso mehr verwunderte es ihn, glückliche Gesichter auf den in Gold eingerahmten Bildern zu sehen, an denen er konsequent vorbei rannte. In dem grauen Gang wurden Genies aus damaligen Zeiten ausgestellt, meistens mit einer Medaille in der Hand und einem Lächeln auf den Lippen. Sie strahlten Zufriedenheit aus.
"Schnappt ihn euch!", kam es lauthals aus mehreren Kehlen.
Er reagierte, bewegte sich schnell. Schweißperlen zeichneten sich deutlich von Narutos gebräunter Haut ab, ließen sein frisch gebügeltes Hemd wie eine zweite Haut an seinem Körper kleben, hinterließen einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Nervös versuchte er durch das Schlucken seiner Spucke seinen Hals feucht zu halten. Ohne Erfolg. Seit einigen Minuten duellierten sich der Geruch von Ananas und kaltem organischen Flüssigkeiten um die Vormachtstellung. Wer würde gewinnen?
Dem Druck des brodelnden Vulkans nachzugeben und einfach zu kotzen– es wäre schade ums Mittagessen gewesen!– wäre wohl die leichtere Option gewesen, doch rannte er nur umso gehetzter in den nächsten Gang. Die nebeneinander gereihten, schiefergrauen Schließfächer ignorierend setzte er unkontrolliert einen Fuß vor den anderen. Er hatte das Gefühl, die angeklebten Kaugummis an den Waschbecken würden ihn verhöhnen, weil er nicht genau so war wie sie.
Es war nicht sein Wunsch gewesen besonders aufzufallen, um aus Masse heraus zu treten. Er wollte in den Seen der gesichtslosen Menschheit schwimmen, in den tiefen Meeren der widerstandslosen Puppen tauchen, um dann in den Ozeanen der gehorsamen Marionetten unterzugehen. Assimilation war sein größtes Ziel. Warum verstand das niemand?
Naruto nutzte aschgraue Putzeimer– so würde er auch aussehen, sollte er sich nicht beeilen– als Zeitschinder und kickte sie gezielt den Verfolgern vor die Füße. Manche stolperten gegen die Behälter. Der ohrenbetäubende Lärm, verursacht durch einige fallende Schüler, manifestierte sich in den Gedanken des Gejagten, ließ ihn in konstanten Abständen aufschrecken und nach hinten schauen. Es waren immer noch genug hinter ihm her. Sein Blick glitt nach vorne. Er konnte sich nicht erinnern jemals so viel im Leben gelaufen zu sein, geschweige denn jemals so viel geschwitzt zu haben. Der Schüler war kein geborener Marathonläufer, beschäftigte er sich in seiner Freizeit lieber mit diversen Games, Fast-Food und Schach. Sein Körper dankte es ihm.
Seine Beine hatten nicht nur mit pochenden, klopfartigen Stößen zu kämpfen, es war als würde ein Hammer regelmäßig auf sie knallen, auch seine drückenden Schuhe erledigten einen guten Job.
Ein Keuchen. Ein Knall. Mit weit ausgestreckten Armen und geöffneten Händen beförderte er die stahlgrauen Schultore zur Seite, während der Lärm die sitzenden Vögel vertrieb. Sie flogen über den sandgelben Hof, streiften die blattgrünen Baumkronen mit ihren Flügeln und ließen sich auf die rostigen Zäune nieder, die die Schule von der Außenwelt abgrenzten.
In einer anderen Welt würde der Uzumaki seine Arme hinterm Kopf verschränkend, die Beine auf warmen Gras ausbreitend und Vögel beobachtend den stillen Alltag genießen, doch wurde ihm seine träumerische Ader bereits im Kindesalter ausgetrieben.
Ein Junge hatte sich nicht Zuhause zu verschanzen– sein Bett war außerordentlich gemütlich! –geschweige denn virtuelle Kontakte als "Kumpane" zu bezeichnen, sondern musste sich als Mann in der Gesellschaft beweisen. Was nutzte ihm ein Level 50 Samurai, wenn seine reellen Kampfkünste sich auf das Aufspießen von Schweinefleisch beschränkten? Was nutzten ihm fünf virtuelle Gefährten, wenn durch seine wirkliche Freundesliste ein Strohballen rollte? Was nutzte ihm eine Sammlung an Pornomagazinen, wenn der Grad seiner Erfahrungen mit Geschlechtsverkehr tendenziell gegen Null ging? Genau. Gar nichts!
"Wehe ihr lasst Uzumaki entwischen!" Naruto schluckte. Er kannte diese Stimme. Sie war der Grund, weshalb er sich seit mehreren Minuten durch die Schulgänge quälte, ohne Pausenbrote zur Stärkung im Gepäck. Sie war die hineingeworfene Kerze im Öl, der Auslöser der Hetzjagd auf seine Wenigkeit. Die Stimme war laut, aggressiv und sie gehörte Hidan. Passend zu seinem unverkennbarem Organ trug der Verfolger eine nachtschwarze Lederjacke, eine pechschwarze Hose und verdorbenschwarze Biker-Stiefel. Nicht nur die in die Luft gewirbelten Sandkörner fühlten sich durch seinen stürmerischen Lauf, mit dem er alle seine Jägergenossen binnen Sekunden weit hinter sich ließ, bedroht. Hidan war niemand, der für seine soziale Ader gegenüber Senioren bekannt war und das Regelhandwerk der Schule schien er auch nicht studiert zu haben. Naruto hatte es sich heimlich durchgelesen und fand keinen Absatz, in der das Demütigen von anderen Mitmenschen offenkundig erlaubt wurde. Woher nahm sich Hidan die Frechheit? Der Uzumaki würde ihn fragen– das hatte er sich fest vorgenommen– sollte er die Verfolgungsjagd überleben. Verstand sich ja von selbst.
Es hatte nur einen unvorsichtigen Moment gebraucht, um seinen Körper mit dem sandigen Boden in Kontakt treten zu lassen. Ja, er war über einen Stein gestolpert und es war nicht gut. Ganz und gar nicht gut.
Mit einem barbarischen Geschrei, so laut wie der Donner auf die Ohren ahnungsloser Menschen einschlagen konnte, wurde die Festmahlzeit angekündigt. Die Gefolgsmänner des dunklen Bauers standen gefestigt hinter ihm, beobachteten das Geschehen, welches sich vor deren Augen abspielte. Es war eine herrliche Zeit um das servierte Fleisch zu verzehren. Der opalschwarze Bauer hatte sich gemeinsam mit dem polarweißen König in den Vordergrund der Szene gedrängt, versuchte der Majestät mithilfe seines Dolches den Todesstoß zu verpassen. Würde das fürstliche Essen der Gemeinschaft munden?
"Na? Wen haben wir denn hier?", rief Hidan eher der langsam nachrückenden Meute zu, als die Frage direkt an den blonden jungen Mann zu stellen. Mit einem schnellen Griff hatte der silberhaarige Schüler Narutos Haare in Beschlag genommen, krallte sich mit seinen verschwitzten Fingern fest, hinterließ kleinere Furchen auf der Kopfhaut. Es schmerzte. Unfreiwillig durch eine ruckartige Handbewegung wurde der Uzumaki in eine kniende Position gebracht, als würde er bald an einen Kran hochgezogen werden wie ein großer Baustein, der den Abschluss in einer Wohnung bilden sollte.
Naruto sog scharf die Luft ein. Seine Beine schrien nach einer Pause, da sie durch den langen Tagessprint sehr in Anspruch genommen wurden, sodass sie bereits anfingen zu zittern. Genauso wie der Rest des Körpers. Oder war dies die Furcht?
"Na? Wo wolltest du denn hin, Blondie?", fragte Hidan bedrohlich flüsternd. Höhnisch grinsend verformte er seine Augen zu Schlitzen, beugte sich zu Naruto hinunter, sodass sich zwei Gesichter beinahe berührten. Über den kühlen Wind gelangte der Geruch von alten Tabakblättern– er musste wohl vorher noch eine geraucht haben– und Schweiß in die Nasenhöhlen des Uzumakis. Durch leichtes Husten versuchte er sich abzulenken, in eine andere Welt zu tauchen, wo nicht vorhandene Freundschaften, sexuelle Erfahrungen und fehlende Medaillen keine Rolle spielten. Wäre es nicht ein Traum ohne Anfeindungen vor sich herzuleben?
Meistens blieben Träume aber unerfüllt. Genauso wie sein Wunsch. Himmel, war er kindisch! Wie konnte er auch nur den leisesten Gedanken an solch einem Unsinn verschwenden und denken, es gäbe wirklichen Frieden? Naruto biss sich nervös auf die Unterlippe. Es war an der Zeit erwachsen zu werden, um der Realität mit erhobenem Haupt ins Auge zu sehen. Da war ein angriffslustiger Hidan, bald wären seine kampfhungrigen Hyänen da und dann wäre er tot. Es war ein Versuch gewesen. Der Uzumaki konnte durch den kalten Schweiß sein weißes Hemd förmlich an sich kleben spüren, wollte es seinen Job als zweite Haut mit Bravour bestehen. Ein Bibbern. Ein Zittern.
"Ich woll–", versuchte sich Naruto gegenüber des Älteren zu rechtfertigen. Er fühlte sich wie eine Ameise, der mit einem Getreidehalm gegen einen Bären in den Ring steigen sollte. "Wolltest du etwa vor mir flüchten?", brüllte Hidan der angefangenen Verteidigungsrede entgegen, stampfte sie gnadenlos in den Grund. Anscheinend lag es nicht in seinem Interesse, gemeinsam mit Naruto, eine LAN-Party zu veranstalten und Spielgefährten dazu einzuladen. Der neue Controller im Hause der Uzumakis hätte sich über den konstanten Gebrauch gefreut. Narutos Ohr hätte sich über mehr Schonung gefreut, den Kontakt mit dem lauten Organ des Älteren lieber vermieden. Doch leider war das Leben kein Wunschkonzert. Narutos Herz zog sich krampfhaft zusammen. Wäre das Leben ein Wunschkonzert gewesen, hätte er sich definitiv mehr Kontakt mit weiblichen Personen gewünscht, einen stärkeren Bizeps, ein loseres Mundwerk und silberfarbene Haare. Er würde nicht mehr jeden Tag an den Haaren gezogen werden, sich gegenüber einer Person rechtfertigen müssen, der sich einen feuchten Kehricht um Ausreden scherte. In diesem Moment stände er nicht zitternd mit feuchten Händen, begleitet von schnelleren Atemzügen da. Allein.
"N-nein. Ich wollte nu–"
"Du Feigling! Hör auf mir das Blaue vom Himmel hinunter zu lügen! Natürlich wolltest du dich vor mir verkriechen, du Angsthase!"
Sandkörner konnten ziemlich interessant sein. Naruto hatte versucht keine von ihnen mit Ignoranz zu strafen und dabei fiel ihm auf, wie unterschiedlich die kleineren Kieselsteine waren. Flugsand bewegte sich mühelos durch die Luft fort, ohne sich um die in dem trübgrauen Backsteingebäude gefangenen Schüler zu scheren. Strömungen transportieren Flusssand von einem Ort zum Nächsten, ließen durch Reibungen die winzigen Gesteine in Glanz erstrahlen wie die Morgensonne dem blonden Jungen ein fröhliches Gemüt verpasst hatte. Damals. Und heute?
Wem machte er hier etwas vor? Hidans Stimme war bis zu seinem Ohr vorgedrungen, hatte bereits die feinen Haare im Gehörgang den Lebensmut genommen, sowie dem Uzumaki selbst. Das längst angedaute Mittagessen in seinem Magen begann zu kochen, machte sich bereit für einen Spaziergang zum Tageslicht. Er kniff die Augen zusammen. Er wollte dem Sand Aufmerksamkeit schenken? Pah! Ablenken wollte er sich! Jawohl! Was war er doch für eine Memme!
Naruto schmeckte ein Stück Haut von seiner Lippe, die sich feuchtfröhlich fast wie von selbst gelöst hatte. Aber eben nur fast. Verursacht durch viele Bissattacken konnten seine Lippen mit Plateaus verglichen werden, wo kleinere Risse mit einer roten Flüssigkeit gestopft worden waren. Den Geschmack von Eisen ignorierend und den Drang sich zu übergeben unterdrückend versuchte er etwas zu sagen. Er musste sich doch nur verteidigen, den Älteren nur von seiner Meinung überzeugen. Was war daran so schwer?
"H-Hidan, ich wollte nicht weglauf–"
Verschwitzte Finger lösten sich blitzschnell von seinen blonden Haaren. Eine Faust krachte wie eine Kanonenkugel direkt gegen seine Wange, ließ ihn durch den Druck seitlich zu Boden fallen und Freundschaft mit dem Dreck schließen, der sich auf seiner Kleidung breit machte. Ach ja! Nun wusste er es wieder! Seine Meinung war Hidan egal. Genauso wie sein schmerzerfüllter Schrei, seine aufkommenden Tränen und seine pochende Wange. Sanft tastete Naruto diese ab, nur um die glorreiche Erkenntnis zu erhalten, dass sie bald anschwellen würde. Durch das Blinzeln in regelmäßigen Abständen wollte er die Sterne am Nachthimmel vertreiben, die sich nach dem heftigen Schlag angesammelt hatten. Halt! Warte! Es war doch Tag, oder? Wo kamen dann all die Sterne her?
Widerwillig öffnete der Uzumaki zähnebleckend ein Auge, versuchte die momentane Lage zu realisieren.
Hidan hatte sich direkt vor dem seitlich liegenden Jugendlichen aufgebaut, rückte seine in Schwarztönen gehaltene Kleidung zurecht und strich sich daraufhin mit einer Hand kurz über seine nach hinten gegelten Haare. Der blonde Schüler konnte sehen, wie sich der Brustkorb des Älteren langsam hob und senkte, während der Unruhestifter atmete. Auch er musste den allmählich eisigen Wind, begleitet vom Schweißgeruch durch seine Nasenhöhlen wandern lassen, der versuchte vom Körper Besitz zu ergreifen.
Hidan lächelte boshaft. In Straßenkämpfen war es sein Spezialgebiet seinen Kontrahenten Knochen einzeln auf eine innovative, schmerzhafte Art und Weise vertraut zu machen. Durch seine Schläge und Tritte spendierte er jüngeren, sowie auch älteren Schülern Freikarten ins Krankenhaus, manchmal sogar mit einer kostenlosen Operation als Höhepunkt der Vorstellung. Er verlangte dafür kein Honorar, nur etwas Aufmerksamkeit von seinen Klassenkameraden, etwas Achtung von Schulkollegen und etwas Respekt von der Gesellschaft. Der Titel "eiserne Faust" war beispielsweise so eine kleine Aufmerksamkeit gewesen und er dankte es seinen Kameraden auch. Er nannte sie "Kumpel". War er nicht sozial?
Das Lächeln der eisernen Faust verformte sich zum diabolischen Grinsen, während seine Verstärkung den Kampfschauplatz, einen mit uniformierten Jugendlichen gefüllten Schulhof, erreichten. In gebückter Haltung die Hände auf die Knie stützend ringten einige Jägergenossen Hidans nach Luft, versuchten ihre verlorene Energie wieder in sich aufzunehmen. Es konnten eben nicht alle so glänzen wie der silberhaarige Straßenkämpfer, der nach seinem Marathon immer noch so aussah, als sei er eben nur auf die Toilette gegangen. Wenn Naruto doch auch nur so eine Ausdauer gehabt hätte…
"Da ist ja unser Blondie!"
Dann wäre er nicht von streithungrigen Teenager umzingelt worden, Hidan würde nicht Finger knackend vor ihm stehen und er hätte keine schaulustigen Kollegen ohne Ambition zur Zivilcourage. Er hätte nicht so oft den Sportunterricht schwänzen sollen. Noch einmal biss sich Naruto beim Anblick der uniformlosen Mitstreiter Hidans auf seine angekaute Lippe, versuchte nicht allzu viele Tränen fließen zu lassen. Bei den männlichen Vertretern der Gesellschaft galten Tränen als Zeichen der Schwäche. War er also stärker, je weniger er weinte?
Der Uzumaki wollte den Blick durch die Menge schweifen lassen, heimlich nach Hilfe rufen, doch traf ihn ein harter Tritt genau in den Magen. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis mehrere Tritte auf den schmächtigen Körper hagelten wie beim Training mit einem Boxsack. Hidans Füße prallten auf Narutos Korpus, krachten wie eine Lawine auf eine bewohnte Stadt nieder. Der innere Vulkan kochte vor lauter Wut seinen heißen Brei, formte ihn zu einem gewaltigen Tornado, um mit aufgestauten Innereien der ahnungslosen Welt eine Überraschung zu präsentieren. Nicht nur Narutos Mittagessen fand den Weg ins Freie, sondern auch sein Blut. Es schmeckte wunderbar nach Eisen und roch fantastisch nach Verzweiflung.
Die Arme schützend vor dem Kopf nehmend versuchte der blonde Schüler aus vollster Kehle durch laute Hilfeschreie Aufmerksamkeit von den restlichen, teilnahmslosen Gleichaltrigen auf dem Hof zu erhaschen. Verursacht durch den vorherigen Fluchtlauf pochten seine Beine vor Schmerzen, seine dreckige Kleidung wagte es nicht den Beruf als zweite Haut aufzugeben und seine Arme fingen nach einer Weile an den Geist aufzugeben, aufgrund der diversen Schläge der eisernen Faust. Das Gegröhle der jubelnden Meute verleibte nach und nach die lauten Stöhngeräusche Narutos ein, das Gelächter Hidans stampfte den Mut des Gepeinigten nieder.
Narutos Schreie verstummten. Die Schmerzenssignale seines Körpers manifestierten sich in seinen Gedanken genauso wie die vielen auf ihn gerichteten Finger. Wie glühende Kohle brannten sie sich imaginär auf seine Haut ein, bohrten kleinere Löcher hinein, kratzten mit ihren Fingernägeln an den frischen Wunden herum. Das Gefühl übertünchte die kühle Luft auf dem sandfarbenen Schulhof. War der Wind überhaupt Wirklichkeit?
Der Uzumaki blinzelte, während er das aufkommende Schwindelgefühl mit offenen Armen begrüßte. Er wollte sich in die Knie zwingen, gar besiegen lassen, nur um der verfluchten Realität entkommen zu können. Er wollte sein Blut nicht mehr aus Nase und Mund laufen sehen, nicht mehr die geschossartigen Hiebe und Tritte der eisernen Faust spüren, nicht mehr jeden Tag um seinen Leben laufen müssen und… er wollte nicht mehr vor Hidan weinen wie in diesem Moment. Er wollte einfach schlafen. Schlafen und nicht mehr aufwachen. Am besten für immer. Seine Augenlider legten sich wie eine Decke auf seine blauen Iriden, schützten sie vor der grausamen Wahrheit.
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Hinunterfallende Federn, so weiß wie der Neuschnee im Winter, wurden am azurblauen, sonnigen Himmelszelt gesichtet. Tauben sangen heiter ihre Loblieder, während sie mit ausgebreiteten Flügeln durch die saftgrüne Landschaft flogen. Sie beinhaltete blattgrüne Baumkronen mit kräftigbraunen Stämmen, smaragdgrüne Büsche, grasgrüne Sträucher und eine große Wiese. Das gesamte Tal wurde durch einen großen Fluss voneinander abgegrenzt, wobei ein blonder Jugendlicher auf der linken Uferhälfte lag. Mit geschlossenen Augen hatte er seine Arme und Beine gen vier Himmelsrichtungen ausgestreckt. Eine weiße Feder landete sanft auf der Hand des jungen Mannes.
Tauben waren ein Symbol des Friedens gewesen.
Ein Lächeln.
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Naruto kämpfte sich zurück in die Realität, nur um festzustellen, dass Hidan verächtlich auf die Erde gespuckt hatte und die Prügelaktion eingestellt hatte. Seine Kumpane pfiffen fröhlich, als hätte die eiserne Faust eben ein Fußballspiel gewonnen, während über einige weitere Schaulustige eine schwermütige Wolke hing. Die Hände in den Hosentaschen versteckend wurde der verprügelte Uzumaki von besorgten Mitschülern beobachtet. Sah er wirklich so demoliert aus? Just in diesem Moment stieg Naruto der Geruch nicht nur in die Nase, sondern auch ins langsam erlöschende Bewusstsein. Es roch nach kaltem Schweiß, Blut und Erbrochenem, die ineinander geflossen zu einer seltsamen Masse verschmolzen waren. Aber dies kümmerte ihn nicht mehr. Eine schleichende Dunkelheit machte sich breit, versuchte Besitz von Körper und Geist zu ergreifen. Naruto schloss wieder seine Augen und fing an zu träumen.
Der von mehreren tiefen Einkerbungen gezeichnete Bauer bleckte gehässig seine Zähne, in der Hand einen schwarzen Dolch. Rote Lebensflüssigkeit bahnte sich den Weg auf das schwarz-weiße Feld, verkroch sich wie eine Schlange in den Zwischenräumen der einzelnen Platten. Die Gefolgsmänner des schwarzen Kämpfers jubelten, reckten ihre Streitkolben in die Höhe. Der polarweiße König war getroffen.
Doch war er wirklich schon Schachmatt?