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All His Sons

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich befürchte, dass die Geschichte in diesem Kapitel ein neues Fluff-Hoch erreicht. I'm so (not) sorry.

In meinem Headcanon sind die Valar keine rein körperlichen Wesen. Sie nehmen zwar oft feste Gestalt an, gerade wenn sie mit den Kindern Ilúvatars zu tun haben, aber unter sich bevorzugen sie Körperlosigkeit, denn eine feste Hülle ist für sie mit der Zeit zu beengend. Bei den Maiar sieht es schon etwas anders aus, sie sind wesentlich enger mit Arda verbunden und halten es nicht lange ohne Körper aus (wenn sie nicht gerade über außerordentlich große magische Kräfte verfügen, wie etwa Sauron).

Desweiteren:
Olórin = ... ich denke, der Name bzw. die Identität dieses Gentlemans dürfte jedem bekannt sein ;) Komplett anzeigen

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Vierzehn (III)

Ihre weitere Reise verlief ohne Zwischenfälle.

Nelyo hatte seinen Schock von der Begegnung auf der Lichtung bald überwunden, und erfüllt von kindlichem Enthusiasmus löcherte er seinen Vater und Arafinwe bereits am nächsten Tag wieder mit neuen Fragen.

Die Landschaft begann sich nach einer Weile deutlich zu verändern: der Laubwald lichtete sich und machte schließlich endlosen grünen Wiesen Platz, in die zahlreiche Seen und Bachläufe wie funkelnde Juwelen eingebettet waren. Blumen blühten hier in allen erdenklichen Farben und Formen, mehr als Arafinwe jemals gesehen hatte oder gar benennen konnte.

Die Distanz zu den Bäumen und Valimar, das gut zwei Tagesreisen weiter im Norden lag, war an diesem Punkt ihrer Reise am geringsten, und Laurelins goldenes Licht war spürbar wärmer, als im fernen Tirion. Die gigantischen Kronen der Bäume füllten nun den halben Himmel aus und selbst in den Stunden der Dämmerung war ihr Licht noch immer so hell, dass die Sterne am Nachthimmel kaum zu erkennen waren.

Je näher sie den Bäumen kamen, umso deutlicher traten auch die Sommersprossen auf Nelyos Wangen und Nase hervor, und Arafinwes honigfarbene Locken bleichten mit der Zeit zu einem hellen Weißblond aus.

Waren sie zuvor noch allein unterwegs gewesen, so begegneten ihnen nun immer häufiger Wanderer, die sich ebenfalls auf dem Weg zu den Gärten befanden oder von dort zurückkehrten. Die meisten von ihnen waren allein – schweigende Gestalten mit müden Gesichtern, die hofften, in den Gärten Heilung von ihrem Leiden zu finden. Neben Elben erblickte Arafinwe auch die ein oder andere ätherische Lichtgestalt, in die die Maiar sich so gerne hüllten, und einmal glaubte er sogar die machtvolle Präsenz eines vorbeiziehenden Vala zu spüren.

Je häufiger sie anderen Wanderern begegneten, desto schweigsamer wurde Feanáro und desto einsilbiger waren seine Anworten. Die Gärten waren nun ganz nah, und eine Atmosphäre der Ruhe und des Friedens legte sich über das Land.

Am Morgen des Tages, an dem sie Lóriens Gärten erreichen sollten, sprach keiner von ihnen ein Wort. Selbst Nelyo, der während des Rittes vor Arafinwe auf dem Sattel saß, war ungewöhnlich schweigsam, und wenn er doch einmal etwas sagte, dann tat er es nur flüsternd.

Die Grenze zu den Gärten war äußerlich unsichtbar, doch als sie sie schließlich überschritten, spürte Arafinwe sofort, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Eine unglaubliche innere Ruhe erfüllte ihn und all die Sorgen, die ihn während der Reise geplagt hatten, erschienen ihm auf einmal furchtbar belanglos.

Sie stiegen von ihren Pferden und führten sie an den Zügeln weiter den Pfad entlang.

Die Gärten unterschieden sich nur unwesentlich von der Wildnis, durch die sie zuvor geritten waren, doch wirkte die Landschaft hier strukturierter und – Arafinwe wollte kein besseres Wort einfallen – gezähmter. Zwar schienen sich viele der Wege, Hecken und Wasserläufe wie zufällig durch die Gärten zu schlängeln, doch bei genauerem Hinsehen konnte man eine sorgfältige Planung dahinter erkennen.

Immer wieder schuf die Landschaft Oasen der Ruhe, in denen Besucher einzeln oder in kleinen Gruppen rasten konnten. Zahlreiche Maiar, Diener von Lórien und seiner Gemahlin Este, wanderten unter den silbernen Bäumen umher und kümmerten sich um die seelischen Bedürfnisse ihrer Gäste.

Einer von ihnen, eine hochgewachsene Gestalt in Grau, die einen Schleier vor dem Gesicht trug, hielt vor den Brüdern inne.

„Prinz Feanáro“, sagte sie – oder er? Arafinwe war sich nicht sicher – und neigte respektvoll den Kopf. „Meine Herrin hat euch schon erwartet und bittet mich Euch auszurichten, dass sie Euch bei Telperions Erwachen am See empfangen wird.“

Feanáro erwiderte die Geste und verneigte sich ebenfalls. „Bitte sprecht ihr unseren Dank aus.“

Der Maia setzte seinen Weg ins Zentrum der Gärten fort, und Feanáro und Arafinwe folgten ihm gemächlichen Schrittes. Der Kronprinz trug Nelyo auf dem Arm, der sich an der farbenprächtigen Natur kaum satt sehen konnte. Auch Arafinwe brannten zahllose Fragen zu den Gärten und ihren Bewohnern auf der Zunge, doch Feanáro strahlte eine tiefe Schwermütigkeit aus und so wagte er es nicht, das Wort an ihn zu richten.

Raum und Zeit schienen an diesem Ort eigenen Gesetzen zu gehorchen, denn obwohl der See Lórelinn, der ihr Ziel war, viele Meilen entfernt lag, hatte Arafinwe das Gefühl, als wäre kaum mehr als eine Stunde vergangen, als sie ihn erreichten.

Sie ließen die Pferde auf der Wiese am Ufer grasen, dann setzten sie sich auf einen Steg im See, der von Schilf gesäumt war, und tauchten ihre Füße ins kühle Wasser. Sie aßen ein schlichtes Mahl – Brot, Nüsse und dazu ihre letzten paar Äpfel – und tranken von dem Wasser des Sees, während sie dem Lied einer Harfe lauschten, das aus einiger Entfernung zu ihnen hinübertönte.

Die Melodie erinnerte Arafinwe an sein eigenes Instrument, und vorsichtig packte er aus seinem Rucksack die Flöte aus, die Earwen ihm geschenkt hatte. Mit den Fingerkuppen befühlte er nacheinander die einzelnen Löcher, dann setzte er die Flöte schließlich an die Lippen und begann zu spielen.

Nelyo verzog schon nach wenigen Tönen das Gesicht und presste sich demonstrativ die Hände auf die Ohren.

„Das klingt schief“, meinte er vorwurfsvoll.

Seine wenig feinfühlige Bemerkung riss Feanáro aus seiner Versunkenheit und ließ ihn schmunzeln.

„Ich kann dir zeigen, wie es geht“, sagte er, nachdem er seinem Halbbruder eine Weile zugehört hatte, und streckte Arafinwe dann die Hand hin. „Darf ich?“

Zögernd gab der Junge ihm die Flöte und hörte genau zu, als Feanáro ihm erklärte, wie er seine Finger legen musste, um tiefe Klänge zu erzeugen, und wie er die Griffe am besten variierte, um nacheinander die verschiedenen Töne der Tonleiter abzudecken.

„Flötenspiel erfordert ein gutes Gehör, ein mindestens ebenso gutes Gedächtnis und viel Übung“, sagte er schließlich, nachdem er Arafinwe dabei zugesehen hatte, wie er die Griffe, die er ihm gezeigt hatte, noch einmal nachspielte. Mittlerweile war Laurelins Leuchten schwächer geworden und die Stunde der Dämmerung war angebrochen.

„Aber ich bin überzeugt, dass du die erforderliche Geduld besitzt, es zu erlernen. Du darfst nur nicht aufgeben“, fuhr er fort.

„Das werde ich nicht.“ Arafinwes Augen leuchteten vor Eifer. „Danke, Feanáro.“

Sein Bruder nickte nur, als wäre es nicht der Rede wert, und warf dann einen anerkennenden Blick auf die Flöte. „Ein gutes Instrument, das Earwen dir da gegeben hat. Hervorragende Handwerkskunst und bestens dazu geeignet, um das Flötenspiel zu erlernen.“

„Tatsächlich...?“ Erstaunt sah Arafinwe die unscheinbare Flöte an, die in seinen Händen lag. Wer hätte gedacht, dass sich hinter ihrem schlichten Äußeren solch ein Schatz verbarg...?

Erst dann registrierte er auch Feanáros restliche Worte und das Blut stieg ihm in den Kopf.

„Woher weißt du, dass ich sie von Earwen bekommen habe?“, wisperte er.

Feanáro lächelte. „Es war nur eine Vermutung“, entgegnete er. „Erst deine Reaktion hat sie bestätigt.“

Arafinwe verbarg sein hochrotes Gesicht in den Händen. Das Gespräch war ihm plötzlich unsagbar peinlich.

Feanáro lachte auf und legte einen Arm um die Schulter des Jungen.

„Es gibt keinen Grund, verlegen zu sein, Ingo“, sagte er. „Eure Freundschaft ist nichts, wofür du dich schämen musst – oder solltest. Ich denke sogar, dass sie euch beiden in Zukunft noch gut tun wird.“

„Mmh“, machte Arafinwe nur einsilbig und lehnte sich dankbar in die Umarmung.

„Da kommt ein Boot!“, rief Nelyo plötzlich vom Ufer hinüber. Während sein Vater mit Arafinwe geübt hatte, hatte der kleine Junge am schmalen Strand des Sees begeistert im nassen Sand gebuddelt.

Feanáro erhob sich nun, sein Gesicht mit einem Mal wieder eine ausdruckslose Maske, auch wenn die grauen Augen seine Ungeduld und Sehnsucht nicht ganz verbergen konnten.

Ein breites, flaches Boot glitt lautlos über das Wasser auf sie zu, in dessen Wellen sich das erste, silberne Licht Telperions widerspiegelte. Gesteuert wurde es von einem Maia, der es mit einer langen Stange auf den Steg zutrieb. In der Mitte des Kahns stand eine Frau, die selbst Feanáro, der als hochgewachsen galt, noch um mehr als einen Meter überragte. Sie war ganz in Grau gekleidet, und auch ihr Haar war lang und grau, und es fiel ihr wellenförmig ins blasse Gesicht und bedeckte ihre Augen.

Arafinwe war dankbar dafür, reichte der Blick eines Vala doch tief in die Seele und legte Dinge frei, die man oft bewusst begraben hatte. Nach kurzem Zögern wagte er es, sie genauer zu mustern, und er nahm eine pulsierende Aura wahr, die sie wie ein Schleier umgab, fast als wäre ihr Körper trotz seiner Größe noch immer zu klein, um ihre wahre Gestalt gänzlich zu fassen. Keinen Augenblick lang zweifelte Arafinwe daran, dass Este lediglich aus Höflichkeit gegenüber ihren Gästen diese Form angenommen hatte, und sie aufgeben würde, sobald sie wieder mit ihren Dienern allein war.

Mit einem hohlen Geräusch stieß der Kahn gegen den Steg, doch weder der Maia noch seine Herrin traten an Land.

Feanáro trat vor und begrüßte sie in einer bizarren, unharmonisch klingenden Sprache, bei der sich Nelyo angstvoll gegen das Bein seines Vaters presste.

Arafinwe hatte zwar gewusst, dass sein Bruder Valarin beherrschte, aber es war das erste Mal, dass er ihn die Sprache der Ainur sprechen hörte.

Doch anstatt darauf einzugehen und ihm in ihrer Sprache eine Antwort zu geben, erwiderte Este in akzentfreiem noldorischen Quenya:

„Deine Worte ehren mich, Feanáro. Lange ist es her, dass du die Gärten meines Gemahls betreten hast.“

Ihre Stimme war überraschend warm und leise und mochte nicht so recht zu ihrem ehrfurchtgebietenden Äußeren passen.

„Und seit langem schon beabsichtige ich, hierher zurückzukehren“, entgegnete Feanáro ebenso leise. „Doch mein Leben nahm andere Wendungen.“

Er legte eine Hand auf den Kopf seines Sohnes, der fragend zu ihm aufsah.

„Nicht zum Schlechteren, wie ich sehe“, sagte Este und neigte ihr graues Haupt. „Ich freue mich über das Glück, das dir beschert wurde.“

Obwohl ihr langes Haar ihre Augen verbarg, hatte Arafinwe das Gefühl, als würde sie Nelyo ansehen. Doch der kleine Junge schreckte nicht zurück und starrte die Valie nur aus großen Augen an.

Este schenkte ihm ein Lächeln.

Dann sah sie wieder auf und richtete ihren „Blick“ erneut auf Feanáro.

„Meine Dienerinnen kümmern sich Tag und Nacht um sie, und du wirst ihre Ruhestätte so vorfinden, wie sie dir vertraut ist“, sagte sie. Dann breitete sie die Arme aus. „Komm nun. Es ist an der Zeit.“

Feanáro nahm Nelyo auf den Arm und trat ohne Zögern auf das Boot. Dann sah er zu Arafinwe hinüber, und der Junge konnte sehen, wie sein Bruder für einen kurzen, aber intensiven Moment mit sich selbst rang, bevor er schließlich eine Entscheidung zu treffen schien und sprach:

„Ingalaure...“

Er sagte nur seinen Namen, doch als Arafinwe den Ausdruck auf Feanáros Gesicht sah, begriff er plötzlich – begriff, was sein Bruder ihm in diesem Moment sagen wollte, aber nicht konnte.

Und für einen kurzen Moment fühlte er sich verraten, und es schmerzte mehr, als er je gedacht hätte. Doch dann machte er sich bewusst, dass es bei dieser Sache nicht um ihn ging, und so verdrängte er den Schmerz und straffte die Schultern.

„Es ist in Ordnung“, entgegnete er und zwang sich zu einem Lächeln. „Geht nur und nehmt euch alle Zeit, die ihr braucht. Ich werde hier auf euch warten und da sein, wenn ihr zurückkehrt.“

Er sah Erstaunen in Feanáros Blick, und dann eine tiefe Dankbarkeit, die den Schmerz in Arafinwes Brust etwas linderte.

Sein Bruder sah ihn lange an und nickte dann kurz, bevor er sich abwandte.

„Ihr habt ihn gehört“, sprach er zu Este, die den kurzen Wortwechsel schweigend mitverfolgt hatte. Wenig später legte das Boot ab, und Nelyo wand sich in Feanáros Arm und warf seinem Onkel über seine Schulter hinweg einen verwirrten Blick zu.

„Arfin...?“, fragte er, doch Arafinwe lächelte nur und winkte ihm nach.

„Keine Sorge, Nelyo, wir sehen uns bald wieder“, entgegnete er, und das schien den kleinen Jungen zufriedenzustellen, denn er erwiderte das Winken und schmiegte dann das Gesicht an den Hals seines Vaters.
 

Das Boot war bald zu einem kleinen Punkt in der Ferne zusammengeschrumpft, und Arafinwe wandte sich ab, um zum Ufer zurückzukehren.

Überrascht hielt er inne, als er den Maia bemerkte, der am Strand stand, und das Spektakel scheinbar interessiert mitverfolgt hatte.

„Verzeih mir“, sagte er, als er Arafinwes Verwirrung bemerkte. „Ich konnte meine Neugier nicht zügeln.“

Der Junge hob fragend die Augenbrauen.

Der Maia hatte eine alterslose Stimme, und wie die meisten seiner Art, die in den Gärten Lóriens weilten, trug er graue Kleider und einen Schleier vor dem Gesicht, in den winzige Edelsteine eingenäht waren, die wie Sterne funkelten. Doch sein Schleier war nur dünn, und Arafinwe konnte die tiefblauen Augen dahinter sehen – Augen, die älter waren, als die Zeit selbst.

Und es war das erste Mal in seinem Leben, dass ihm der Blick eines Ainu keine Angst machte.

„Wer seid Ihr?“, fragte er erstaunt.

Der Maia verbeugte sich kurz.

„Ich bin selbst nur ein Besucher hier“, antwortete er ausweichend, „und gehöre nicht zur Dienerschaft von Este und Lórien.“

„Warum seht Ihr dann aus wie einer von ihnen?“, wollte der Junge wissen und schämte sich sofort für die unhöfliche Frage.

Doch seine Neugier schien den Maia nur zu amüsieren. „Weil ich auf diese Weise weniger Aufmerksamkeit auf mich ziehe.“

Bevor Arafinwe jedoch etwas sagen konnte, fuhr der andere fort:

„Ich bin hier, um zu lernen“, erzählte er. „Nienna, meine Herrin, schickte mich, damit ich in den Gärten neues Wissen erlange.“

„Ihr... wollt lernen?“

„Ist dies so erstaunlich?“, fragte der Maia. „Oder glaubst du, die Eldar wären die einzigen, die des Lernens fähig sind...?“

„Nein, natürlich nicht...!“, erwiderte der Junge hastig. „Bitte verzeiht meine Frage.“

„Schon geschehen“, sagte der andere und lächelte.

Arafinwe zögerte. „Darf ich Euch vielleicht noch etwas fragen...?“

Der Maia nickte.

„Was genau hat Eure Neugier vorhin geweckt?“

Der Maia wartete mit seiner Antwort, bis sie ein Stück gelaufen waren und sich auf einer Bank unter den Weiden niedergelassen hatten.

„Deine Antwort an deinen Bruder“, antwortete er schließlich und sah den Jungen aufmerksam an. „Es scheint mir, als steckt mehr Mitgefühl in dir, als dein Herz fassen kann, Arafinwe Ingalaure.“

Arafinwe senkte den Kopf. „Mein Bruder sagt mir oft, dass ich zu viel an andere denke, und es mir nicht gut tut, meine eigenen Bedürfnisse ständig zu vernachlässigen.“

Er sah zu dem anderen auf und fragte leise: „Glaubt Ihr, dass ich schwach bin?“

Der Maia schüttelte den Kopf.

„Warum denkst du, dass dein Mitgefühl dich schwach macht? Glaubst du, die Fähigkeit, das Leid anderer zu erkennen, und sie dennoch mit dem Anstand und Respekt zu behandeln, den sie verdienen, sei eine Schwäche?“

Das gab dem Jungen zu denken.

„Mitgefühl ist keine Schwäche, sondern eine Waffe“, fuhr der Maia fort. „Es ist deine stärkste Waffe. Vielleicht empfindest du es jetzt noch nicht als eine solche... doch in der Zukunft wird sie dir noch oft nützlich sein.“

Arafinwe sah ihn zweifelnd an.

„Wie könnt Ihr Euch dessen so sicher sein?“, fragte er.

Der Maia lächelte.

„Niemand außer Eru selbst kennt die Zukunft“, entgegnete er geheimnisvoll. „Doch manchmal können wir in der Musik der Welt Themen hören, die uns erst noch bevorstehen. Und deine Melodie, Arafinwe, zieht sich beständig durch die Musik...“
 

Der Maia wollte seine Äußerung nicht näher erklären, und so sprachen sie stattdessen über andere Dinge.

Arafinwe erzählte von ihrer Reise zu den Gärten und seinem Leben in Tirion, von Nolofinwe und seiner Mutter, von seinen Stunden bei Feanáro und Nerdanel, von Alqualonde und den Freundschaften, die er dort geschlossen hatte.

Der Maia hörte ihm aufmerksam zu und erzählte ihm dann seinerseits von den Gärten, ihren Besuchern und der Vielzahl von Leidensgeschichten, die er angehört, und Schmerzen, die er versucht hatte zu lindern. Er erzählte auch von seinem Leben im Dienst von Nienna, die am Rande der Welt lebte und oft die Hallen ihres Bruders Mandos besuchte, um den Verstorbenen Trost zu spenden.

„Ihr sprecht von viel Leid und Trauer“, sagte Arafinwe. „Ist Míriel denn nicht die einzige, die in den Hallen weilt...?“

„Ich wünschte, dem wäre so“, erwiderte der Maia und ein Schatten legte sich über sein Gesicht. „Doch du vergisst diejenigen, die Endóre nie verlassen haben. Jenseits des Meeres gibt es unzählige Gefahren, und sie haben schon viele der Erstgeborenen das Leben gekostet. Es vergeht kein Tag, an dem nicht neue gequälte Seelen die Hallen erreichen.“

Der Junge sprach für eine Weile kein Wort. Er musste in diesem Moment an Earwens Erzählungen über den Bruder ihres Vaters denken, der in Endóre zurückgeblieben war und von dem Olwe nur selten und mit Wehmut in der Stimme sprach. Earwen hatte ihren Onkel nie kennengelernt – und würde es wohl auch niemals tun, nicht, solange es keinen Austausch zwischen ihren Reichen gab.

Schließlich erhob der Maia wieder die Stimme.

„Doch lass uns nicht länger über diese düsteren Dinge sprechen“, sagte er und wechselte das Thema. „Vorhin erzähltest du von deiner Freundschaft mit der Prinzessin der Teleri und deinem Versprechen, ihr etwas von deiner Reise mitzubringen...“

Arafinwe sah ihm überrascht zu, während der Maia die Hand hob und vorsichtig einen der winzigen, funkelnden Steine von seinem Schleier löste, um ihn anschließend dem Jungen zu geben. „Nimm ihn. Ich schenke ihn dir.“

Erstaunt sah Arafinwe auf den Edelstein in seiner Hand hinab. Er hatte die Form eines Tropfens und fühlte sich überraschend warm an.

„Ich danke Euch“, sagte er und verwahrte das Juwel sorgsam in einer Tasche an seinem Gürtel. „Was für eine Art von Stein ist das?“

„Es ist kein Stein.“ Der Maia lächelte. „Es ist eine Träne Niennas.“

Der Junge machte große Augen.

„Ich werde gut darauf achtgeben“, entgegnete er, erfreut über diese ungewöhnliche Gabe. „Vielen Dank!“

Der Maia schüttelte den Kopf, als wäre es nicht der Rede wert. Dann hob er den Blick.

„Mir scheint, als müssten wir unsere Unterhaltung ein andermal fortsetzen“, sagte er und erhob sich. „Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen, Arafinwe Ingalaure.“

Die Augen des Jungen folgten seinem Blick und er sah in der Ferne ein Boot, das sich langsam dem Steg näherte. Es war noch zu weit entfernt, als dass er die Passagiere erkennen konnte, doch er wusste, dass es Feanáro und Nelyo waren, die zurückkehrten.

Er erhob sich ebenfalls von der Bank.

„Auch mir war es eine Ehre“, erwiderte er und senkte respektvoll den Kopf. „Nur eines muss ich Euch noch fragen – wie ist Euer Name?“

Der Maia antwortete: „Ich heiße Olórin.“ Seine Stimme war leise, als würde sie aus weiter Ferne erklingen. „Lebt wohl, mein Prinz. Auf dass sich unsere Wege erneut kreuzen mögen.“

Als Arafinwe wieder aufsah, war der andere verschwunden. Er lächelte, nicht im Mindesten überrascht.

„Auf dass sich unsere Wege erneut kreuzen mögen...“, flüsterte er.

Dann atmete er tief durch und ging zum Steg hinüber, um seinen Bruder zu empfangen.
 

Feanáro wirkte ruhig und gefasst, als er wieder an Land trat. Auf dem Arm trug er Nelyo, der während der Überfahrt eingeschlafen war.

„Dein Besuch war uns eine Ehre, Feanáro“, sagte Este, die auch dieses Mal nicht an Land trat. „Du bist uns jederzeit wieder willkommen.“

Feanáro bedankte sich mit einer kurzen Verbeugung, und wenig später legte der Kahn wieder ab und die hochgewachsene Gestalt der Herrin des Sees verschmolz allmählich mit dem Nebel, der vom Wasser aufzusteigen begann.

Arafinwe lächelte zaghaft.

„Es freut mich zu sehen, dass es dir wieder besser geht“, sagte er zu seinem Bruder.

Nach kurzem Zögern wandte sich Feanáro dem Jungen zu.

„Du bist nicht verärgert?“, entgegnete er leise. „Obwohl ich dich zurückgelassen habe.“

Arafinwe schüttelte den Kopf. Zugegeben, am Anfang war er enttäuscht gewesen, als er erkannt hatte, dass sein Bruder zu keinem Zeitpunkt ihrer Reise vorgehabt hatte, ihn auch nur in die Nähe seiner Mutter zu lassen. Doch das hatte nicht lange angehalten.

„Sie ist deine Mutter, Feanáro“, sagte er, und während er sprach, nahm seine Selbstsicherheit zu. „Sie ist diejenige, die dich in diese Welt gebracht und dich gelehrt und geliebt hat, und die nie aufgehört hat, dich zu inspirieren. Der Schmerz über ihren Verlust gehört nur dir allein. Ich habe kein Recht auf deine Trauer und dein Leid, denn ich habe Míriel nie gekannt.“

Er lächelte sanft. „Nein, ich bin nicht verärgert. Denn du hattest Recht – ich habe an jenem Ort nichts verloren.“

Feanáro sah lange Zeit auf ihn herab und in seine Augen trat ein Ausdruck, den Arafinwe nur selten darin sah: Respekt.

Dann kniete er plötzlich vor ihm nieder und legte den freien Arm um den Jungen, um ihn an sich zu drücken.

„Ich danke dir, Arafinwe“, sagte er mit seltsam rauer Stimme und die Augen des Jungen weiteten sich. Es war das erste Mal, dass sein Bruder ihn mit seinem Vaternamen ansprach. Arafinwes Herz begann vor Aufregung heftig zu klopfen und zögerlich erwiderte er die Umarmung.

Für einen Moment verharrten sie so, dann erhob sich Feanáro wieder.

„Langsam fange ich an zu begreifen, weshalb Vater dir diesen Namen gab“, sagte er und schenkte dem Jungen ein schwaches Lächeln, das dieser mit leuchtenden Augen erwiderte.

Dann hob Feanáro den Blick und ließ ihn über die Gärten schweifen.

„Lass uns nach Hause zurückkehren.“
 


 

~ Vierzehn Ende ~
 

Fortsetzung folgt...



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