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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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35. Kapitel

Als Tennessey ihm mit einer Taschenlampe die Netzhaut verbrennen wollte, war Ryon versucht sie ihm einfach aus der Hand zu schlagen, doch der Doc war klug genug, sie von sich aus, wieder abzuschalten und in Sicherheit zu bringen.

„Ich weiß, das wird bei dir nicht lange wirken, aber ich denke, jetzt ist ein guter Zeitpunkt, dir einmal ordentlich das Fell über die Ohren zu ziehen.“

Was Tennessey ihm damit sagen wollte, konnte Ryon nicht wirklich nachvollziehen, bis er ein Picksen in seiner Armbeuge spürte, das ihn dazu veranlasste, an sich hinab zu blicken.

„Du gibst mir Morphium?“, fragte er leise, während er sich die riesige Spritze ansah, die der Doc ihm da in den Arm jagte.

„Was denkst du denn? Du bist vor Schmerz fast ohnmächtig geworden. Glaubst du, mit dir könnte man in deinem Zustand normal reden?“

Ryon schüttelte den Kopf. Keine gute Idee, wie sich einen Moment später heraus stellte, als hinter seinen Augenlidern ein Feuerwerk los ging.

„Der Hellste bist du ja nicht gerade.“

Das war Tylers Stimme und kam von der anderen Seite. Wenigstens war das auch schon alles an Puplikum. Mia hatte er zum Glück Ai anvertrauen können. Die beiden Damen schienen sich ohnehin auf Anhieb zu verstehen.

Eine Weile sagte niemand etwas, was auch gut so war, denn so bekam Ryon deutlich mit, wie das Morphium langsam seine Wirkung tat.

Als er sich im Stande dazu fühlte, sich aufzusetzten, tat er es schließlich auch. Der Schmerz war nicht ganz verschwunden, so wie es bei einem normalen Menschen hätte sein müssen, aber durch seinen deutlich beschleunigten Stoffwechsel, verbrauchte sich das Zeug auch wesentlich schneller. Das sah auch Tennessey so, denn er zog bereits eine zweite Spritze für den Notfall auf. Oder für den Fall, dass das Gespräch länger andauern sollte, als geplant. Denn jetzt war der Zeitpunkt der Wahrheit gekommen. Das konnte er in ihren Augen lesen, während er versuchte, die Spritze in Tennesseys Hand zu ignorieren.

„Fangt schon an.“, forderte er sie auf, da er keine Ahnung hatte, wo er selbst hätte beginnen sollen. Vor allem, da ihm das Gespräch mit Paige immer noch im Kopf herum schwirrte.

„Weißt du eigentlich, dass mir deine Gleichgültigkeit langsam gewaltig zum Hals heraus hängt?“, fuhr ihn Tyler schonungslos an, während sein Blick Ryon förmlich durchbohrte.

Aha, das meinte Tennessey also mit ‚Fell über die Ohren ziehen‘. Gut, dass er gerade nicht wirklich seinen Pelz trug. Vielleicht hätten sie den Spruch sonst noch wörtlicher genommen.

Ryon sah seinem Freund auf eine Weise an, die besagte, er solle ruhig weiter sprechen, was dieser dann auch tat, während ihm förmlich die roten Haarspitzen zu Berge standen.

„Glaubst du, du wirst irgendetwas damit erreichen, außer dass du ständig nur noch mehr Unglück über dich und andere bringst?“

Tyler schnaubte.

„Sie mich bloß nicht so an! Was du hier veranstaltest macht nicht nur dich vollkommen kaputt, sondern betrifft auch die Menschen, denen du was bedeutest. Ich weiß ja, du denkst, du wärst alleine und kein Schwein würde es interessieren, wenn du nicht mehr da wärst, aber da irrst du dich gewaltig!“

„Tyler…“, versuchte Tennessey seinen aufgebrachten Freund zu beruhigen, aber dieser hatte das gar nicht nötig. Sondern senkte von sich aus die Stimme.

„Ryon, ich war bei deiner Geburt dabei. Ich war dabei, wie du aufgewachsen bist, habe mich um dich gekümmert, bis du in der Lage warst, dich selbst um dich zu kümmern. Denkst du denn wirklich, du wärst mir egal? Oder all den anderen, die nicht von deiner Seite weichen, egal wie beschissen du dich aufführst?“

Der Schmerz wurde wieder heftiger, zumal auch sein Herz deutlich schneller schlug.

„Ja, ich weiß, dass ich euch nicht egal bin, aber manchmal … ist das einfach nicht genug. Ich sehe keinen Sinn darin, so weiter zu machen. Eben weil ich das Gefühl habe, alles um mich herum wird nur noch schlimmer, als besser. Wie sonst, außer mit Gleichgültigkeit soll ich damit umgehen? Wie?“

Tyler packte ihn grob an den Schultern und zwang ihn dazu, ihm tief in die Augen zu sehen.

„Versuch’s doch einmal mit Wut, Trauer … oder heul bis du vollkommen ausgetrocknet bist, das ist vollkommen egal. Hauptsache du lässt diesen ganzen Scheiß endlich mal hinaus, anstatt ihn mit nur noch mehr Schutt zu begraben.“

Der schneidende Tonfall klingelte förmlich in seinen Ohren, weshalb er sich von seinem Freund abwandte, so gut es ging.

„Tyler … ich war wütend, ich habe getrauert. Aber es hat nichts gebracht!“

„Blödsinn.“

Das kam von Tennessey.

„Marlenes Tod hat dich förmlich gelähmt und als die Zeit gekommen wäre, dass der Schock sich in Trauer und Verzweiflung bei dir gezeigt hätte, verlorst du auch noch deine Tochter. Du vergisst, dass wir beide damals bei dir waren. Wir haben genau gesehen, wie du dich in einen biologischen Roboter verwandelt hast. Dein Tier hast du misshandelt, eingesperrt und verflucht und als du erkannt hast, dass es deine Gefühle abtötet, wenn du es unterdrückst, hast du es ohne zu zögern getan. Wenn du glaubst, dass du bei uns noch auf Mitleid appelieren kannst, dann hast du dich gewaltig geschnitten. Deine Skrupellosigkeit macht uns nur noch verdammt sauer. Was ist denn in Ägypten passiert, dass du nun vollkommen den Verstand verloren hast?“

Ryons erster Gedanke war, dass die Wirkung des Morphiums schneller nach ließ, als vermutet. Sein Schädel fühlte sich wie in einer Müllpresse an. Erst recht, als seine Freunde ihn so derart in der Mangel hatten. Da war ihm sogar diese mörderisch große Spritze in Tenneseys Hand egal.

Sein Schädel platzte gleich!

„Tennessey … Morphium!“

Er presste die Fäuste gegen seine Augenlider, während seine Freunde ihn schonungslos weiter mit Worten bearbeiteten.

Sie warfen ihm vor, ein totaler Egoist zu sein, da er immer nur an sich denken konnte. Was aus den anderen wurde, war ihm offenbar vollkommen egal. Er war an seinem Schicksal selber schuld und dass alles in die Brüche zu gehen drohte, weil er sich davor versperrte, anstatt endlich wieder Teil des Lebens zu sein. Kein Wunder, dass Paige ohne ihn weiter fliegen wollte. Die Ärmste musste ja schon vollkommen fertig, von seinen Launen sein. Es war überhaupt ein ganz schön starkes Stück, dass sie es solange mit ihm ausgehalten hatte, wo er sich doch wie das reinste Arschloch aufführte. Und und und…

Das schien schier stundenlang so weiter zu gehen, bis Ryon vor Schmerzen die Augen tränten und er sich am Boden hin und her wand, da er es nicht mehr aushielt. Weder was er hörte, noch was er fühlte.

Schließlich verstummten beide und Tennessey nahm die Spritze zur Hand. Tyler nickte ihm zu und hielt Ryons Arm fest, der in der Hoffnung auf Linderung von selbst ganz still hielt.

Als der Doc ihm die Spritze verabreichte, wartete er sehnlichst auf das Einsetzen der Wirkung, doch was auch immer Tennessey ihm da gegeben hatte, es war kein Morphium gewesen, denn alles wurde noch schlimmer.

Der Schmerz raste ihm mit Höchstgeschwindigkeit durch seine Adern und verbreitete sich mit jedem verzweifelten Schlag seines Herzens in seinem gesamten Körper.

Entsetzt riss Ryon die Augen auf, starrte seine Freunde unter Tränen an, da er nicht fassen konnte, dass sie ihn so hinterlistig umbringen wollten.

Doch obwohl er versuchte, sie nach dem Warum zu fragen, kam kein Ton mehr über seine Lippen. Stattdessen verkrampfte sich sein ganzer Körper und er musste panisch mit ansehen, wie seine einstmaligen Freunde von ihm abrückten.

Er explodierte.

Seine Knochen brachen, seine Haut zerriss, Hitze schien seinen Körper zu versengen, doch als er glaubte, endgültig zerreissen zu müssen, setzten sich seine Knochen wieder zusammen. Fell sprieste in Sekundenschnelle überall auf seiner Haut. Sein ganzes Gesicht schien sich zu verbiegen, umzuformen und zu verändern, während sein Rückrat sich verlängerte, bis er schließlich schwer hechelnd auf der Seite liegen blieb, um sich einen Moment lang von der erzwungenen Verwandlung auszuruhen. Doch diese Ruhe gönnten ihm seine Freunde nicht. Sie packten seine Vorder- und Hinterpfoten. Fesselten sie mit stablien Seilen, die sie vorhin vor ihm versteckt hatten und um der ganzen noch die Krone aufzusetzen, knoteten sie ihn so an der wuchtigen Holzkomode fest, dass er vollkommen außer Gefecht gesetzt war, was seine körperlichen Kräfte anging.

„Ich wusste gar nicht, dass Tiger so schwer sind.“, erklärte Tyler dabei, während er Tennessey half, noch einmal die Knoten auf ihre Standhaftigkeit zu überprüfen.

„Der hier, wiegt ungefähr 280 Kg. Vermutlich sogar noch etwas mehr.“, gab der Doc sein Fachwissen zum Besten, ehe sich beide zurück zogen und sich so vor ihn hin setzten, dass er sie ansehen musste.

„Also, Ryon…“, begann Tennessey mit ernstem Tonfall.

„Ich will dir mal eine nette kleine Geschichte, über deine kürzlich auftretenden Migräneanfälle erzählen. Dir wird doch sicher schon aufgefallen sein, dass dein Kopfschmerz jetzt weniger geworden ist, nicht wahr?“

Der Kopfschmerz vielleicht, das musste Ryon zugeben, aber nun, da er sich langsam wieder von seiner Wandlung erholte, stürmte so viel anderes auf ihn ein, dass er die Kopfschmerzen mit Freuden noch länger ertragen hätte.

Er begann zu winseln, während er gegen die Fesseln anzukämpfen versuchte. Sinnlos.

„Ich werte das als ein 'Ja', Doc. Also weiter im Text.“

Tennessey nickte.

„Migräne hat oftmals psychische Ursachen und bei dir sogar garantiert. Als du mit diesen Glasaugen bei der Tür herein gekommen bist, hatte ich schon vermutet, dass das nicht lange gut gehen kann. Und glaub mir, als du gestern Nacht das ganze Haus zusammen gebrüllt hast, hatte ich einen Moment lang, wirklich Angst um die kleine Mia. Was mich zu meiner nächsten Diagnose bringt – Träume. Oder in deinem Fall Alpträume.“

Mit einem leisen Knacken, dehnte Tennessey seine Finger, ehe er in seiner Jacke nach irgendetwas herum kramte und schließlich sein Notizbuch hevor zog. Er blätterte etwas darin herum, bevor er in seinem Vortrag fortfuhr: „Wenn der Geist schläft, verarbeitet er in seinen Träumen das, was er am Tag erlebt hat, oder ihn am Meisten beschäftigt. Ich kann mir gut vorstellen, dass das bei dir so einiges ist. Erst recht, wenn dein Unterbewusstsein die ganze Arbeit erledigen muss. Hast du dich denn niemals gefragt, für was Gefühle gut sind? Es heißt ja schließlich nicht umsonst: Körper, Geist und Seele. Wenn eines davon wegfällt, bringt das die anderen solange aus dem Gleichgewicht, bis man stirbt. Und bei dir, mein Freund. Hätte es mich nicht gewundert, wenn du am Ende noch ein Blutgerinsel, einen Tumor oder Nierensteine bekommen hättest!

Du kannst uns also dankbar sein.“

Ryon knurrte und versuchte erneut sich von den Fesseln zu befreien. Vergebens, aber er gab nicht auf. Er wollte diesen ganzen Scheiß nicht hören!

„Ich glaube, er wird wütend.“, stellte Tyler vollkommen unbeeindruckt fest.

„Gut. Dann können wir jetzt anfangen.“

Mit entschlossener Miene blätterte Tennessey zum Anfang des Notizbuchs, las kurz etwas still durch, ehe er Ryon auf eine Weise anschaute, die ihm sein Nackenfell sträubte. Was auch immer jetzt kam, es würde weitaus schlimmer werden, als alles, was die beiden bisher mit ihm getan hatten. Das spürte er mit dem Instinkt eines Tiers, dass Gefahr wittern konnte, sich körperlich aber zu schwach fühlte, um etwas dagegen zu unternehmen.

„-17. Juli: Ich wusste nicht genau, was mich erwarten würde, als ich mit Ryon alleine in die Wälder campen ging. Doch kann ich nicht leugnen, dass ich mir ein paar Erwartungen bezüglich dieses Ausflugs erhoffte. Ich wusste schon immer, dass er anders als alle anderen Teenager war. Immerhin bin ich hellsichtig.

Vielleicht hat dieser Umstand ihn dazu gebracht, mir dort draußen in der einsamen Wildnis endlich sein Geheimnis zu verraten und ich muss zugeben, ich war nicht erschrocken, sondern begeistert. Ein Gestaldwandler! Jetzt machen meine Träume endlich einen Sinn. Er ist der Tiger, den ich ständig Nachts um unser Haus schleichen sah. Meine Mutter hat mir nicht geglaubt, aber das war mir ohnehin nicht wichtig. Sie hat mir nie geglaubt, wenn ich von meinen Visionen erzählt habe. Doch er glaubt mir, weil er ebenfalls … anders ist…-“

Tennessey unterbrach seine Vorlesung und warf einen prüfenden Blick auf Ryon.

Obwohl er kein menschliches Gesicht mehr hatte, sah man ihm das Entsetzen an, als er begriff, dass das nicht das Notizbuch des Arztes war, sondern Marlenes Tagebuch!

Die wenigen Worte, die sie zu dem Ausflug in den Wäldern geschrieben hatten, reichten schon dazu aus, ihm die Bilder wieder in Erinnerung zu rufen und vor allem, die damit einhergehenden Gefühle.

Die Angst, sie könnte seine Gestalt ablehnen. Sich vor ihm fürchten und nie wieder ein Wort mit ihm reden.

Die Erleichterung, als sie schließlich einfach nur neugierig durch sein Fell gestreichelt hatte und schließlich selbst erleichtert zu lachen anfing, da noch jemand etwas so besonderes, wie sie war.

Ryon presste fest die Augen zusammen. Wollte das alles weder sehen, hören noch fühlen. Aber das war genau die Reaktion, die Tennessey nicht sehen wollte. Er blätterte weiter in dem Buch und las vor: „-…Ich hätte lügen sollen. Die Kratzer auf meinem Rücken, waren zwar seine Schuld, aber was bedeuten sie, im Vergleich zu dieser wunderbaren Nacht? Natürlich, unser erstes Mal hatte ich mir vielleicht etwas anders vorgestellt, aber ich bereue Nichts! Mir hat seine Leidenschaft gefallen. Ich hab nicht einmal den Schmerz gespürt, als er mich so fest an sich zog. Ganz im Gegenteil, ich wollte nur noch fester gehalten werden. Ich hätte wirklich lügen sollen. Mir irgendeine Geschichte einfallen lassen müssen, um die Verletzungen von ihm abzulenken. Seit dem hat er Angst… Angst davor, mir weh zu tun. Er fasst mich jetzt mit Samthandschuhen an. Dagegen kann ich nichts tun. Aber vielleicht… Ja vielleicht wird die Zeit ihn vergessen lassen, dass er sich das eine Mal nicht hatte kontrollieren können. Für mich gibt es da nichts zu verzeihen … immerhin, es war auch sein erstes Mal…-“

Sein Brüllen zerriss die Luft und er begann sich so heftig zur Wehr zu setzen, dass die Schubladen der Komode halb aufgingen und ihren Inhalt über ihn schütteten. Umringt von Babykleidung, knurrte und brüllte er seine Freunde an, die ihm das alles antaten!

Er wollte nicht an diese Dinge erinnert werden. Er wollte nicht an all jene Momente erinnert werden, die ihm einst Freude, Angst, Glück, Vorsicht und Hoffnung gelehrt hatten.

Sein Herz tat weh, seine Augen brannten, bis das aggressive Brüllen zu einem entsetzlichen Winseln wurde. Ryon konnte nicht länger davor weg laufen. Die Trauer überrannte ihn und er begann zu weinen, zu klagen und zu schreien, bis er einfach nicht mehr konnte.
 

Er musste vollkommen erschöpft eingeschlafen sein, denn als er wieder erwachte, lag er zwar immer noch auf dem Boden, aber dieses Mal von seinen Fesseln befreit, nackt wie Gott ihn schuf, mit einer wärmenden Decke über seinen menschlichen Körper.

Seine Freunde waren bei ihm, als er die Augen aufschlug und dieses Mal waren ihre Augen sanft und voller Zuneigung.

„Willkommen zurück.“, begrüßte ihn Tyler.

„Und sieh mal, was wir für dich haben.“

Vorsichtig drehte Ryon seinen Kopf zu Tennessey, der ihm Mia vor die Nase hielt, die ihn fragend ansah, bis sie schließlich quietschvergnügt zu lächeln begann. Ihre Arme schlangen sich schneller um seinen Hals, als er sich aufsetzen konnte, doch das war nicht wichtig, als er sie mit seinen Händen packte und nah an sich heran zog. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, das so wunderbar nach Karamell duftete und fühlte zum ersten Mal die Freude darüber, das kleine Mädchen in den Armen halten zu können. Genauso, wie er die starke Zuneigung zu ihr und seinen Freunden intensiv wahrnahm.

Seine Gleichgültigkeit war verschwunden, was bedeutete, dass er nun vor einer weiteren Bürde in seinem Leben stand. Doch seltsamerweise fühlte er sich auch leicht. Sein Kopf tat nicht mehr weh und das lag sicherlich nicht an dem Morphium.

„Was ist passiet?“, wollte er unsicher wissen. Immerhin konnte er sich nur zu gut daran erinnern, was seine Freunde ihm angetan hatten, aber warum, verstand er nicht wirklich. Vor allem, wie es ihnen gelungen war, ihm Erleichterung zu verschaffen, obwohl er die Last seiner Gefühle deutlich auf sich spürte.

„Das was schon längst hätte passieren müssen, Ryon.“

Tyler berührte ihn an der Schulter.

„Du hast endlich begonnen, um deine Familie zu trauern. Also kannst du auch endlich damit anfangen, darüber hinweg zu kommen.“

Als Ryon den Kopf hob, um Tyler anzusehen, verschwamm seine Sicht, weshalb er sich rasch die Augen abwischte und Mia entschlossen an den Doc weiter gab.

„Bevor ich aber damit weiter mache, habe ich noch etwas zu erledigen. Hätten mich die Schmerzen nicht daran gehindert, hätte ich es schon früher getan. Danke, dass ihr mich davon befreit habt.“

Schneller als man ihm zugetraut hätte, stand Ryon auf seinen Beinen, mit der Decke um seine Hüften gewickelt und eilte davon, um sich anzuziehen.

Jetzt, da er wusste, was ihm der starke Kopfschmerz hatte sagen wollen, war sein Bedürfnis nur noch dringender. Er konnte sich auch noch während des Flugs, den Schädel über die Dinge zermartern, die seine beiden Freunde ihn mit dieser Aktion hatten beibringen wollen. Wie sagten sie doch so schön, das war erst der Anfang. Nicht das Ende.

Selbst auf die Gefahr hin, dass Paige ihn lieber umbrachte, als wieder zu sehen, würde er sich nicht davon abhalten lassen, nach ihr zu sehen. Denn so wie Hunde Unwetter schon Tage vorher spüren konnte, so hatte auch sein Instinkt ihn nicht getrogen. Etwas war bei ihr los und ehe er nicht wusste, was genau ihn da so sehr gewurmt hatte, würde er auch keinen Frieden geben. Erst recht nicht, wenn es um diese Frau ging.
 

Zusammen gerollt im Bett zu liegen und sich nicht zu bewegen war im Moment das Einzige, was sie tun konnte. Der menschliche Teil ihres Körpers versuchte sich auf die einzig natürliche Weise gegen den Angriff zu wehren, den er kannte und der sich normalerweise als wirksam heraus stellte. Sie hatte Fieber.

Jeder Knochen, jedes Gelenk und jeder Muskel taten ihr weh, wenn sie ab und zu aufstand, um auf die Toilette zu gehen oder sich auch nur versuchte umzudrehen.

Die Nacht hatte sie mit angeschalteter Nachttischlampe und einem Eimer neben dem Bett verbracht, aber da sie nichts zu sich genommen hatte, war ihr Körper nur immer wieder von Krämpfen geschüttelt worden, bis ihr schwarze Essenz und Galle hochkam.

Alle paar Stunden hatte Paige nach ihren Armen gesehen, ihr Gesicht betastet und gehofft, am nächsten Morgen vielleicht wieder normal auszusehen. Sie grünen Schuppen waren fest und stabil, würden sie bei einem Angriff besser schützen, aber... es waren nicht ihre.

Ihre Mutter hatte ihr früher einmal gesagt, dass der rote Farbton etwas Besonderes sei. Nicht so häufig wie die Tarnfarben, welche bei den Feuerdämonen trotz ihrer Möglichkeit zur Gegenwehr noch immer vorherrschten. Mit den schwarzen Mustern, die sich über ihren Rücken und ihre Seiten zogen, um sich auf ihrem Bauch zu verlieren, war sie auffällig. Etwas, das ihr Vater als Schwäche gesehen hatte, wie auch die Tatsache, dass Paiges Schuppen weich, elastisch und nachgiebig gewesen waren. Gewesen...

Mit einer Hand auf die Matratze und die Andere auf das Kopfstück des Bettes gestützt, zog Paige sich in eine sitzende Position. Als sie ihre Hände vor sich auf die weiße Decke legte, wallten Tränen in ihren Augen. Sie wollte sie wiederhaben.

Es klang wie der Wunsch eines kleinen Kindes, das sein liebstes Stofftier verloren hatte, weil es selbst nicht aufmerksam genug darauf aufgepasst hatte. Und doch konnte niemand das Spielzeug oder Paiges Schuppen zurück bringen. Sie hatte sich verloren. Beim letzten Mal, als die Dosis so hoch gewesen war, hatte sie sich wieder gefangen. Sie war noch ein Teenager gewesen und ihr Körper hatte sich ähnlich gewehrt wie jetzt. Bloß war es schneller gegangen. Bereits nach Stunden hatte sie an einzelnen Stellen das Rot unter dem neuen Panzer schimmern sehen können. Jetzt sah sie nichts dergleichen. Nur schlammgrüne, scharfkantige Plättchen, die sie am liebsten einzeln heraus gerissen hätte. Aber selbst wenn ihre Wut dafür ausgereicht hätte... Ihre Kraft tat es nicht. Sie sank wieder in die Kissen zurück und rollte sich auf der Seite zusammen, auf der die blauen Flecken nicht so zahlreich waren.

„Bitte...“

Sie schlief schon fast, als sie darum bat zumindest ihre menschliche Gestalt behalten zu dürfen. Dann würde sie es schaffen. Wenn sie zumindest zum Teil die bleiben durfte, die sie war.
 

Ohne Gepäck reiste man wesentlich schneller, als man glauben würde. Vor allem, wda man sich nicht sehr viel Zeit mit Vorbereitungen aufhalten musste. Was im Augenblick Ryon ganz und gar nicht recht gewesen wäre.

Jetzt verstand er die Rastlosigkeit und Unruhe, die er schon die ganze Zeit während Paiges Abwesenheit gespürt hatte. Es war nicht nur die Sorge um sie, die sie selbst noch geschürt hatte, sondern viele kleine andere Dinge. Die Ungewissheit, ob er sie überhaupt je wieder sah? Was wohl mit ihr los war? Würde sie überhaupt noch ein Wort mit ihm wechseln wollen? War sie überhaupt noch in Dublin?

Die Fragen nahmen einfach kein Ende, genauso wie der Flug sich schier in die Unendlichkeit hatte ziehen wollen.

Doch schließlich endlich am Dublinerflughafen angekommen, schien die Zeit ihm nur noch so durch die Finger zu rinnen.

Es war ohnehin schon nicht leicht gewesen, Paiges Aufenthaltsort heraus zu finden. Zumal sie ihm nicht den Namen ihrer Unterkunft mitgeteilt hatte. Aber wenn man lange und dringend genug etwas suchte, fand sich am Ende irgendwie eine Lösung.

In seinem Fall, war es das feuerrote Handy gewesen, das er ihr gegeben hatte. Ein paar gezielte Anrufe, Geldtransfers und schon bekam er den genauen Aufenthalt von besagtem Handy. Sofern sie es nicht nach ihrem Telefonat in irgendeinem Fluss versenkt hatte, würde genau dieses kleine Teil, ihn zu ihr führen.

Natürlich war nichts davon gewiss, dennoch war es ein Anhaltspunkt, bei dem er mit seiner Suche nach ihr beginnen konnte.

In dem kleinen Hotel angekommen, war es ein Leichtes das Personal zu bestechen, um an Flora Burkes Zimmernummer heran zu kommen. Immerhin, so ein großes Geheimnis war das nun auch wieder nicht und der Page freute sich über das überaus großzügige Trinkgeld.

Als Ryon schließlich tatsächlich vor ihrer Zimmertür stand, überkam ihm ein schreckliches Gefühl. Ein Geruch, den er schon einmal in sehr abgeschwächter Form glaubte gerochen zu haben, drang durch den Türspalt zu ihm hindurch, vermengt mit Paiges Duft.

Sie war da drin, aber in welcher Verfassung?

Kurzerhand klopfte Ryon entschlossen, einfach an ihre Tür. Wenn es sein musste, würde er sie sogar aufbrechen. In diesen Dingen hatte er sich absolut nicht verändert. Türen dieser Art würden nie ein Hindernis für ihn sein, zumal die Motivation stark genug war.

„Paige?“
 

Den Vormittag hatte sie gut hinter sich gebracht. Nachdem sie eingeschlafen war, hatte ihr Körper Einiges an Gegenwehr veranstaltet und Paige war zwei Stunden später mit dröhnendem Schädel und völlig verschwitzt aufgewacht.

Da sich ihre Muskeln etwas besser fühlten und sie dabei helfen wollte, ihren Organismus von dem restlichen Dreck der Essenz zu befreien, hatte sie sich hoch gerafft und aus dem oberen Fach des Kleiderschrankes eine Wolldecke gezogen. Diese um ihren immer noch nackten, schuppigen Körper gewickelt und wieder tief unter der Bettdecke vergraben, hatte sie gedöst und abwechselnd geschlafen oder an die Zimmerdecke gestarrt. Teilweise war sie beinahe so weit gewesen die Zeitschrift vom Boden aufzusammeln und einen oder zwei Artikel zu lesen. Aber nach dem ersten Versuch, bei dem sie am Inhaltsverzeichnis scheiterte, gab sie es wieder auf. Für's Erste musste man es ja auch nicht übertreiben.

Wie gern hätte sie einen Fernseher gehabt. Cartoons hätten nicht nur ihre Stimmung gehoben, sondern ihr auch das Gefühl von Einsamkeit etwas genommen. Denn das war im Moment das, was am Schlimmsten an ihr nagte. Paige wünschte Ai wäre bei ihr.

Bestimmt würde sich die Asiatin viel zu viele Sorgen machen, da sie Paige noch nie in diesem Zustand gesehen hatte, aber über ihre Gesellschaft hätte sie sich gefreut. Einfach nur eine Tasse Tee zu trinken und sich etwas erzählen zu lassen. Dann wäre es auch leichter wieder einzuschlafen.

Je weiter die Minuten fortschritten, horchte Paige bei jedem kleinen Geräusch auf, das vor ihrer Tür erzeugt wurde. Das Zimmermädchen würde irgendwann wieder kommen, um das Zimmer zu putzen. Schon gestern hatte Paige sie davon abgehalten und die junge Frau war bestimmt sehr zuverlässig.

Also musste Paige zu ihrem eigenen Besten wach bleiben, um zu verhindern, dass die Putzkraft sie sah. Zwar hätte sie – falls sie nicht den Schock ihres Lebens bekam – einen Haufen Kohle bei der Klatschpresse machen können. Aber Paige konnte darauf verzichten, jemandem Geld in Form von Gerüchten zu bringen, die man an die Regenbogenblätter verkaufte.

„Eidechsenfrau in billigem Hotel gesichtet“ - „Mutation von heruntergespülten Haustieren greifen Dublin an“

Das Kichern war anstrengend, aber Paige konnte nicht anders. Sie fühlte sich so elend, dass der Galgenhumor das Einzige war, der sie davon abhielt, schon wieder in Tränen auszubrechen.

In den vergangenen Wochen hatte sie ihrer Meinung nach mehr geweint, als so manche Jahre in ihrem Leben. Dabei war sie normalerweise nicht so nah am Wasser gebaut.

Nach einem Gähnen, das sie leicht durchschüttelte, zog es sie unter ihre Decke. Nach mehreren Versuchen die Decke unter ihre Füße zu schlagen, ohne sich dafür aufzusetzen, war Paige so erledigt, als wäre sie ein paar Kilometer gejoggt. Keine sonderlich guten Aussichten für das, was sie gegen Mittag vorgehabt hatte.

Bei einem leisen Klopfen und einer vorsichtigen Frauenstimme schreckte Paige aus ihrem Halbschlaf derartig hoch, dass ihr Herz raste und ihre aufgestellten Schuppen sich in der Wolldecke verfingen. Ein paar Fäden wurden heraus gerupft, als Paige die Decke höher zog, um so viel ihrer Haut wie möglich zu bedecken.

„Danke, ich brauche nichts.“

„Sind Sie sicher? Auch keine neuen Handtücher?“

„Nein, danke. Ich liege im Bett. Eine Grippe. Ich brauche nur Ruhe. Morgen wahrscheinlich auch.“

„Ist gut, ich werde eine Notiz machen.“

„Danke.“

Ihr Dank war leise und voller Ernsthaftigkeit gewesen. Paige wollte wenn möglich einfach nur schlafen. So lange, wie ihr Körper eben brauchen würde, um in seinen alten Zustand zurück zu kehren.

Wieder strich sie mit ihren Fingerspitzen über ihr glühendes Gesicht. Es fühlte sich eindeutig so an, als wären die Fremdkörper auf ihrer rechten Gesichtshälfte zurück gegangen. Nur noch der Haaransatz und der Nasenrücken bis zur Augenbraue waren betroffen. Und ihre Lippen. Wenn sie mit der Zunge, die sie ebenfalls in ihre menschliche Form bringen konnte, wenn sie sich nur ausreichend konzentrierte, darüber fuhr, waren ihre Lippen kalt und glatt. Nur ein winziges Stück am rechten Mundwinkel gab Grund zur Hoffnung, dass sich auch das wieder ändern würde.

Als sie sich wieder hinlegte, wirkte das leicht feuchte Laken für ihren Rücken bereits kalt und unangenehm. Aber so breit, dass sie dem ausweichen konnte, war das Bett leider nicht. Und um ehrlich zu sein, war es ihr auch egal.

Paige war hundemüde und nachdem sie nun niemand mehr stören würde, konnte sie sich endlich ohne Bedenken ausruhen. Dann wäre es Morgen schon besser. Oder vielleicht schon an diesem Abend.

Auf dem Nachtkästchen wartete noch ein Schokopudding darauf gegessen zu werden. Und obwohl sie jetzt wahrscheinlich sofort hätte zum Eimer greifen müssen, war Paige sicher, dass sie ihn am nächsten Tag essen könnte.

„Vielleicht zum Frühstück...“, murmelte sie leise vor sich hin, bevor sich ihre bleischweren Lider senkten und sie in einen schweren, traumlosen Schlaf fiel.
 

Ihr Ohr zuckte leicht unter ihren Haaren, als sie Schritte auf dem Gang hörte. Natürlich konnte es nicht sein, aber der Tritt kam ihr bekannt vor. Wahrscheinlich schlief sie noch halb und ihr Unterbewusstsein flocht die Geräusche in ihren Halbträume ein, damit sie nicht gänzlich aufwachen musste.

Als sie Schritte eindeutig vor ihrer Zimmertür stoppten, zog Paige die Decken etwas weiter nach unten, um besser hören zu können und öffnete eins ihrer geschwollenen Augen. Stimmte vielleicht etwas mit der Rechnung nicht? Hatte Ryon die Kreditkarte sperren lassen?

Paiges Herz schlug schneller, als sie sich vorstellte, sie müsse in ihrer Verfassung das Zimmer oder sogar das Hotel verlassen. Wo sollte sie denn hin? Selbst hatte sie kaum Bargeld dabei und auch nur ein winziges Polster auf ihrem Bankkonto. Was sie allerdings gleich vergessen konnte, denn mit ihrem Gesicht würde man sie eher in einen Zoo oder ein Versuchslabor stecken, als ihr ein Hotelzimmer zu geben.

Es klopfte.

Da sie nun keine andere Wahl zu haben schien, wickelte Paige sich die Decken einigermaßen um den immer noch schmerzenden Körper und kam auf die Füße. Unsicher tapste sie über einzelne verstreute Fotos und stieg über ihre Schuhe hinweg, die nahe bei der Tür unter einem Garderobenhaken lagen.

„Paige?“

Ihre Hand hielt jäh über dem Türknauf inne. Wieder das leise klacken ihrer Schuppen, die sich zahlreicher, als seit einigen Stunden durch ihre Haut schoben und eine glatte, ebene Panzerung bildete. Und dabei musste sie sich auf jeden Fall verhört haben.

Mit einer Hand hielt sie die Decken vor ihrer Brust fest, während sie sich mit der anderen flach an der Zimmertür abstützte. Ihr war kalt. Aber das war nicht der Grund, warum ihr winzige Schweißperlen auf der Stirn standen und ihr Herz hämmerte, wie ein Presslufthammer.

Mit einer Stimme, die völlig ungewollt nicht wie ihre eigenen klang, antwortete Paige so klar und deutlich, wie sie es vermochte. Er konnte es nicht sein. Und wenn doch, dann...

„Tut mir leid, Sie müssen sich im Zimmer geirrt haben.“

Selbst wenn sie angefügt hätte, dass es hier keine Paige gab, hätte sie es nicht unbedingt als Lüge aufgefasst. Sie fühlte sich nur noch als Abziehbild ihrer selbst. Und genau das war der Grund, warum sie hoffte, nein, flehte, dass er es nicht war. Denn einen weiteren verbalen Angriff würde sie nicht überstehen. Ihre Knie wurden jetzt noch weich und ihr Hals kratzte von dem Kloß, der sich bildete, wenn sie an das letzte Telefongespräch dachte.

Um weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn den Boden unter den Füßen zu verlieren, lehnte sie sich mit der Schulter an die Wand neben der Tür und hielt sich am Knauf fest. Mit einem dämonischen und einem menschlichen Auge, beide schwer vor Müdigkeit, sah sie auf die Tür, als würde sie direkt von ihr eine Antwort erwarten. Oder Schritte, die sich dahinter wieder entfernten.
 

Er konnte leise Geräusche hinter der Tür hören, weshalb er nicht glauben würde, das Zimmer wäre leer. Das hatte er ohnehin nicht angenommen. Immerhin wurde dieser seltsame Geruch immer stärker, bis er die Präsenz förmlich spüren konnte.

Sie war ganz nahe und doch klang ihre Stimme so falsch, als sie ihm zu erklären versuchte, er wäre hier nicht richtig.

Ryon legte seine flache Hand auf das Holz der Tür und beugte sich vor. Ohne seine Nase direkt an den Türspalt zu halten, atmete er tief ein und war sich nun vollkommen sicher.

„Vielleicht sollte ich dich Flora Burkes nennen, aber das wird nichts daran ändern, dass ich deinen Geruch überall wieder erkennen würde.“

Obwohl sie gerade total verfälscht roch. Dennoch, die Herznote würde immer die Gleiche bleiben und war zugleich für ihn wie Paiges persönlicher Fingerabdruck.

„Paige, bitte. Lass mich rein.“, flehte er leise, da er nicht einfach die Tür aufbrechen konnte, wenn sie so dicht dahinter stand. Denn genau das hatte die Nähe ihrer Stimme deutlich gemacht. Aber er würde sich auch nicht von ihr abwimmeln lassen.

Nicht etwa, weil er extra die Strecke von London nach Dublin auf sich genommen hatte, um sie zu besuchen, sondern weil er bestimmt noch einmal ein Magengeschwür bekommen würde, sollte er noch länger diese Ungewissheit über ihren Zustand ertragen müssen.

Seit er wieder gezwungen war, mit Gefühlen zu leben, kämpfte er auch ständig darum, sich von ihnen nicht vollkommen beherrschen zu lassen. Doch es ließ sich noch nicht verhindern, dass er zeitweilig ganz schön verwirrt, ob des ganzen Gefühlshaufen war und im Augenblick schien er sogar persönliche Rekorde darin zu brechen.

Sollte er nun die Tür eintreten, gereizt darüber, dass er überhaupt dazu gezwungen war? Oder wäre es besser, ruhig zu bleiben, es auf diplomatischem Wege zu versuchen und somit die Tür heil zu lassen? Eine andere Seite in ihm fürchtete sich davor, was er sehen könnte, wenn Paige die Tür öffnete, doch egal was nun letztendlich eintreffen würde, sein dringenster Wunsch war es, sie zu sehen.
 

An die kalte Wand gelehnt, versuchte Paige die beiden übereinander gewickelten Decken festzuhalten, die langsam an ihr hinunter rutschten. Wäre sie in einer besseren Verfassung, sie hätte sich vermutlich durch die Tür mit Ryon auseinander gesetzt, aber im Moment war ihr nicht nach reden, geschweige denn fühlte sie sich kräftig genug, um sich zu streiten. Ihr war kalt und ihr Knöchel tat ihr weh vom herumstehen.

Außerdem war sie noch nicht fertig damit, sich ein wenig selbst zu bemitleiden. Den Stolz, sich gegen Ryons Anblick und was immer ihn hierher geführt hatte, zu wappnen, konnte sie nicht aufbringen. Erst recht nicht, als ein Zittern ihre Schuppen zum Knirschen brachte.

Halb zog sie sich, halb stieß sie sich von der Wand ab, um auf ihre kalten Füße zu kommen. Er war hoffentlich schlau genug zu verstehen, dass er hier nicht einfach so die Tür aufbrechen konnte. Auch wenn es nicht so teuer und exklusiv war, wie die Hotels, in denen er normalerweise gastierte.

„Was machst du eigentlich hier? Ich dachte bei unserem charmanten Telefongespräch gestern, wärest du alles los geworden, was du mir sagen wolltest...“

Es war nur ein leises Murmeln, das er vielleicht gar nicht gehört hatte. Paiges müde Augen, die noch einmal an ihrer schuppigen Hand hängen blieben, die aus unerklärlichen Gründen noch immer den Türknauf umfasst hielt, blinzelten langsam.

Er bat sie darum, dass sie ihn herein ließ.

Wieder ein Blinzeln und ein rasselndes, klackerndes Geräusch, als eine Gänsehaut sich wie eine Welle unter den Schuppen hindurch schob, die immer noch nicht ihre waren.

Es waren nicht die Worte, die sie zögern ließen. So gut, wie Ryon seit sieben Jahren das Schauspiel eines normalen, wohlerzogenen Mannes aufrecht erhielt, hätte er das 'bitte' völlig nebensächlich einflechten können. Ohne Hintergedanken sogar. Aber es...

Mit gesenktem Kopf stand sie da, hielt sich zitternd an der Tür fest, die sie von einander trennte. Vor sich sah sie goldene Augen. Mit grünen und blauen Farbsprenkeln darin, ganz nah an der Pupille. Das Spektrum konnte man nur sehen, wenn man die Zeit und die wertvolle Gelegenheit bekam sich in einem der seelenvollen Blicke zu verlieren.

Es war auch schon egal.

„Ich hab dir gesagt, dass ich krank bin. Keine Ahnung, was du von mir willst, aber ich gehe wieder ins Bett.“

Als sie sich umdrehte und die paar Schritte zwischen Tür und Bett hinter sich brachte, schien das Klicken des Schlosses durch den kleinen Raum zu hallen, als wäre er eine Kathedrale. Beinahe konnte sich Paige einbilden, den kühlen Lufthauch, der durch Ryons Präsenz durch die offene Tür herein wehte, in ihren Haaren zu spüren.

Ohne ihm einen Blick über die Schulter zu schenken, legte sie sich hin und rollte sich unter den beiden Decken so zusammen, dass es nirgendwo darunter zog. Mit dem Stoff bis über die Nasenspitze hochgezogen, schloss sie die Augen.

Sie konnte den aufgeregt raspelnden Schuppen nicht Recht geben. Von Ryon drohte zumindest körperlich keine Gefahr. Wenn er sie hätte verwunden wollen, wäre sie gar nicht bis zum Bett gekommen.
 

Er hatte gehört, was sie so leise gemurmelt hatte. Doch konnte er ihr darauf keine Antwort geben. Denn, obwohl die Wahrheit manchmal schlimmer als eine Lüge war, so hatte er es doch ernst gemeint. Ryon wusste kaum etwas über Paiges Leben oder ihre eigene Vergangenheit. Natürlich hatte sie das Recht, es ihm und anderen vorzuenthalten, aber als sie meinte, sie würde schon um Hilfe bitten, wenn sie die bräuchte, da war etwas in ihm durchgegangen. Selbst hatte er nie um Hilfe gebeten, so dringend er sie auch gebraucht hatte. Das hatten seine Freunde mit ihrer merkwürdigen Art, ihre Freundschaft zu zeigen, bewiesen, als sie ihm sprichwörtlich das Fell über die Ohren gezogen hatten. Allerdings im umgekehrten Sinne.

Von selbst hätte es Ryon niemals so weit kommen lassen und bestimmt war Paige ebenso stur in diesen Dingen, wie er selbst es war. Darum war er hier.

Selbst wenn es sich tatsächlich nur als harmlose Erkältung herausstellen sollte, so wollte er dennoch bei ihr sein. So wie sie in Ägypten für ihn dagewesen war. Ohne Hintergedanken. Ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen, sondern einfach nur aus einem Gefühl heraus.

Die Tür öffnete sich mit einem Klicken, schwang nur ein paar Zentimeter weit auf, trotzdem hätte die Einladung nicht größer sein können, wenn sie sich weit für ihn geöffnet hätte. In der gegenwärtigen Lage war das schon mehr, als er hatte verlangen können. Immerhin ließ sie ihn in ihren schützenden Bereich.

Es war die Furcht vor dem Raum dahinter, der ihm die Gänsehaut über den Körper jagte und zugleich für sein Zögern verantwortlich war. So kam es, dass Paige bereits wieder im Bett lag, als Ryon den Mut aufbrachte, die Tür weiter aufzuschieben, um hindurch zu schlüpfen.

Sorgfältig schloss er sie wieder hinter sich und starrte einen Moment die Maserung des Holzes an, ehe er sich langsam umdrehte.

Wäre er in seiner Tiergestalt, er hätte die Ohren flach an seinen Kopf angelegt, sein Schwanz hätte nervös gezuckt und ihm würden die Nackenhaare zu Berge stehen. Zumindest Letzteres war ihm auch in seiner jetzigen Gestalt möglich.

Der merkwürdige Geruch umhüllte ihn, legte sich auf seine Haut und schien in jede seiner Poren einzudringen. Genauso wie dieses äußerst beunruhigende Rasseln, das ihn entfernt an eine Klapperschlange erinnerte.

Langsam ging er zu dem schmalen Bett hinüber, umrundete das Fußende, um Paiges Gesicht sehen zu können.

Allerdings hatte sie die Bettdecke so weit darüber gezogen, dass er nur noch ihr schwarzes Haar und einen Teil ihrer oberen Gesichtshälfte erkennen konnte, aber auch das machte klar, dass sie gerade nicht vollkommen wie ein Mensch aussehen konnte.

Waren das etwa ihre Schuppen, die dieses seltsame Geräusch verursachten?

Vielleicht nur eine Reaktion ihres Körpers, während sie gegen ihre Krankheit ankämpfte, was auch immer das sein mochte. Eine Grippe konnte es auf keinen Fall sein. Aber das unbehagliche Gefühl in seiner Magengegend sagte ihm, dass sie es besser mit einer Infektion zu tun hatten, als mit dem, was er noch nicht ganz erkennen konnte.

Obwohl es ihm immer mehr den Hals zu schnürte, da der merkwürdige Geruch immer intensiver wurde, je näher er ihr kam, ging er zu ihrem Nachttisch und kniete sich dann neben ihren Kopf auf den Boden.

„Paige … was ist denn … passiert?“, wollte er wissen, trotzdem er diese Frage kaum zu stellen wagte.

Ryon wollte die Hand ausstrecken, ihr die Decke vom Gesicht ziehen, um sie besser ansehen zu können, stattdessen unterdrückte er den Drang. Er wollte ihr nach allem was passiert war, nicht zu nahe treten.

Zumindest noch nicht.
 

Es war seltsam, dass er hier war. Bei dem, was sie schon alles zusammen erlebt hatten, hätte Paige damit gerechnet, dass es sich in irgendeiner Weise ... gewohnt anfühlen würde. Aber genau das Gegenteil schien der Fall zu sein. Was auch sehr gut mit ihrer dämonischen Seite zu tun haben konnte, die im Moment die absolute Überhand hatte. Eine dämonische Seite, sollte sie wohl besser sagen, denn obwohl es ihr Körper war, sich in ihrem Blutkreislauf bewegte, war sie es nicht. Und sie wollte es auch nicht sein.

Ihr Magen krampfte sich auf einmal so stark zusammen, dass Paige sich weiter zusammen rollen musste, um es irgendwie erträglicher zu machen. Solange sie es verhindern konnte, wollte sie vor Ryon nicht die teerartige Masse von sich geben müssen, die sie am liebsten aus ihrem Körper gerissen hätte. So, wie es sich anfühlte, war noch Einiges davon übrig.

Ryon war neben ihr, dicht an ihrem Gesicht und hatte sie gefragt, was passiert war. Die Magenschmerzen hatten ihr vor ihr selbst einen kleinen Aufschub gewährt. Aber jetzt musste sie wohl oder übel doch darüber nachdenken, was sie ihm sagen sollte. Denn obwohl es ihr noch merkwürdiger vorkam, als seine bloße Anwesenheit, war sich Paige sicher, dass er nicht gehen würde, solange sie ihn nicht dazu aufforderte oder ihm eine Erklärung für ihre „Krankheit“ lieferte.

„Ich hab dir doch von diesem Schatten erzählt...“

Ihre Stimme wurde von den Decken gedämpft, aber noch wollte sie ihre eigene Dummheit vor Ryon verbergen. Sie wusste immerhin, dass sie irgendwann ihre Augen öffnen und ihn ansehen würde. Vielleicht war es ganz gut, dass sie keinen Schock oder Ekel darin sehen konnte, wie es bei jedem Anderen bestimmt der Fall gewesen wäre.

„Hast du dir die E-Mail angesehen? Ich dachte zuerst, dass ich es aus deinem Buch kenne, aber ... nach einer Weile ist mir eingefallen, dass mein Eindruck viel älter ist als diese paar Wochen.“

Warum sprach sie denn weiter? Er musste nicht erfahren, woher sie diese schwarze Masse kannte. Und dass sie sich dann auch noch vergewissern musste...

„Nachdem es mir eingefallen war, hab ich ... was ausprobiert ... und...“

Immer noch mit geschlossenen Augen schob sie ihre Finger unter das Stück Decke, das ihr Gesicht bedeckte und zog es bis zu ihrem Schlüsselbein hinunter. Sofort kroch eine Gänsehaut unter den Schuppen entlang, die die scharfen Kanten wieder aneinander kratzen ließ.

„Ich befürchte, es hat zu gut funktioniert.“
 

Der Schatten… Daran hatte Ryon überhaupt nicht mehr gedacht. Er war auch nicht auf den Gedanken gekommen, dass Paige ihm eine Mail schicken würde, obwohl sie extra nach seiner Adresse gefragt hatte. Um ehrlich zu sein, hatte er bei den ganzen Ereignissen in den letzten Tagen ganz vergessen, was noch so alles in ihrem Leben vor sich ging.

Aber tatsächlich lagen hier überall Bilder auf dem Boden zerstreut herum, mit etwas darauf, dass ihm einen eiskalten Schauer den Rücken runter jagen ließ, während er versuchte, Paiges Worten zu folgen. Er verstand nicht ganz was sie-

Als sie die Decke ein Stück herunter zog, weiteten sich seine Augen voller Entsetzen. Was hatte Paige sich nur angetan!?

Durch den Anblick ihrer veränderten Gesichtszüge, der unvertrauten Schuppen, der reptilienhaften Nase und überhaupt dieser gesamte Eindruck, war er wie erstarrt und somit unfähig, wegzusehen.

Erst als er Blut schmecken konnte, da er sich so fest auf die Unterlippe biss, wagte er wieder zu atmen.

„Was…“, er brach ab. Es war nicht so, dass ihr Aussehen ihm die Sprache verschlagen hätte. Zumindest nicht in diesem Sinne. Immerhin kannte er sie bereits in ihrer dämonischen Form, aber zum Teufel. DAS war nicht Paige! Zumindest hatte er sie nie so gesehen. Dieses Grün ihrer Schuppen war so anders, als die rötliche Farbe, die er inzwischen kannte.

Unfähig, an sich zu halten, streckte er den Arm aus und ließ seine Fingerkuppen über ein paar der harten, scharfkantigen Schuppen gleiten, die seine Haut problemlos anritzten. Als er sie wieder zurück zog, starrte er seine Hand an.

„Was hast du dir angetan, Paige?“

Er konnte das Zittern in seiner Stimme ebenso wenig verhindern, wie den besorgten Tonfall darin. Verdammt noch mal, er konnte ja nicht einmal das Zittern seiner Hände oder den Rest von seinem Körper, zurück halten.

„Sieh mich an, Paige.“, verlangte er, als er den Blick wieder hob und erneut dem Ansturm von Entsetzen trotzen musste.

„Sie mich an und sag mir, was du dir angetan hast!“

Jetzt klang es eindeutig wie ein Knurren, ja fast schon wie ein Fauchen. Aber er konnte sich einfach nicht mehr beherrschen. Damit war es seit der Therapie seiner Freunde vorbei. Es gab kein Zurück mehr, auch wenn er in diesem Augenblick am liebsten genau das nur zu gerne getan hätte. Paiges Anblick wühlte Dinge in ihm auf, die schlimmer waren, als das unbestimmte Gefühl zuvor.

Was, wenn dieser Zustand erst der Anfang war? Was wenn alles nur noch schlimmer wurde und dieses Etwas, sie vollkommen in Besitz nahm? Was wenn sie … starb?

Bei diesem Gedanken wurde Ryon leichenblass.
 

Seine Berührung schien sie durch den dicken Panzer nur wegen seiner großen Körperwärme zu spüren. Druck übertrug sich fast gar nicht bis auf ihre darunter liegende Haut. Ganz anders als ihre dämonische Haut, die sie bis jetzt noch nie wegen solcher Unterschiede besonders geschätzt hatte.

Am liebsten hätte sie schon wieder losgeheult.

Gerade deshalb ließ Ryons Tonfall sie erschrocken zusammen fahren. Völlig automatisch zog sie den Kopf ein und riss die Augen auf, die Ryon, der im Gegenlicht des Fensters vor ihr kniete, gar nicht fixieren konnten.

Mit leicht geöffneten Lippen blinzelte sie ihn ungläubig an und zog die Decke wieder bis zu ihrem Kinn hoch.

Er hatte sie angefaucht. Schon im übertragenen Sinne rein menschlicher Kommunikation wäre das überraschend gewesen. Mit dem vibrierenden Zischen, das sich durch die Luft geschnitten hatte und eindeutig von mehr als rein menschlichen Emotionen zeugte, war es für Paige unfassbar.

„Ich... Es...“

Bevor sie auch nur wirklich zu einer Erklärung ansetzen konnte, kam sie ins Stottern und brach wieder ab. Sie hatte sogar schon vergessen, was sie sagen wollte. Oder sagen sollte? Hatte er sie denn etwas gefragt?

Paige starrte in zwei goldene Lavaseen. Aufgewühlt von Flammen, die irgendwo darunter züngelten, war in ihnen nichts, das irgendwelchen Halt bieten konnte. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Um sein Leben zu laufen oder sich ohne zu überlegen hinein zu werfen und sich seinem Schicksal zu überlassen.

Paige klappte zunächst einmal ihren Mund zu.

Mit immer noch großen Augen folgte sie Ryons Gesichtszügen, seinen Nasenrücken hinunter, zu seinen schmalen Lippen und dem markanten Kinn. Dann wieder hinauf zu den Ohren, hangelte sich ihr Blick an seinen dunklen Augenbrauen entlang, nur um wieder dort hin zu gelangen, wo sie sich nur mit Mühe hatte losreißen können.

Erst als sie nicht nur die Augen als völlig hypnotisch akzeptierte, sondern etwas mehr Wert auf die Interpretation des gesamten Gesichtsausdrucks legte, riss sie sich zusammen. Ja, er hatte sie etwas gefragt. Sehr vehement sogar.

„Es ist ... etwas schwierig zu erklären.“, begann sie etwas hilflos.

Dass sie den Kopf leicht von Kopfkissen angehoben hatte, fiel ihr auch erst jetzt auf. Na, wenn sie schon dabei war, dann konnte sie sich auch gleich ganz aufsetzen. Auch wenn das ihrem Magen spürbar überhaupt nicht gefiel.

„Ich habe eine Essenz. So zu sagen eine Art Erbstück meines Vaters. Dazu gehört auch eine Injektionspistole.“

Bei dem Gedanken daran, was passiert war, nachdem sie fast die ganze Phiole in ihren Blutkreislauf gejagt hatte, wurde ihr übel.

„Mein Vater hat Experimente gemacht. Er wollte dass ich ... eine ganze Dämonin werde. Nicht nur das halbe Etwas, das ich für ihn war...“

Sie holte einmal tief Luft und krallte ihre Finger in die weiße Decke.

„Ich wollte nur wissen, ob ich mich richtig erinnert habe. Ob das Zeug, dass in der Essenz meines Vaters ist, so aussieht wie der Schatten auf der Wand.“
 

Dem Anblick ihrer Augen stand zu halten, war fast ein Gewaltakt.

Das eine, war genau so, wie er es immer sah, wenn er ihr für gewöhnlich ins Gesicht blickte. Doch das andere war … wie das eines Reptils. Fremd und ungewohnt. Von beiden angesehen zu werden, war mehr als nur verwirrend. Es machte ihm nur noch deutlicher, dass Paige ebenfalls zwei Seiten der selben Medaille in sich trug. Auch wenn sich alles in ihm gegen diese neue Erkenntnis sträubte, oder viel mehr, gegen diese neue Erscheinung, die so ganz und gar nicht zu ihrem Wesen zu passen schien. Als würde man einer bösartigen Schlange direkt ins fauchende Maul starren. Das war wirklich nicht Paige. Denn ihre wahre dämonische Seite an ihr, war wunderschön, selbst wenn sie brannte. Oder vielleicht sogar, gerade deshalb.

Als Paige sich aufsetzte, ließ er sich selbst auf die Fersen zurück sinken und blickte zu ihr hoch.

Seine Hände krampften sich auf seinen Oberschenkeln zu Fäusten zusammen, die zitterten, doch der Rest von ihm blieb reglos, während er ihrer Erklärung zuhörte. Richtigerweise ließ er sie ausreden, da er sich deutlich bewusst war, dass sie ihm etwas Wichtiges über sich erzählte.

Zu hören, dass ihr eigener Vater Experimente mit ihr gemacht hatte, weil er offenbar an der Vollkommenheit seines eigenen Kindes zweifelte, war wie ein Faustschlag ins Gesicht.

Seine Kiefernmuskeln arbeiteten, während sich seine Augenbrauen zusammen zogen. Das zu hören, machte ihn einfach verdammt wütend, auch wenn es sinnlos war. Denn ihren Worten war zu entnehmen, dass ihr Vater bereits tot war. Ein Umstand, den er in diesem Moment sehr bedauerte. Ryon hätte diesen Mann gerne persönlich ins Jenseits befördert.

Aber dieser Gedanke war auf einmal wie weggewischt, als Paige ihm mitteilte, dass sie offenbar die Experimente ihres Vaters weiter geführt hatte… An sich selbst.

Nun konnte er seinen Zorn über diese Dummheit tatsächlich nicht mehr verbergen. Sein Blick sprühte fast Funken, doch er zwang sich dazu, all die Worte hinunter zu schlucken, die er ihr eigentlich an den Kopf werfen wollte, weil sie so etwas nicht nur in Erwägung gezogen, sondern es tatsächlich getan hatte.

Wären da nicht ihre verkrampften Hände, die sich an der Bettdecke fest hielten, oder der Ausdruck in ihrem menschlichen Auge, er hätte tatsächlich seiner Wut Luft gemacht. Doch er sah ihr die Angst nicht nur an, sondern witterte sie überall in diesem Raum, da sich dieser Geruch lange hatte ausbreiten können.

Paige wusste selbst, was sie getan hatte. Besser sogar als er.

Sie jetzt wie ein kleines Kind dafür zu schelten, würde ihr nicht helfen. Außerdem, was hatte er für ein Recht, darüber zu urteilen, wie rücksichtslos sie mit sich selbst umging? Er war nicht besser. Auch das hatte er bei diesem Telefongespräch gemeint.

Schließlich senkte er den Blick für einen Moment, betrachtete seine Hände, an denen sich schon die ersten Ansätze von Krallen zeigten, ehe er sie wieder zurück zog und erneut den Kopf hob. Dieses Mal mit einem Ausdruck von Ruhe. Immerhin wollte er ihr nicht noch mehr Angst machen, sondern war hier, um ihr wenn überhaupt möglich, zu helfen.

„Paige-“ ‚Das war die Sache einfach nicht wert.‘, wollte er sagen, entschied sich aber im letzten Moment doch noch einmal um. Sie konnten auch später darüber sprechen.

Er rutschte näher an sie heran, richtete sich wieder auf, um ihr geradewegs in die Augen blicken zu können.

„-lass mich dir helfen, so gut ich kann… Bitte.“
 

Ihre Augen zuckten kurz zu Ryon hinüber, als sie nach dem Nennen ihres Namens auf ein Urteil von ihm wartete. Wenn sie es nicht besser wüsste, Paige würde sagen, es schwang Wut in seiner Stimme mit. Ihr war sein Blick nicht entgangen, der immer wieder leicht unsicher zu der Seite hinüber zu wandern schien, die ihre Menschlichkeit im Augenblick total verloren hatte.

Sie selbst wusste nicht, was sie an seiner Stelle zu dem ganzen Schlamassel sagen würde. Vor allem, wenn man die Tatsache bedachte, dass sie sich selbst da hinein manövriert hatte. Wenn sie nicht so viel Angst hätte, für immer so … abstoßend bleiben zu müssen, sie hätte ihre Wut auf sich selbst gern heraus gelassen. Da hätte selbst eine Badewanne voll eiskaltem Wasser nicht das Inferno aufhalten können, das in ihr schwelte. Aber sie war selbst dazu viel zu schwach. Und da sie nicht wusste, was dieser Dämon in ihr außer den scharfkantigen Schuppen alles verbarg, wollte sie es lieber gar nicht ausprobieren. Am Ende hätte sie noch unabsichtlich das Hotel abgefackelt. Oder sich selbst in ihrer neuen harten Schale gekocht.

Schon als Ryon näher rückte, sah sie ihn an. Ihre Augen ruhten auf seinen, die nun weniger brennend, aber immer noch voller Emotionen waren.

Er hatte sich verändert. War es wirklich so lange her, dass sie sich gesehen hatten? Im Moment kam es Paige so vor, als wären es Monate gewesen und nicht nur wenige Tage.

Ihr Haar fiel ihr übers Gesicht, als sie nach seiner Bitte den Kopf hängen ließ.

„Glaubst du...“

Sie streckte ihre Hände mit den grünen Fingern und den dunklen, scharfen Nägeln daran auf der Decke aus und betrachtete sie eine Weile. Niemals hätte sie erwartet, dass Ryon es sein würde, der dafür sorgen konnte, dass ihr etwas leichter ums Herz wurde. Damit, dass er vor ihrer Tür stehen würde, hatte sie in hundert Jahren nicht gerechnet.

Nach dem Telefongespräch musste irgendetwas passiert sein. Wäre es allein die Tatsache ihrer 'Krankheit' gewesen, die ihn her gebracht hatte, dann wäre er doch sofort gekommen...

Mit einem leichten Lächeln, das vor allem den Mundwinkel hob, bei dem unter den breiten Schuppen ein wenig menschliche Haut hervor sah, lehnte sie sich gegen das Kopfende des Bettes. Teils aus Scham, teils aus anderen Gründen strich sie die Haare nicht zurück, die den Großteil ihres Gesichts verdeckten und sah Ryon mit ihrem menschlichen Augen hoffnungsvoll an.

„Glaubst du, es wäre möglich Tee für uns beide zu besorgen?“, beendete sie ihre Frage leise. Ihre Stimme klang ungefähr so unsicher, als hätte sie ihn gerade gefragt, ob er die Sixtinische Kapelle für sie kaufen könnte. Eigentlich wollte sie sich nur auf die nächste Frage vorbereiten, die sogar noch sehr viel mehr Mut erforderte. Es war viel verlangt, das wusste sie. Und dass sie es gerade von ihm verlangte...

„Außerdem...“ Ihre Wange färbte sich rot, während die dämonische Seite sich rasselnd aufbäumte. Unter den Schuppen setzte ein Jucken ein, das Paige beinahe aus dem Konzept brachte. Aber sie wollte fragen. Also legte sie ihre Hand nur auf die unruhige Gesichtshälfte und sprach unbeirrt weiter.

„Würdest du mir einfach ein wenig Gesellschaft leisten? Ich möchte gern hören, was du gemacht hast, seit wir Ägypten verlassen haben.“

Ein weiteres Lächeln und das Jucken breitete sich aus. Winzige Entladungen schienen dafür zu sorgen, dass sich einzelne Stellen in ihrem Gesicht zurück verwandelten. Nur wenige, aber Paige konnte es unter ihren Fingerkuppen spüren. Vielleicht hatte sie doch Chancen wieder aus dieser fesselnden Panzerung heraus zu kommen? Sie wagte kaum darauf zu hoffen.
 

Wie schwierig es war, still zu sitzen und sich in Geduld zu üben, während einem einen Haufen Dinge durch den Kopf schwirrten, musste Ryon wohl erst wieder richtig lernen. Zwar war die Sorge um Paige, nun da er sie vor sich sah, etwas gedämpft, aber dass sie selbst Angst hatte, schürte auch bei ihm nur noch die Gefühle. Natürlich würde er sie niemals meiden, wenn sie so bliebe, wie sie jetzt aussah, aber was wäre das für ein Leben für sie? So etwas wünschte er ihr absolut nicht, daher auch die klägliche Hoffnung in ihm, das alles könne sich am Ende doch noch einmal zum Guten wenden. Vielleicht hatte ja diese Frau mehr Glück, als ihm selbst bestimmt war.

Paige streckte ihre dämonischen Hände aus und betrachtete sie nachdenklich. Ryon tat es ihr gleich, während er darauf wartete, dass sie ihm entweder sagte, er solle verschwinden, oder es zuließ, dass er ihr half.

Ihre Krallen könnten es locker mit den seinen aufnehmen, auch wenn er keine so starke Panzerung als Schutz hatte. Zu Halloween würden sie garantiert den ersten Preis für die schrägsten Kostüme gewinnen. Ein Tiger und eine Drachenfrau. Zumindest ein Jahresvorrat an Süßigkeiten wäre ihnen gewiss.

Nach einer Ewigkeit wie es schien, durchbrach Paige endlich zögerlich die Stille. Sofort sah er von ihren Händen zu ihrem Gesicht, das aber nun größtenteils von ihrem leicht zerzausten Haar verdeckt wurde. Er konnte nur noch etwas von ihrer menschlichen Hälfte erkennen. Sie lächelte.

Obwohl es kein überschwängliches Lächeln war, noch nicht einmal ein amüsiertes, so war es doch irgendwie ein klein bisschen hoffnungsvolles Lächeln, das sie ihm da schenkte. Zusammen mit ihrem Tonfall und dieser kleinen Geste, wurde eine so einfache Bitte, wie etwas Tee, zu einer ziemlich gewichtigen. Ryon hatte zumindest das Gefühl, als läge mehr in den Worten, als man erkennen konnte. Umso gespannter, wartete er deshalb darauf, dass sie weiter sprach.

In diesem Augenblick würde er tatsächlich alles für sie tun, sofern es in seiner Macht stand. Selbst wenn er sich in ein Baströckchen schmeißen und Hula tanzen müsste, würde er es tun. Nur damit es ihr nicht mehr so schwer ums Herz war.

Wieder war da so ein rasselndes Geräusch, das nun definitiv aus der Stelle in ihrem Gesicht kam, die vor ihm verborgen lag. Das änderte aber nichts daran, dass sich ihm wieder die Haare zu Berge stellten. Zumindest die auf seinem Unterarm und in seinem Nacken.

Paige unterband das Rasseln, in dem sie die Hand darauf legte und ihn auch schon mit ihren nächsten Worten davon ablenkte. Wieder lächelte sie.

Eine Weile sah er sie nur an, während es in seinem Kopf regelrecht ratterte und in seinem Körper nicht weniger Hochbetrieb herrschte.

Schließlich seufzte Ryon und senkte den Blick.

„Ich denke nicht, dass ich im Augenblick über die vergangenen Tage reden will… Außerdem könnte ich mir momentan bessere Gesprächsthemen vorstellen.“

Er sah sie wieder an. Zwar lächelte er nicht zurück, obwohl es seine Gesichtsmuskeln durchaus reizen würde, aber dafür war der Ausdruck seiner Augen noch sanfter geworden.

„Mein Lieblingstee ist ‚Earl Gray - Vanille‘. Welchen darf ich dir bringen?“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  FallenHealer
2011-08-27T14:03:28+00:00 27.08.2011 16:03
Hey,
ich verstehe absolut nicht wie so eine fantastische Geschichte nicht ein positives Feedback hat. Schon allein die einfallsreiche und durchdachte Storyline ist großartig.
Der Schreibstil ist phenomenal und man kann gut nach vollziehen was sich zwischen den Protagonisten abspielt und wieso sie eine gewisse handlung ausführen. Ihre Beweggründe sind vollkommen schlüssig und sie sind äußerst sympathisch aufgezogen.
Ryon der Eisschrank, der sich eigentlich nur schützen will und eine Schwäche für Kinder hat.
Und Paige das "Heißblut" das gerne mal so berherrscht wäre wie ihr zweckgemeinschaftlicher Partner.
Ich finde es desweiteren äußerst Interessant das nicht ersichtlich ist ob es nun Freundschaft wird oder etwas anderes zwischen den beiden.
Und als besonders süßes extra empfinde ich Ai und Taylor, sowie die kleine Mia.

xoxo Fallen


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