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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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29. Kapitel

Ihre Fingerkuppen trommelten inzwischen etwas ungeduldig auf der Theke herum, während sie schon wieder wartete.

Zuerst war es darum gegangen, jemanden an den Empfang zu bestellen, der ihrer Sprache so mächtig war, dass er ihr Auskunft geben konnte. Obwohl das bei der Vertretung der Stadt durchaus öfter vorkommen sollte, schien es sich fast Stunden lang zu ziehen, bis ein korrekt gekleideter Herr hinter dem Tresen auftauchte, an dem Paige nun immer noch lehnte und sich ihr Anliegen anhörte. Sie wollte eine Information über eine Ausgrabungsstätte. Nein, nicht wo genau sie war oder wann man eine Führung bekommen konnte. Selbst wer sie geleitet hatte, wusste sie bereits. Aber sie würde gerne wissen, ob der Herr noch in Kairo tätig war.

„Sie möchten das heute wissen?“

Paige war auf diese Frage hin völlig perplex gewesen. Warum sonst hätte sie persönlich hier erscheinen sollen?

„Ja, wenn das möglich ist. Bitte.“

Sie hatte es nicht gesehen, war sich aber ziemlich sicher, dass der Herr mit den Augen gerollt hatte, nachdem er ihr den Rücken zukehrte.

Je weiter der Zeiger auf der Uhr voranschritt, desto nervöser wurde Paige. Es hätte sie nicht gewundert, wenn der Herr, der nun in seiner eigenen Sprache in den Telefonhörer wisperte, sie einfach hinaus geschickt hätte. Mit der Bitte – oder vielmehr der Aufforderung – Morgen während der Öffnungszeiten wieder zu kommen. Es war nunmal kurz vor sieben. Noch knapp zehn Minuten, bis hier alle ihren wohlverdienten Feierabend hatten.

Ungeduldig verlagerte sie ihr Gewicht von einem Fuß auf den Anderen, um sich nicht mit dem Ellenbogen auf der glatt polierten Theke abstützen zu müssen. Sie war verdammt müde. Dabei war sie sich nicht sicher, ob es von den Strapazen der vergangenen Nacht oder von dem leicht angestaubten Ambiente der großen Halle kam, in der sie sich immer noch befand. Weiter, als bis zum Empfang am Eingang hatte sie es in der halben Stunde, die sie hier war, nicht geschafft. Die Hoffnung auf wertvolle Informationen schwanden mit jeder Minute.

Wesenwegen Paige auch erstaunt aufsah, als der Herr sie in wesentlich langsameren Worte auf Englisch erneut ansprach.

„Wie ist ihre Verantwortung und ihr Name?“

„Ehm...“ Verantwortung?

„Oh, Sie meinen, welchen Grund ich habe nach der Ausgrabung zu fragen?“

Der Herr nickte kurz angebunden und hielt sich den Hörer des Telefons so an die Brust, dass derjenige am anderen Ende der Leitung ihr Zwiegespräch nur gedämpft mithören konnte.

„Ich bin...“ Irgendetwas Wichtiges. Aber etwas, das man ihr auch abkaufen würde.

„Doktorandin.“

'Klasse Paige! Wie war das mit dem abkaufen?'

„Ja, ich schreibe gerade an meiner Arbeit über die Ausgrabungen, an denen ein gewisser Professor Grant teilgenommen hat.“

Ob es nun etwas brachte, dass ihr der Name des älteren Herren, dem sie das Tagebuch geklaut hatte, eingefallen war, würde sie in wenigen Sekunden wissen. Wahrscheinlich legte der Typ jetzt auf und warf sie hochkant aus dem Gebäude. Diesmal mit dem Befehl sich nie wieder blicken zu lassen.

Paige biss auf der Innenseite ihrer Wange herum, während sie mit großen Augen auf eine Reaktion wartete. Ihr wurde nur mit einem sehr ähnlichen Blick begegnet, der sie daran erinnerte, dass das nicht alles gewesen war.

„Burke.“, fiel schließlich der Groschen und in Paige machte sich Erleichterung breit. Darauf hatte er noch gewartet. Ihren Namen. Naja, irgendein Name zumindest.

„Ich heiße Flora Burke.“

Diesmal erntete sie tatsächlich ein Zucken seiner Augenbrauen. Dieser Mann begegnete nicht zum ersten Mal einem Lügner. Das war nur zu leicht zu erkennen. Was sollte sie jetzt tun? Einfach davon rennen, während er wieder ins Telefon sprach?

Sie stand bereits in den Startlöchern, hatte die Hände von der Theke genommen und wollte sich dankend umdrehen, als der Herr den Telefonhörer auflegte und etwas auf eine kleine Karte kritzelte.

„Sie können anrufen. Mister Abraham war am Apparat. Er ist der Partner gewesen von Mister Grant.“

„Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Am liebsten hätte sie diesen korrekten Herren in diesem Moment auf die entstehende Glatze geküsst. Aber dann hätte er ihr bestimmt das kleine Stück Papier mit der Telefonnummer wieder abgenommen. Darüber stand in krakeliger Schrift der Name des Mannes, den sie suchte.
 

Am Telefon hatte sich Mr. Stanley Abraham so angehört wie der Sprecher einer Tiersendung im Radio, die Paige früher immer Sonntags hatte anhören dürfen. Beruhigend und voller Wissen, das er in einer sehr väterlichen, aber bestimmten Art vermitteln konnte. Und alt.

Nun, da sie mit leicht feuchten Händen vor seiner Tür stand und darauf wartete, herein gelassen zu werden, versuchte sich Paige den Mann vorzustellen, der zu dieser Stimme gehörte. Weiße Haare, etwas kleiner als sie selbst und vielleicht ziemlich untersetzt.

Als er ihr die Tür öffnete und sie anlächelte, musste sie grinsen.
 

„Sie sind also auf der Suche nach Informationen über die Ausgrabung vor fünfzehn Jahren?“

Er saß ihr auf einem ähnlich gemütlich wirkenden Sofa gegenüber, auf dem er ihr selbst einen Platz angeboten hatte. Zwischen ihnen stand ein Tablett mit Tee und Gebäck, das allerdings etwas staubig aussah. Und leider genauso schmeckte.

Paige tunkte es so lange in ihren Tee, bis es zumindest so vollgesaugt mit Flüssigkeit war, dass sie abbeißen konnte, ohne sich einen Zahn dabei abzubrechen.

„Richtig. Und noch einmal vielen Dank, dass Sie so schnell Zeit für mich hatten, Professor Abraham.“

Er war groß und schlank. Die langen Beine hatte er locker übereinander geschlagen, während er in einem Eck des Sofas lehnte und seine Teetasse in den langen Fingern hielt. Seine braunen Augen musterten sie sehr aufmerksam über den goldenen Rand einer halben Lesebrille hinweg.

Paiges Mundwinkel hoben sich bei dem Anblick der wenigen Keksbrösel, die sich in seinem grauen Schnurrbart verfangen hatten.

„Ich bin inzwischen nicht mehr so viel beschäftigt wie früher, Miss Burke.“

Es schwang so etwas wie Bedauern in seiner Stimme mit, was Paige bei dem Eindruck, den sie von dem Professor bis jetzt gewonnen hatte, nicht wunderte. Seine Augen waren wach und wirkten neugierig. Sogar ein wenig spitzbübisch, wenn er lächelte. Paige konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er früher bei einer Ausgrabung begeistert in irgendwelchem Dreck herum gewühlt hatte, um Dinge wie Ryons Amulett zu finden.

„Daher habe ich auch genug Zeit für Ihre Fragen. Dann schießen Sie mal los. Denn um ehrlich zu sein, habe ich keine rechte Lust noch länger auf diesen steinharten Keksen herum zu kauen, bis sie ihre Nervosität überwunden haben.“

Sein Lächeln war ehrlich und sagte Paige, dass er sehr genau wusste, dass sie keine Doktorandin auf Exkursion war. Dennoch wollte er ihre Fragen beantworten. Solange er selbst keine stellte, die ihr eigenes Motiv betrafen, konnte Paige das nur Recht sein.

„Um ehrlich zu sein, Professor Abraham. Mir geht es vor allem um ein Fundstück der damaligen Ausgrabung...“
 

„Es hat mich gefreut, Miss Burke.“

Paige stand halb auf der Treppe zur Straße, als sie seine Hand zum Abschied schüttelte.

Es war in den letzten Stunden, die sie halb plaudernd, halb forschend verbracht hatten, recht kühl geworden. Obwohl sie ihre Jacke enger um sich zog, fröstelte Paige leicht. Dennoch ging sie mit einem breiten Lächeln die paar Stufen hinunter und drehte sich noch einmal um, bevor sie ihm eine gute Nacht wünschte.

Als sie bereits um das nächste Hauseck verschwunden war und Stanley Abraham die Tür hinter sich geschlossen hatte, schüttelte er nachdenklich den Kopf.

Langsam ging er in sein Arbeitszimmer, zog eine Schublade auf und holte eine alte, leicht angegilbte Fotografie heraus, die er schon so oft durch seine Lesebrille betrachtet hatte.

„Es gibt wohl keine Zufälle im Leben...“, meinte er mit einem Zwinkern zu der Frau auf dem Foto.

„Noch bin ich mir nicht sicher. Aber wenn sie es ist, dann sieht dir Paige wirklich sehr ähnlich.“
 

Da er früh erwachte und nicht wusste, ob Paige noch schlief, bestellte er sich beim Zimmerservice ein ausgewogenes Frühstück, das zwar nur für ihn selbst war, aber natürlich für eine ganze Meute ausgehungerter Wölfe gereicht hätte. Doch gerade weil ihm das gestrige Mahl so gut getan hatte, wollte er auch heute ausgiebig frühstücken, während er Paige die Zeit ließ, sich selbst noch etwas auszuruhen.

Nachdem ihm das Essen gebracht und die Reste von gestern wieder mitgenommen worden waren, nahm er sich lange Zeit, um in Ruhe zu Essen und seine Gedanken zu ordnen.

Danach ließ er sich auf dem weichen Teppichboden nieder und besah sich gründlich seine Einkäufe, die er inzwischen vollkommen vergessen hatte.

Sie waren zum Glück allesamt heil geblieben, obwohl sie mehrmals unsanft auf dem Boden gelandet waren. Weshalb er sie nun auch vorsichtig in seinem Koffer verstaute, damit ihnen nicht doch noch etwas passierte. Immerhin sollten die Geschenke wohlbehalten bei ihren Besitzern ankommen.

Etwas Zeit war dadurch vergangen, aber es war noch immer zu früh, um bei Paige durchzuklingeln, weshalb er sich ins Bad begab, um kalt zu duschen, sich gründlich zu rasieren.

Im Spiegel übersah er seine schwarzen Augen, sondern strich lediglich über den immer kleiner werdenden Schorf an seiner Stirn. Noch ein paar Tage und man würde nur noch frische Haut an der Stelle sehen, wo sein Schädel einiges her halten hatte müssen.

Eigentlich wunderte es Ryon, dass das Waschbecken bei seinem Dickschädel nicht in die Brüche gegangen war. Aber als er es sich gründlich ansah, fand er noch nicht einmal einen keinen Sprung oder so etwas in der Art.

Sehr solide Einrichtung. Das musste man dem Hotel lassen.

Wieder in seinem Schlafzimmer angekommen, suchte er sich frische Klamotten heraus. Viel mehr als dünne Sachen anziehen, konnte er nicht, wollte er nicht nackt in der Gegend herum laufen, weshalb er seine Vorbereitungen für den Tag auch damit begann, in dem er von Anfang an sehr viel zu trinken begann. Denn genau das dürfte auch sein Fehler gewesen sein. Vielleicht hätte die Hitze ihn nicht so derart umgehauen, wenn er genug Flüssigkeit zur Verfügung gehabt hätte. Das würde ihm aber sicherlich nicht noch einmal passieren, weshalb er sich auch noch zusätzlich drei Zwei-Liter-Flaschen voll Wasser bereit stellte, ehe er sich samt seinem Handy auf die Couch fallen ließ.

Eine Weile überlegte er, was er schreiben sollte, denn sollte Paige noch schlafen, würde ein kurzes Nachrichtensignal sie vielleicht nicht sofort aufwecken.

Nach langem hin und her begann er schließlich einfach zu tippen, was ohnehin auch seine Zeit brauchte, denn mit der Handytastatur kam er lange nicht so gut zurecht, wie mit der seines Computers.

‚Guten Morgen, Paige. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt. Aber wenn du Zeit hast, sollten wir unsere weitere Vorgehensweise besprechen. ~Ryon‘
 

Das einzelne Klingeln ließ sie hochschrecken.

Während ihr Kopf wieder auf das weiche Kissen sank, tastete sich ihre Hand unter der Decke hervor und dann entlang der Matratze zu dem Nachtkästchen, auf dem das Handy lag. Wer ihr da schrieb, war ohnehin klar und der einzige Grund, warum sie ihre müden Augen überhaupt öffnete, um die SMS zu lesen.

Es war keine schlechte Nachricht. Wäre es ihm schlecht gegangen oder hätte er Hilfe gebraucht, wäre ihre Antwort anders ausgefallen. Aber in ihrem derzeitigen Zustand brachte sie nur eine kurze Erwiderung zustande.

Was für eine seltsame und gleichzeitig amüsante Formulierung. 'Wenn du Zeit hast.' Als hätte sie Termine einzuhalten. Naja, wenn man es recht bedachte...

'Guten Morgen, Nachbar. Gib mir noch eine halbe Stunde. Unser Termin ist erst um 16Uhr. Kein Grund zu hetzen... ;) Paige'

Noch völlig schlaftrunken schlich sie ins Bad, frischte sich auf und war tatsächlich eine halbe Stunde später zumindest äußerlich bereit das Zimmer zu verlassen. Wenn ihr auch die Anstrengungen und der aufschlussreiche Spaziergang und das Treffen des vergangenen Abends noch ins Gesicht geschrieben standen. Sobald diese ganze Sache vorbei war, würde sie eine Woche im Bett verbringen. Vielleicht schaffte sie es tagsüber auf die Couch, um Cartoons anzusehen. Aber das wäre auch schon das Höchste der Gefühle.

„Oh Mann...“

Ihr war eingefallen, dass sie sich dafür erst einmal eine neue Bleibe, das dazugehörige Bett, die Couch und auch den Fernseher suchen musste. Das hörte sich nach mehr Aufwand an, als die Woche Ruhe dann wert wäre.

Ein wenig müde kam sie auf den Flur und stieß auf Ryon, der bereits auf sie wartete. Der Sprung, den ihr Herz bei seinem Anblick machte, war überraschend und genauso verwirrend.

War sie nervös? Ihren leicht zitternden Fingern nach konnte das durchaus der Fall sein. Aber warum sollte sie?

„Guten Morgen. Hast du schon was gegessen?“
 

Sie hatten um 16 Uhr einen Termin?

Wenn er zu so etwas wie einem Stirnrunzeln im Stande gewesen wäre, hätte er es getan. So aber, klappte er lediglich sein Handy zu und legte es zur Seite, während er es anstarrte.

Was hatte er denn nun wieder verpasst, während er schlief? Hatte Paige sich etwa für etwas anderes entschieden, als sich auszuruhen?

Mit einem leichten Kopfschütteln stand er auf, um seine Sachen zusammen zu suchen. Es ging ihn im Grunde nichts an, was sie Nachts alles so trieb, aber eigentlich wüsste er gerne darüber bescheid, wenn sie irgendwo hin ging. Immerhin waren sie hier in einem völlig fremden Land und nur weil sie nun das Handy hatte, hieß das noch lange nicht, dass sie ihn auch erreichen könnte, wenn sie Ärger bekam. Man könnte sie entführen oder sogar umbringen, während er seelenruhig im Bett schlief!

Diesen Punkt würde er wohl noch ansprechen müssen, aber vorerst war er eher darauf erpicht, zu erfahren, um was für eine Art von Termin es sich handelte.

Die Wasserflaschen verstaute Ryon in einer großen Umhängetasche mit breitem Riemen, da er Rucksäcke nicht wirklich mochte. Die meisten normalen Rucksäcke waren für seine Größe einfach zu klein, selbst wenn er die Riemen so weit stellte, wie es ging.

Er hengte sie sich um, steckte sein Handy ein und verließ das Zimmer, um im Flur auf Paige zu warten, die Pünktlich aus ihrer Tür trat.

Sie sah noch immer müde aus, aber Ryon war trotzdem erleichtert sie zu sehen. Immerhin war es ein Unterschied ob er ihre Stimme hören konnte oder einfach nur ein paar daher getippte Worte las.

„Ja, ich habe bereits gefrühstückt, aber ich leiste dir gerne Gesellschaft. Wie du schon sagtest, kein Grund zu hetzen und außerdem würde ich gerne etwas über diesen Termin erfahren. Warst du gestern denn noch weg?“

Eigentlich eine blöde Frage, aber sie hätte auch etwas von ihrem Zimmer aus organisieren können. Zumindest wäre ihm diese Option wesentlich lieber. Trotzdem. Sie war kein kleines Kind und er nicht ihr Vormund. Er konnte es ihr nicht übel nehmen, wenn sie auf eigene Faust etwas unternahm.

Da sie den hoteleigenen Speisesaal noch nicht gesehen hatten, der aber auch sicher so einiges fürs Auge bot, schlug Ryon vor, sich dorthin zu begeben. Dann konnte er sich auch noch einen Chai-Latte bestellen.

Wie sagte Paige doch so schön: etwas Heißes sorgt trotzdem überraschenderweise für Kühlung. Zumindest konnte er das nur hoffen. Ihm war schon jetzt wieder warm genug.
 

„Sein Name ist Professor Stanley Abraham. Professor für Archäologie nehme ich an, aber er hat auch einen großen Faible für Mythologie, soweit ich das im Gespräch mit ihm mitbekommen habe.“

Sie saßen in dem großen, aber gemütlichen Speisesaal des Hotels. Paige erzählte zwischen kleinen Bissen Müsli mit Früchten von ihrer Begegnung mit Professor Abraham und dass sie nach kurzer Verabredung bei ihm gewesen war und dieser sich erstaunlich kooperativ gezeigt hatte.

„Ich glaube, dass er seinen alten Job vermisst. Zumindest die Ausgrabungen. Mit Mr. Grant hat er wohl öfter zusammen gearbeitet.“

Ihr Blick fiel auf die Stelle, an der Ryons Amulett unter seinem Hemd verborgen war.

„Die Ausgrabung, bei der auch dein Schmuckstück gefunden wurde, hat er mir als 'speziell' beschrieben. Es hat wohl mehrere Widrigkeiten gegeben. Angefangen bei Diebstählen durch Mitarbeiter, über Arbeitsunfälle und so etwas wie einen Fluch.“

Sie winkte ab und steckte sich ein Stück Wassermelone in den Mund, auf dem sie herum kaute.

Mit der Gabel deutete sie auf Ryon, der zu ihrer Unterhaltung bis jetzt noch nicht wirklich viel beigetragen hatte. Aber zuerst ging es ja auch darum, ihm mitzuteilen, was sie bei ihrem Ausflug heraus gefunden hatte.

„Er ist bereit uns die Ausgrabungsstelle zu zeigen. Viel ist nach den vielen Jahren nicht mehr zu sehen, aber mit ihm brauchen wir zumindest keine offizielle Genehmigung, um uns alles genauer anzusehen. Die bei der Stadt sind nicht gerade die Schnellsten...“
 

Während er Paige aufmerksam zu hörte, nippte er immer wieder an seinem Latte, der ihm selbst in lediglich warmen Zustand noch viel zu heiß erschien, aber da er ihn ohnehin nur so langsam in geringen Mengen zu sich nahm, merkte er nicht wirklich einen Unterschied bei seiner Körpertemperatur. Außerdem hörte er viel zu interessiert zu, als dass er sich auf etwas anderes konzentrieren könnte.

„Also scheint es wirklich verflucht zu sein…“, wagte er schließlich in den Raum zu stellen, obwohl er dieses Thema eigentlich am liebsten meilenweit übergangen hätte. Doch etwas tot zu schweigen, würde auch nichts bringen. Weshalb er sich dem wohl besser früher als später stellte. Nur so kamen sie auch schnell genug voran.

Ryon wollte dem ganzen nicht auch noch Steine in den Weg legen. Das wäre keine große Hilfe, wo doch Paige hier so fleißig zu Werke ging.

„Wenn du sagst, dass das Treffen um 16 Uhr ist, würde ich gerne mitkommen. Dann ist es nicht mehr so heiß, außerdem habe ich genug Wasser eingepackt. Von mir aus, kann’s also los gehen. Außerdem würde ich diesen Professor gerne kennen lernen. Meinst du, er ist vertrauenswürdig?“

Es war nicht so, dass er gleich um jede Ecke eine Gefahr sehen wollte, aber Ryon war nun einmal skeptisch und vorsichtig, wenn es um das Amulett ging. Weshalb er es auch niemals irgendwo in einem Safe einsperren würde. Am sichersten erschien es ihm immer noch um seinen Hals. Egal wie viele Diebe noch an ihm abperlen mussten, bis sie begriffen, dass man es ihm nicht so einfach abluchsen konnte.

Während er daran dachte, rieb er sich gedankenverloren über einen Teil der dünnen Linie um seinen Hals.

Vorgestern auf der Straße hatte er einfach nur noch reagiert, ohne großartig darüber nachzudenken, wie grauenvoll vertraut der Zug sich auf seinem Hals angefühlt hatte. Hoffentlich erlebte er so etwas nicht noch einmal.
 

Als sie den letzten Bissen aus der Schüssel geholt und ihn verspeist hatte, lehnte sie sich in dem weichen Stuhl zurück und sah Ryon an.

Wenn man bedachte, wie viel sie über ihn wusste, ohne dass es ihm selbst klar war, hätte sie den Mund halten sollen. Unter Umständen war es besser, nicht über das Amulett und diesen Fluch zu sprechen, von dem Ryon dachte, dass er auf dem Schmuckstück lag. Womöglich nahm es einige Last von seinen Schultern, wenn er glaubte, dass das Amulett Schuld am Tod seiner Gefährtin und seines Babys gehabt hatte. Und dennoch glaubte Paige mit keiner Faser ihres Gehirns daran.

„Ryon, ich...“

Ihre Stimme war sanft und vorsichtig. Dem entsprechend, was sie gleich sagen und welche Wunden sie damit wahrscheinlich aufreißen würde. Aber sie waren nunmal hier, um hinter die Spur des Amuletts zu kommen. Und damit auch den Hexenzirkel unschädlich zu machen, der hinter ihrer beider Leben her war. Ihre einzige Chance war es, ehrlich miteinander zu sein.

„Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass ein Fluch auf dem Amulett liegt.“

Sie musste es vorsichtig formulieren. Ohne 'ihren' Namen zu erwähnen. Oder die Tatsache, dass sie wusste, was passiert war. Dass sie alles wusste, was er vor der Welt und sich selbst leugnen wollte.

„Du trägst es schon seit vielen Jahren. Und obwohl du dich oft in gefährlichen Situationen befunden hast, bist du immer noch am Leben.“

Hoffentlich reichte das. Wenn er ihr mit Ausflüchten kam, würde ihr nichts übrig bleiben, als von 'ihr' zu sprechen. Davon, dass Paige selbst sehr wohl wusste, wer ihm das Amulett gegeben hatte. Und dieser Mensch hätte ihm niemals etwas geschenkt, das ihn gefährden könnte.
 

Ryon begann leise in seinem Getränk um zu rühren, um es noch ein bisschen kühler zu bekommen, obwohl er es eigentlich auch nur tat, um nicht mit seinen Fingern auf dem Tisch herum zu tribbeln.

Das Thema war ihm ziemlich unangenehm, aber er lief nicht davor weg. Allerdings konnte er Paige dabei nicht in die Augen sehen. Denn wenn er in sich selbst spürte, wie ein auf und ab seiner Gefühle deutlich wurde, als wäre er ein Blatt in einem reißenden Fluss, so musste man es bestimmt auch an seinen Augen erkennen können. Das wollte er nicht.

„Es mag vielleicht sein, dass es mir bisher nicht geschadet hat. Dem kann ich nur zustimmen, aber was ist mit all den … Vorbesitzern? Soweit wir wissen sind doch bisher alle, die es lange genug besessen hatten tot. Selbst dieser … Crilin hat sich darüber beklagt, dass er seltsame Unfälle hatte, krank wurde, ehe er es los werden konnte…“

Ryon konnte nicht weiter sprechen, da seine Kiefer mahlend aufeinander krachten und er sie auch nicht mehr so schnell auseinander brachte. Seine Finger hielten den silbernen Löffel so fest umklammert, als wolle er ihn abbrechen.

Nachdem der Wellengang seiner Gefühle gerade am Tiefpunkt angelangt war und er sich gerade wieder beruhigen wollte, stieg er hoch, so dass er den Löffel ruckartig los ließ und sich stattdessen mit verschränkten Armen zurück lehnte. Noch immer den Blick gesenkt, aber tief Luft holend, bis seine Wut wieder etwas abgeflaut war.

„Es ist eigentlich egal, ob es nun tatsächlich verflucht ist oder nicht. Fakt ist, dass damit etwas nicht stimmt. Da bin ich mir ziemlich sicher. Zum Beispiel finde ich es seltsam, dass es beständig die selbe Temperatur hat. Egal wie lange es auf meiner Haut liegt, es fühlt sich immer kühl an. Dabei ist Metall normalerweise ein Material, das schnell die Temperatur seiner Umgebung annimmt. Außerdem, wäre es einfach nur irgendein kostbar gearbeitetes Schmuckstück, was wäre so besonders daran, dass magische Wesen wie diese Hexen es haben wollen? Ob Fluch oder nicht, wir müssen heraus finden, was mit dem Teil nicht stimmt. Aber das weißt du ja.“

Ryon hielt den Mund. Dass er Paige auf seine kühle Art so anfuhr, verdiente sie nicht. Immerhin konnte sie nichts dafür. Aber das Thema brachte ihn einfach auf.

„Außerdem…“, begann er schließlich mit vollkommen tonloser Stimme, während er den Augenkontakt nur noch mehr vermied. „…wurde es mir geschenkt, um mich zu beschützen… Ich weiß allerdings nicht, ob uns diese Tatsache weiter helfen wird.“
 

Paige war tief in ihren Stuhl gerutscht, die Lehne im Rücken und ließ Ryon nicht aus den Augen. Seine Haltung zeigte Abwehr und vielleicht sogar Aggressivität. Was nicht allein mit der Erwähnung von Crilins Namen zusammen hängen konnte. Aber durchaus damit, was dieser Kerl Ryon unwissentlich an den Kopf geworfen und ihm zu knabbern gegeben hatte.

„Professor Abraham hat mir noch etwas Interessantes über die Ausgrabung erzählt. Es bestätigt meine Theorie mit den zwei Seiten. Ryon, es gibt nicht nur ein Amulett.“

Und wenn sie ihre Theorie weiterspann, dann hatten die zwei Seiten von Anfang an etwas Anderes bedeutet, als unterscheidbare Seiten auf einem Schmuckstück.

„Ist das Amulett denn lange im Besitz der Person gewesen, die es dir geschenkt hat? Ich meine, du sagtest doch selbst, dass die Unfälle erst nach einiger Zeit aufgetreten sind. Vielleicht waren es auch wirklich nur Unfälle.“

Sie war so weit gekommen. Ohne dass er sie angefallen hätte oder er verschwunden wäre. Vielleicht konnte sie doch offener darüber reden, als sie vermutet hatte.

„Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass dir die... Person, von der du das Amulett hast, etwas geschenkt hätte, was dich gefährden könnte. Vor allem nicht, wenn sie das genaue Gegenteil vorhatte.“

Wie hatte es Tennessey formuliert? So einen Fehler hätte sie nicht begangen.

„Meiner Meinung nach hat dich das Amulett die ganzen Jahre über beschützt. Aus welchem Grund auch immer die Unfälle bei den anderen Besitzern passiert sind... Ich glaube nicht, dass dein Amulett verflucht ist. Es ist nicht die böse Seite der beiden. Im Gegenteil. Ich denke, es ist zu sehr viel Nütze und könnte uns helfen, wenn wir nur wüssten, was es bewirken kann.“
 

Eigentlich wollte er nichts davon hören. Kein weiteres Wort mehr. Dass er das Amulett von Mal zu Mal immer mehr zu hassen begann, ließ sich nicht leugnen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass er gleich Feuer fing und daran garantiert nicht die Hitze schuld war. Genauso wenig wie Paige, aber die Erkenntnis alleine half leider auch nichts dagegen.

Mühsam versuchte er sich also auf die Einzelheiten zu konzentrieren, die Paige ihm gerade neu serviert hatte. Zwei Amulette also?

„Nein, sie hatte es nicht lange. Aber das mich dieses Ding beschützt haben soll, bezweifle ich!“

Das mit der Konzentration auf die wesentlichen Details war wohl deutlich schief gegangen. Er konnte nicht mehr richtig denken.

Sein Blick schoss hoch, als er weiter sprach, ohne dass er seinen Redeschall verhindern konnte. Selbst dass er langsam lauter wurde, ließ sich nicht mehr vermeiden.

Er war stinksauer. Nicht auf Paige, sondern auf das Leben selbst. Die Ungerechtigkeit, wo es doch so viele mysteriösen Dinge auf der Welt gab. Hätte sich da nicht auch zu ihm ein Wunder verirren können?

„Vor was hat es mich denn bewahrt? Davor dass ich Frau und Kind verloren habe? Davor dass ich mich selbst umbringen wollte? Dass ich mit allem gebrochen habe, was mir früher lieb und teuer gewesen ist? Wenn du mich fragst, ist dieses verdammte Ding vollkommen nutzlos!“

Er war aufgesprungen, dabei die Blicke ignorierend, die ihnen beiden galten. Er konnte ohnehin nicht mehr klar denken. Weshalb er Paige schließlich auch einfach stehen ließ und davon rauschte, ohne an die Konsequenzen zu denken. Im Augenblick war ihm alles egal. Ihr Leben. Die Suche nach einer Antwort. Das Amulett. Einfach alles.
 

Ihr eigener Stuhl ruckte laut über den Marmorfußboden, als Paige die Armlehnen griff, um bei Ryons starker Reaktion nicht aufzuspringen. Oder schlimmer noch ihre Panzerung sichtbar werden zu lassen, die sich unter ihrer Kleidung bereits an einigen Stellen hervor geschoben hatte.

„Aber genau dafür hat sie es dir...“

Ihre Antwort wurde im Keim erstickt und von Ryons plötzlichem Wutausbruch hinweg gefegt. Einen Moment später war er auf den Beinen und schrie sie an. Paiges Herz schlug ihr bis zum Hals und jedes noch so angestrengte Schlucken konnte es nicht an seinen normalen Platz zurück verweisen.

„Ich wollte nicht sagen, dass... Warte!“

Mit seinen ausholenden Schritten war er verdammt schnell aus dem Raum verschwunden und Paige musste rennen, um ihn einigermaßen einzuholen. Hier in der Lobby des Hotels herum zu schreien hätte nichts gebracht. Vor allem, weil er sich wohl entschieden hatte, sie zu ignorieren.

Als sie auf der Straße ankamen und Ryon immer noch schneller wurde, legte Paige einen verzweifelten Sprint hin. So aufgebracht sollte er vor allem in der Mittagshitze nicht herumrennen.

„Ryon, bleib stehen!“

Sie erwischte ihn am Arm, wusste aber nicht genau, was sie eigentlich tun wollte. Außer ihn davon abzuhalten sich schon wieder zu gefährden. Noch dazu, weil es allein ihre Schuld war.

„Ryon, bitte. Ich hätte das alles nicht sagen sollen. Es tut mir leid.“
 

Ohne zu wissen, wohin er eigentlich lief, ließ er sich dennoch nicht davon abhalten, einfach weiter zu gehen. Auch nicht, als er Paiges Stimme hinter sich hörte und plötzlich etwas an seinem Arm zog. Dass er sie allerdings einfach ein gutes Stück mit sich schleifte, bevor er stehen blieb, um sich ruckartig herum zu drehen, ließ sich nicht vermeiden.

Zwar erhob er weder die Hand gegen sie, noch versuchte er sich von ihr los zu reißen, dennoch zuckte sie merklich vor ihm zurück. Das konnte sie nicht verhindern. Genauso wenig wie er die Wut in sich zurück halten konnte. Sie brach förmlich aus ihm hervor.

Würde in diesem Augenblick nicht deutlich werden, dass irgendetwas mit seinem Tier nicht stimmte, er hätte eine Wandlung nicht mehr verhindern können. Der Schmerz zerriss seine ganzen Moleküle, zerriss sein Herz, seine Muskeln, seinen Verstand und doch blieb er ganz, so falsch es sich auch anfühlte. Er blieb ein Mensch und seine tierischen Eigenschaften verschwunden.

Dabei machte Paige es mit ihren Worten nur noch schlimmer. Weil er nun auch noch deutlich das Gefühl hatte, sie vor ihm selbst beschützen zu müssen. Vor dem was er war. Vor dem was er tun könnte.

„Paige!“, fuhr er sie schon wieder an, wenn auch deutlich leiser, aber ebenso schneidend, während er nach ihren Händen griff, die ihn zurück gehalten hatten. Sein Griff war nicht fest , aber dafür waren es seine Worte umso mehr.

„Merk dir eines. Was passiert ist, ist nicht deine Schuld. Was du sagst, kann mich niemals so verletzten, wie die Dinge, die bereits geschehen sind. Du kannst nichts dafür, dass ich mich nicht unter Kontrolle habe, weil du über Dinge sprichst, von denen du nicht wissen kannst, dass sie mich rasend machen! Hör auf, dir für etwas die Schuld zu geben, wofür du nichts kannst!“

Er zog sie an ihren Händen näher an sich heran und trat einen Schritt auf sie zu, so dass sie dicht bei ihm stehen und zu ihm aufsehen musste, während er mit einem Mal schwieg.

Da war noch so viel, dass aus ihm heraus wollte. Die Wut wollte sich irgendwie einen Weg ins Freie bahnen. Aber es war nur recht, dass sie ihn von Innen auffraß, wo er doch nur wütend auf sich selbst sein konnte.

Noch immer funkelten seine Augen Paige an. Die Frau, die ihm gestern noch das Leben gerettet hatte. Die Frau, die ihn in schweren Stunden nicht alleine gelassen und ihm beigestanden hatte. Doch was tat er nun? Er machte ihr Angst, schrie sie an, hielt sie fest und das, wo jeden Moment sein Tier zurückkehren und er endgültig durchdrehen könnte.

Bevor das allerdings passieren konnte, schaltete sich in ihm ein uralter Instinkt ein, der schon immer seine Rasse in einer solchen Situation gerettet hatte.

Ryon ließ Paiges Arme los, nur um im nächsten Moment seine um sie zu legen und sie an sich zu drücken, so dass sie selbst fast den Boden unter den Füßen verlor. Sein Gesicht vergrub er an ihrem Hals, in ihrem Haar, wo er tief und schwer ein und ausatmete.

Es war so falsch, sie für so etwas zu missbrauchen, aber in diesem Moment war ‚Erdung‘ die einzige Möglichkeit seinen Gefühlen noch Herr zu werden, ehe er noch unverzeihlichere Dinge tun konnte.
 

Paige war zusammen gezuckt, hatte in einer schützenden Geste ihr Gesicht von Ryon weggedreht und ihre Augen hatten sich in der Erwartung einer heftigen Reaktion zu Schlitzen verengt.

Doch außer, dass er ihre Hände von seinem Arm zupfte, als hätte sie nicht mehr als die Kraft eines kleinen Kindes, passierte nichts.

Hatte sie denn tatsächlich damit gerechnet, dass er sie schlug?

Ihr Herz hämmerte auf den Schreck hin so stark in ihrer Brust, dass sie das Gefühl hatte, die Erde würde sich auf einmal langsam aber sicher unter ihr wegdrehen.

Als Ryon ihren Namen zischte, war sie bereit ihre Hand aus seinem Griff zu winden und wegzulaufen. Oder ihn gehen zu lassen. Je nachdem, was die sicherste Möglichkeit war, diesem brenzligen Augenblick zu entkommen. Denn dass es allmählich brenzlig wurde, konnte sie an dem Jucken spüren, das sich über ihren gesamten Körper fortpflanzte.

In den nächsten Sekunden würde jeder, der dieser offensichtlich auffallenden Szene auf der belebten Straße zusah, bemerken, dass Paiges Haut sich veränderte. Dass ein dunkelroter Farbton sie überzog und ihr Schuppenkleid wie viele kleine Perlen im Sonnenlicht blinkte.

Und trotz allem brachte sie keinen Ton über die Lippen. Nicht einmal das Natürlichste, was jetzt angebracht gewesen wäre. Ryons Worte verwirrten sie so vollkommen, dass ein 'Lass mich los.' den Weg von ihrem Verstand in ihren Mut nicht finden konnte.

Zuerst verstand sie nicht, wovon er da überhaupt redete. Sie solle sich nicht die Schuld für etwas geben? Aber sie hatte doch gar nicht... Natürlich war sie weder für Marlenes Tod noch für Ryons Zustand deswegen verantwortlich. Aber das hieß ja nicht, dass sie nicht etwas rücksichtsvoller mit dem Thema umgehen konnte. Sonst würde er immer...

Als er sie ein Stück auf sich zu zog, stolperte Paige über etwas in der Größe eines Kieselsteins. Vielleicht war es auch ihre eigene Schuhspitze, aber es brachte sie auf jeden Fall aus dem Gleichgewicht.

Nach seiner völlig unerwarteten Reaktion wusste Paige nicht, mit was sie als nächstes rechnen sollte.

Seine Augen, in die sie starrte wie ein in die Enge getriebenes Tier, zeigten ihr wie zu erwarten war überhaupt nichts. Sie waren nicht dunkel, kaum mattes Schwarz breitete sich aus, aber Paige konnte Ryon in diesem Moment trotz der flammenden Gefühle, die sich in seinen Augen zeigten, nicht einschätzen. Sie war verdammt nochmal zu weit gegangen.

Der Schlag ihres Herzens, der auf Ryons Umarmung folgte, war so heftig, dass er ihr die Luft nahm. So groß war die Überraschung, dass die Panik mit der Erleichterung für einen Moment zusammen schwang.

Paige wollte gleichzeitig wegrennen und wagte nicht, sich zu bewegen. Ryons Gesicht war so nah an ihrem Nacken, sein Mund so nah an ihrem Hals, dass sie mit jedem seiner Atemzüge, die gegen ihre Haut schlugen, die Gefahr spüren konnte.

Und dennoch würde sie ihn nicht verletzen. Es war dumm. So an ihn gedrängt stand Paige einfach da, sah über seine Schulter hinweg hinauf in den blauen Himmel, bis die Luft vor ihr zu flimmern begann.

Sie hätte ihn zwingen können sie loszulassen. Ihre Hände waren zwischen ihren Körpern, die Handflächen vor ihre eigene Brust gedrückt. So leicht hätte sie seinen Körper durch seine Kleidung in Brand stecken können. Aber sie tat es nicht. Stattdessen hielt sie es aus. Sie ließ es zu, das er all seine aufgestauten Gefühle auf ihre Schultern lud, sodass sie das Gefühl hatte, sie müsse jeden Moment unter dem Gewicht in die Knie gehen. Zumindest dafür war sie gut.
 

Alles was er konnte war einatmen … ausatmen. Stets tief den vertrauten Duft ihres Körpers in sich aufzusaugen, der ihm schon einmal geholfen hatte.

Das Gefühl ihrer kühlen Haut auf seiner, die Weichheit ihres Haars auf seinem Gesicht. Wie sich ihr Körper unter seinen Händen anfühlte. Der rasende Herzschlag, der sowohl zu ihm als auch zu ihr zu gehören schien.

Wäre Paige nicht jemand, dem er inzwischen vertraute, die Erdung durch Berührungen hätten nicht geholfen. Es wäre nur schlimmer geworden. Aber da sie es war, die es einfach zu ließ, wie er sie für seine eigenen Bedürfnisse ausnutzte, beruhigten sich seine hoch schlagenden Gefühle allmählich. Die Wut verschwand. Zuerst langsam, danach aber sehr rasch, bis sein Verstand wieder richtig einsetzte.

Dennoch ließ er sie nicht los, obwohl sie wie ein menschlicher Blitzableiter das schlimmste Unwetter verhindert hatte.

Es fiel ihm nur noch schwerer, jetzt, da er sich der Tragweite seines Handelns bewusst wurde. Wie hatte er das nur tun können?

Völlig unvermittelt ließ er schließlich doch von ihr ab, trat sogar einen Schritt zurück, um wieder Abstand zwischen sie beide zu bringen. Dadurch wurde das plötzliche Gefühl der Leere an seinem Körper sehr deutlich, aber er ignorierte es einfach. Stattdessen starrte er zu Boden, nicht wissend, was er nun sagen sollte.

Er war ein absoluter Idiot. Mit jedem Wort das er sagte, mit jeder Handlung die er tat, schien er alles nur noch schlimmer zu machen. Was vor einiger Zeit als unkomplizierte Partnerschaft zwischen ihm und Paige begonnen hatte, verstrickte sich dank seiner Unfähigkeit zur Beherrschung und Eingeständnis seiner Schwächen zu einem immer größer werdendem Wirrwarr. Dass Paige nicht schon längst die Schnauze voll von ihm und seinen Launen hatte, war da wirklich ein Wunder. Er hatte den Bogen bereits weit überspannt.

„Ich kann nicht mehr…“, gestand er schließlich sich selbst so leise ein, dass sie es wohl kaum noch hören konnte. Immerhin herrschte um sie herum reges Treiben, das er selbst jetzt noch nicht richtig mitbekam.

„Dieses auf und ab, das hin und her meiner Gefühle… Ich halte das nicht länger aus. Entweder ich stelle es ganz ab oder ich werde noch wahnsinnig… Und dass ich auch noch damit beginne, dich da hinein zu ziehen… Das kann ich noch weniger zulassen.“

Langsam hob er den Kopf, zwang sich dazu in ihre Augen zu sehen.

„Wenn du es noch willst, begleite ich dich zu der Grabstätte, aber bis dahin…“ Musste er alleine sein. Über alles nachdenken. Immerhin hatte er Paige vorhin in seinem Ausbruch mehr offenbart, als er vorgehabt hatte. Es wäre also nur recht, wenn er ihr mehr darüber erzählte, nun, da er sie so schamlos ausgenutzt hatte. Sie verdiente eine ehrliche Antwort auf Fragen, die sie nicht aussprechen würde. Das war er ihr schuldig und sich selbst vielleicht auch.

„…bin ich in meinem Zimmer.“, beendete er den Satz.
 

Mit jedem Schlag wurde ihr Herz schwerer, zog sie mit jedem Wort, das Ryon ihr auf die Schultern legte noch mehr hinab. Er hatte ihr gesagt, dass es nicht ihre Schuld war. Aber andererseits, erklärte und handelte er hier gerade nach dem Gegenteil.

Als sie ihm in die Augen sah und darin lesen konnte, dass er mehr als die Wahrheit sagte, hatte sie das Gefühl zu ertrinken. Und mit einem Mal wusste Paige, warum es weh tat. Nicht, dass er sie erneut von sich schob, auch nicht, dass er allein sein wollte...

Um ihn daran zu hindern wieder wegzulaufen, legte sie ihm eine Hand flach auf die Brust. Was sie tun wollte, wog inzwischen so schwer, dass es sie mit all dem, was sie wusste, was Ryon ihr gesagt und auch nicht gesagt hatte, hinunter zog. Paige konnte Ryon nicht ansehen, als sie leise auf das antwortete, was er ihr gesagt hatte.

„Nein, das will ich nicht.“

Etwas in ihr spannte sich, drückte in ihrer Brust so fest zu, dass sie wieder kaum Luft bekam.

„Es ist nicht ganz so, wie du gesagt hast.“

Mit jedem Wort wurde der Druck höher, wollte sie davon abhalten weiter zu sprechen und wieder einmal in ihrem Leben alles kaputt zu machen.

„Ryon, ich weiß es. Tyler und Tennessey haben es mir erzählt. Ich weiß, warum du so bist, wie du bis zu unserer ersten Begegnung warst.“

Noch nie zuvor hatte Paige sich so wichtig genommen, dass sie einen Menschen verändern konnte. Auch jetzt kam sie sich lächerlich dabei vor, aber es stimmte nunmal.

„Du hast dich verändert. Man kann es an deinen Augen sehen. Und...“

Irgendetwas musste sie hinunter schlucken. Es schmeckte seltsam, aber davon ließ sich Paige nun auch nicht mehr aufhalten.

„Und ich sehe doch, dass es sehr wohl meine Schuld ist. Jedes Mal, wenn... wenn wir uns irgendwie … näher … zu nah … sind... Zuerst wirkst du eigentlich ganz glücklich.“

Entweder hatte ihr Herz aufgehört zu schlagen oder der Schmerz war bereits so groß, dass sie es einfach nicht mehr spürte. Genauso wenig wie die einzelne Träne, die ihr die Wange hinunter lief, während ihre Lippen leicht zitterten.

„Und dann geht es wieder verloren.“

Langsam, als wäre sie tonnenschwer, ließ Paige ihre Hand sinken.

„Ich weiß nicht, was das Beste für dich ist, aber ich glaube zu wissen, dass ich es nur noch schlimmer mache.“

Völlig ernst blickte sie nun doch zu ihm auf. In diesem Moment, als sie seine Augen sah, das grün und blau um die Pupillen schrie sie sich innerlich selbst dafür an, dass sie nicht besser auf sich acht gegeben hatte.

„Glaub mir, ich wollte das nicht. Und es wäre mir sehr viel lieber, wenn ich um unser beider Willen meine Gefühle so abstellen könnte wie du. Denn jedes Mal mit ansehen zu müssen, wie du dich quälst, weil ich dich mit irgendetwas an sie erinnert habe, weil ich etwas Falsches gesagt oder getan habe... Das halte ich nicht aus.“

Nun trat sie ihm aus dem Weg. Machte den Weg frei, damit er in sein Zimmer gehen und wieder seine eisige Maske aufsetzen konnte. Trotz allem konnte sie nicht behaupten sie hätte lieber nicht gesehen, was sich darunter verbarg. Es war schon längst zu spät, um sich selbst zu belügen.

„Tu was du tun musst. Aber dann erbitte ich mir auch wenig Zeit mich darauf einzustellen. Ich kann dir Morgen erzählen, was ich von Professor Abraham erfahren habe.“
 

Sie wusste es? Tyler und Tennessey hatten es ihr einfach gesagt? Das was er selbst kaum in Worte aussprechen konnte?

Ryons Herz pochte schmerzhaft gegen Paiges flache Hand auf seiner Brust, während er versuchte ihren Worten zu lauschen. Natürlich wusste er, dass seine Freunde es nur gut gemeint hatten, das änderte trotzdem nichts daran, dass er sich verraten fühlte.

Wut keimte erneut in ihm auf, erlosch dann aber schnell, als er in Paiges Augen blickte. Es war ohnehin egal geworden. Selbst wenn sie es noch nicht gewusst hätte, so hätte er diese Tatsache durch seinen Ausbruch vorhin selbst geändert.

Erst als sie ihre Hand von ihm nahm und er das Gefühl hatte, als würde die Stelle sofort vereisen, da ihre Haut sie nicht mehr wärmte, brachte er die Kraft auf, über ihre Worte nachzudenken.

Sie war sehr aufmerksam, das ließ sich nicht leugnen. Denn Paige hatte genau oder zumindest sehr nahe an der Wahrheit das wiedergegeben, was ihn schon die ganze Zeit über so beschäftigte.

Vielleicht war es daher kein Wunder, dass sie sich die Schuld für seine eigene Zerrissenheit gab. Von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, entspräche das vermutlich auch der Wahrheit, aber Ryon sah es nicht so. Er wollte es nicht so sehen. Paige war nicht daran schuld, dass er nicht mehr mit sich selbst klar kam. Sie hatte ihm mit ihren guten Absichten geholfen, ertrug seine Nähe trotz seines schwierigen Charakters und obwohl er stets unberechenbar blieb, war sie nie von seiner Seite gewichen. Ganz im Gegenteil. Selbst dann hatte er immer noch auf sie zählen können. Das war nicht fair.

Ihr gegenüber war das einfach nicht fair. Sie gab ihm so viel, ohne es wirklich zu wissen und er nahm einfach nur willkürlich. Stieß sie von sich, zerrte sie wieder zu sich, nur um sie erneut wieder von sich zu stoßen. Das war nicht nur grausam, sondern ganz und gar barbarisch!

Letztendlich war das der schwerste Grund, weshalb er seine Entscheidung fällte. Eine, so war er sich sicher, die alles vollkommen verändern würde. Nicht unbedingt zum Guten.

Als er zu sprechen begann, hob er die Hand, um ihr die Träne von der Wange zu wischen, doch in Anbetracht dessen, was er zu sagen hatte, ließ er seine Hand wieder sinken. Das alles musste ein Ende haben. Er wollte sie nicht noch mehr verletzen.

„In diesen Momenten, Paige … war ich so glücklich, wie es mir in meiner derzeitigen Lage möglich war. Allerdings auf deine Kosten und das will ich dir nicht mehr antun. Du verdienst mehr als ich dir als Freund oder als…“

Einen Moment lang kam er ins Stocken, weil er gar nicht so genau wusste, was genau er mit seinem angefangenen Satz noch alles hatte ausdrücken wollen. Als läge gerade etwas von seinem Unterbewusstsein auf seiner Zunge, anstatt sein Verstand. Ryon gab ihm allerdings nicht die Chance, es auszusprechen.

„Du verdienst Besseres. Dinge die ich dir niemals geben könnte. Darum werde ich dich in Zukunft von meinen Launen fern halten. Du bist ein wunderbarer Mensch, Paige. Ich will das nicht zerstören.“

Er wandte sich zum Gehen.

„Melde dich wegen der Ausgrabung bei mir, wann du bereit dazu bist. Bis dahin lass ich dich in Frieden … Pass auf dich auf, Paige.“

Ryon ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. So bleischwer seine Beine auch mit jedem Schritt wurden, er zerrte sich selbst weiter. Zwang sich für jeden einzelnen Schritt, der ihn von ihr weg brachte. Er tat das Richtige, da war er sich sicher. Auch wenn er den bereits angerichteten Schaden niemals würde gut machen können, so konnte er doch versuchen, nicht noch mehr Zerstörung zu verursachen.
 

Seine Augen waren golden, mit Blau- und Grüntönen gesprenkelt, die man nur erkennen konnte, wenn man tief genug hinein blickte. Seine glänzend schwarze Pupille passte sich den Lichtverhältnissen an, als er einmal in das Deckenlicht des Badezimmers sah, ehe er wieder sein eigenes Spiegelbild anblickte.

Man mochte meinen, seine Augenfarbe könnte etwas über sein Innerstes erzählen, doch tatsächlich war es nicht die Farbe, die seine Seele widerspiegelte, sondern der kalte, puppenähnliche Glanz darin. Glasaugen … wie die eines ausgestopften Tieres. Gänzlich ohne Leben darin.

Nachdem Ryon mit dem festen Entschluss, alledem endgültig einen Riegel vor zu schieben, in sein Zimmer gekommen war. Bedurfte es seltsamerweise nicht mehr sehr viel, um sich innerlich selbst auszuhöhlen.

Vielleicht war schon längst der Anfang dafür gemacht worden und er hatte dadurch sein Tier deshalb nicht mehr spüren können. Wann und wodurch auch immer es begonnen hatte, Ryon hatte diese Entwicklung schließlich beendet.

„Lenn … Layla … Paige…“

Seine Stimme war ruhig, täuschend warm, aber dahinter herrschte pures Nichts. Genauso wie das, was in ihm vor ging, während er die Namen der Personen aussprach, die bisher am meisten dazu in der Lage waren, ihn aufzuwühlen.

Ryon zwickte sich in den Unterarm, so dass er einen kleinen roten Bluterguss bekam. Sein Körper spürte interessanterweise dennoch Schmerz und er reagierte auch darauf, in dem er seinen Arm automatisch wegziehen wollte, aber es kümmerte ihn nicht.

Selbst als er mit seinen Fingern die Narbe um seinen Hals nach zeichnete und sich mit geschlossenen Augen daran zurück erinnerte, wie man sie ihm zugefügt hatte, waren die damaligen Gefühle doch nur noch ein schwacher Abglanz, der ihn jetzt in keinster Weise mehr rührte.

Das war interessant. Oder zumindest sollte es das sein. Ryon zuckte mit den Schultern, ehe er das Licht im Bad ausknipste und sich mit dem Tagebuch von Mr. Grant auf seine Couch setzte, um es noch einmal von vorne zu lesen. Hinweise waren alles, was in jetzt noch interessierte und eine Antwort darauf, wie er das Amulett und die damit verbundenen Menschen beschützen konnte.

Lange genug hatte er auf der faulen Haut gelegen. Es wurde Zeit auch einmal in die Gänge zu kommen. Immerhin konnte er nicht zulassen, dass Paige die ganze Arbeit auf sich nahm. Auch wenn er sie im Augenblick wieder in Stich ließ, was die Ausgrabungsstätte anging. Doch er respektierte ihren Wunsch und würde sich an ihre Abmachung halten. Er würde sie in Ruhe lassen.



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