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Hexentanz

von

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Seife

Die Hexe nahm sich ihre Zeit, um die neue Erscheinung aufzubrezeln, bis sie – beinah – so elegant wie ihre alte aussah. Sie hatte sich erst vor kurzem erneuert. Ein Loch in ihrer Brust hatte sie dazu gezwungen. In ihrer linken, wo ihr Herz saß. Ein Holzpflock war ihr hineingerammt worden, angenehm retro, wie sie fand, so im Nachhinein.

Florence warf die frisch gedrehten Korkenzieherlocken hinter die kraftlosen Schultern – sie würde eine Menge trainieren gehen müssen, um ihre alte Kondition zurückzuerlangen – und wandte sich zu Lena um. „Deine Treue wird dir Glück bringen.“, versprach sie. „Na, das hoff ich auch.“, erwiderte Lena Rossner ungerührt, gelangweilt ordnete sie die Schichten ihrer Gala-Uniform neu.

Lena Rossner war Schwester des Hüterordens, einer Allianz zur Erhaltung der Ursprungswesen, welche die Hexen waren. Sie war Florence erst Anfang des 20. Jahrhunderts zur Seite gestellt worden, als die Vorgängerin, eine charmante, schon ältere Frau – also, älter als 30, für eine Hüterin ist das alt – einem unvorsichtigen Automobilfahrer zum Opfer gefallen war. Solang eine Hüterin ihrer Hexe zur Seite stand, teilte diese ihre Alterslosigkeit mit ihr. Daher sterben Hüterinnen keines natürlichen Todes. Wenn beide Teile des Bündnisses gut aufeinander aufpassen, konnten sie – theoretisch – tatsächlich bis in alle Ewigkeit füreinander vorhanden bleiben. Doch im Gegensatz zu den Ursprungswesen blieben Ordensschwestern sterblich, irgendwann ereilte jede von ihnen ein gewaltsamer Tod.

Nun war es eben Lena, die auf Florenze achtgab. Die letzte Leibwächterin begleitete die Hexe nur noch als Reihe farbloser Fotos, die sie manchmal, in vermeintlich unbeobachteten Momenten, aus der Schatulle nahm und nebeneinander am Boden auflegte. Um sie für einige kurze Augenblicke wieder um sich zu haben. Sie hatte Florence seit 1556 begleitet und war durch die Jahrhunderte hinweg eine gute Freundin geworden. Vielleicht auch mehr. Hanna Brodovic.

Die Sonne neigte dazu, den Tag zu beenden, als Florence sich von ihrem Spiegelbild losriss und ihr Äußeres Äußeres sein ließ. Sie wandte sich zu Lena um, die bunten Stoffröcke flogen. „Na?“ „Sehr schön.“, kommentierte Lena gelangweilt: „Wollt Ihr heut noch ausgehn?“ „Selbstverständlich.“, Florence musste kichern: „Selbstverständlich gehen wir heut noch aus. Die Nacht ist jung, der neue Körper voller Energie. Tanzen.“ Übermütig breitete sie die langen, bleichen, dürren Arme aus. „Ich will tanzen.“ „Ist das klug?“, fragte Lena: „Nach dem, was passiert ist. Sie sind Euch auf den Fersen.“ Und meinte die Ritter damit.
 

Ein Ritter war es gewesen, der Florence erwischt hatte, eine Woche zuvor. Er war völlig unerwartet aufgetaucht, als Florence eben die goldenen Hallen ihrer Großkonzern-Zentrale verlassen wollte. Es war Nacht gewesen, ich war nur kurz zurückgelaufen, um die vergessene Handtasche aus dem Büro zu holen. Es hatte keine Vorzeichen dafür gegeben, dass ein Ritter hinter der alten Lady hergewesen wäre. Plötzlich war er dagestanden, ein schon faltiges Exemplar, mit Pflock und Hammer. Als ob er auf Vampire warten würde, aber so waren viele Ritter. Hoffnungslos altmodisch.

Die Behörden rückten an, nahmen den Leichnam, Florence in ihrer Existenz als Marita De Torres wurde als verstorben registriert, der Konzern dem Vize-Direktor zugesprochen. Ich hatte den als tot wahrgenommenen Körper aus der Gerichtsmedizin gestohlen, gleich nachdem er vermerkt worden war, noch bevor jemand auf die Idee kommen konnte, an ihm herumzuschnipseln. Ich hatte die vorübergehend neutralisierte Hexe in den Unterschlupf gebracht, den sich jede Hexe genau für solche Fälle hielt. Nach Tagen des Wachstums war der neue Körper fertig gewesen und Florence hatte sich erheben können. Unmengen an Nahrungsmitteln und Schlaf später hatte sie bereits Kleidung angelegt, sich ihre Haare gemacht. Nun war sie wieder die alte. Lebhafte, unternehmungslustige Frau mit der unbekümmerten Art eines kleinen Mädchens. Nur wenn sie aufhörte zu lächeln, erkannte ich das uralte Wesen in der neuen Hülle. Die Augen waren eisblau wie vorhin, doch sie wirkten dunkel vor Trauer. Ich wusste, dass es dem Wesen nicht gut ging. Ich wollte nicht fragen, ich rechnete fest damit, dass es sich von allein wieder legen würde. Es ging mich auch nichts an, hätte es mich was angegangen, hätte es mir die alte Frau schon längst erzählt.

Das feine Leinen der Gardeuniform schwieg selbst bei Bewegung vor sich hin, die rauhen Sohlen der Stiefel verursachten am alten Steinboden keinen Laut am abgelaufenen Steinboden, als ich mich umwandte, um der Herrin die zweiflügelige Tür zu öffnen. Ich war wie ein Geist, der Dinge bewegte, und liebte es, so zu sein. Die Dame rauschte an mir vorbei, voller Tatendrang und Vorfreude. Das versprach eine lange Nacht zu werden.

Sie war eine imposante Erscheinung gewesen, eine kräftige Frau von 1,80 mindestens, mit wild wuscheligen, dunklen Haaren, stechendem Blick, eine Person, der sich keiner ohne vorgehende, reifliche Überlegungen in den Weg stellte, neben ihr hatte ich nicht im Geringsten wie eine Leibwächterin gewirkt. Eher umgekehrt, wie der Schützling. Nun war sie ein ausgemergeltes, bleichblondes, ansonsten ebenso farbloses Geschöpf, eine zerbrechliche Erscheinung und ich neben ihr Rambo. Florence war nach wie vor größer als ich, keine allzu große Herausforderung, angesichts meiner 1,66, stolz aufgerichtet, 1,60 vielleicht, wenn ich meine gewohnte lasche Haltung einnahm. Doch an jenem Tag bemühte ich mich, den Rücken gerade, den Blick wachsam, die Erscheinung respekteinflößend zu halten. Das durfte so bald nicht wieder vorkommen. Der Angriff und besonders seine Unvorhersagbarkeit, ich wollte es nicht zeigen, doch er hatte mich zutiefst erschüttert. Ich war nun bereits seit gut 110 Jahren Hüterin, hatte den Eindruck gehabt, überlegt und vorsichtig zu sein, nie zuvor war mir so ein Schnitzer passiert. Es war erniedrigend gewesen. Und angsterregend. Ich drohte das Vertrauen in mich zu verlieren.

Florence liebte diese modernen Einrichtungen mit der viel zu lauten Musik und dem schlechten Licht. Bereits im ersten besuchten Etablissment wurde sie angesprochen. Wie gewünscht hielt ich mich bedeckt, etwas abseits, doch ich ließ die Frau keinen Moment lang aus den Augen. Der wagemutige Mann im noblen Anzug, die Krawatte lässig gelöst um den Hals wie ein Schal, gab ihr einen Drink aus und brachte sie wiederholt zum Lachen. Ich nahm Bier. In den ersten rund 70 Jahren meiner Leibwächterschaft war ich streng abstinent gewesen, doch das Leben konnte lang werden, wenn es keinen natürlichen Tod mehr gab, man verfiel dem Wahnsinn, wenn man sich nicht ab und zu änderte, neu erfand. So wie die Hexen den Körper wechselten, konnte man sich als Hüterin überdenken, frisch beginnen. Das hielt geistig gesund und rege.

Florence schenkte mir keinen einzigen versichernden Blick, wie gewohnt, wie schon vor ihrem Tod. Sie machte dem Mann schnell ihr Angebot, Geduld war in den ersten Monaten nach dem Wandel nicht angesagt. Da waren viele der edlen Damen wie Kinder und holten sich sofort, was sie wollten.

Nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Vorhabens verließ Florence den Club, ich folgte ihr still. Ich hielt mich gute fünf Schritt hinter ihr. Hin und wieder verdeckten andere feierwütigen Rumtreiber die Sicht auf die schmale Gestalt, doch niemals konnten all die Schritte und die lauten Stimmen ihre Geräusche überdecken. So blieb ich an ihr dran. Sogar ihren Atem konnte ich ausmachen, nicht, weil er so laut war. Ich war mit ihr verbunden, meine Sinne waren auf ihre Person fixiert. Ihr Gang, das Rascheln ihrer Kleider, es war mir so gegenwärtig, als ob ich neben ihr ginge. Ich hatte auch gehört, als ihr der Pflock ins Herz gestoßen worden war. Ich war dort gewesen, dabei und trotzdem viel zu weit entfernt, um noch eingreifen zu können.

Der Täter hatte nach Seife gerochen, daran erinnerte ich mich klar.
 

Florence widerstand der Versuchung, sich umzuwenden. Sie fühlte sich nicht unsicher, ein derartiges Gefühl lag ihr fern, es hatte sich bereits seit Jahrhunderten nicht mehr eingestellt. Aber umgedreht hätte sie sich trotzdem gern. Nur um zu sehen, wie diese Lena hinter ihr herschlich.

Florence war sich bewusst, dass Lena bei ihr war. Ihre Wahrnehmung war verbunden, auf dieselbe Weise wie der Altersprozess. Den man eigentlich nicht als Prozess bezeichnen konnte. Der Alterszustand. Die Alterslage. Lena war nun Teilnehmerin an Florences Leben, ein Teil von Florences Energie floss durch Lena.

Sie war eine ungewöhnlich junge Hüterin. Nach einer ungewöhnlich alten nun das exakte Gegenteil. Zarte 20 Jahre alt. Ihr Gesicht war das eines Kindes. Früher hatten auch ihre Bewegungen kindlich gewirkt. Inzwischen, nach über 100 Jahren im selben Körper, waren sie kontrolliert, sparsam, trostlos exakt, so lustlos waren Hannas nie geworden. Vielleicht musste man erst eine bestimmte geistige Reife erlangen, um von der Ewigkeit des Stillstands nicht so leicht verwischt werden zu können.

Aber Lena hatte auch ihre guten Seiten. Sie blieb beherrscht, egal, was ihr an den Kopf geworfen wurde oder wie hektisch es zuging. Lena schien über den Dingen zu stehen, sicher befand sie sich außerhalb, und ließ sich nicht ohne weiteres in die Probleme anderer involvieren. Sie konnte töten, ohne zu zögern. Dazu war Hanna nie, dazu wäre nicht einmal Florence selbst imstande gewesen.

Zu Hanna hatte Florence nicht lange die standesgemäße Distanz halten können. Lena machte ihr das mehr als leicht. Die junge Frau hatte den einnehmenden Charme eines Holzscheits. Vermutlich wollte Florence ihr gerade deshalb absichtlich näherkommen. Sie war in einem jungen und unbeherrschten Körper unterwegs, daher entschied sie schnell und blieb stehen.

„Lena!“, rief sie über die Schulter zurück: „Bist du bös auf mich? Komm nach vorn!“ Natürlich gehorchte Lena. Sie hatte bisher zwar noch keine neugeborene Hexe erlebt, aber davon gelesen. Es war nicht ungewöhnlich, dass diese uralten Geschöpfe kurz nach der Wandlung einige Zeit lang auffällig anhänglich waren.

Lena trat neben Florence, diese legte ihr einen schmalen Arm um die Schultern und meinte vertraulich: „Weißt du, ich hab mir schon einige Gedanken zu meiner neuen Identität gemacht. Und zwar schwebt mir Folgendes vor...“ Sie gestikulierte mit dem übergebliebenen Arm ausgreifend in der Luft vor ihnen, doch sagte nur: „...Ballerina.“ Lena erlaubte sich kurz einen zweifelnden Blick. „Ballett?“, versicherte sie sich. „Ich hab mir schon öfters gedacht, dass es wunderbar sein muss, die Bühne zu beflügeln, während der Rest der Anwesenden unten sitzen und die Klappe halten muss.“ Florence ließ eins ihrer reizenden größenwahnsinnigen Gelächter hervorbrechen. Lena räumte ein: „Ja, das hat was.“ „Hat alles.“, berichtigte Florence sie. „Selbst einen Haken.“, fügte Lena hinzu, und als Florence sie fragend ansah: „Naja, man sagt Rittern nach, dass sie eine Schwäche für alles theatralische haben. Viele unter ihnen könnten Ballettliebhaber sein.“ „Die würden mich nie erkennen.“, meinte Florence selbstsicher: „Ich bin gut darin, den Menschen zu mimen. Ich werd genauso wie all die anderen Frauen sein, keiner wird Verdacht schöpfen.“ „Wen spiel ich dabei?“, fragte Lena. „Meine kleine Schwester.“ „Die immer um dich ist? Verdächtig.“ „Gut, dann eben die persönliche Assistentin. Oder Agentin.“ „So berühmt bist du anfangs noch nicht.“ „Äh... Liebhaberin?“ „Ohne eigenes Leben?“ „Schad.“ Florence dachte weiter darüber nach. Jemand, der permanent bei einer Balletttänzerin war...
 

Seifengeruch.

Ich fuhr herum und zog bereits in der Bewegung meinen Dolch. Der alte Mann hinter Florence reagierte schnell. Er sprang zurück und hielt das Messer zwischen sich und meine Wenigkeit, ein Amulett in Richtung Florence. Wie konnte das sein?

Er hatte sie wiedergefunden. Ohne Probleme, ohne an seinem Ziel zu zweifeln, war er hinter Florence getreten, eine Frau, die er sicher niemals zuvor gesehen hatte. Es ging mir nicht ein, ich konnte einfach nicht erkennen, wie.

Ein Ritter. Zweifellos. Er trug sein Wappen stolz am Mantel. Eine großgewachsene, hagere Gestalt, deren faltiges Gesicht keine Regung zeigte, nicht einmal einen Moment lang Erschrecken darüber, entdeckt worden zu sein. Seine Stimme klang rauh, er sprach leise. „Nur noch 89-mal töten.“ Das klang verlässlich.

Obwohl es nur ein Gerücht war, dass jede Hexe genau 100 Leben hatte, konnte ich mich kaum dagegen wehren, dem alten Mann zu glauben. Eigentlich mehr um mich meiner selbst zu versichern, antwortete ich: „Nicht in dieser Nacht, Alter.“

Bisher hatte er seine Aufmerksamkeit voll auf die Hexe gerichtet. Kein Wunder, von ihr ging die Hauptbedrohung aus, sie war sein eigentliches Ziel. Nun wandte er sich ganz mir zu. Die grauen Augen gruben sich in meinen Geist. Man kann es kaum anders beschreiben, das Gefühl des sanften Drucks, durch die Augen mitten ins Hirn... Er sagte: „Hilf mir. Vernichte das Böse. Noch 89-mal.“Und beinah hätte ich auf ihn gehört. Ich erstaunte mich selbst.

Neben mir hörte ich Florence. „Unglaublich...“

Stur bleiben. Das konnte ich. Ich hatte eine Pflicht zu erfüllen, ich trat zwischen den Ritter und die Hexe. „Geh, alter Mann.“, und ich versuchte, in meine Stimme denselben überzeugenden Tonfall zu legen, wie ich ihn gehört hatte. Der Alte seufzte. „Nun gut, es war einen Versuch wert.“ Seine Hand schloss sich fester um den Messergriff. Er würde angreifen. Ich machte mich bereit.

Nein, er hatte nur angetäuscht, um meine Energie in die falsche Richtung zu lenken. Der Alte wirbelte herum und rannte los, beides aus nur einer Bewegung. Da ich eben meinen Stand gefestigt hatte, um den vermeidlichen Angriff abzuwehren, gewann er zwei Sätze Vorsprung. Als ich losrennen wollte, hielt Florence mich zurück. Mit einer bleichen, kühlen Hand, die mich beim Besten nicht zurückhalten hätte können. Doch Florence besaß nach wie vor die höhere Autorität. Ich blieb, obwohl es vernünftiger gewesen wäre, diesen Feind so schnell wie möglich auszuschalten.

„Nicht.“, meinte Florence, die Stimme gesenkt: „Das ist kein gewöhnlicher Ritter.“ „Er wirkte gewöhnlich.“, meinte ich, äußerlich beherrscht, doch in Wirklichkeit riss es in mir, diese Chance versäumt zu haben...

Florence legte jegliche Leichtigkeit von einem zum anderen Moment ab, sie richtete sich zu ganzer Größe auf, wurde zu dem uralten Wesen, das sie eigentlich war. „Wir müssen die anderen warnen. Bring mich zurück.“ Ich zwang mich dazu, die flüchtenden Schritte des Ritters zu überhören. Ich gehorchte der Hexe.



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