Loslassen
P i c t u r e s O f Y o u
Loslassen.
»Das Festhalten der Dinge, die einem am Herzen liegen mag ehrenhaft sein,
doch letztendlich ist es das Loslassen, welches wahre Stärke erfordert.«
Sakura Haruno.
Naruto Uzumaki.
Sasuke Uchiha.
Kakashi Hatake.
Team 7 war immer ein Fall für sich gewesen. Bunt zusammengewürfelt aus den unterschiedlichsten Charakteren, die miteinander nicht sonderlich viel gemeinsam hatten. Und tatsächlich, in der ersten Zeit ging es drunter und drüber, ein Chaos folgte auf das Nächste und jeder kämpfte lieber für sich, anstatt sich mal zusammenzureißen und zusammenzuarbeiten. Aber irgendwann war eine Zeit gekommen, in der keiner mehr als Einzelkämpfer hatte bestehen können. Und so wuchs Team 7 zu einen wirklichen Team heran. Irgendwie zumindest.
Und aus dem entstandenen, nur schwer trennbaren Geflecht wurde schon bald so etwas wie Freundschaft. Vielleicht Verständnis füreinander. Manchmal Liebe zueinander. Doch auch dieses hübsche Geflecht begann irgendwann zu verwelken, wie es jede lebende Pflanze tut, wenn man sich nicht ausreichend um sie kümmert. Es schien als würden große, spitze Dornen aus dem Gefecht wachsen und sobald man versuchte die Dornen abzurennen, schnitt man sich in den Finger und es blutete.
Als das Geflecht schon stark angegriffen war, fielen irgendwann schließlich die ersten Blätter ab und bald darauf folgten dann die wunderschönen Blüten. Berührten die Blätter und Blüten erst einmal den Boden, so riss ein mächtiger Fluss sie unwiederbringlich mit sich fort.
Und am Ende war das Geflecht nur noch ein Schatten seiner selbst.
Nicht tot aber auch nicht lebendig.
Existierend, aber nicht lebend.
Einzig und allein die blutenden Herzen der Teammitglieder blieben zurück.
~*~
Sakuras Leben hatte sich in den letzten Monaten ziemlich extrem verändert. Man könnte sagen, es hatte sich um 180° gedreht. Einfach alles war anders, verwirrender und unerträglicher. Seit Kriegsbeginn vor genau 7 Monaten, 22 Tagen und 18 Stunden, hatte sie keine einzige Nacht mehr komplett durchgeschlafen. Entweder wurde sie von einer undefinierbaren Panikattacke heimgesucht, oder aber sie brach völlig unvermittelt in Tränen aus. Linderung verschaffen konnte ihr eigentlich nur eine Sache, nämlich sich unterm Sternenhimmel die Bilder ihrer Freunde anzusehen.
Die Bilder bewahrte sie trotz des angestauten Hasses, der sich langsam in ihr aufbaute, trotz der hemmungslosen Wut noch immer auf. Sie hütete sie wie ihren Augapfel, nur noch besser. Keinem außer ihr war es gestattet sie anzufassen oder in die Hand zu nehmen, denn sie gehörten ihr. Nur ihr ganz allein. Es waren Erinnerungen an bessere und schönere Zeiten. Momentaufnahmen wundervoller oder witziger Augenblicke.
Naruto hatte sie seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Genauer gesagt, seit dem Tag, an dem er das halbe Dorf verwüstet hatte, um von Tsunade endlich an die Front geschickt zu werden. Er hatte randaliert und herumgeschrieen, er wolle helfen wo es nötig ist und nicht dumm im Dorf festsitzen und abwarten. Sakura dachte nicht gerne an diesen Tag zurück, denn sie hatte Naruto angefleht zu bleiben, genauso wie sie es einst bei Sasuke getan hatte. Und das, obwohl sie gewusst hatte, wie aussichtslos dieses Unterfangen doch gewesen war. Genauso unsinnig, naiv und zum Scheitern verurteilt wie damals.
Manchmal war sie so verdammt naiv.
Denn selbst wenn Tsunade ihn weiterhin zum Wachdienst im Dorf eingeteilt hätte, früher oder später wäre Naruto abgehauen. Niemand hätte ihn lange dazu zwingen können zu warten. Dabei zuzusehen wie Freunde und Bekannte sterben ...
Sakura wäre gerne mit Naruto gegangen, einfach um bei ihm zu sein, um mit ihm Seite an Seite zu kämpfen und um ihn zu beschützen. Denn ahnungslos und tatenlos im Dorf zu sitzen, während die eigenen Freunde da draußen ihr Leben riskierten, war furchtbar. Aber Sakura wurde in Konoha gebraucht, dass musste sie einfach einsehen. Und so war sie dort geblieben, hatte tatenlos dabei zusehen müssen, wie Naruto begleitet von Sensei Kakashi das Dorf in Richtung Front verlassen hatte.
Und ein kleiner Teil von Sakura war mit ihm gegangen.
Denn sie hatte geahnt dass es vielleicht ein Abschied für immer sein würde.
Tagsüber ließ Sakura sich nichts von ihrem inneren Schmerz anmerken, denn sie wollte nicht schwach sein. Sie konnte nicht schwach sein, durfte nicht schwach sein. Tsunade brauchte sie nun mehr denn je. Und Tsunade brauchte eine starke Sakura, eine, die im Notfall die medizinische Versorgung der Verletzten aufrecht erhalten konnte und dazu in der Lage war, das Kommando zu übernehmen, wenn es hart auf hart kommen würde. Konoha befand sich einer schwierigen Situation, denn durch die ständigen Kämpfe wurden die Lebensmittellieferungen knapper und auch an Medikamenten mangelte es. Es mangelte eigentlich so ziemlich an allem.
Jeder in Konoha musste damit rechnen, dass der nächste Tag einen Angriff auf das Dorf mit sich bringen könnte. Einst hatte Konoha Schutz geboten, man hatte sich hier sicher und geborgen gefühlt, doch dieser Zauber war schon lange verflogen. Die Sonne schien trügerisch warm über das Dorf und der rauschende Wind vermittelte einem ein falsches Gefühl von Sicherheit. Die Häuser sahen aus wie immer. Auf eine altmodische Weise gebaut, aber einladend. Irgendwie freundlich. Hier und da flitzte eine Katze herum, oder man hörte aus der ferne Hundegebell, doch etwas fehlte.
Die Menschen.
Auf den ersten Blick mochte Konoha aussehen wie immer, doch die Straßen waren schon lange wie leergefegt und einzig und allein ein paar Wachen schlenderten durch das Dorf, immer auf der Hut. Immer auf der Suche nach möglichen Eindringlingen. Viele Schaufenster waren mit Brettern zugenagelt worden, bei jedem zweiten Haus hatte man die Rollläden heruntergelassen oder die Vorhänge zugezogen, denn viele Bewohner hatten das Dorf schon vor Monaten verlassen.
Nichts war mehr so wie es einmal gewesen war.
Der tägliche Krankenhausbetrieb war wirklich nichts für schwache Nerven. Beinahe stündlich trafen Schwerverletzte ein und Sakura hatte in den letzten Wochen mehr Blut gesehen, als in ihrem ganzen Leben. Aber immerhin hatte sie das Gefühl etwas zu tun; helfen zu können. Und letztendlich war es allein dieser Gedanke, der sie überleben lies. Ohne dieses Wissen - nämlich gebraucht zu werden, zu etwas nützlich zu sein - wäre sie vermutlich längst untergegangen. Einfach so in der Menge verschwunden, ganz still und heimlich verblutet, ohne dass jemand es bemerkt hätte.
Im Prinzip war es jeden Tag das Gleiche. Ihr Tagesablauf hatte jedes Mal nur minimale Abweichungen. Sie stand morgens sehr früh auf, aß vielleicht einen Apfel und trank einen Schluck Wasser, nur um sich dann auf den Weg ins Krankenhaus zu machen, wo sie oftmals bis spät abends blieb. Danach ging sie nach Hause, aß eine warme Suppe und ging dann schlafen um am nächsten Morgen wieder topfit zu sein. Daran änderte sich eigentlich nie etwas. Manchmal wurde sie von Tsunade gezwungen eine Pause einzulegen, doch meistens widersetzte Sakura sich Tsunades Pausenanweisungen. Und so ging ihr Leben weiter, zog an ihr vorbei und raubte ihr jeden Tag ein bisschen mehr ihrer noch verbliebenen Hoffnung.
Sakura wusste auch nicht mehr genau wann sie bemerkt hatte, dass dieser trügerische Tag, an dem die Sonne so herrlich friedlich über Konoha stand anders sein würde als die Vorherigen. Es fing schon damit an, dass sie morgens eine halbe Stunde später aufstand als sonst, eine Tatsache, die zuvor noch nie vorgekommen war. Als sie dann ihren Blick wie eigentlich jeden morgen auf die Bilder ihres Teams warf, da bekam sie einen heftigen Schrecken, denn eines der Bilder, genauer gesagt jenes, welches ihr ganzes Team zeigte, musste in der Nacht wohl umgekippt sein.
Dies allein war schon kein gutes Ohmen, aber Sakura verdrängte den furchtbaren, in ihr aufkeimenden Verdacht so schnell wie möglich aus ihren Gedanken. Doch ganz gelang es ihr nicht. Der Verdacht blieb in ihrem Kopf, auch wenn sie sich selbst etwas anderes einredete. Aber das tat sie in letzter Zeit ja sowieso öfters. Es war fast schon zwanghaft für sie geworden, sich selbst zu belügen.
›Naruto wird schon wiederkommen. Er ist stark genug um es zu schaffen. Er kommt zurück, ganz sicher. Und vielleicht bringt er ja Sasuke gleich mit. Dann hätte all das hier wenigstes einen Sinn.‹
Beinahe verzweifelt klammerte Sakura sich an solche Hoffnungsschimmer. Verzweifelt stürzte sie sich in Arbeit nur um nicht an Naruto oder an Sasuke denken zu müssen. Doch irgendwie schafften es die beiden immer und immer wieder sich in ihren Kopf zu schleichen. Und es tat ein ums andere mal unendlich weh nicht zu wissen was sie gerade taten, wo sie waren und wie es ihnen ging.
Wie jeden Tag traf sie sich zuerst mit einigen anderen Mitarbeitern des Krankenhauses, um eine obligatorische Besprechung abzuhalten, in der eigentlich nie sonderlich viel geredet wurde. Jeder wusste was er zu tun hatte, jeder kannte seine Aufgaben. Wenn man ehrlich war, dann war dieses allmorgendliche Treffen nichts weiter als ein Versuch die Hoffnung der Menschen aufrecht zu erhalten, denn es tat unheimlich gut sich einfach mal hinzusetzen und zuzuhören wie jemand anderes einem erklärte was zu tun sei, auch wenn man es ohnehin wusste. Es tat gut, dieses Gefühl, als ob jemand anderes für einen Augenblick die Verantwortung hätte. Es war befreiend und beruhigend zugleich.
Und so war es auch nicht verwunderlich, dass Sakura sich nach dieser Besprechung an ihre Arbeit machte. Zuerst wechselte sie einem verwunderten Ninja die Verbände, danach nahm sie hier und da Blut ab und überreichte sie einer Krankenschwester, welche die Blutproben ins Labor bringen sollte. Zwischenzeitlich unterhielt sie sich mit einem anderen Heiler über eine heute Nachmittag anstehende Operation, doch sie hatte kaum richtig angefangen zu arbeiten, als ein Bote ihr mitteilte, dass Tsunade sie gerne sehen würde – und zwar unverzüglich.
Von diesem Moment an hatte Sakura einfach gewusst dass etwas nicht stimmte, dass etwas ganz fürchterlich falsch lief. Und ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht. Als sie das Büro der Hokage betrat, vermochte sie zu allererst ihren Augen nicht zu trauen. Denn da stand Kakashi Hatake. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Seine Kleidung war zerrissen und an einigen Stellen verbrannt, über sein Gesicht zogen sich einige Kratzer und an seiner Stirn klaffte eine Platzwunde. Doch Sakura übersah dies alles gekonnt, denn ihr Herz machte einen freudigen Hüpfer, der all ihren Kummer und ihre Sorgen für einen Augenblick lang fortwischte.
»Kakshi-sensei«, rief sie fröhlich und mit einem warmen Lächeln im Gesicht. Dieses Lächeln fiel ihr sichtlich schwer, kein Wunder, wenn man bedachte, wie selten Sakura in den letzten Monaten gelächelt hatte. Aber nun würde alles besser werden, da war sie sich sicher. Jetzt wo ein Teil ihres Teams wieder zurück war, da musste es einfach besser werden. »Wie schön, dass Sie wieder da sind! Dann ist Naruto also auch hier, ja?«
Doch Sakuras Lächeln erstarb genauso schnell wie es sich auf ihr Gesicht gestohlen hatte. Es wich stattdessen einem ungläubigen, schockierten Gesichtsausdruck, als sie Tsunades Worte hörte. Und sie schienen von sehr weit weg zu kommen. »Sakura, wir müssen dir bedauerlicherweise etwas mitteilen.«
Tsunades Worte würden sich wohl auf ewig in Sakuras Gedächtnis einbrennen. Niemals würde sie den bekümmerten Tonfall der Hokage vergessen. Ihre Stimme, die bei diesen Worten selbst ein wenig zitterte und Kakashis Blick, denn man kaum beschreiben konnte, denn dafür gibt es schlicht und ergreifend keine Worte. Aber er war vor allem eines. Bereuend.
Doch die Umstände die zu Narutos Tod geführt hatten, waren weitaus schlimmer als Sakura sich jemals hätte zu Träumen gewagt. Und sie hatte in Folge dessen nicht nur ein Teammitglied verloren, sondern zwei.
Naruto Uzumaki und Sasuke Uchiha.
»Ich konnte nichts tun. Die beiden in ihrem Kampf unterbrechen kam nicht in Frage. Nicht weil ich es nicht wollte, sondern weil ich es nicht konnte. Da waren überall feindliche Ninja. Ich konnte nichts unternehmen. Hätte ich meine Aufmerksamkeit auf Sasuke und Naruto gewandt, so hätte ich unser aller Leben verspielt. Nicht nur meines und das dieser beiden, sondern auch jenes, der anderen Menschen, der Zivilisten die dort waren, denn der Kampf fand in der Nähe eines Dorfes statt. Und mit dieser Schuld muss ich lernen zu leben. Weder Worte noch Gesten können ausdrücken wie sehr es mir leid tut Sakura.«
Sie gab Kakashi keine Schuld. Schulzuweisungen führten zu nichts, sie machten weder Naruto, noch Sasuke wieder lebendig. Sakura musste nicht lernen zu verzeihen, denn es gab nichts zu verzeihen. Keiner war Schuld außer die beiden selbst vielleicht. Doch Sakura veränderte sich. Sie hatte das Gefühl zu fallen, tiefer und tiefer und nirgendwo war Boden zu sehen. Da war nichts was sie hätte auffangen können. Niemand, der sie hätte festhalten können. Sie war so alleine wie nie zuvor. Denn all ihre Hoffnungen und Träume waren innerhalb einiger weniger Sekunden, aufgrund von wenigen Wörtern und einem viel sagenden Blick zerplatzt wie Seifenblasen. Sakura blieb zu Hause, ging nicht mehr nach draußen, denn darin sah sie keinen Sinn mehr.
Wozu aufstehen, wenn man auch genauso gut im Bett bleiben konnte?
Wozu kämpfen, wenn es nichts gab, wofür es sich zu kämpfen lohnte?
Wozu leben, wenn es doch kein Leben mehr war?
Irgendwann verlor sie dann den Appetit. Sakura aß nur noch um nicht zu sterben. Wobei sie sich mehr als einmal wünschte ebenfalls auf dem Schlachtfeld gestorben zu sein. Kakashi war noch da, ja, er besuchte sie auch wann immer er konnte und er versuchte ihr klar zu machen, dass sie sich nicht selbst aufgeben durfte. Doch in Sakuras Ohren klang das alles unwirklich und unmöglich. Wie sollte sie weitermachen ohne die Menschen die ihr immer wieder Mut und Kraft gegeben hatten?
Und alles was ihr jetzt noch Kraft gab, waren die Bilder auf ihrem Nachtisch. Zumindest redete Sakuras Herz ihr das ein. Andererseits fragte jedoch ihr Verstand, ob Dinge die einen zum Zusammenbrechen und zum Weinen brachten, wirklich kraftspendend waren.
Es war so demütigend. Sie verachtete sich selbst für ihre Hilflosigkeit und ihre Schwäche. Alle anderen kamen doch auch irgendwie damit klar, machten weiter, lebten weiter, wieso gelang es dann ihr nicht? Es gab so viele Fragen die in Sakuras Kopf umherschwirrten, und auf die es einfach keine Antwort gab. Draußen wurde sie gebraucht und dennoch verkroch sie sich in ihrem Zimmer, wollte niemanden sehen und versank in Selbstmitleid. War das falsch von ihr, oder machte sie gerade diese Reaktion menschlich?
Die Zeit verging und Sakura wusste nicht wie lange sie schon das Haus nicht mehr verlassen hatte. Vielleicht waren es Tage gewesen, vielleicht auch Wochen. Doch eines Tages stand dann Ino plötzlich in ihrem Zimmer und es schien nicht so, als wolle sie nur einen kurzen Mitleidsbesuch abstatten. Es hatte eher den Anschein als sei sie gekommen um Sakura wieder ins Leben zurückzuholen.
»Zweieinhalb Monate Sakura«, war ihre Begrüßung. Kein freundliches ›Hallo‹ oder ein ›Wie geht es dir.‹ »Als ich von dieser Tragödie gehört habe dachte ich zuerst, du würdest dich eine Zeit lang zurückziehen, was in Anbetracht der Situation vollkommen verständlich gewesen wäre. Wir alle hielten es für eine nachvollziehbare, vorübergehende Phase, aber jetzt wird es langsam Zeit für ein ernstes Gespräch.« Sakura saß einfach nur stumm auf ihrem Bett und machte auch keinerlei Anstalten etwas zu erwidern. Inos Blick fiel auf die Bilder neben Sakuras Bett. Es sah aus wie ein kleiner Altar. Neben den Bildern standen Kerzen und insgesamt war dies der einzig aufgeräumte Platz im Zimmer der Rosahaarigen.
»Ich glaube nicht das es dir wirklich hilft diese Bilder da stehen zu haben«, merkte die Blondine leise an, und wollte eines in die Hand nehmen, doch das ging bereits zu weit.
»Fass sie nicht an!«, zischte Sakura und Ino hielt in ihrer Bewegung inne. »Das verstehst du nicht. Es sind Erinnerungen und sie gehören mir!«, fügte Sakura hinzu.
Sie hatte ihre Fäuste geballt, doch Ino wandte sich ihr zu, sah ihr direkt in die Augen und sagte: »Tu nicht so, als hätte ich keine Ahnung von was ich rede.« Ihre Stimme war mit einem Mal sehr ernst. »Auch ich habe schon Teammitglieder verloren, ich weiß wie das ist. Es sind so viele Menschen die wir beide kannten gestorben. Aber würden sie deshalb wollen dass wir in unserem Selbstmitleid versinken? Ich weiß es ist schwierig das zu akzeptieren, aber sie sind und bleiben fort. Und wir, wir müssen lernen dass das Leben weitergeht, auch ohne sie.«
»Sie sind gestorben und für mich ist eine Welt zusammengebrochen! Aber die Erde hat sich weitergedreht als wäre nichts gewesen! Alle haben weitergemacht als wäre nicht geschehen«, erwiderte Sakura und sie spürte deutlich wie ihre Augen anfingen zu brennen. Es war das erste Mal dass sie die Dinge so beim Namen nannte. Ino machte sich die Dinge so einfach, dabei waren sie viel komplizierter und bedeutend schmerzhafter.
»Die Welt wird niemals anhalten, ganz gleich dessen was passiert«, antwortete Ino sachlich. »Und was die Anderen angeht, sie haben erkannt das sie jetzt erst Recht nicht aufgeben dürfen.«
»Aber damit ich nicht endgültig aufgebe brauche ich diese Bilder, diese Erinnerungen, geht das nicht in deinen Kopf hinein?«, rief Sakura und mit jedem Wort wurde ihre Stimme ein wenig lauter, hysterischer.
»Du brauchst diese Fotos nicht um dich zu erinnern. Alles was du braucht befindet sich hier«, warf Ino dazwischen, ließ sich neben Sakura auf das Bett sinken und legte eine Hand auf Sakuras Herz. »Da ist alles gut versteckt verwahrt. Und niemand kann es dir von dort wegnehmen. Diese Fotos hier binden dich an die Vergangenheit. Auf diese Weise wirst du nie mit der Vergangenheit abschließen können.«
»Vielleicht will ich ja auch gar nicht damit abschließen!«, schrie Sakura und sprang auf. Ino sollte die Klappe halten, sie sollte gehen und sie in Ruhe lassen. »Ich will Naruto und Sasuke nicht verdrängen, ich will sie nicht vergessen! Ich will und muss ihr Andenken bewahren!« Es war ihr gleich ob sie Ino aus gutem Grund anschrie oder nicht, sie sollte einfach verschwinden und sich um ihre Angelegenheiten, ihr Leben kümmern, anstatt jetzt auch noch das Anderer retten zu wollen.
»Zuerst einmal musst du gar nichts«, stellte Ino trocken klar. Sie blieb ganz ruhig auf dem Bett sitzen und es schien sie nicht im Geringsten zu interessieren, dass Sakura sie gerade außer sich vor Wut angeschrieen hatte. »Und zweitens sagte ich abschließen, nicht vergessen. Loslassen, nicht verdrängen. Hörst du Sakura, das ist ein Unterschied. Ich weiß nicht, was zwischen euch war – ob Freundschaft oder Liebe - und ich beziehe mich nicht nur auf Sasuke, aber du musst doch selbst erkennen, dass es keinen Sinn hat Dingen nachzutrauern, die nie gewesen sind«, fuhr sie unbarmherzig fort, und sie wusste das ihre Worte Sakura verletzten, aber irgendjemand musste ja mal aussprechen was ohnehin alle dachten. »Du nimmst doch gar nicht mehr wahr was um dich herum passiert«
»Vielleicht auch, weil es da nichts mehr wahrzunehmen gibt?«, fragte Sakura ungehalten, aber immerhin nicht mehr schreiend. Und doch sah man ihr die Wut, die Verzweiflung, das Entsetzen an. Und in ihrer Stimme schwang eine Art böser Sarkasmus mit.
»Ach ja?«, erwiderte Ino und zum ersten Mal innerhalb dieses Gesprächs hatte auch sie ihre Stimme erhoben. Sie hatte das Gefühl mit einem Kleinkind zu reden. »Und was ist mit deinen Freunden die noch am leben sind? Sind die es nicht wert von dir wahrgenommen zu werden?« Eine berechtigte Frage, für jeden Außenstehenden, doch für Sakura hatte sie keinerlei Bedeutung. Wochenlang hatte sie sich systematisch abgeschottet, still vor sich dahin gelitten und nun wollte man ihr plötzlich erklären wie dumm ihr Verhalten doch sei.
Und dann überschritt Ino endgültig eine unsichtbare Linie. »Lass die Toten tot sein und richte deine Augen stattdessen auf die Lebenden. Denn auch du bist noch lebendig. Auch wenn du dich momentan eher wie eine Tote verhältst.« Ihr Tonfall abwertend, ihr Blick eiskalt, ihre Worte so scharf wie ein Skalpell.
»Was soll das heißen? Ich verhalte mich wie eine Tote?«, schrie Sakura und jetzt konnte sie auch ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Unaufhaltsam bahnten sie sich ihren Weg über ihr Gesicht und tropften schließlich zu Boden. Und was tat Ino? Sie starrte die Rosahaarige einfach nur an. Dann schloss sie für einen kurzen Augenblick lang die Augen und sagte mit fester Stimme: »Ich meine damit deine passive Art. Ich verstehe deine Trauer. Jeder Mensch trauert auf seine Weise und daran gibt es auch nichts auszusetzen, aber wenn du darüber hinaus vergisst zu leben, dann ist das nicht okay.«
Ino zögerte kurz ehe sie fortfuhr. »Keine Ahnung ob du es mitbekommen hast, aber mittlerweile werden bereits Friedensgespräche geführt. Dieser Krieg steht vor dem Aus. Hörst du Sakura? Dieser Krieg wird bald nicht mehr sein. Findest du das etwa nicht wahrnehmenswert?«
Es schlug ein wie eine Bombe, nur härter. Sakura hörte auf zu weinen, denn es fühlte sich so an als hätte Ino ihr eine schallende Ohrfeige gegeben. Als hätte sie ihr vielleicht sogar mit einem Baseballschläger eins übergezogen. Doch gleichzeitig schien es auch, als würde eine unglaublich große Last von ihr fallen. Als würde ein wenig Licht die Dunkelheit in ihr durchbrechen. Kriegsende. Frieden. Wiederaufbau. Es waren solche verheißungsvollen Wörter, die jetzt in ihrem Kopf umherspukten. Wörter, die Hoffnung ausdrückten. Hoffnung, von der sie geglaubt hatte keine mehr zu besitzen.
Und im nächsten Augenblick lag sie in Inos Armen und weinte. Aus Trauer und aus Schmerz, aber auch aus Hoffnung und Freude. Ihr Schneckenhaus, welches seit Beginn dieser Unterhaltung immer weiter gebröckelt war, und Risse erhalten hatte, zerfiel zu Staub. Vielleicht hatte Ino recht. Naruto hätte sicherlich nicht gewollt das Sakura für den Rest ihre Lebens in Trauer versank. Nicht er. Nicht der fröhliche Chaot, der Chaosninja Nummer eins. Und was war mit Sasuke? Er war nicht mehr der Sasuke gewesen, in den sie als junges Mädchen verliebt gewesen war. Nein, ganz gewiss nicht, aber auch er gehört zu Team 7, und wenn Sakura dazu in der Lage war Kakashi zu verzeihen, wo es eigentlich nichts zu verzeihen gab, dann musste sie doch auch dazu in der Lage sein, sich selbst zu verzeihen, denn auch sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Es war verwirrend und es war zu viel auf einmal.
»Jetzt wird alles anders«, flüstere Ino und es war kein Versprechen, sondern eine Feststellung.
~
Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang stach Ino in jedes der Bilder von Sakuras Nachtschränkchen ein kleines Loch, fädelte Fäden hindurch und band diese dann an bunte Luftballons. Sie erstrahlten in allen möglichen Farben. Grün, rot, pink, gelb, blau. Sakura wären weiße Ballons lieber gewesen, aber Ino hatte auf bunte bestanden, um damit endlich das Grau in Sakuras Welt zu durchbrechen, es endgültig zu verbannen. Die Zeiten des Krieges, des Verlustes und des Schmerzes waren bald vorbei, vielleicht für immer. Ein neues Zeitalter stand in den Startlöchern und dies sollte entsprechend gewürdigt werden.
Die Menschen von Konoha, und auch die Menschen von weiter weg, sollten an diesem Morgen eine Überraschung erleben. Ihnen sollte ein Zeichen des Friedens wieder neue Hoffnung geben. Denen, deren Hoffnung schon zerstört war, sollte ein klares Zeichen gesetzt werden. Denn während die Sonne am Horizont auftauchte, ließen Sakura und Ino die Ballons in den Himmel steigen.
»Aufgeben ist keine Option«, flüsterte Sakura, während sie dem roten Ballon nachstarrte, der wie sie wusste, das gemeinsame Bild von Team 7 in den Himmel trug. Viele andere Shinobi, unter anderem Sensei Kakashi, Tsunade, Hinata, Shikamaru, Kiba, Lee und unzählige andere waren Inos Ruf gefolgt und standen jetzt hinter Sakura. Erst jetzt wurde ihr bewusst wie sehr auch andere unter dem Verlust von Naruto und Sasuke und all den anderen Verstorbenen, Vermissten und Verlorenen zu leiden hatten. Aber dass sie dennoch hergekommen waren erfüllte sie mit Stolz und erneut traten ihr Tränen in die Augen.
Tränen der Rührung.
Für Ino und viele Andere war es nur ein symbolischer Akt des Loslassens, während es für Sakura jedoch ein Neunanfang war. Der Beginn eines anderen, vielleicht besseren Lebens. Einem Leben ohne das Ninjadasein, dass sie so lange unglücklich gemacht hatte. Ein Leben, in dem ihre Aufgabe als Ärztin ihren Lebesinn ausmachen würde, einem Leben, indem sie glücklich werden würde.
Vielleicht nicht heute, vielleicht auch nicht morgen, aber irgendwann gewiss.
»Manchmal muss man etwas loslassen, um neu anzufangen.«