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Abnorm

von

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Mein Herz drohte zu schlagen aufzuhören. Das konnte doch nicht wahr sein. Wie konnte das alles nur geschehen sein? Ich war doch immer ganz normal gewesen. Nie war irgendwas Außergewöhnliches in meinem Leben geschehen und nun das?! Ich hatte nie ein Problem damit, dass mein Leben anderen als langweilig erschienen war. Ich gehörte nicht zu den Menschen, die immer Party machen müssen und Dinge erleben müssen.
 

So schnell ich konnte, rannte ich nach Haus und schloss mich in meinem Zimmer ein. Ich musste nachdenken! Was war nur geschehen? Okay, auf Anfang:
 

Wie jeden Tag war ich nach der Schule in die Bücherei gegangen, um meine Hausaufgaben zu machen. Zu Haus habe ich einfach keine Ruhe hierfür. Ich lebe nämlich in einer Pflegefamilie, deren Oberhäupter es sich zur Aufgabe gemacht haben, so vielen Kids wie möglich zu helfen. In Zeiten wie diesen ist es auch wirklich wichtig, dass es solche Menschen gibt. Schließlich hatten sehr viele Kinder in dem Krieg 5 Jahre zuvor ihre Eltern verloren. Zu diesen Kindern hatte ich nicht gehört. Ich durfte nie das Glück einer Familie für mich beanspruchen.
 

Der Krieg war ein heikles Thema, niemand sprach über ihn, waren die Häuser und Straßen doch unversehrt geblieben. Man kämpfte nicht mehr mit Bomben und Maschinengewehren. Giftgase waren zum Einsatz gekommen und immer, wenn man das Haus verlassen hatte, war man in der Gefahr, einfach tot umzufallen. Wir Kinder im Heim hatten nie raus gedurft und so waren wir nur in Gefahr, wenn eines der schwierigen Kinder einen Anfall bekam, weil es unbedingt raus wollte. Ich gehörte nie zu diesen Kindern. Ich hatte eine Möglichkeit, frische Luft zu bekommen. Immer, wenn gerade so ein Angriff vorbei war, die Gefahr erstmal gebannt und die Toten von den Straßen weggesammelt wurden, schlich ich mich auf den Dachboden und hockte mich vor ein kleines Loch in der Holzwand, um an der frischen Luft zu lesen.
 

Der Krieg war inzwischen aber schon seit 3 Jahren vorbei und die Menschen begannen wieder, sich normal zu benehmen. Meine Pflegeeltern haben in dem Krieg, bei dem ersten Angriff dieser abscheulichen Art, ihre zwei Kinder verloren, die im Garten gespielt hatten. Und nun fühlten sie sich einsam in diesem großen Haus und wollten Kindern mit dem gleichen Schicksal helfen. So holten sie nach und nach 5 Kinder in Haus, die so unterschiedlich sind, wie es nur möglich war. Als erstes holten sie den damals vierjährigen Max, er ist hyperaktiv und hatte keine Ahnung gehabt, was aus seinen Eltern geworden war. Danach holten sie die zehnjährige Ina, die eine kleine Unterdrückerin der ersten Güte war. Sie hatte sehr oft Ärger in der Schule und unsere Pflegeeltern weinten manchmal wegen ihr. Ich fand das furchtbar, denn das hatten die beiden wirklich nicht verdient. Trotzdem schickten sie Ina nicht zurück ins Heim, sie suchten stattdessen immer wieder Ausreden für ihr Verhalten und meistens schoben sie es auf den Verlust Inas. Schließlich sei ihre Mutter gestorben und ihren Vater hatte sie nicht einmal kennen gelernt. Einmal hatte Ina mir gesagt, dass ihr der Tod ihrer Mutter ganz egal sei. Diese habe sich auch sonst nie um sie gekümmert, sei immer nur am „rumhuren“ gewesen. Als nächstes hatten sie mich geholt. Mit meinen damals 14 Jahren war ich die Älteste im Haus, auch wenn Jonas, der Junge, den sie kurz nach mir ins Haus holten, gern so tat, als sei er das gewesen. Er war 13 und dachte, er müsse uns alle beschützen. Ich glaube ihm ging es damit besser, denn er machte sich viele Vorwürfe. Jonas’ Eltern waren schon lange tot, so wie meine, aber er hatte bei seinen Großeltern gelebt, zusammen mit seinen beiden jüngeren Geschwistern. Sie waren nicht viel jünger als er und doch hat er seiner Meinung nach nicht gut genug aufgepasst. Sie waren während des ersten Anschlages bei einem Gartenfest ihrer Großeltern umgekommen, während er in seinem Zimmer hockte und schmollte, nachdem er sich mit der ganzen Truppe gezofft hatte. Seine letzten Worte waren „Leckt mich!“ gewesen, damit muss man erstmal leben. Zum Schluss war noch Charlotte zu uns gestoßen. Sie war 8 und manchmal sehr unberechenbar. Mal war sie sehr fröhlich und lacht und mal weinte sie einfach nur den ganzen Tag. Manchmal war sie total aggressiv und dann wieder absolut anhänglich. Es war nicht einfach mit ihr, vor allem, weil sie nie ein Wort sagte über das, was ihr widerfahren war.
 

Jedenfalls war es jeden Tag furchtbar laut in diesem Haus und so floh ich immer in die Bücherei, um dort meine Hausaufgaben zu machen, zu lernen und auch, um die anderen Menschen zu beobachten. Hier machte mich wenigstens niemand dafür an, ich konnte sein, wer ich sein wollte. In der Schule war ich immer als Freak verschrien und auch als Streberin, aber mir war das egal! Ich wollte, dass ich etwas erreichen konnte. Ich wollte studieren und die Welt verändern. Ich hatte nichts davon, mein Leben zu betrauern, schon gar nicht jetzt, wo ich dank meiner Pflegeeltern eine Eliteprivatschule besuchen durfte.
 

Aber an jenem Tag war alles anders gewesen und das hatte ich schon beim Aufstehen gespürt. Alles hatte so merkwürdig bleiern gewirkt, so als sei der ganze Tag umhüllt von einer Metallschicht, die alles ein wenig schwieriger macht. Schon in der Schule waren alle so träge, dass es kaum erträglich war für mich und so meldete ich mich den ganzen Tag und sorgte dafür, dass der Unterricht wenigstens ein wenig voranging. Als der Kaugummischultag dann endlich überstanden war, ging ich wie immer in die Bibliothek und setzte mich an meinen Platz. Nachdem ich die Hausaufgaben erledigt und auch ein wenig gelernt hatte, setzte ich mich mit einer Zeitschrift an den Tisch, blätterte lustlos darin herum und beobachtete meine Mitschüler.
 

„Sie ist der totale Freak. Hast du nicht mitbekommen, wie sie heute alle Antworten innerhalb von drei Sekunden wusste. Das ist so eklig und wie sie uns angeguckt hat, als seien wir die Freaks, die nichts auf Reihe kriegen.“, ich erkannte die Stimme von Clara, die in meine Klasse ging, konnte sie aber nirgends entdecken.

„Ja, das ist furchtbar. Sie ist ja so schon immer ein Streber, aber heute hat sie es übertrieben. Sogar die Lehrer haben sie schon komisch angeguckt.“, antwortete ihre beste Freundin Victoria. Ich ahnte, dass sie über mich sprachen und dass sie mal wieder maßlos übertrieben. Es war mir egal. Vielmehr interessierte es mich, wo zum Teufel sie sich versteckten, eigentlich war die Bibliothek gar nicht so sehr verwinkelt, wie es bei den meisten anderen der Fall war. Erst nach fünf Minuten sah ich sie draußen auf der Wiese des Sportplatzes sitzen und miteinander reden. Das war unmöglich! Es klang, als säßen sie direkt hinter dem Regal, aber sie waren eindeutig draußen, hinter der dicken Glasscheibe, die alles von außerhalb fernhielt. Geschockt redete ich mir ein, dass ich mir dass alles einbildete und dass ich ein wenig überarbeitet sein musste.
 

„Heute hat sie mich genug gedemütigt.“, hörte ich nun die Stimme meines Sitznachbarn Constantin. Er war der einzige in der Klasse, der klug war, der sich für seine Zukunft interessierte, so wie ich mich für meine. „Jetzt ist es genug! Seitdem sie an der Schule ist, stiehlt sie mir die Show. Ehrlich ich vermisse die Zeiten, in denen mein Kopf in der Toilette steckte und ich Angst hatte im Klo zu ertrinken! Seitdem diese Kuh hier ist, bin ich nicht einmal dafür gut genug. Aber ihr tun sie das nicht an! Nein! Sie ist ja ein Mädchen. Die macht man zwar fertig, aber man fasst Mädchen nicht an.“, ich spürte förmlich, wie er vor Wut zitterte. „Das werde ich auch nicht! Es wird aussehen, als sei es ein bedauerlicher Unfall gewesen.“

Ich war geschockt, ich wusste nicht, dass auch Constantin ein Problem mit mir hatte. Ich dachte, er sei froh, dass ich das Niveau ein wenig hob. Aber noch schockierte war ich von dem Bild, welches sich mir bot. Es war eine Vorstellung, aber nicht meine.
 

Das Regal hinter mir kippte um und zerquetschte mich. Ohne Frage wäre dem sogar so, denn dieses Regal war sehr hoch und sehr schwer. Ich sah, wie eine Hand behutsam ein Brecheisen unter das Regal schob, und dieses dann mit aller Kraft angehoben wurde, damit es in meine Richtung fiele. Das waren unmöglich meine Gedanken. So etwas wäre mir nie in den Sinn gekommen.
 

Noch ganz benommen von diesem Bild, hörte ich etwas an dem Regal kratzen. Ich drehte mich um und durch ein paar kleinere Bücher sah ich Constantin, der konzentriert etwas unter das Regal schob. Dann richtete er sich auf und atmete tief ein. Nach fünf Sekunden sah ich das Regal wanken, war aber unfähig, davon zu laufen. Ich war wie gelähmt gewesen, bis das Regal tatsächlich kippte. In dem Moment hob ich die Hand und kurze Zeit hörte ich einen Schmerzenschrei und weitere Schreie.
 

Ich traute mich kaum, die Augen zu öffnen. Ich hatte Angst, ich sei ein Geist, der nun seinen Körper betrachten würde und erleben musste, dass niemand zu seiner Beerdigung kommen würde. Doch nun wurde ich an den Schultern gepackt und geschüttelt.

„Alexa? Was ist hier geschehen?“, die Bibliothekarin schaute mich entsetzt an. Sie war ganz bleich, schon fast grünlich und ich hatte Angst, den Grund hierfür zu sehen.

„Ich, ich weiß nicht.“, antwortete ich. „Das Regal hat gewankt und ich dachte, es würde auf mich stürzen, aber das tat es nicht.“, nun sah ich hin. Das Regal war in entgegengesetzter Richtung gestürzt und Blut quoll unter ihm hervor. Ich sah mich um, die Mädchen vom Sportplatz hatten ihre Nasen an die Scheiben gedrückt und in der Bibliothek drückte sich ein jüngeres Mädchen in den Arm eines Schülers, der geschockt und wortlos auf das Blut starrte. Ich hörte Sirenen und so viele Stimmen, dabei waren nur vier Menschen, lebendige, in diesem Raum und wir alle schwiegen.

„Was ist da geschehen? Ist das Blut? Es ist zu weit weg. Ich kann es nicht sehen.“

„Hast du das gesehen? Alexa hat vorher irgendwas Komisches gemacht, als hätte sie das Regal von sich abhalten wollen.“

„Ja. Es sah auch so aus, als würde es auf sie fallen und nicht nach hinten. Verdammt. Wen auch immer es erwischt hat, es war der Falsche.“

Die nächste Stunde war furchtbar. Die Polizei stellte so viele Fragen, doch das einzige, was ich ihnen erzählte, waren die letzten Sekunden vor Constantins Tod. Inzwischen hatte man nämlich das Regal hochgehoben und die Bücher von ihm heruntergeräumt, um ihn zu identifizieren. Ich erzählte ihnen nicht, dass ich ihn vorher gehört hatte und auch gesehen hatte, was er vorhatte. Auch ließ ich aus, dass ich mir sicher war, dass das Regal schon unaufhaltsam auf mich zugerast war. Sie fanden die Brechstange und waren sicher, dass er bei dem Versuch, mich umzubringen, selbst umgekommen war. Vermutlich aufgrund falscher, physikalischer Berechnungen. Als die Polizei mich endlich die Bibliothek verlassen ließ, standen draußen viele meiner Klassenkameraden.

„Ob es wahr ist, dass Constantin sie töten wollte?“, hörte ich die Stimme Victorias, doch als ich sie ansah, bewegte sie ihre Lippen nicht.

„Sie hat etwas damit zu tun, das habe ich genau gesehen!“, hörte ich unterdessen Clara, aber auch sie hatte es nicht gesagt und so ging es mir bei jedem, an dem ich vorbei ging. Je öfter ich hörte, dass ich lieber tot sein sollte, anstatt Constantin, ohne dass jemand etwas sagte, desto mehr Panik bekam ich.

„Hm. Ich glaube, sie ist genau wie ich und die anderen. Ich habe zwar nicht gesehen, wie sie es getan hat, aber sie hat genau so Kräfte, wie ich sie habe. Sie müsste tot sein. Es hätte kein Weg daran vorbei geführt. Sie ist genau so ein Freak wie wir.“, diese Stimme hatte ich noch nie gehört. Ich sah auf, um zu sehen, zu wem sie gehörte und erstarrte fast. Sie gehörte dem einzigen Jungen an der Schule, den sie noch mehr verachteten, als mich. Er war einen Jahrgang über mir und hieß Tabu. Zumindest nannten ihn alle so, denn es war Tabu mit ihm oder über ihn zu sprechen. Er widersetzte sich allen Regeln der Schule, allen voran der Kleiderregel. Er sah mich an, aus seinen fast schwarzen Augen, und dachte folgendes: „Wir sind die evolutionäre Weiterbildung, Alexa. Wir sind Mutanten und in ein paar Tagen, wenn du dich beruhigt hast, sollten wir mal sprechen.“
 

Mein Herz drohte zu schlagen aufzuhören. Das konnte doch nicht wahr sein. So schnell ich konnte, rannte ich nach Haus und schloss mich in meinem Zimmer ein. Und dort saß ich nun, ließ niemanden herein und hörte doch, dass sie wussten, was in der Bibliothek geschehen war und dass sie mich doch nur trösten wollten. Doch sie gaben auf, als Hanna, meine Pflegemutter, ihnen sagte, sie sollten mir erstmal Zeit lassen. Sie war es auch, die nur kurz an die Tür klopfte und sagte, dass ich, wenn ich reden wolle, wisse, wo sie und Sven, ihr Mann, seien und dass sie mir Essen vor die Tür gestellt habe.
 

Die nächsten Tage verließ ich mein Zimmer nur, um auf Toilette zu gehen. Um meine Verpflegung kümmerte sich Hanna, die mir zu jeder Mahlzeit Essen vor die Tür stellte und fragte, ob ich nicht doch reden wolle. Aber ich antwortete nie. Das tat mir furchtbar leid. Ich wusste, dass sich alle Sorgen um mich machten. Hier machte mir nie einer das Leben schwer, sie waren immer gut zu mir und ich schloss sie nun aus meinem Leben aus.
 

Erst am Wochenende schaffte ich es, mich in den Hintern zu treten und mit meiner Pflegefamilie zusammen zu essen und alle am Tisch waren erleichtert. Ich konnte es hören, auch wenn keiner etwas sagte, denn ich war seit jenem Tag in der Bibliothek in der Lage Gedanken zu lesen. Ich hatte viel nachgedacht, während ich mich in meinem Zimmer eingeschlossen hatte. Irgendwas war geschehen in der Nacht von Sonntag auf Montag, denn in der Schule waren mir alle Lösungen praktisch zugeflogen, so als hätte ich die Frage des Lehrers gehört und gleich dazu die Antwort, die er hören wollte. Dann konnte ich Victoria und Clara durch die dicken und soliden Fenster der Bibliothek hören und dann die Gedanken Constantins. Danach die Gedanken aller und irgendwas musste ich auch damit zu tun gehabt haben, dass Constantin tot war und nicht ich. Vielleicht hatte Tabu Recht gehabt und ich war ein Freak, ich meine ein Mutant. Sollte dies aber der Fall sein, so dachte ich, musste ich dringend den Grund hierfür in Erfahrung bringen und dafür sorgen, dass alles wieder normal werden würde. Beim Essen sagte mir Hanna, dass sie mich von meiner Schule genommen hat, nachdem sie nun die Umstände kennt, unter denen ich gelitten haben musste. Sie hätte mich an einer weitaus besseren Schule angemeldet, dies versicherte sie mir. Es war mir egal. Wenn die anderen dort dachten, würde ich so oder so früher oder später in der Klapse landen, ob nun wegen der einen oder wegen der anderen Schule.
 

Am Abend zog ich mich wieder auf mein Zimmer zurück. Ich wollte meine Ruhe, ich musste nachdenken und ich wollte mich ausprobieren. Ich wollte mich auf das Hören konzentrieren, schauen, ob ich es lauter und leiser stellen könnte. Und tatsächlich konnte ich die Reichweite vergrößern und verkleinern, ich konnte hören, wie sich unsere Nachbarn über die Erziehung ihres Sohnes stritten, auch wie die Band eben dieses Sohnes in der schalldichten Garage einen neuen Metallsong einübte und dafür tauchte ich nicht in die Gedanken derjenigen, es war wie lauschen, nur viel lauter. Aber auch die Gedanken der Menschen blieben mir nicht verborgen, wenn ich sie hören wollte. Dies aber wieder abzustellen war viel schwieriger und das war es, was ich eigentlich wollte. Das „normale“ Hören konnte ich auf einen normalen Radius beschränken, so dass ich wie jeder Andere auch hörte, doch die Gedanken waren anders. Es gab sie in unterschiedlichen Variationen, manche drängten sich mir auf, andere blieben mir verborgen, diese waren mir lieber. Irgendwann war ich erschöpft eingeschlafen, aber ich war zufrieden. Immerhin hatte ich das Lauschproblem schon mal unter Kontrolle und auch die Gedanken anderer würde ich einfach wieder aus meinem Leben verbannen und dann könnte ich wieder normal und langweilig sein.
 

Doch die Glückseligkeit des Schlafes blieb mir nicht lang erhalten, denn ich wurde unsanft wachgerüttelt.

„Alexa! Wach jetzt endlich auf!“, brüllte man mich flüsternd wach. Ich riss die Augen erschrocken auf, denn auch wenn ich die Stimme erst einmal gehört hatte, ich würde sie unter tausenden immer wieder erkennen. Tabu.

„Was zur Hölle…? Und wie überhaupt? Und wo?“, verwirrt blickte ich mich um, ich war mir sicher, dass er mich gerüttelt hatte und mir gesprochen hatte, aber mein Zimmer war leer. Ich machte das Licht an, aber auch das half nicht.

„Ich bin hier.“, sagte er leise und stand plötzlich am Fußende meines Bettes. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken, aber ich muss mit dir sprechen.“ Er setzte sich auf die Kiste, die dort am Ende meines Bettes stand und sah mich an.

„Wie bist du hier rein gekommen, Tabu? Ich hatte abgeschlossen und meine Eltern lassen dich bestimmt nicht um drei Uhr nachts hier rein.“

„Erstens heiße ich nicht Tabu, mein Name ist Moritz und zweitens gehört die Antwort zu deiner Frage zu den Sachen, die wir besprechen müssen.“, plötzlich sah Tabu gar nicht mehr so bedrohlich aus, wie er sonst immer gewirkt hatte. Seine schwarzen Haare ummalten sein Gesicht mit den weichen Zügen und seine dunklen Augen wirkten gar nicht mehr so kalt, wie sie es in der Schule immer taten. Sie sahen auch nicht so dunkel aus, wie sonst, man konnte erkennen, dass sie tiefblau waren und er sah schon fast verletzlich aus.

„Am Montag. Du hättest das nicht überleben dürfen. Wie hast du es geschafft, dass das Regal in die andere Richtung gefallen ist?“

„Das habe ich nicht gemacht, dann hätte es auch nicht Constantin erwischt, wenn ich darüber irgendeine Macht gehabt hätte. Und ich bin vielleicht komisch, aber kein Mutant. Schlag dir das aus dem Kopf!“, setzte ich gleich nach, weil er schon wieder darüber nachdachte.

„Das habe ich auch gar nicht gesagt.“, erwiderte er, konnte ein Lächeln aber nicht verhindern. „Wie lange kannst du schon die Gedanken anderer hören?“

Ich überlegte, es abzustreiten, ließ es aber doch bleiben.

„Erst seit Montag.“, antwortete ich leise.

„Das ist ungewöhnlich. Alle anderen mit Kräften, die ich kenne, haben sie schon seit dem Krieg. Wir wurden von den Gasen erwischt, haben es aber überlebt. Es gibt sehr unterschiedliche Formen von Mutationen, aber deine wirken noch mal anders auf mich, stärker, möchte ich behaupten. Es sind nicht nur Gedanken, ich habe gesehen, dass du eine Art Schild hattest, mit dem du das Regal abgehalten hast.“

„Aber ich wollte Constantin nichts tun. Ich wollte das nicht. Und ich will auch keine Kräfte. Ich will doch nur ganz normal sein!“, ich weinte. Ich hatte die ganze Zeit geahnt, dass ich dafür verantwortlich war, dass Constantins Eltern ihn nun beerdigen mussten, aber ich hatte es nicht wahrhaben wollen.

„Das tut mir leid, Alexa. Das wird wohl nicht möglich sein.“, sagte Moritz leise und setzte sich zu mir aufs Bett, wo er einen Arm um mich legte. Bei ihm weinte ich mich aus, es war merkwürdig, denn eigentlich kannte ich ihn ja gar nicht, aber es tat gut, bei ihm den Kopf an die Schulter zu legen und alles heraus zu lassen.
 

In dieser Nacht erfuhr ich, dass es allein in unserer Stadt ungefähr 30 Mutanten gab. Es waren wohl mehr, doch es gibt auch Menschen, die über uns Bescheid wissen. Sie jagen Mutanten, weil sie diese als Bedrohung für die Menschheit sehen. Sie töten sie einfach und machen auch nicht Halt vor normalen Frauen, die sich auf einen Mutanten eingelassen haben und von diesen ein Kind erwarten. Ich war entsetzt und entschlossen, meine Abnormität für mich zu behalten. Niemand sollte jemals erfahren, dass ich anders war.
 

Moritz erzählte mir von den unterschiedlichen Gaben und Veränderungen, die zeitweise sehr gravierend zu sein schienen.

Es gab welche, die sich als Wesen der Nacht sahen. Sie ernährten sich von Menschenfleisch, aus etwas anderem konnten sie keine Energiereserven ziehen, aber es machte sie unvergleichlich stark, auch wenn die eine recht gräuliche Färbung angenommen hatten und selbst aussahen, als müssten sie schon längst tot sein.

Andere hatten die gleichen Ergebnisse, aber durch eine genetische Mutation. Sie verfügen über eine monströse Körpermasse und beispiellose Kräfte.
 

Diese beiden Gruppen bildeten den Großteil der Mutanten. Es gab nur wenige, die andere Mutationen durchgemacht hatten, denen man es nicht ansah, in dieser Stadt waren es sechs, so Moritz.

„Das wäre einmal Julia, sie kann Telekinese, also Dinge bewegen, ohne sie zu bewegen. Sylvia hat heftige Visionen, die ihr zeigen, was einem Menschen widerfahren ist, wenn sie ihn anspricht. Also, wenn du sie kennen lernst, wundere dich nicht, wenn sie schweigt. Raphael heilt unglaublich schnell. Er hat einen gebrochenen Arm nicht einmal 6 Stunden, während andere sich 6 Wochen quälen. Leon kann Musik verstehen. Und er kann Musik machen, ohne ein Instrument zu berühren. Das ist schwer zu erklären, er kann keine Noten lesen und doch könnte er jedes noch so schwere Stück nachspielen, er kann erkennen, was hinter dem Stück steht, was es wirklich ausdrückt und er kann Musik, ich möchte sagen, projizieren. Er macht sie.“, es fiel ihm wirklich schwer, es zu erklären und er lächelte leicht. „Tja. Und dann gibt es noch dich und mich. Bei dir müssen wir noch herausfinden, was du kannst, abgesehen von dem ultimativen Lauschangriff, aber ich schätze, es ist etwas wie ein Kraftfeld. Und ich kann mich entmaterialisieren. Ich kann durch Wände gehen und so bin ich auch bei dir ins Zimmer gekommen. Wie du merkst, sind wir nicht böse, zumindest nicht die von uns, die sich nicht optisch verändert haben. Von uns wissen die normalen Menschen nichts, aber das ändert nicht die Tatsache, dass wir dennoch gejagt werden, denn die anderen Mutanten sind sauer und das lassen sie an uns aus. Sie sind sauer, dass sie hässlich geworden sind, dass sie von Jägern sofort erkannt werden und geben uns die Schuld daran.“
 

Die ganze Nacht unterhielten wir uns über die Mutanten, die Jäger, und ich erklärte Moritz, dass ich vermutlich verstrahlt wurde, als ich frische Luft schnappte nach den Angriffen. Fürs Sterben hatte das Gas nicht ausgereicht, aber ich war nun mutiert, der Evolution ein paar Schritte voraus.
 

Moritz erklärte, er wolle mir die anderen vorstellen und so verabredeten wir uns für den nächsten Sonntag, an dem er mich abholen wollte, und dann mit mir gemeinsam zu den anderen fahren wollte. Die folgende Woche war ein kompletter Neuanfang für mich. Ich ging in die neue Schule, in der die Einstellung der Schule tatsächlich eine Bessere zu sein schien und in der ich mich nicht mehr verkroch. Ich hatte einen Freund gefunden und das beflügelte mich. Mit Selbstbewusstsein spazierte ich durch die Gänge meiner Schule und die anderen Schüler waren neugierig, mich kennen zu lernen und waren fasziniert von mir. Auch in meiner Familie fiel meine Veränderung auf und alle freuten sich über die neue Alexa, die so viel mehr Lebensenergie versprühte als die alte Alexa.
 

Ich selbst war auch neugierig und zwar auf die anderen Mutanten, die ich am Sonntag kennen lernen sollte. Meine Pflegeeltern waren total überrascht, als ich ihnen am Mittag des Sonntags mitteilte, dass mich nach dem Essen ein Freund abhole und ich wohl erst abends wieder da sein würde, aber sie freuten sich auch sehr darüber.

Ich weiß nicht, ob die Freude noch anhielt, als sie sahen, dass ich zu Moritz auf sein Motorrad stieg, nachdem er mir einen Helm gereicht hatte und mit ihm davon gebraust war, aber ich glaube nicht. Wir fuhren eine ganze Weile, bis wir in eine Gegend kamen, von der ich dachte, dass dort seit dem Krieg keiner mehr gewesen sei.
 

Ich lernte nun die anderen vier Mutanten kennen und war doch überrascht, als wir in das Lagerhaus kamen, in dem sie sich eingerichtet hatten. Der erste, der mir über den Weg lief, war ein Achtjähriger, der sich mir als Leon vorstellte. Er war sehr süß mit seinem längeren, blonden Haar, das ihm in die Augen fiel und einem Lächeln, das auch einen Eisberg zum Schmelzen gebracht hätte.

„Ich mag dich!“, sagte er lächelnd und ich hörte ein wunderschönes Musikstück, gespielt von einem Klavier und einer Geige, welches früher ein sehr bekanntes Liebeslied gewesen war. Es klang wunderschön und ich lächelte, als ich ihm sagte, dass ich auch ihn möge. Sylvia, ein punkiger Teenie, nickte mir freundlich zu und vermied es, mit mir zu sprechen, so wie Moritz es prophezeit hatte. Julia war total nett. Sie sah aus wie eine Mischung aus einem Hippie und einer Rockerin mit ihren Dreads und dem roten Kopftuch, das sie trug.

„Oh toll! Wollen wir vielleicht noch mehr Leuten unser Heim zeigen, Moritz? Ist ne ganz tolle Idee!“, schimpfte ein Mann um die Fünfzig, der herein kam, als ich mich mit Julia über meine Kräfte unterhielt.

„Dad! Sie ist in Ordnung!“, fauchte Sylvia ihn an und lächelte mir wieder freundlich zu. Raphael machte mir am Anfang etwas Angst, doch nach und nach verstanden wir uns richtig gut und nach ein paar Wochen verbrachte ich jeden Nachmittag mit dieser kleinen Familie.
 

Und irgendwann in dieser Zeit muss auch das zwischen mir und Moritz mehr geworden sein. Ich hatte mich verliebt und wie es schien, hatte auch er sich verliebt. Wenn ich an dieser Zeit denke, dann erfüllt mich auch heute noch eine Wärme, die so schön ist, dass man sie jedem Menschen auf diesem Planeten wünscht.
 

Aber mein Glück hielt nicht besonders lang. Nach nur zwei Jahren sollte sich meine ganze Welt erneut verändern. Ich wohnte inzwischen mit Moritz in unserer eigenen, kleinen Wohnung und wir wollten für immer zusammen sein. Doch „für immer“ ist ein sehr starker Ausdruck und so unbeständig.
 

Die Menschen hatten nicht geglaubt, dass es während des Krieges auch zu Mutationen gekommen war, sie glaubten, die Jäger seien arme Irre, die eigentlich weggesperrt gehörten. Doch waren es Mutanten, die dafür sorgten, dass die Welt erkannte, dass sich etwas verändert hatte. Inzwischen hatte auch ich die Nachtmenschen und die sehr wuchtigen Menschen kennen gelernt und auch ich hatte meine Schwierigkeiten mit ihnen. Wie oft hatte ich die vorangegangenen zwei Jahre nur durch mein Kraftfeld überlebt, weil irgendein unmenschlich starker Mutant ein Auto nach mir oder mich gegen eine Hauswand warf. Sie waren es, die an die Medien herantraten und den Menschen klar machen wollten, dass es nun eine stärkere Spezies als die Menschheit gab und dass einige von uns Mutanten vielleicht direkt unter ihnen leben würden, denn man sähe es uns nicht allen an.
 

Von da an begann die Hexenjagd. Niemand traute mehr irgendwem und alle wurden beschuldigt, Mutanten zu sein.
 

Und wieder gab es Krieg, niemand verließ das Haus unbewaffnet und es gab eine Ausgangssperre. Jeder, der nach neun Uhr abends das Haus verließ, brauchte eine Sondergenehmigung, die man nur nach ärztlichen Spezialuntersuchungen erhielt, oder musste sich auf eine Menge Fragen und unangenehme Untersuchungen gefasst machen.
 

Natürlich dauerte es nicht lange, bis es in jeder größeren Stadt mutantische Untergrundbewegungen gab. Raphael hatte sich einer solchen angeschlossen und Sylvia war ihm mit Julia zusammen gefolgt. Seit jenem Tag wohnte Leon bei Moritz und mir. Wir dachten nicht daran, uns an einem Krieg zu beteiligen. Wir verhielten uns unauffällig und hofften inständig, dass die Grundgesetze nicht außer Kraft gesetzt wurden, durch die wir nicht gezwungen waren, uns untersuchen zu lassen. Mir graute es bei dem Gedanken, dass sie auch vor Leon nicht Halt machen würden. Seine Kraft konnte niemanden etwas Schlimmes und doch hätte er sterben müssen, wenn er gefunden worden wäre. Die Menschen nahmen sich nicht einmal die Zeit, uns beweisen zu lassen, dass wir ein normales Leben führten. Sie hatten Angst, Angst davor, was wir waren. Natürlich gab es auch bei ihnen Ausnahmen, doch wie bei jeder Ausnahmesituation in der Geschichte, wurden diese ruhig gestellt. Sie durften ihr Gedankengut nicht Kund tun, es galt als Verrat an der Menschheit.
 

Inzwischen kannte ich meine Kräfte sehr gut und ich nutzte sie. Ich nutzte sie, um meine kleine Familie zu schützen. Ich belauschte Menschen, ihre Gedanken und wehrte mich mit meinem Kraftfeld. Denn es war nicht nur ein optimaler Schutz, ich konnte es auch nutzen, um stärker zu sein. Doch es half nicht. Wir wurden verraten.
 

Eines Tages kam ich heim und die Wohnung sah aus, als sei ein Tornado hindurchgerauscht. Alle Möbel waren zerstört und überhaupt war alles zerstört.

„Das SEK – M war hier.“, hörte ich meine Vermieterin hinter mir sagen. „Sie haben deinen Mann mitgenommen.“

„Sie haben Moritz?“, erschrocken drehte ich mich zu ihr um und Tränen lösten sich aus meinem Augenwinkel. „Und den Jungen?“

„Keine Ahnung, wo der steckt. Bist du auch so eine? Ich hoffe, dir ist klar, dass du dann besser verschwindest?“

Ich nickte, suchte aber nochmals die Wohnung nach Leon ab, in seinem Zimmer hörte ich ein Weinen.

„Leon?“, ich suchte nach seinen Gedanken und trotz des ganzen Wirren in seinem Kopf hörte ich etwas von Dielen und Versteck. Sofort riss ich den ganzen Boden auf, bis ich ihn endlich gefunden hatte. Ich nahm ihn in den Arm und gegenseitig trösteten wir uns.

„Moritz ist tot!“, schlurzte er plötzlich und ich sah ihn an.

„Sag so etwas nicht. Sie haben ihn doch nur mitgenommen. Wir können ihn noch retten!“, doch Leon schüttelte den Kopf und zeigte zu seinem Fenster. Er hatte das einzige Fenster im Haus, das zum Innenhof zeigte. Zitternd stand ich auf, um zu sehen, was Leon mir zeigen wollte. Im Innenhof stand ein einziger Baum und an diesem hing er. Er sollte erhängt werden, doch hatte sich aus dem Band lösen wollen. Es hing um seine Stirn, weiter war er nicht gekommen, bevor er wieder feste Substanz angenommen hatte. Sie hatten ihn erschossen. Sie hatten ihn erschossen, weil er sich nicht erhängen lassen wollte. Ich schrie auf und brach in Tränen aus. Leon zog mich vom Fenster weg, aus dem Haus raus und in den Hof. Zusammen holten wir ihn von dem Baum herunter und brachten ihn fort. Wir wollten ihn bestatten.
 

Seitdem sind erst drei Monate vergangen, aber meine Einstellung hat sich komplett verändert.
 

Ich will nicht mehr normal sein, wenn das bedeutet, dass ich unschuldige Menschen tot sehen will. Ich bin stolz, ein Mutant zu sein. Ich verstecke mich nicht mehr. Mit Leon an meiner Seite habe ich viele Menschen und Mutanten gesucht, die mit uns dafür kämpfen, dass wir uns die Welt teilen, ohne vor den anderen Angst zu haben. Inzwischen gab es ohnehin nur noch die Mutanten, die sich optisch nicht von Menschen unterschieden, alle anderen hatte man zu allererst ausgelöscht. Unsere Gruppe ist sehr groß, größer, als ich es je erwartet hätte und ich führe sie an.
 

Im Moment bin ich jedoch nur die, die Befehle gibt, denn ich darf nicht helfen. Leon verbietet es mir. Er sagt, eine Schwangere sollte nicht in den Krieg ziehen und wenn ich Moritz’ Kind nicht bekäme, würde er nie wieder mit mir sprechen. Auch Julia und Sylvia sehen das so. Sie sind zurückgekehrt, um mit uns zusammen für Gleichgestelltheit zu kämpfen.
 

Und sobald mein Baby auf der Welt ist, werde ich dafür sorgen, dass dies auch eine Welt ist, in der es leben darf und kann. Das schwöre ich, ich werde es schaffen, für Moritz und alle anderen, die gestorben sind, weil die Menschheit nicht mit den Konsequenzen umgehen kann, die ihr dummer Fortschritt mit sich bringt.



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