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Fortissimo

von

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5. Satz: Strascinando

5. Satz: Strascinando

(schleppend, geschleift)
 

Menschen sind einfach zu durchschauen. Sie lassen sich von Geld, Macht und Ansehen lenken. Wenn das nicht ausreichte, dann half zum Schluss die Anwendung von Gewalt. Seit seiner Kindheit war es Tatsuha gewohnt, mit dem Einfluss seiner Familie jede Person, die er zu besitzen begehrte, früher oder später in seine Gewalt zu bringen. Vielleicht hatte er deshalb den heuchlerischen Weg der Religion gewählt, an die er selbst nicht glaubte. Kontemplation und Glaube waren mächtige Waffen, um Menschen zu kontrollieren. Umso schwieriger war es, jemanden aus diesem Sumpf der Überzeugung an die Oberfläche der Realität zu holen, sobald er einmal darin versunken war.

Seinen düsteren Gedanken ähnlich trat Tatsuha nun hinter Ryuichi aus dem Kabinett des Grauens zurück ins Tageslicht. Der Schreck saß noch immer in seinen Gliedern, allerdings nicht jener absichtsvoll durch die Inszenierung der Attraktion provozierte Schrecken, sondern der plötzliche Kontrollverlust in der Finsternis.

Beide Männer hatten, obwohl sie einander in der Schwärze nicht sehen konnten, ihre Verkleidungen abgelegt. Keiner von ihnen war in der Lage gewesen, das Gesicht des Gegenübers zu erkennen, und dennoch hatten sie ihre Masken verloren.

Während Ryuichi seine übliche Fröhlichkeit auch ohne Kostümierung wieder aufsetzte und zu einem nächstgelegenen, mit bunten Zirkuspferden bestückten Karussell rannte, hing Tatsuha weiterhin seinen Überlegungen nach.

Er hatte sich längst für einen Pfad in die Zukunft entschieden. In zwei Richtungen diente ihm seine priesterliche Ausbildung zum Spaßvertreib. Er konnte seine Kenntnisse nutzen, um die Ungläubigen in Bann zu schlagen. Gleichermaßen konnte er sie von ihrem Dogma abkommen lassen, damit sie auf den labyrinthischen Irrwegen der Wirklichkeit orientierungslos wurden. Tatsuha war auf sadistische Weise besessen von Kontrolle. Doch er wollte keine leichte Beute mehr haben. Das war ihm nicht genug.

Anfangs war sein Interesse für Ryuichi Sakuma geweckt worden, weil dieser unerreichbar erschien, denn ein Ziel, das niemals erfüllt werden konnte, würde ihn beständig fesseln und seinem Streben kein Ende bereiten.

All das hatte sich auf einen Schlag geändert. Sein Idol war zum Greifen nah, entwischte ihm jedoch unentwegt. Ryuichi war anders. Anders als sein zur Schau gestelltes Abbild. In erster Linie war er härter zu knacken, als Tatsuha vermutet hatte. Gerade deshalb musste er Ryuichi für sich beanspruchen. Um ihn zu besitzen, musste er die Stärke seines zweiten Ichs brechen.

„Du bist so still, Tatsuha-kun.“ Eine vertraute Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Von der Seite schaute ihn Ryuichi besorgt durch seine blau getönte Sonnenbrille an.

Tatsuha beschloss, den direkten Weg zu wählen.

„Als du meintest, das Comeback von Nettle Grasper sei schlechtes Glück gewesen, meintest du eigentlich das Debüt von...“

„Shu-chan!“, fuhr ihm Ryuichi aufgeregt ins Wort und streckte die Arme in die Luft, als würde er am Nachmittagshimmel nach den Sternen greifen.

Tatsuha grinste, aber seine Augen lachten nicht.

„Was ist so besonders an Shuichi Shindo?“, wollte er umgehend wissen.

„Ich liebe ihn einfach“, stellte Ryuichi verwundert fest. Die Frage schien ihm überflüssig zu sein. „Magst du ihn denn nicht, Tatsuha-kun? Du bist doch mit ihm befreundet.“

Tatsuha bemühte sich nicht mehr um einen freundlichen Gesichtsausdruck, beobachtete stattdessen mit versteinerter Miene, wie Ryuichi dem Verkäufer einer Imbissbude einige Münzen zahlte und dafür eine Papiertüte entgegennahm.

„Er ist ein Abklatsch von dir.“

„Probier mal!“, forderte Ryuichi ihn auf und stopfte ihm ein warmes Brötchen mit Azukibohnenmus in den Mund. Tatsuha kaute darauf herum, doch mit jeder Bewegung seines Kiefers verschwand zunehmend das Lächeln von seinen Lippen. Den Rest seines Anpans drückte er irgendeinem vorbeilaufenden Typen in die Hand.

„Du bist eine Legende“, wandte er sich erneut an den Sänger. „Shuichi ist nur eine billige Kopie.“

Ohne darauf zu reagieren, lief Ryuichi ein paar Meter weiter zu einem Stand, an dem man mit runden Papierkeschern nach Goldfischen angeln konnte.

„Wie viel?“, fragte er die alte Dame, die hinter den mit Wasser gefüllten Bassins saß.

„Hundert Yen pro Kescher“, antwortete sie automatisch.

„Nein, wie viel für alle?“ Verdutzt schaute die Alte auf. Ryuichi wedelte mit ein paar Fünftausend-Yen-Scheinen vor ihr herum. „Ich möchte ein ganzes Becken voll.“

Die Inhaberin hielt die Hand für das Geld auf und erlaubte ihm daraufhin teilnahmslos:

„Bedienen Sie sich.“

„Was willst du d...“, setzte Tatsuha neben ihm zu einer Frage an, kam allerdings nicht dazu, sie zu beenden. Das viereckige Becken hochhebend goss Ryuichi mit einem Schwall kalten Wassers dessen kompletten Inhalt über Tatsuhas Kopf aus.

„Mach es besser wie ein Fisch“, kommentierte Ryuichi nachträglich seine Tat, als sein junger Begleiter tropfnass und völlig perplex vor ihm stand. „Wie ein Fisch, Tatsuha-kun.“

Damit wandte er sich ab und marschierte lachend davon.

Auf dem Boden zappelten indes einige Goldfische und schnappten vergeblich nach Luft.
 

„Keine Zeit, keine Zeit!“, rief Kumagoro.

„So warten Sie doch. Wo laufen Sie denn hin, Herr Karnickel? Wie soll ich Sie nennen?“

„Ich weiß von nichts.“ Kumagoro schüttelte den rosa Plüschkopf.

„Meister Lampe?“

„Nenn mich Harvey und niemand außer dir kann mich sehen.“

„Das gefällt mir nicht!“ Ryuichi schüttelte gleichfalls heftig den Kopf, wie ein kleines Kind, das seinen Willen durchsetzen wollte.

„Dann nenn mich Frank“, schlug Kumagoro vor, „und die Zeit wird rückwärts...“

„Sag mal“, fuhr Sakuma mit eiskalter Stimme dazwischen, „warum trägst du eigentlich dieses hässliche Hasenkostüm?“

„Gegenfrage. Warum trägst du dieses abartige Menschenkostüm?“

Schwerfällig hob Kumagoro die Stofftatzen und zog an seinen Hasenohren. Er rückte seine knallrote Fliege zurecht und wischte sich die Perlentränen unter den glänzenden Knopfaugen weg. Dann sagte Kumagoro fest:

„Ich werde dir Sakumas hässliche Maske vom Gesicht reißen.“

„Nein, das will ich nicht!“ Empört schüttelte Ryuichi seinen Kopf noch heftiger.

„Aber dann werde ich für immer ein Bär bleiben“, sagte der Hase betrübt, „und für dich, kleiner Ryuichi, wird es Zeit, zurückzukehren.“
 

„Welcome back!“, rief K und knallte begeistert seine Faust auf den Tisch, sodass Noriko zwischen den beiden anderen Mitgliedern ihrer Band zusammenzuckte und eine verdrießliche Bemerkung murmelte. „Das nenne ich wirklich den Sound eines Genies, Ryuichi! Damit werdet ihr garantiert ganz oben in den Charts mitspielen.“

„Die Frage ist nicht, ob oder auf welchem Platz wir in den Charts landen“, entgegnete Toma hierauf trocken und verschränkte gelassen die Arme vor der Brust, „sondern wie lange wir damit auf dem ersten Platz bleiben.“

„Nein“, widersprach K breit grinsend, „die Frage lautet eher, wie lange ihr es schafft, bis euch Bad Luck vom Thron stoßen.“
 

Tatsuha lag reglos in seinem Zimmer, rücklings auf den Tatami und halb auf seinem Futon, den er meist quer unter dem niedrigen Tisch ausgebreitet hatte, ohne ihn am Morgen wieder zusammenzurollen und im Schrank zu verstauen. An derlei konventionelle Gewohnheiten hielt er sich nur, wenn es von Vorteil war, ein artiges Auftreten zu imitieren.

„Another day and night“, schallte der neue Song von Nettle Grasper aus dem Radio, „in reapers paradise.“ Liedtext und Melodie der neuen Hitsingle hatte Ryuichi, den Aussagen des Moderators zufolge, noch in Amerika zu Papier gebracht, nach seiner letzten Arbeit als Schauspieler und kurz vor seiner Rückkehr nach Japan. War das die Inspiration, von der er vor seiner Abreise gesprochen hatte und die ihm das Land der unbegrenzten Möglichkeiten bieten konnte?

„...come take the scythe...”

Viele Tage waren vergangen seit dem Date im Vergnügungspark. Date. So hatte es Tatsuha gleich nach ihrer Vereinbarung bezeichnet. Er hatte auf mehr Intimität spekuliert. Sogar einen Kuss hatte er sich erhofft, womöglich auch mehr.

Und nun? Hatte er wirklich erhalten, was er sich wünschte?

„...and try to smile...”

Tatsuha drehte sich auf die Seite und drückte sich die Handballen gegen seine Schläfen. Er wollte seine Ohren vor der Stimme verschließen, die aus dem Radio ertönte, doch er schaffte es nicht.

Nein, was er sich erhofft hatte, war in seinem Inneren bereits zu einem Monster angewachsen, das hilflos gegen die Innenwände seines Herzens pochte. Er hatte nicht bekommen, was er wollte. Stattdessen wurden ihm allmählich jegliche Chancen genommen, das Ruder wieder in die Hand zu nehmen.

Schleppend, mit jedem weiteren Schritt auf seinem geplanten Weg, wurde ihm die Möglichkeit genommen, seinen geliebten Sänger wieder so zu mögen, wie er ihn am Anfang gemocht hatte.

Tatsuha hatte nicht gewollt, dass das Gefühl übermächtig wurde.

Er wollte nicht, dass das Monster weiter wuchs.



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