And I Got Swept Away (Yamato/Taichi)
Kurz vor Anfang, damit die Fragen zum letzten Kapitel klar sind: Taichi war nur so wütend, weil die letzte Beleidigung wirklich gegen ihn ging, obwohl er Yamato am Tag zuvor geholfen hatte. Und natürlich will er, dass alle schlechten Dinge über ihn aus dem Weg sind, schließlich soll das mal mit ihnen beiden etwas werden :D
Und: JA, Yamatos Beruf ist LEGAL - das kommt nachher auch noch mal vor.
Und ich denke nicht, dass Herr Heiji Yamato jemals in irgendeiner Weise schlimm belästigen wird, es wird so schon dramatisch genug /D
~ Yamatos POV ~
Abwesend starrte ich nach vorne an die Tafel, an der Herr Heiji versuchte der Klasse irgendwelche komplizierten Formeln beizubringen. Die meisten arbeiteten nicht mit. Eine Reihe vor mir, schrieben zwei Mädchen Briefchen und kicherten um die Wette. Natsuko, mein braunhaariger Sitznachbar, mit den dunkelblauen Augen, den zerschlissenen Jeans und weiten Pullovern, ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach; mich anstarren.
Ich wusste nicht, wieso er das so gerne tat, aber er tat es. Immer. Andauernd. Anfangs dachte ich noch, dass er es tat, weil ich anders war, als alle anderen und er vielleicht beobachten wollte, wie der Freak der Klasse irgendeinen Fehler machte, doch dem war nicht so. Selbst nach einem halben Jahr hörte er nicht damit auf. Ich versuchte es zu ignorieren und tat so, als ob ich furchtbar an dem neuen Thema des Faches interessiert wäre.
„Ishida?“
Ich zuckte erschrocken zusammen und starrte nach vorne. Ich hatte seine Frage nicht mitgekriegt und aus Erfahrung wusste ich, dass Herr Heiji sehr empfindlich auf Unaufmerksamkeit reagierte. Da ich normalerweise sein Lieblingsschüler war, war mir nicht ganz klar, ob ich mir nun einen Fehltritt erlauben durfte oder nicht.
„Ja?“, fragte ich vorsichtig und Herr Heiji schenkte mir zu meiner Überraschung ein Lächeln. Neben mir gab Natsuko ein mürrisches Schnauben von sich und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust, wie als hätten ihn meine Worte beleidigt.
„Komm doch bitte nach vorne und löse die Aufgabe“, bat Herr Heiji mich. Ich nickte, doch bevor ich mich erhoben hatte, sagte Natsuko schnell: „Ich würde das aber gerne tun.“
„Was?“ Verwirrt hob Herr Heiji eine Augenbraue.
Ich selbst war nicht minder verwundert. Natsuko war kein Musterschüler und seine Mitarbeit ließ zu wünschen übrig, vor allem in Japanisch und Mathe. Dennoch schien er seine Worte ernst zu meinen.
„Sie haben mich schon richtig verstanden“, sagte Natsuko nachdrücklich. „Ich würde diese Aufgabe gerne lösen.“
„Wieso denn?“
„Weil ich mit Aufgaben dieser Art die meisten Probleme habe und ich etwas üben will.“ Ohne auf die Antwort des Lehrers zu warten, erhob er sich und ging nach vorne an die Tafel. Als er die Kreide ergriff, sah ich, dass seine Finger zitterten. Aus irgendeinem Grund, hatte ich das Gefühl, dass er das wegen mir tat. Damit ich nicht nach vorne musste und mich möglicherweise blamierte.
Dabei war das Unsinn! Und zwar nicht nur aus dem einfachen Grund, das mir Mathe noch nie schwer gefallen war und ich diese Aufgabe mit Leichtigkeit hätte lösen können, sondern auch deshalb, weil sich niemand auf dieser Schule für mich interessierte – wenn man Takeru außen vor ließ. Mit einem leisen Seufzen sank ich in meinem Stuhl zurück und beobachtete Natsuko.
Er stand da und schien zu überlegen. Er kaute auf seiner Unterlippe, schrieb etwas und wartete ab. Herr Heiji ließ ein leises Räuspern hören, was ein deutliches Zeichen dafür war, dass seine Lösung nicht stimmte. Natsuko ließ den Kopf hängen und versuchte es erneut.
Nach etlichen Anläufen und einer verzweifelten Geste von Herr Heiji später, kehrte Natsuko zurück. Er sah gequält aus, wie als wäre es die reine Folter für ihn gewesen, diese Aufgabe zu lösen, obwohl er sich doch freiwillig dafür gemeldet hatte. Wie ein nasser Sack Mehl plumpste er auf seinen Stuhl und fuhr sich durch das dunkle Haar. Sein Blick huschte zu mir hinüber und verhedderte sich mit meinem.
Ich zögerte einen Augenblick, dann beugte ich mich über mein Heft und flüsterte leise: „Danke.“
Deutlich konnte ich hören, wie Natsuko nach Luft schnappte. Sofort breitete sich ein äußerst ungutes Gefühl in meinem Magen aus und ich wünschte mir, ich hätte nie etwas gesagt. Wieso musste ich das auch tun? Er hatte es sicher nicht für mich getan, schließlich war er auch nicht anders als der Rest der Schule.
Unerwartet spürte ich etwas Warmes an meinem Arm und als ich mich erschrocken zu Natsuko umdrehte, lächelte er. Es war nicht gestellt, es war ehrlich.
„Immer wieder gerne“, erwiderte er und strich mit dem Daumen über meine Ellenbeuge. Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus. Ich wollte ihn sofort wieder von mir stoßen. Er schien zu bemerken, was er da tat und zog seine Hand hastig wieder zurück. Wandte mit hochroten Wangen den Blick ab.
Noch nie war ich einem meiner Klassenkameraden so nahe gekommen. Nicht, dass ich es je bereut hätte, schließlich hielt ich nicht viel von Körperkontakt, doch aus irgendeinem Grund freute es mich fast, dass Natsuko mich gerettet hatte – aus einer Situation, aus der er besser gerettet hätte werden müssen.
Ich konnte mit fester Überzeugung sagen, dass mir seine Berührung nicht gefallen hatte und ich wahrscheinlich anders reagieren würde, sollte er es jemals erneut versuchen, aber wenigstens redete er mit mir. Auch wenn es schwer zu glauben war, hatte ich wirklich noch nie mit ihm geredet. Schon seit ich sechzehn war, saßen wir nebeneinander, da Herr Minamoto, unser Klassenlehrer, wohl eingesehen hatte, dass es so am Besten war. Die Mädchen fürchteten sich regelrecht vor mir und die Jungen verabscheuten mich.
Es beruhte auf Gegenseitigkeit.
Herr Heiji hatte inzwischen wieder angefangen zu reden. Wie immer huschte sein Blick zu mir und ich wand mich innerlich. Ich mochte es nicht, dass er mich so bohrend betrachtete, aber ich konnte ihm schlecht sagen, dass er damit mein Missfallen weckte. Angestrengt versuchte ich mich auf etwas anderes zu konzentrieren und das Einzige, was mir einfiel, war der Streit mit Takeru.
Augenblicklich hatte ich das Gefühl, in ein großes, tiefes Loch zu fallen und keinen Halt zu haben. Nur ein Funken Wut in der Brust, mehr stand mir nicht zur Verfügung.
Wir stritten uns nicht oft, eigentlich nie. Ihm schien es nicht zu behagen und ich wollte Takeru nicht verletzten. Doch heute war bei mir irgendeine Leitung durchgebrannt und ich hatte die Kontrolle verloren. Natürlich mochte ich Fußball nicht, aber nicht deswegen, weil ich es für sinnlos hielt oder als Mittel der Regierung ansah, Aufstände zu vermeiden.
Ich verabscheute Fußball, weil Takeru abends auf dem Sofa saß und sich die Spiele ansah, anstatt… anstatt sich mit mir zu beschäftigen. Wir unternahmen nie sonderlich viel miteinander, er wusste wahrscheinlich nicht einmal meine Lieblingsfarbe, aber diese etlichen neunzig Minuten könnten wir auch sinnvoller verbringen. Aber Takeru sah sich lieber zweiundzwanzig grölende Männer an, die einem Lederball hinterher rannten – deshalb mochte ich Fußball nicht.
Es war nicht geplant gewesen, dass ich ihm all das sagte. Ich hatte ihn offensichtlich verletzt und das tat mir leid, auch wenn ich es nicht gesagt hatte. Ihm schien es nichts auszumachen, er hatte ja schon ein paar Sekunden nach unserem Konflikt wieder gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd. Auf gewisse Weise verletzte es mich wiederum, dass er sich überhaupt nicht darum scherte. War ich ihm so egal? Wahrscheinlich schon, denn er hatte es sehr, sehr eilig gehabt, wieder zu seinen Freunden zu kommen.
Zu Taichi Yagami. Und dem Rest dieser Fußballmannschaft, vollbesetzt von irgendwelchen Trotteln.
„Ishida?“
Herr Heijis Stimme holte mich mit einem Ruck aus meinen Gedanken. Irritiert sah ich zu ihm auf, bemerkte, dass alle meine Klassenkameraden den Raum schon längst verlassen hatten. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass die Schule schon zu Ende war. Kurz blickte ich zur Uhr und musste feststellen, dass ich wohl schon eine ganze Weile abwesend gewesen war.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Herr Heiji.
„Ja, mir geht’s gut“, erwiderte ich leicht zerstreut und fing an, meine Sachen zusammen zu packen. „Ich… ich war nur nicht ganz bei der Sache.“ Ich hoffte, er würde mir diese Lüge abnehmen, und tatsächlich tat er es. Er setzte sich auf die Kante meines Tisches und sagte unvermittelt: „Deine Noten sind außerordentlich gut, Ishida.“
„Oh… danke“, antwortete ich verwirrt. Rückte unbewusst etwas von ihm weg.
„Hast du schon mal darüber nachgedacht, eine Klasse zu überspringen oder dergleichen?“
Er hob eine Augenbraue.
„Nein, eigentlich nicht.“
„Das solltest du aber. Du könntest Großes schaffen.“
„Danke.“
Herr Heiji stockte, dann stand er auf und ich erhob mich ebenfalls.
Es behagte mir nicht, dass nur er und ich in diesem Raum und er mir so nah war. Mit einer kurzen Verabschiedung drückte ich mich an ihm vorbei und hatte einen Moment das Gefühl, dass er mit seiner Hand über meine Hüfte strich. Hastig verließ ich den Raum und rannte schon fast den Gang entlang. Allein die Vorstellung so von einem Lehrer berührt zu werden, ließ Übelkeit in mir aufstiegen. Natürlich hatte ich bemerkt, dass er mir voriges Jahr an den Hintern gefasst hatte, doch das war ein Versehen gewesen. Er hatte sich persönlich dafür entschuldigt. Nur diese Berührung kam mir zu geplant vor, als dass sie ein Versehen hätte sein können.
Ich schluckte die Galle hinunter, die ich schon schmecken konnte und blickte erneut auf die Uhr. Takeru hatte wahrscheinlich gerade Training, zusammen mit seinen neuen Freunden. Und Taichi Yagami.
Krampfhaft dachte ich an etwas Anderes und achtete dabei nicht auf meine Umgebung. Eigentlich waren schon alle Schüler nach Hause gegangen oder bei den Nachmittagsaktivitäten, die ausschließlich in den Klassenzimmern und in der Sporthalle stattfanden. Umso überraschter war ich, als ich plötzlich mit jemandem zusammen stieß und schmerzhaft Begegnung mit dem Boden machte. Meine Tasche flog aus meinen Händen und verteilte ihren Inhalt über den Boden.
„`tschuldigung“, murmelte ich leise und sammelte meine Bücher ein. Als ich nach dem Japanischbuch griff, streifte meine Hand eine andere. Erschrocken sah ich auf.
„Kein Problem“, sagte Taichi Yagami lächelnd. Ich zog meine Hand ruckartig zurück wie als hätte ich mich verbrannt. Was suchte der denn hier? Hatten sie jetzt nicht Training? „Hier.“ Er drückte mir das Buch in die Arme und seine Finger streiften die nackte Haut meiner Handgelenke. Wieder lief mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Zu meiner Verwirrung musste ich feststellen, dass ich nicht das Bedürfnis verspürte, die Berührung sofort zu unterbrechen.
Dennoch tat ich es.
Taichi lächelte fast schon liebevoll, als er es bemerkte und richtete den Blick seiner braunen Augen fest auf mich. Ich fühlte mich unwohl. Es war, wie als würde er versuchen in mich hinein zu sehen und irgendetwas über mich heraus zu finden, was ich nie freiwillig preis geben würde. Was hatte Takeru ihm über mich erzählt? Das ich ein unleidiger Kotzbrocken war, dem man nicht zu nahe treten sollte? Oder doch eher, dass ich aussah wie ein Mädchen und wahrscheinlich genauso wehleidig war?
„Was machst du hier?“, fragte Taichi nach einer Weile, als wir uns beide wieder aufgerichtet hatten. Ich drückte meine Tasche fester an meine Brust, wie als könnte sie mir jeden Augenblick wieder aus den Fingern gleiten.
„Nichts“, antwortete ich steif. Er schien mir nicht zu glauben, aber er sagte nichts dazu. Löcherte mich nicht, wie Takeru es immer tat. „Was machst du hier?“ Ich versuchte möglichst viel Missfallen in meine Stimme zu legen, was mir nicht richtig gelang. Taichi reagierte nicht darauf, sagte nur fröhlich: „Das Training beginnt heute etwas später, weil unser Trainer noch was zu erledigen hat. Eigentlich wollte ich nur kurz etwas holen.“
Was genau er holen wollte, erwähnte er nicht.
„Und du?“, fragte er dann. „Gehst du jetzt nach Hause?“
Natürlich, was sollte ich sonst machen?
„Ja.“
„Soll ich dich nach Hause fahren? Das geht schneller“, erwiderte er. Perplex starrte ich zu ihm auf. Er lächelte nur, wie als wäre es ganz alltäglich jemanden nach Hause zu fahren, der einen noch vor ein paar Stunden beleidigt hatte. Ich sah weg, wollte die offensichtliche Freundlichkeit nicht sehen. Mein Herz pochte plötzlich unglaublich schnell und ich hatte das Gefühl, dass es jeden Moment aus meiner Brust springen könnte. Ich presste die Tasche noch fester an mich.
„Wieso?“, wollte ich leise wissen.
„Wieso was?“
„Wieso willst du mich nach Hause fahren?“
„Weil ich dich mag. Deshalb.“
Mein Herz setzte für einen winzigen Augenblick aus. Dann begannen meine Wangen feuerrot zu glühen.
Er konnte das doch nicht ernst meinen! Niemand sagte einem Fremden so etwas, wir kannten uns nicht einmal richtig! Wieder stieg in mir die Frage auf, was Takeru alles von mir erzählt hatte. Viel? Kannte Taichi mich zwar nicht persönlich, aber durch Takerus Erzählungen theoretisch ganz gut? Nein. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Taichi so viel Interesse an mir zeigte. Niemals. Nicht er. Nicht an mir.
Trotzdem verflog die Hitze nicht. Noch nie hatte mir jemand so deutlich gesagt, dass er mich mochte.
„Also?“, fragte Taichi, als ich noch immer nicht geantwortet hatte.
Ich zögerte.
Er konnte seine Worte gar nicht ernst gemeint haben, schließlich hatte ich ihm zuvor gesagt, dass ich ihn für überheblich und egoistisch hielt. Nahm er mich nur auf den Arm? Warteten draußen schon seine Freunde, ums ich darüber lustig zu machen, dass ich auf ihn herein gefallen war? Das sähe ihnen ähnlich. Niemals würde ich mich darauf einlassen. Ich hatte solche Dinge schon öfters erlebt und hatte mir vorgenommen, aus meinen dummen Fehlern zu lernen. Jetzt war die Zeit zu beweisen, dass ich wirklich etwas gelernt hatte.
„Nein“, sagte ich entschieden und ging an ihm vorbei, ohne ihn auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Er rannte mir sofort hinterher.
„Was >nein<?“, fragte er verwirrt und hielt locker mit mir Schritt. Den Gedanken, einfach wegzulaufen, verwarf ich.
„Ich komme sehr gut alleine nach Hause“, antwortete ich kühl.
„Das bezweifle ich auch gar nicht“, meinte er lächelnd. „Aber ich würde dich trotzdem gerne fahren.“
Ich blieb stehen und sah ihn an. Wieso wollte er denn nicht begreifen, dass ich nicht auf seine dummen Spielchen herein fiel? Ich war nicht so dumm, wie es den Anschein hatte.
„Lass mich einfach in Ruhe. Wenn du und deine tollen Freunde etwas zum Lachen suchen, dann sucht euch jemand anderen.“
Er sah mich verblüfft an. Dann begann er zu lachen. Ein unbeschwertes, freies Lachen.
„Du denkst, dass meine Freunde draußen darauf warten, sich über dich lustig zu machen? Das mein Angebot nur ein Mittel zum Zweck war?“
Es war mir peinlich, dass er mich so genau durchschaut hatte. Takeru schaffte dies ebenfalls zu Genüge und langsam drängte sich mir die unangenehme Frage auf, ob alle so aus meinem Gesicht lesen konnten. Das unangenehme Gefühl in meinem Magen wandelte sich in Übelkeit um und ich wünschte mir, dass er endlich verschwand. Alles in mir schrie danach, mich einfach umzudrehen und davon zu laufen.
„Nein“, sagte ich stattdessen trotzig.
„Na dann wäre es doch nicht so schlimm, wenn ich dich nach Hause fahre, oder?“, fragte er grinsend und ich bemerkte, dass er sehr nahe bei mir stand. Zu nahe. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn misstrauisch. Die braunen Augen und das Lächeln, die wirr vom Kopf abstehenden Haare und die lockere Haltung. All dies ließ auf eine blütenreine Weste und einen freundlichen Charakter schließen. Dennoch glaubte ich seiner Erscheinung nicht, schließlich war auch meine nur eine Maskerade.
Wer sagte mir, dass seine dies nicht auch war?
„Lässt du mich dann endlich in Ruhe?“, fragte ich. Eigentlich wollte ich etwas Anderes sagen. Dass ich nicht mit ihm fahren würde. Oder dass er mich in Ruhe lassen sollte. Wieso tat ich es nicht einfach?
„Natürlich“, sagte er und lachte. Die offene Widersprüchlichkeit meiner Worte schien auch er zu bemerken.
„… schön.“
„Mein Auto steht da vorne. Komm.“ Er deutete auf den Schulparkplatz, auf dem sich ein paar kichernde Mädchen tummelten und einige Jungs. Mit einigem Missfallen sah ich, dass es der Rest des Fußballteams war. Samt Takeru, Yuri und Shusuke. Meine beiden Peiniger standen auffällig dicht nebeneinander und Yuri wandte den Kopf immer wieder zu Shusuke um.
Dann sah er mich.
Mein Herz blieb stehen. Mein erster Reflex ließ mich zu Boden starren, vor dem zweiten konnte ich mich gerade noch retten – mich hinter Taichi zu verstecken, wäre mehr als nur peinlich gewesen. Ich linste zwischen meinen Haaren zu ihnen nach vorne, sah, wie Yuri Shusuke in die Seite stieß und er sich nun ebenfalls zu mir umwandte. Hastig blickte ich wieder zu Boden, verfolgte die Spur von Taichis Füßen.
Er blieb abrupt stehen und drehte sich zu mir um.
„Alles okay?“
Nein.
„… ja.“
Bevor er mehr sagen konnte, hörte ich auch schon laute Schritte auf dem Asphalt und hob unwillkürlich den Kopf. Es waren Shusuke und Yuri. Gemächlich kamen sie auf uns zu, Takeru im Schlepptau. Sofort krallten sich meine Hände in mein T-shirt. Die Vorstellung, dass sie jetzt über mich herfielen, war surreal, das wusste ich. Solange andere Leute dabei waren, fassten sie mich nicht an. Nur wenn wir alleine waren.
Dennoch schrumpfte meine Lunge schmerzhaft in sich zusammen und quetschte mein Herz ein. Durch die Nase schien ich nicht mehr genügend Luft zu bekommen und mein Mund klappte mit einem leisen Japsen auf, doch trotz allem ging mein Atem flach und stoßweise. Hinter meinen Augen begann es zu drücken.
Ich senkte eilig den Blick und starrte auf meine verkrampften Hände.
„Hey Tai!“
„Hi Shusuke“, grüßte Taichi zurück und ich konnte sein breites Grinsen förmlich hören. In diesem Moment konnte ich nicht anders, als es zu hassen. Ihn zu hassen, weil er mit Shusuke so gut befreundet war und auch Yuri an seiner Seite duldete.
In meinem Blickfeld tauchten zwei weiße, abgenutzte Turnschuhe auf und noch bevor ich seine Stimme hörte, wusste ich, dass es Takeru war. Niemand trat freiwillig so nah an mich heran.
„Yama“, sagte er gutgelaunt. Ich hob den Kopf und sah ihn an. Er trug die Trainingsjacke der Schulmannschaft, eine blaugrüne Kappe prangte auf seinem blonden Haar. Sie stand ihm eigentlich sehr gut, aber ich mochte sie trotzdem nicht.
„Hey“, erwiderte ich tonlos.
„Was machst du hier mit Tai?“, er hob fragend eine Augenbraue.
„Ich hab ihn in der Schule aufgegabelt und fahr ihn schnell nach Hause“, antwortete Taichi für mich. „Wenn du willst, nehm ich dich mit, TK.“ Bei diesem Spitznamen horchte ich überrascht auf. So hatte ihn schon lange niemand mehr genannt. Seit Moms Tod hatte er jeden mit kalter Verachtung gestraft, wenn er ihn mit diesem Namen angeredet oder versehentlich ausgesprochen hatte. Jeden, mich auch. Wieso durfte Taichi das jetzt? „Du könntest dir ein neues T-Shirt holen.“
Mir fiel wieder ein, dass ich jetzt Takerus Sportt-shirt trug. Unwillkürlich blickte ich auf den dunkelblauen Stoff hinunter und zupfte daran herum. Aus irgendeinem Grund, wollte ich es so schnell wie möglich wieder loswerden.
„Bring die Bilder mit, TK“, sagte Shusuke grinsend und stupste ihn an. Takeru lachte und nickte. Ich fühlte mich ausgeschlossen, doch ich sagte nichts. Dieses Gefühl war nichts Neues für mich, ich kannte es gut genug um zu wissen, dass man es besser nie aussprach. Ich umklammerte meine Bücher und musterte mit ausdruckslosem Blick Shusuke, der mich beflissentlich ignorierte.
Er nannte Takeru ebenfalls TK.
Die Wut auf Takeru stieg wieder in mir auf. Er verbündete sich mit meinen Peinigern! Natürlich, ich hatte ihm nicht gesagt, wer sie waren und so konnte er auch nichts dafür, aber ich war trotzdem wütend. Auf die Situation, auf Takeru… auf Alles.
Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und ging in Richtung Parkplatz davon. Sie bemerkten mich gar nicht, so wie immer. Auch der Rest der Mannschaft und die giggelnden Mädchen sahen über mich hinweg und mir war es nur Recht so. Ich hasste ihre aufgesetzte Art und ihr hysterisches Lachen, ihre Fußballsucht und der Drang zur Popularität. Ich lebte lieber alleine, als in einer Horde voll künstlicher Kinder.
Ich war gerade dabei das Schultor anzusteuern, mir fehlten nur noch ein paar Meter um aus dieser Hölle zu fliehen. Da packte mich jemand von hinten an der Hand und zog mich mit einem Ruck zurück. Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr herum. Starrte direkt in das braungebrannte Gesicht von Taichi Yagami. Er lächelte mich gütig an, wie einen dummen Zweijährigen, der nicht hören wollte.
„Ich fahre dich nach Hause, schon vergessen?“
„Ich… nein“, ich wich seinem Blick aus, mein Gesicht wurde verräterisch heiß.
„Gut. Aber mein Auto steht da drüben“, er deutete auf die andere Seite des Parkplatzes und ohne, dass ich etwas hätte erwidern können, zog er mich davon. Ich schwieg. Ehrlich gesagt hatte ich damit gerechnet, dass er mich genauso übersehen würde, wie all die anderen auch. Wie Shusuke und Takeru. Wie Dad.
„Steig ein“, forderte er mich auf und hielt mir die Türe auf. Verwirrt von dieser freundlichen Geste stieg ich ein. Sofort bemerkte ich, dass Takeru auf dem Rücksitz saß und mich regungslos anstarrte. Seinen Blick konnte ich nicht deuten. Ärgerlich? Verwundert? Oder doch nur so gutmütig wie immer?
Ich wandte den Blick ab, starrte auf meine Finger und wartete bis Taichi eingestiegen war und den Wagen startete.
~ Taichis POV ~
Mein Herz pochte ohrenbetäubend und es fiel mir unglaublich schwer, mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Und das lag nicht daran, dass Takeru auf dem Rücksitz hockte und wie am Fließband plapperte. Es lag an seinem Bruder. Yamato.
Er saß einfach nur da, den Kopf leicht gesenkt und den Blick aus dem Fenster gerichtet. Sein Gesicht war blass, seine blauen Auge trübe und das blonde Haar hing ihm in wirren Strähnen ins Gesicht. Er sah unglücklich aus, gestresst und vielleicht etwas missgelaunt. Dennoch konnte das Alles nicht über seine Schönheit hinweg täuschen.
Es war kein Zufall gewesen, dass ich ihn vorhin auf dem Gang angesprochen hatte. Ich war gerade auf der Toilette gewesen und hatte ihn gesehen. Sofort hatte ich fiebrig nach etwas gesucht, damit ich ihn ansprechen konnte. Nach einer Anmache, einer Frage. Irgendetwas. Mir war nichts Besseres eingefallen, als ihn anzurempeln und ihm zu helfen seine Bücher aufzusammeln. Die Frage, ob ich ihn nach Hause fahren könnte, war dann ganz von alleine gekommen.
Meine Finger brannten immer noch von dem Augenblick, als ich seine Hände berührt hatte und mir war schon der Gedanke gekommen, sie mir nie wieder zu waschen. Doch ich hatte ihn schnell wieder fort geschoben. Erstens war ich kein pubertierendes Mädchen und zweitens würde meine Mutter das nie dulden. Wieder huschte mein Blick zu ihm hinüber und ich konnte es mir, dank der roten Ampel vor uns, erlauben, ihn eingehend zu betrachten. Er schien zu merken, dass ich ihn beobachtete, denn er wandte sich zu mir um und sah mich an.
Ich lächelte.
Hastig sah Yamato wieder weg, aber ich konnte sehen, wie er rosarot anlief. Hinter uns redete Takeru unablässig weiter, wie ein monotoner Kassettenrekorder, den man nicht ausschalten konnte.
„Wo lang jetzt?“, fragte ich gespielt unwissend. Yamato beäugte mich argwöhnisch, doch er antwortete.
„Links. Dann da vorne Rechts.“
Ich grinste zu ihm hinüber und diesmal wurde er nicht rot. Böse starrte er zurück. Meine Falle schien aufgeflogen zu sein, aber es machte mir nichts aus; Ich hatte nur gefragt, weil ich seine Stimme hören wollte. Und er hatte mitgespielt.
„Was machst du heute noch?“, führte ich unsere Unterhaltung fort, die eigentlich noch gar keine war.
„… nichts“, antwortete er knapp und sah wieder aus dem Fenster.
„Nichts?“
„Das Gleiche wie immer.“
„Und was ist >das Gleiche wie immer<?“, hakte ich nach.
„Ich werde das Essen vorkochen, damit Takeru und Dad nicht verhungern, meine Hausaufgaben machen, lernen und dann arbeiten gehen“, zischte er gefährlich und vor Schreck wäre ich meinem Vordermann fast hinten drauf gefahren.
„Wieso vorkochen?“, kam es fragend vom Rücksitz.
„Weil ich heute Abend nicht da bin, TK“, fauchte Yamato und ich konnte ganz genau hören, wie er den Spitznamen seines kleinen Bruders betonte. Kurz sah ich in den Rückspiegel und tauschte einen vorsichtigen Blick mit Takeru. Er schien es also auch gehört zu haben.
„Wo… wo bist du denn?“, fragte er vorsichtig.
„Arbeiten“, wiederholte Yamato.
„Wo?“
Er sah mich abfällig an, wie als wäre ich es nicht wert, dass er mir antwortete. Dennoch tat er es.
„Nyman Saloon“, sagte er widerstrebend und starrte wieder nach vorne auf die Straße.
„Das ist ein ganz schön edler Schuppen. Wie bist du an den Job gekommen?“
„Hab mich vor Ewigkeiten beworben.“
„Aber…“, fing Takeru an, doch Yamato unterbrach ihn mürrisch.
„Mir war klar, dass es so kommen würde. Irgendjemand muss doch dafür sorgen, dass ihr zwei Idioten nicht untergeht.“
„…“
Ich wusste nicht, ob der Tonfall freundlich oder säuerlich war. Oder ob seine Worte neckend oder drohend gemeint waren. Takeru jedenfalls schnappte nach Luft, schockiert und erbost zugleich und verschränkte die Arme vor der Brust. Den Rest der Fahrt über sagte er nichts mehr.
Und zu meiner Enttäuschung blieb auch mein blonder Engel neben mir still. Er kaute auf seiner Unterlippe herum und sah ausdruckslos nach vorne. Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, erkannte jedoch in der gleichen Sekunde, dass diese Situation wohl etwas war, wovon ich keine Ahnung hatte und schloss den Mund wieder.
Beide Ishidas schienen mich vollkommen auszublenden.
„Wann kommt Dad heute nach Hause?“, fragte Takeru leise.
„Wieso?“
„Damit ich weiß, ob ich mit dem Essen auf ihn warten soll oder nicht“, antwortete Takeru. Ich beobachtete Yamato. Er biss sich fest auf die Unterlippe und starrte starr nach vorne, wie als hätte sein kleiner Bruder ihn gerade beleidigt.
„Solltest du lieber nicht“, sagte er dann leise.
„Oh… okay“, Takeru klang leicht niedergeschlagen.
„Wir sind da“, sagte ich in das peinliche Schweigen hinein und hielt den Wagen an. Takeru sah auf und ehe ich es mich versah, war er aus dem Wagen gesprungen und hinauf zur Tür gelaufen. Yamato saß einen Augenblick regungslos da, dann sah er zu mir hinüber.
„Danke für’s Mitnehmen“, sagte er tonlos.
„Kein Problem“, erwiderte ich lächelnd.
„… trotzdem.“
Er lächelte leicht, doch es sah nicht glücklich aus. Eher traurig und gezwungen. Mit einer merkwürdig steifen Bewegung schnallte er sich ab und öffnete die Tür. Kurz sah er noch einmal zu mir zurück, dann stieg er aus. Mein Blick folgte ihm, bis er neben Takeru stand und die Türe öffnete. Beide verschwanden im Haus und ich schaltete das Radio ein. Irgendeine Damenstimme säuselte mich zu, aber ich hörte nicht richtig zu.
In meinem Kopf schwirrte Yamatos Bild. Sein trauriger Blick. Die kalte Stimme.
Ich hatte nicht gedacht, dass Yamato so… so abweisend war. Natürlich, ich hatte ihn heute nicht gerade nett behandelt und ihn anschließend auch noch umgerannt, aber selbst jetzt war er wie eine tödliche Dosis Zyankali, die ich lieber nicht anfassen wollte. Oder doch?
Momentan war ich mir nicht so sicher. Es hatte vorhin so den Anschein gemacht, als lebe er in einer vollkommen anderen Welt, als ich. In einer Welt, in die ich nicht hinein gehörte und auch nicht wollte. Er hatte niedergeschlagenen gewirkt, als er Takerus Frage verneint hatte und auf gewisse Weise… verletzt. Wieso?
„Hey, ich bin wieder zurück!“
Takerus Stimme riss mich unsanft aus meinen Gedanken. Er saß neben mir auf dem Beifahrersitz und strahlte mich an, wie als hätte er die Situation vorhin im Wagen nicht miterlebt. Wie als wäre Yamato auf jemanden ganz anderen sauer gewesen, aber nicht auf ihn. In der Hand hielt Takeru ein frisches T-Shirt und ein paar Bilder, die er Shusuke versprochen hatte.
Ich erinnerte mich an Yamatos bösen Blick, als Takeru mit Shusuke gesprochen hatte und daran, dass Shusuke und Yuri diejenigen gewesen waren, die Yamato gestern auf dem Gang angepöbelt hatten. Ob er es seinem Bruder krumm nahm, dass sie nun etwas miteinander unternahmen?
„Takeru“, sagte ich, während ich den Motor startete und zurück auf die Straße fuhr, „erzähl mir was über deinen Bruder.“
„Über Yama?“, sagte Takeru perplex und starrte mich an.
„Ja“, erwiderte ich zu meiner eigenen Überraschung. Ich hatte mich nie sonderlich für andere Leute interessiert, selbst nicht für meinen letzten Freund, aber Yamato interessierte mich – und sei es nur deswegen, weil er vorhin so traurig ausgesehen hatte.
Part IV
END
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Das Kapitel hat mir jetzt schon mehr gefallen, als das letzte :D
Und auch an dieser Stelle wieder vielen Dank für eure Kommentare, das ist wirklich sehr motivierend <3
Alles Liebe,
Nikolaus
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