Zum Inhalt der Seite

Fishing for You

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Kriegsrat

„Gut...,“ höre ich Jasmin wie durch einen Wattebausch sagen, „Dann bis gleich.“

Sie verlässt mein Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Das metallene Schlossgeräusch durchschneidet die Luft unnatürlich klar und laut. Ich atme tief ein und aus und versuche mein Herz zu beruhigen und die Panik zu vertreiben, die von allen Seiten finster und drohend auf mich zu gekrochen kommt. Ich friere.

Ganz ruhig, Mann. Beruhige dich. Einatmen, ausatmen. Puuuhhh...

Alles gut. Alles in Ordnung. Niemand wird dich umbringen. Denk nach. Ganz langsam und logisch. Darin bist du doch gut. Denk an Physik.
 

Also. Gemeinsames Mittagessen. Das war bei uns nie so die Regel, wegen den Arbeitszeiten meiner Eltern. Meine Mam arbeitet immer lange und viel. Wir haben nur manchmal abends zusammen essen können. Und das...ist seit zwei Wochen auch ausgefallen. Wegen...und so...

Wenn wir jetzt alle – und die Betonung liegt auf alle – zusammen essen, heißt das a) dass meine Mam ebenfalls anwesend ist, was b) bedeutet, dass eine Ausnahme gemacht wird, und c) dass es dementsprechend wichtig sein muss. Wirklich wichtig. So wichtig, dass meine Mam ihr Büro verlässt und Jasmin geschickt wird, mich zu holen.

Grundgütiger. Das ist eine Katastrophe. Auf so was kann ich jetzt einfach nicht. Ich habe keinen Hunger, ich will nix essen und ich will jetzt um Gottes Willen kein Streitgespräch führen! Ich möchte lieber mit Dingen um mich werfen und Mein Gott! Ich habe Charlie geküsst! Was tu ich nur?! schreien.

Aber das geht nicht. Ich muss da jetzt durch. Ich muss gehen und meinen Mann stehen oder so. Dämlicher Scheiß. Wer hat sich so was nur ausgedacht? Wer immer es war, ich hasse ihn.
 

Ich atme ein letztes Mal betont ruhig, dann schnappe ich mir frische Klamotten aus meinem Schrank, ziehe mich an und trete mützenlos aus meiner Festung heraus.

Der Weg durch den Flur erscheint mir länger als sonst zu sein. Mein Herz pocht überdeutlich in meiner Brust. Meine Handflächen sind feucht. Ich komme mir vor, als wäre ich auf dem Weg zum Henker. Am Liebsten würde ich weglaufen. Aber wohin sollte ich gehen? Der einzige Ort, zu dem ich gerne gegangen wäre, ist unerreichbar für mich geworden.

Ich schlucke krampfhaft und beiße mir auf die Lippe. Ich darf nicht daran denken. Es tut zu sehr weh. Verzweifelt versuche ich, alle Gedanken und Gefühle, die irgendwie mit Charlie zu tun haben – was übrigens ne Menge sind, wie ich erschrocken feststelle – in den hintersten Winkel meines Bewusstseins zu verdrängen. Der Erfolg ist geringfügig.

Mir ist schlecht.
 

Als ich in der Küche ankomme, bin ich kurz vorm Ohnmachtsanfall. Sonnenlicht flutet auf die Kacheln und wärmt mir die nackten Füße.

Der Küchentisch ist beladen. Aus einem Topf dampft es verheißungsvoll. Außerdem steht eine Platte mit knusprigen Kroketten und eine Pfanne mit gebratenem Fleisch zwischen Tellern und – ich fass es nicht! – drei Gläsern mit...Cola?

Drum herum sitzt meine Familie. Und sie alle...sehen mich an.

Mein Herz rutscht mir in die Hose.

„Ha...llo...,“ formt meine Zunge planlos.

„Hey,“ antwortet meine Mam und...lächelt..., „Komm her, setz dich zu uns. Wo ist deine Mütze?“

Ich schlucke.

„Äh... In...meinem Zimmer...,“ lüge ich.

Nicht an Charlie denken!
 

Fassungslos starre ich von einem Gesicht zum anderen.

Meine Mam sieht freundlich aus. Ihr dunkles Haar fällt ihr offen auf die Schultern und lässt sie jünger wirken. Mein Dad lächelt mich ebenfalls an.

Habe ich mich vielleicht in der Tür geirrt? Oder im Universum? Vielleicht habe ich ja aus Versehen die Welt gewechselt, als ich durch den Flur gegangen bin. Oder ich schlafe noch und träume von vergangenen, besseren Zeiten.

Allein die Mienen von Jasmin und Lenny überzeugen mich davon, dass ich in der richtigen Küche, vor der richtigen Familie stehe. Meine Geschwister lächeln beide nicht. Im Gegenteil. Sie sehen unruhig und ängstlich aus. Offenbar geht in ihnen das Gleiche vor wie in mir.

„Was ist?“, fragt meine Mutter und schaut mich an.

Ich räuspere mich rau.

„Nichts,“ sage ich dann und lasse mich auf den letzten freien Stuhl, zwischen meine Geschwister sinken.
 

„Gut, dann greift zu,“ verkündet meine Mam heiter, „Guten Appetit.“

„Guten Appetit,“ wiederholt mein Dad lächelnd.

„Guten Appetit...,“ murmeln wir.

Wir tun uns auf und beginnen zu essen. Und es schmeckt gut. Trotzdem fällt mir jeder Bissen schwer. Mein Magen sträubt sich. Die Atmosphäre ist seltsam. Angespannt und unnatürlich. Trotz den Versuchen von Mam und Dad ein Gespräch in Gang zu kriegen. Irgendetwas ist hier im Busch, das spüre ich ganz deutlich. Und ich weiß genau, dass Jasmin und Lenny es ebenso fühlen und fürchten.

Jetzt, aus der Nähe betrachtet, bemerke ich, dass meine Eltern längst nicht so fröhlich aussehen, wie sie sich zu geben versuchen. Unter den Augen meiner Mam liegen dunkle Schatten und ihr Lächeln ist mehr steif als alles andere. Und mein Dad sieht nervös und beunruhigt aus. Noch viel mehr als sonst. Gott, ich mache mir Sorgen. Was wird nur–
 

„Momo, wie geht es dir jetzt eigentlich?“, die Stimme meiner Mutter weckt mich aus meinen Gedanken und lässt mich zusammen zucken, „Wolfgang meinte, heute Morgen hättest du schlecht ausgesehen.“

„W...Wieder alles in Ordnung...,“ lüge ich und versuche mich einmal mehr an einem falschen Lächeln, „War wohl nur...ein...eine vorübergehende...Sache...,“

Nicht an Charlie denken!

„Dann ist ja gut,“ sagt meine Mam und lächelt, „Aber was hast du mit deinem Kinn gemacht?“

Unvermittelt fährt meine Hand zu meinem Kiefer.

„Nichts,“ lüge ich erneut und schlucke, „Vielleicht...hab ich mich...im Schlaf selbst geschlagen...,“

„Mhm...?“, macht meine Mam skeptisch.

Mein Vater lacht leise. Lenny schweigt. Jasmin schnaubt.
 

Ich werfe ihr einen prüfenden Blick zu.

Was sollte das denn? Weiß sie etwa von meinem Sturz? Du lieber Gott. Bitte nicht!

Mein Herz pocht in meiner Brust und schnell stopfe ich mir eine Krokette in den Mund, um weiteren Fragen auszuweichen.

Die nächsten Minuten ziehen sich dahin wie Klebstoff. Mit gesenktem Kopf würge ich mein Mittagessen in mich hinein, während Mam und Dad Lenny über die Schule ausquetschen. Seine Antworten sind mehr als einsilbig. Eigentlich bestehen sie nur aus Grunzlauten.

Irgendwann geben meine Eltern auf und wenden sich Jasmin zu. Sie erzählt lahm von irgendwelchen Bewerbungen, die sie heute Vormittag geschrieben hat. Ich achte nicht besonders auf sie. Ich achte mehr auf Lenny.
 

Mein kleiner Bruder sitzt neben mir und zittert am ganzen Leib. So sehr, dass es beinahe an ein Wunder grenzt, dass er sein Besteck noch halten kann. Ich versuche, Blickkontakt herzustellen, aber seine Augen sind starr, fast glasig auf seinen Teller gerichtet. Trotzdem kann ich das Grauen in ihm wahrnehmen.

Ich muss irgendetwas tun. Irgendetwas. Schnell!

„Mom, Dad...?“

Ich höre, wie die Worte meinen Mund verlassen, kann mich aber nicht daran erinnern, dass ich sie wirklich habe sagen wollen. Prompt kehrt Schweigen ein. Draußen auf der Straße fährt ein Auto vorbei. Ich spüre die Blicke von Jasmin und meinen Eltern auf mir. Mein Herzschlag beschleunigt sich einmal mehr. Langsam hebe ich den Kopf.
 

Alle vier Augenpaare sind auf mich gerichtet. Sogar Lennys. Und in allen sehe ich die Angst vor dem, was ich jetzt im Begriff bin, auszusprechen. Alle ahnen es. Ich auch. Es ist unvermeidbar. Und ich...bin mal wieder der Buhmann.

„Das...hat doch keinen Sinn so...,“ sage ich matt und schlucke, um die Trockenheit aus meinem Hals zu vertreiben, „Wir müssen..., ich meine..,“

Hektisch suche ich nach Worten. Mein Magen dreht sich um und ich beiße die Zähne zusammen. Dann kommt es aus meinem Mund gepoltert:

„Wenn ihr uns etwas sagen wollt, dann tut es einfach.“
 

Stille.

So absolut und versteinert, dass ich meinen eigenen Körper rauschen hören kann. Mein Herz ballt sich zusammen wie eine Faust.

Jetzt, wo es raus ist, weiß ich ganz genau, dass es so ist. Die zwei wollen uns etwas sagen. Trauen sich aber nicht. Mein Inneres verkrampft sich schmerzhaft. Gott, ich weiß, was jetzt kommt. Ich weiß es ganz genau...

Meine Mutter räuspert sich. Es klingt schwach und schrill in meinen Ohren. Ich sehe, wie sie einen raschen Blick mit meinem Dad wechselt. Sein Lächeln hat sich in Luft aufgelöst. Plötzlich sieht er wieder so grau und erschöpft wie gestern Abend aus.
 

„Nun...,“ beginnt sie langsam und legt ihr Besteck zur Seite, „Es...stimmt. Wir wollten...mit euch sprechen...,“

Mein Körper wird taub vor Anspannung. Ich höre, wie Lenny neben mir tief Atem holt. Auf der anderen Seite spüre ich eine Bewegung. Einen Moment später tastet Jasmin nach meiner Hand. Ich nehme sie in meine und halte sie fest.

„Es ist so...,“ sagt meine Mam und blickt uns der Reihe nach ernst an, „...dass euer Vater und ich...einige Probleme haben, wie ihr ja...bemerkt habt. Und deshalb...haben wir gestern Abend...spät...,“ bei diesem letzten Wort huschen ihre Augen kurz in meine Richtung, „...beschlossen, dass...wir uns erst einmal trennen werden.“
 

Ich wusste es.

Ich wusste es die ganze Zeit über. Es war klar, dass es darauf hinauslaufen würde. Es ist die einzig logische Entscheidung. Das einzig Richtige, das von Anfang an fest stand.

Vielleicht ist das der Grund, weshalb es mich nicht vom Stuhl wirft. Im Gegenteil. Es fühlt sich an, als würde jemand ein Gewicht von meinen Schultern nehmen.

Ich atme tief ein und aus. Mein Herz schlägt lebendig in meiner Brust. Neben mir spüre ich, wie sich Jasmin und Lenny ebenfalls entspannen. Kein Zusammenbruch, kein Geheule. Es ist, als hätten sich seit gestern Abend alle mit dem Unausweichlichen abgefunden.

Ich sehe meine Eltern an. Sie sehen mit gespannter Sorge zurück, als erwarten sie, dass wir jeden Moment aufspringen und jaulend unsere Teller durch die Küche schmeißen. Obwohl mir die Idee unter anderen Umständen – Charlie – gut gefällt, lasse ich es bleiben. Ich nicke nur, als befänden wir uns mitten in einer geschäftlichen Abmachung.

„Okay,“ höre ich Jasmin leise sagen.
 

„Es...ist noch nicht endgültig,“ beeilt sich meine Mam zu sagen, als würde das auf lange Sicht irgendwas ändern, „Wir...müssen nur erst mal herausfinden, was wir...jeweils...wollen...,“

Sie verstummt und tauscht einen erneuten Blick mit meinem Vater. Vermutlich geht es ihr auf die Nerven, dass immer sie diese unangenehmen Gespräche führen muss und er nur daneben sitzt und nickt. Mich würde es nerven.

Keine Ahnung, wieso ich jetzt über so was nachdenke...

„Euer Vater wird erst mal in eine kleine Wohnung in der Innenstadt ziehen,“ fährt Mam fort und Dad nickt, als wäre das alles kein Problem, „Und nun...stellt sich die Frage...,“ sie holt tief Luft, während wir drei in unseren Stühlen versinken, „...was mit euch geschieht.“
 

Wir schweigen.

Mein Kopf ist leer. Mir war klar, dass diese Entscheidung früher oder später anstehen würde. Gestern Mittag in Charlies Küche habe ich es auch schon gewusst.

Mann, war das erst gestern? Es scheint mir Jahre her zu sein... Damals schien dies alles noch so weit entfernt. Und jetzt...ist es da. Und ich weiß nicht weiter.

Stumm betrachte ich mein Colaglas. Es ist beschlagen und winzige Bläschen schweben vom Boden hoch, schmiegen sich oben an die gläsernen Wände wie Seerosen. Es sieht schön aus. Und appetitlich. So sehen die Colagläser auch immer in der Werbung aus. Nur die Eiswürfel fehlen. Und der coole Typ, der das Glas ungeniert leert, weil er ja ein ach so chilliges Leben hat. Nur Sonne, Palmen, Frauen und keine Probleme. Scheißkerl.
 

Jasmin räuspert sich in die Stille hinein. Es klingt genauso panisch wie das von Mam. Sie drückt meine Hand, als bräuchte sie Mut. Mein Herz stockt und ich sehe meine Schwester von der Seite her an. Sie ist blass und mustert ihre Gabel so verbissen, als würde allein ihr Anblick sie vor dem Kollaps bewahren.

„Ich...habe heute Vormittag keine Bewerbungen geschrieben...,“gibt sie dann leise zu, „Ich habe stattdessen...mit Dana telefoniert und...,“ sie stockt und ich sehe, wie sich ihr Kehlkopf bewegt, „...ihr vorgeschlagen, zusammen in eine Wohnung zu ziehen. Sie fand die Idee gut. Sie will doch schon so lange aus dem Wohnheim raus und...ich bin mir sicher, dass wir gut miteinander auskämen...,“

Sie hebt den Kopf und schaut Mam und Dad an.

„Glaubt ihr nicht, dass das...eine gute Idee ist?“

Oh fuck.

Meine Eltern – und ihre Eltern ebenfalls – erwidern Jasmins Blick ruhig. Aber ich kann...ich

kann die Traurigkeit dahinter sehen. Und ich...
 

Oh Gott. Ist das beschissen... Mein Inneres zieht sich schmerzhaft zusammen.

Ich meine..., Jasmin ist erwachsen und es wird eigentlich sowieso Zeit, dass sie mal zu Hause auszieht und ihr eigenes Leben lebt und so weiter. Aber trotzdem. Sie ist und bleibt meine große Schwester und ich...

„Doch...,“ sagt meine Mam dann und lächelt schwach, „Das klingt tatsächlich gut. Wollt ihr nur zu zweit, oder...?“

„Wir dachten, wir holen uns noch jemanden Drittes dazu,“ antwortet Jasmin eilig, „Vielleicht Jakob. Dann wird es billiger.“

„Richtig, richtig...,“ murmelt Mam.

Mein Dad nickt und zieht eine Grimasse, die wohl eigentlich ein Lächeln werden sollte. Neben mir höre ich Lenny rau und unregelmäßig atmen.
 

Mein Körper ist ein einziger Krampf. Ich spüre, wie Jasmins Hand in meiner zittert und feucht wird. Aber vielleicht ist das auch meine Hand in ihrer.

„Was...ist mit euch...?“, fragt Mam dann und wendet sich mir und Lenny zu, „Habt ihr...?“

Ihre Stimme verliert sich matt im Nichts.

Lenny und ich werfen uns verzweifelte Blicke zu. Ich habe das Gefühl, mich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Mir ist furchtbar schlecht. Alles in mir wehrt sich gegen diese Scheiße. Es tut so weh und...immer wieder drängt sich Charlie vor mein inneres Auge.

Gott, das ist alles so ätzend. Wieso muss diese Scheiße unbedingt aufeinander fallen? Wieso hätte Charlie nicht nen Monat warten können, verdammt noch mal?!

„Wir...dachten...,“ meldet sich mein Dad das erste Mal zu Wort, „...dass ihr zwei erst einmal hier bei eurer Mutter bleibt, bis ich...weiß, wo genau ich bleiben werde...,“

Er verstummt ebenfalls. Und auch, wenn seine Worte abgeschlossen klingen sollen, kann ich das hoffnungsvolle Fragezeichen hinter seiner Aussage hören.
 

Mhm. Offenbar sind sie sich noch nicht ganz einig in der Frage, wer Lenny und mich bekommt. Naja. Wenigstens möchten sie uns beide haben. Kurzzeitig habe ich befürchtet, es würde anders laufen:

Geht doch zu eurem Vater! Er lässt euch Bier trinken und den ganzen Tag fernsehen.

Oh nein! Ich werde schrecklich streng sein. Geht zu eurer Mutter, sie kann besser kochen.

Sowas habe ich mal als Sketch im Fernsehen gesehen. Es war schrecklich, geradezu traumatisch. Eine Horrorversion.

Allerdings...ist dies nicht viel besser. Eigentlich ist es eine Horrorversion von vergleichbarer Horrorität. Ich muss mich entscheiden. Zwischen meinen Eltern.

Gott, ich habe keine Ahnung, was ich–

Dann holt Lenny tief Luft. Seine Stimme ist erstickt, aber entschieden:

„Ich...würde gern mit Dad mitkommen...,“
 

Die Stille in der Küche ist mit einem Mal so laut, das sie fast greifbar scheint. Offenbar ist die Zeit stehen geblieben. Und mein Herz ebenfalls.

Gott... Ich...kann es nicht glauben...

Unverwandt starre ich Lenny an. Er wirkt entschlossen und stur. Ich sehe in seinen Augen, dass dies kein spontaner Beschluss ist, sonder dass...dass diese Entscheidung schon lange feststeht. Vermutlich schon von Anfang an. Vom ersten Fluch an.

Aber was...bedeutet das für mich? Was soll ich denn jetzt sagen? Ich will meinen kleinen Bruder in meiner Nähe haben, damit ich ihn beschützen und notfalls auch mal zusammen stauchen kann, aber...

Ich wende den Kopf, um meine Eltern anzusehen. Mein Dad fixiert Lenny mit sprachloser Verblüffung. Und trotzdem...trotzdem leuchten seine Augen auf vor Freude.
 

Dann nehme ich eine Bewegung neben ihm war und blicke zu Mam hinüber. Sie hat die Hand gehoben und streicht sich ihr Haar aus dem–

Oh mein Gott! Oh Scheiße! Nein, nein, nein, bitte nicht!

Ich fasse es nicht... Das darf nicht sein. Grundgütiger! Träume ich? Oh bitte...!

Ich will es nicht wahrhaben. Aber ich fürchte, ich träume nicht...

Meine Mam hat Tränen in den Augen.

Oh Gott, nein! Eltern dürfen nicht weinen! Nicht vor ihren Kindern. Das ist verboten, ein ungeschriebenes Gesetz! Eltern dürfen auf diese Weise keine Schwäche zeigen und ihre Kinder in so eine Situation bringen. Unter keinen Umständen!

Gott... Ich habe meine Mam noch nie weinen gesehen. Niemals! Der Anblick reißt mir fast das Herz heraus. Was...soll ich denn jetzt tun...?
 

„Entschuldigt bitte...,“ flüstert sie in diesem Moment mit schwacher Stimme, steht vom Tisch auf und verlässt die Küche. Wir starren ihr nach und mein Herz kracht schnell und entsetzt gegen meine Halsschlagader.

Meine Mutter weint. Oh Gott. Ich hätte nie gedacht, dass mich das so umhaut, ich meine...sie ist schließlich auch nur ein Mensch. Aber sie ist meine Mutter! Und sie ist immer so verdammt...stark und tough und so weiter. Und jetzt weint sie. Weil dies der Moment ist, in dem ihre Familie auseinander bricht und sie es nicht aufhalten kann und ihr jüngster Sohn sich gegen sie entscheidet. Es muss ihr das Herz brechen.

Ich schlucke krampfhaft und sehe den Rest meiner Familie an. Jasmin sieht ebenso entsetzt aus wie ich mich fühle. Lenny ist aschfahl. Mein Dad schiebt sich mit zitternden Fingern die Brille die Nase hoch und legt meinem Bruder dann tröstend die Hand auf die Schulter.
 

Und plötzlich...stehe ich auf den Füßen.

Dad, Jasmin und Lenny mustern mich mit aufgerissenen Augen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und mein ganzer Körper kribbelt vor Anspannung. Ich fühle mich schrecklich. Und gleichzeitig erleichtert. Denn mein Bruder ist bei Dad gut aufgehoben.

Und ich habe mich entschieden.

Ich spüre, wie sich meine Lippen wortlos zu einem kleinen Lächeln verziehen, dann folge ich meiner Mutter aus der Küche. Mein Kopf ist leer, mein Körper bewegt sich eigenständig. Trotzdem weiß ich ganz genau, was ich hier tue.

Meine Mam steht mit dem Rücken zu mir im Flur. Sie hat sich mit der linken Schulter an die Wand gelehnt und den Kopf gesenkt. Mein Inneres sackt in sich zusammen.

„Mam...?“, flüstere ich vorsichtig, als ich hinter ihr stehe.

Sie zuckt leicht zusammen und schnieft, dreht sich aber nicht um.
 

„Hallo...,“ sagt sie mit belegter Stimme, „Alles in Ordnung, Momo. Mach dir keine Sorgen. Tut mir Leid, dass ich mich so irrational verhalte.“

„Red keinen Unsinn, Mam.“

Sie schnaubt leise.

„Mam...?“

„Ja?“

„Wenn du nix dagegen hast, dann...,“ ich hole tief Atem, fixiere ihren Hinterkopf und bin mir bewusst, dass die Anderen in der Küche vermutlich alles mit anhören können, „...dann würde ich gerne hier bei dir bleiben. Wär das...wär das okay...für dich...?“

Ich halte den Atem an. Der Rücken meiner Mam hat sich bei meinen Worten versteift. Mein Herz vollführt vor Angst einen Trommelwirbel.

Dann dreht sie sich zu mir um.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Laniechan
2011-09-17T11:26:21+00:00 17.09.2011 13:26
Ui was fuer ein kommi. Dakann icheigentlich fast nichts mehr dazu sagen. Aber es ist immer traurig, wenn eine familie so auseinanderbricht und kindersind die hauptleidtragenden. Besonders die kleinen. Nach diesem kapi hat man nicht wenig lust zuhause anzurufen und den eltern zu sagen, dass man sie lieb hat
Von: Karma
2010-01-11T17:20:15+00:00 11.01.2010 18:20
Doch, das Ende ist für das Kapitel eindeutig perfekt. Genau richtig zum Heulen. Gott, das erinnert mich an die Trennung meiner Eltern - nur, dass die leider nicht so harmonisch abgelaufen ist und ich mich auch nicht so entscheiden konnte, wie ich es eigentlich wollte, weil ich damals einfach noch zu jung war, um richtig mitreden zu dürfen. Irgendwie trifft mich das Kapitel jetzt volle Breitseite.
;____;
Gut, dass es das Zehn-Finger-System gibt. Sonst wär's mit dem Kommi jetzt erst mal Essig. Ich hoffe nur, ich vertippe mich nicht zu oft. Bildschirm sehen ist nämlich gerade nicht drin.

Man hat die Trennung wirklich die ganze Zeit kommen sehen, aber als es dann wirklich zur Sprache kam, da lief's bei mir nur noch. Ehrlich, ich bewundere Momo. Trotz der ganzen Scheisse mit Charlie, trotz seiner eigenen Angst und allem, was ihn beschäftigt, bringt er den Mut auf, diese Fassade zu zerreissen und den Klartext anzusprechen, den die ganze Familie braucht. Ich glaube, ohne Momo würden sie alle noch ewig um den heissen Brei herumreden. Und er selbst merkt nicht mal, wie wichtig er eigentlich ist.
*Momo knuddel*
Gott, ich liebe ihn!

Und irgendwie kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass die ganze Sache jetzt, wo die "Fronten" klar sind, eigentlich nur noch bergauf gehen kann - zumindest in der Familie. Dass Lenny und Jasmin ihre Entscheidung offenbar schon länger getroffen haben, hat mich etwas überrascht, aber Momos spontaner Entschluss war für mich irgendwie ersichtlich. Ich glaube, er hat gemerkt, dass seine Mutter ihn einfach braucht. So ganz ohne ihre Familie wäre sie sicher auch verdammt einsam, vor allem wenn von heute auf morgen alle drei Kinder plötzlich weg sind. Das muss wirklich grausam sein.

Ich fand es toll, wie Du die Stille in der Küche beschrieben hast. Man hat förmlich mit am Tisch gesessen, gespannt den Atem angehalten und darauf gewartet, was wohl als nächstes passiert. Genau darauf bin ich jetzt auch irre gespannt. Und auch wenn's Dir Deine Planung zerschossen hat, das Kapitel teilen zu müssen, finde ich es gut, so wie es ist. Ein rundum perfekter Abschluss für ein emotional sehr aufwühlendes Kapitel.

Irgendwie, ich weiss nicht warum, kann ich nicht umhin zu hoffen, dass Charlie im nächsten Kapitel bei Momo auftaucht - mal direkt vor der Tür und nicht über die Angelschnur wie sonst immer. Ich weiss nicht, aber nach dem vergangenen Tag und der letzten Nacht wäre es einfach schön. Klar, ich glaub nicht daran, dass das wirklich so passieren wird, aber schön fänd ich's trotzdem. Ich kann mir bei Charlie einfach gut vorstellen, dass er doch über seinen eigenen Schatten springt, einfach weil er ja weiss, was in Momos Familie gerade los ist und wie's ihm damit geht. So im Sinne von "Hi. Lass uns das, was gestern war, erst mal beiseite schieben. Wie geht's Dir? Was ist mit Deinen Eltern? Gibt's was Neues?" oder so. Ich glaube, Momo könnte das gebrauchen - auch, wenn er Charlie wahrscheinlich einerseits anschreien und andererseits gleich wieder küssen wollen würde. Ich kann ihn da voll und ganz verstehen.

Und ich wüsste ehrlich gerne, wie die letzte Nacht für Charlie abgelaufen ist. Ob er auch wach gelegen hat und Löcher in die Zimmerdecke gestarrt hat bei dem Versuch, sich zu entscheiden, was er jetzt will und was er tun soll? Gott, diese ganze Grübelei macht mich ganz wirr. Sorry, wenn ich Dich damit so zumülle, aber darüber denke ich schon die ganze Zeit seit dem Lesen des letzten Kapitels nach.

Ich bin auf jeden Fall schon tierisch gespannt darauf, wie der Rest des Kapitels aussieht und wie's weitergehen wird. Und auch wenn ich Momos Mutter anfangs nicht besonders mochte, gerade im Moment tut sie mir einfach nur furchtbar leid. So eine lange Beziehung zu beenden - auch wenn es noch nicht endgültig ist - ist ganz sicher nicht leicht.

Karma


Zurück