Wie herablassend
Nach Ls Aussage fühlte Near sich etwas getadelt, wusste aber, dass er Recht hatte.
Dennoch... Raitos Worte gaben ihm so viel Hoffnung, dass er das Gespräch einfach weiterführen musste, auch wenn es lächerlich war.
„Da hast du wohl Recht. Entschuldige bitte“, meinte der Braunhaarige schließlich und wandte sich mit leicht gesenkten Lidern wieder den Monitoren zu.
„Dem muss ich mich wohl anschließen.“ Daraufhin tat Near es seinem Vorgänger gleich und konzentrierte sich wieder vollkommen auf den Fall.
Somit saßen wieder alle drei ruhig und mit ernster Miene vor ihrer derzeitigen Aufgabe.
Dabei versuchten sie Verhalten und Gewohnheiten der zu beschattenden Personen zu studieren.
Es wäre natürlich töricht und zu dem noch unmöglich gewesen, Anhand weniger Stunden ein Persönlichkeitsprofil zu erstellen, was also hieß, dass das wohl noch einige Tage so weiter gehen würde.
Dennoch war es bei Kriminalfällen immer so, dass man schnell und sicher handeln musste, um weitere Verbrechen zu vermeiden. Deswegen mussten die drei auf jegliche Kleinigkeiten achten.
Momentan war das noch sehr schwierig, da die jeweiligen Außenermittler noch nicht nahe genug an den Zielobjekten dran waren. Trotzdem riss sich das Trio zusammen, um sich nicht erneut ablenken zu lassen. Wobei das „Duo“ der bessere Ausdruck wäre, da L sich sehr solide an seine Pflichten hielt, wenn auch teils aus den falschen, für seinen Geschmack viel zu menschlichen Gründen. [...]
Nach zweieinhalb Stunden der ständigen Überwachungen kamen alle drei zu einem Fazit bezüglich der jeweiligen Verdächtigen. - Auch wenn die Ergebnisse noch sehr dürftig waren.
Die Frau, auf die Near sich konzentrierte, war immer recht schnell unterwegs und blickte ständig so um sich, als ob sie sich verfolgt vorkäme. Sie wurde einige Male nach dem Weg gefragt und wirkte dabei immer sehr schüchtern, versuchte aber trotzdem freundlich zu wirken.
Nachdem sich die Leute dann von ihr entfernten ging sie einige Minuten immer ziemlich abseits, viel deutlicher als zuvor.
Weitere Auffälligkeiten konnte der Junge noch nicht feststellen.
In Raitos Fall konnte man ziemliche Gegensätze zu Nears feststellen.
Die Frau um die es sich hier handelte bewegte sich sehr gemächlich und sah die meiste Zeit sehr ernst, schon beinahe unfreundlich aus. Was aber daran liegen konnte, dass sie möglicherweise versetzt oder dergleichen wurde, da sie kontinuierlich auf ihr Handy starrte.
Während ihrer Pause besuchte sie einige Läden und machte auch einen kurzen Halt bei einer Imbissbude.
Da diese Dame offenbar gerade von Emotionen beeinflusst wurde, konnte man ihrem Verhalten also kaum eine besondere Aussage abgewinnen.
Besonders bei Ls Zielobjekt war es schwierig etwas herauszufinden, da es sich hauptsächlich in einem Privathaus aufhielt. Somit war es dem Außenermittler kaum möglich gewesen etwas zu erkennen, ohne dabei selbst suspekt zu wirken.
Natürlich war das mehr als ernüchternd für den Schwarzhaarigen, doch die Tatsache, dass er am selben Tag noch viele weitere Tapes zu Gesicht bekommen sollte, brachte ihm einen Lichtblick.
„Ich nehme doch an, dass wir uns die 15 weiteren Bandaufnahmen auch ansehen werden, oder?“, fragte Near dann etwas skeptisch, nachdem er und die anderen beiden mit ihren ‚Analysen’ fertig waren.
Er hielte es für äußerst seltsam, würden sie es dabei belassen und dachte auch nicht, dass L so vorgehen würde. Seine vorherige Aussage, in der es hieß, dass andere Monitore sich bloß dann einschalten würden, wenn einer der Außenermittler etwas Merkwürdiges bemerken sollte, machte ihn allerdings stutzig.
„Natürlich. Hast du etwa gedacht, dass wir alles den Außenermittlern überlassen? ... Das wäre viel zu unzuverlässig“, antwortete L recht monoton, wirkte dabei aber dennoch auf eine gewisse Art und Weise überheblich, wenn auch unbeabsichtigt.
„Ryuzaki, meinst du nicht, dass das eben ein wenig herablassend war?“, sagte Raito daraufhin tadelnd. Ls Aussage wirkte für ihn etwas unfair, als ob er die Arbeit der Männer nicht anerkennen würde, auch wenn er es nicht offen sagte.
Near hingegen empfand Ls Worte als sehr erotisch, weswegen er auch prompt schwieg.
Die Art, mit welcher er soeben auf andere herabblickte, bewirkte in ihm ein Kribbeln, das er kaum zu kontrollieren vermochte. L war weder grausam noch selbstgefällig, er machte einzig und allein klar, dass er sich für diese Aufgabe geeigneter als die anderen hielt.
Und genau das war es, was Near gerade anziehend fand.
„Es tut mir leid, wenn du das so siehst, Yagami-kun. Das war nicht meine Absicht“, meinte der Schwarzhaarige verhalten, um die Sache nicht zu sehr auszudehnen. Schließlich hatten sie hier einen Job zu erledigen.
„Wie auch immer. Um den weiteren Vorgang klar zu machen; Wir sollten zunächst die Hauptverdächtigen untereinander tauschen, damit sich jeder von uns ein Bild von den jeweiligen Personen machen kann“, fuhr L sodann fort.
„Dem stimme ich zu“, sagte Raito nickend und schloss für einen kurzen Moment seine Augen um seinen Kopf etwas frei zu bekommen. Eine Frau, die kleine Kinder willentlich qualvoll verbrennen möchte - das war mehr als unverständlich für den moralischen Polizistensohn gewesen.
„Entschuldigen Sie mich bitte für einen Augenblick. ... Ich bin gleich wieder zurück“, verkündete Near plötzlich und stand gemächlich von seinem Stuhl auf.
„Oh?.. Ist etwas?“, fragte L ihn mit leicht verwirrter, schon fast kindlicher Miene.
„Nein,“ antwortete Near lächelnd, „ich benötige bloß einige Dinge, damit ich besser denken kann.“
Danach führte er seinen Weg zu der großen Türe am Ende des Raumes fort.