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In jeder Zeit der Welt

Was die Zeit nicht alles ändert...
von

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Gegenwart

Mein Name ist Jojo,

ich bin 16 Jahre alt

und werde im Moment von meinem,

als tot bezeichneten

älteren Bruder

durch die Stadt gezogen.

Von einem Bruder,

den ich schon immer hatte,

in einem Leben,

das von Anfang an nicht so war,

wie es schien.

Sondern viel besser.

Mit einer Vergangenheit,

die man nur als beschissen,

aber eben als Teil bezeichnen konnte,

einer Gegenwart,

von der ich nicht glaube,

das sie wirklich wahr ist,

so faszinierend.

Und einer Zukunft,

die noch in den Sternen steht!

Also alles in allem,

eigentlich gar nicht so schlecht…

Denn trotz der Vergangenheit als Grundlage

habe ich es geschafft,

noch etwas gescheites daraus zu machen!

Ich möchte euch jetzt die Chance geben,

einen Einblick in mein Leben zu bekommen!

Viel Spaß dabei!
 

Euer Jojo
 

Mit diesen Vorsätzen öffnete ich schließlich die Tür in mein neues Leben…

Mein neues Leben also… Das Leben, das ich schon so lange hätte leben sollen…

Das Leben, in dem ich die Vergangenheit einfach los ließ, mich völlig von ihr löste und mich nur auf das Hier und Jetzt konzentrierte, endlich glücklich werden würde.

Eine Freundin finden, vielleicht ja Emily, denn süß war sie ja, da konnte niemand etwas Gegenteiliges behaupten. Endlich frei von Sorgen.

Mich auf die Schule konzentrieren und nicht an Vergangenem fest halten!

So sah mein Plan aus…

Klingt doch richtig gut, oder?

Fast schon zu gut, nicht wahr…

Ich spürte auch in gewisser Weise, dass es so nicht sein würde, dass ich nicht so viel Glück haben kann.

Und mein schlechtes Gefühl sollte sich auch sofort begründen, denn als ich auf der obersten Stufe der Veranda stand, gerade tief einatmete und die frische Luft ein sog, fiel mein Blick wieder auf etwas.

Denn an der Stelle, an der noch einige Zeit vorher, als wir das Haus betreten hatten, die Schaukel hing, hing diese nun nicht mehr. Es hing viel mehr eine Art Seil daran, ein Seil an dessen unterem Ende sich eine Schlaufe befand, solch ein Seil, das man nur aus Filmen kennt, solch ein Seil, das man sich um den Hals legte, wenn man sein Leben beenden wollte.

Ich schluckte, wollte mir hier und jetzt wirklich jemand vormachen wie ich geendet hätte, hätte mich der blonde Engel der sich noch hinter mir befand nicht gerettet? Wollte mir denn wirklich jemand mein soeben zurück gewonnenes Leben kaputt machen, indem ich zusehen musste, wie die Person sich selbst das Leben nahm?

Was konnte dem Menschen denn schon großes passiert sein? Mein Leben war scheiße! Verdammt scheiße gelaufen, doch selbst ich habe nach langer Zeit einen Weg zurück ins echte Leben gefunden, zurück in die Wirklichkeit. Was konnte diesem Menschen passiert sein? Aus irgendeinem Grund wollte ich mit der Person reden, wissen ob er wirklich Grund genug hatte hier den Schlussstrich beziehungsweise wohl eher Schluss-Strick zu ziehen.

So viele Fragen machten sich auf einmal in mir breit, doch die eigentlich wichtigste Frage hatte sich bis dahin eher verborgen gehalten, denn wer war denn diese Person, die sich im Vorgarten meines Elternhauses das Leben nehmen wollte? Warum hier und nicht an irgendeinem anderen Ort?

Doch um diese Frage zu beantworten stellte sich mir auch gleich die Nächste… Wo verdammt noch mal war der Spinner, der das hier alles geplant hatte? Ich sah mich fragend um und als ich mir wirklich sicher war, dass weit und breit keiner zu sehen war, fragte ich mich ernsthaft, ob mich hier jemand verarschen wollte und sich einen Spaß erlaubt?

Emily schien noch gar nicht bemerkt zu haben, dass dort sich entweder jemand bestens darauf vorbereitet hatte sich umzubringen, oder darauf uns an der Nase herum zu führen. Als nach einer weiteren Minute immer noch kein Wort über ihre Lippen gekommen war, drehte ich mich schließlich zu ihr um und war bei ihrem Anblick etwas verdutzt.

Emily konnte das, was ich gesehen hatte gar nicht wahrnehmen denn sie blickte fasziniert in die völlig falsche Richtung. Das Interessante spielte sich nämlich rechts von uns ab und sie starrte genau in die andere Richtung, nämlich nach links!

Ich bin schlau nicht? Das Gegenteil von rechts ist links! Naja okay dieser spaß war jetzt vielleicht fehl am Platz aber was soll’s, Spaß muss sein.

Auf jeden Fall wollte ich sie unbedingt dazu bekommen, dass sie auch auf das Seil aufmerksam wird. Deshalb griff ich ganz tief in meine Trickkiste und hampelte vor ihren Augen herum, schnitt Grimassen und piekste ihr schließlich in die Seite. Als das alles nichts half, griff ich schließlich auf die herkömmlichen Methoden zurück und sprach sie direkt darauf an „Emily?! Schau mal her, ich muss dir was zeigen!“, gab ich genervt von mir. Doch sie legte nur den Finger an ihre Lippe und bedeutete mir leise zu sein. Etwas verständnislos sah ich sie an und dieser Blick wurde nur noch unwissender, als sie schließlich kaum hörbar „Na siehst du denn nicht?“ zu mir sagte.

Was sollte ich denn bitte sehen? Sie war diejenige die nicht sah! Ich hatte die große Entdeckung gemacht, das Seil und sie will mir was von siehst du denn nicht erzählen? Gerade wollte ich von neuem anfangen lautstark auf sie ein zu reden und sie als verrückt zu bezeichnen als sie kurzerhand mein Kinn mit ihrer Hand umfasste und nach links drehte.

Und wirklich, nach einigen verdutzten Momenten sah ich etwas !

Und was ich sah, raubte mir fast den Atem, es war noch schockierender als der Strick. Denn sie hatte das gesehen, nach dem ich vergeblich gesucht hatte… die Person zu dem Strick! Die Person, die uns verarschen wollte…. NEIN die Person, die sich umbringen wollte.

Es war ein junger Mann mit braunen Haaren, die ihm wie wild in sein Gesicht hingen. Er trug ein schwarzes T-Shirt und nicht nur sein T-Shirt war schwarz, auch der Blick in sein Gesicht ließ in einem sofort düstere Gedanken aufkommen. Zwar waren seine Augen von einem seiner Haarbüschel verdeckt, doch trotzdem war sein Leid unverkennbar.

Ich beobachtete den Mann einige Minuten stumm, wie er wie von einer Tarantel gestochen im Garten umher irrte und irgendetwas zu suchen schien.

Auch Emily war wie versteinert. Vorsichtig tippte ich auf ihre Schulter und wies auf dem Baum, auf den der Unbekannte nun zielstrebig zu steuerte, um sie auf das Seil aufmerksam zu machen. Sie schlug eine ihrer Hände vor den Mund, denn auch sie wusste nun warum er hier war.

Nicht fähig uns zu bewegen beobachteten wir weiter den Mann, der nun einen alten Hocker unter den Baum stellte. Das hatte er also gesucht. Nein, er wollte uns nicht verarschen, vielleicht wusste er nicht einmal, dass wir da waren. Er hatte sich fest in den Kopf gesetzt sich umzubringen. Zu sehr überschlugen sich die Gedanken in meinem Kopf, als das ich fähig wäre rechtzeitig zu begreifen, dass ihm nun nur noch wenige Sekunden im Weg standen, um das zu haben, was er wollte.

Das was er wollte? Seinen Tod?

Viel zu spät schaltete ich das, denn in dem Moment in dem ich in seine Richtung spurtete stand er schon einige Zeit auf dem Hocker, sicher überlegte er noch, ob er es tun sollte oder nicht, ob er qualvoll durch das Seil sterben will, ob er wirklich spüren will, wie ihm langsam die Kehle zu geschnürt wird und er keine Luft mehr bekommt. Oder es sich nicht doch noch besser überlegen will, seinem Alter entsprechend erwachsen handeln will und es noch mal versucht, einsieht, dass es keinen Sinn hat zu sterben. So wie es auch ich eingesehen habe.

Ich, genau ich bin jetzt der große Retter, nicht Emily, die tolle Emily, die schon immer Grund genug hatte stolz auf sich zu sein, wirklich ich, der kleine Junge, der nie Grund hatte zu sagen: In der Vergangenheit? Da hab ich was Großartiges vollbracht, da habe ich jemandem das Leben gerettet! Eben ich war es der das von sich sagen wollte, der dem Mann helfen wollte.

Ich war fast bei dem Dunkelhaarigen angekommen, er hatte noch nicht bemerkt, dass sich auf dem Grundstück noch jemand außer ihm befand, da hörte ich auf einmal Emily von hinten rufen: „Meine Güte Jojo, was hast du vor?“ Ich beachtete meine entsetzte beste Freundin nicht sonderlich, dafür der Mann vor mir umso mehr. Denn dieser blickte erschrocken auf, als er ihre helle Stimme hörte.

Sein Blick war verstört, irgendetwas zwischen Schrecken, Verzweiflung, Trauer, Angst und … Moment, das konnte nicht sein, war es wirklich… Glück, das ich in dem Blick sah? Welcher Selbstmörder ist denn glücklich, wenn er dabei erwischt wird, wie er sich umbringen will? Ist der Typ den schon total durchgedreht? Wieder vernahm ich ein Rufen von hinten „Jojo!“ war diesmal das Einzige was sie hervor brachte. Der Mann blickte von ihr zu mir und sah mich direkt mit seinen kalten, hellblauen Augen an.

Als sich jedoch unsere Blicke trafen wich er unsicher einen Schritt zurück.

Und so nahm das Unglück seinen Lauf. Der alte Hocker den er gewählt hatte, hielt der plötzlichen Gewichtsverlagerung nicht mehr stand und eines der drei Beine brach ab, ich war nur noch wenige Schritte von dem Baum entfernt, als der Hocker in sich zusammen brach und nun das komplette Gewicht des Mannes an dem Seil um seinen Hals hing.

Panisch überwandt ich die letzten Meter Distanz zwischen mir und dem Baum und versuchte die würgenden Versuche des Mannes, Luft zubekommen zu ignorieren so gut es eben ging.

Endlich war ich an dem Baum angekommen. Doch was nun? Wie sollte ich es schaffen den Mann los zu bekommen? Das Seil durchschneiden war das erste, was mir in den Sinn kam... doch dabei gab es drei Probleme, erstens kam ich nicht mal an das Seil heran, zweitens hatte ich kein Messer dabei, drittens lief mir die Zeit davon.

Also beschloss ich spontan die Luftzufuhr des Mannes wieder her zu stellen und ihn auf meine Schultern zu setzen.

Auch Emily hatte mittlerweile das Geschehene so weit verkraftet, dass sie fähig war in meine Richtung zu laufen. Auch wenn ihre Schritte noch etwas stockend aussahen.

Doch ich ließ mich von meinem Tun nicht weiter ablenken und schaffte es nach einigen Anstrengungen ihn auf meine Schultern zu setzen. Doch da es anscheinend doch etwas zulange gedauert hatte, war der Mann nicht mehr bei Bewusstsein und sein Körper klappte ungehindert in die verschiedensten Richtungen und da der Baum auch nicht mehr der neuste war, hörte ich ein verdächtiges Knacken und statt wie die Male davor, zu versuchen in irgendeiner Weise ein Gleichgewicht her zu stellen, lies ihr ihn dies mal kippen.

Tatsächlich brach der Ast durch das Gewicht des Mannes auch bald darauf ab und ich flog mitsamt meines zusätzlichen Gewichts auf die Wiese.

Keuchend stand ich auf, ist ja nicht alltäglich einen Mann auf den Schultern sitzen zu haben und doch war ich zufrieden, denn als Emily ankam stand ich wieder normal atmend neben dem Brünetten, dem ich auch schon die Schlinge vom Hals genommen hatte.

„Ich habe einen Krankenwagen gerufen! Die Schlinge hast du ja schon abgenommen. Gut! Hast du geschaut, ob er noch atmet?“

Ebenso stolz wie ich gerade neben ihr stand, genauso geknickt war ich jetzt. Mist! Ich wusste doch, dass ich was vergessen hatte. An meinem Gesichtsausdruck musste sie gesehen haben, dass dem nicht so war und war sofort neben ihm in die Knie gegangen und hatte ihren Kopf auf seine Brust gelegt. Nach einigen Momenten des Schweigens stand sie wieder auf, klopfte sich ihre Jeans ab und verschränkte die Arme. Gab jedoch keinen Ton von sich.

Erwartungsvoll sah ich sie an, schließlich war es mir nicht egal, was mit dem Mann geschah, als sie immer noch keinen Mucks von sich gab fragte ich schließlich etwas genervt: „Und?“ Sie grinste nur und meinte dann spöttisch „ Er ist tot! Deswegen stehe ich auch da und starre auf die Strasse, auf der jede Minute der Rettungswagen kommen muss um denen zu sagen, dass sie zu spät sind, weil mein lieber Bruder vergessen hatte ihn wieder zu beleben!“

Mein Kiefer klappte nach unten, hatte sie das ernst gemeint? War er wirklich wegen mir gestorben? Hatte ich noch einem Menschen das Leben gekostet? War es wieder meine Schuld?

Plötzlich bekam ich einen unerwarteten Stoss in die Seite und hörte Emilys Lachen: „Du Dummkopf, wäre ich so ruhig wenn er tot wäre? NEIN! Er atmet, das ist ein gutes Zeichen, mehr können wir nicht für ihn machen! Mehr müssen wir nicht machen, denn dahinten kommt auch schon der Rettungswagen!“ Ich seufzte erleichtert und blickte nun auch auf den sich nähernden Wagen, der auch kurz darauf vor dem Grundstück anhielt.

Es war als würde die Zeit auf einmal schneller vergehen, oder lag es daran, dass die Sanitäter so schnell liefen? Wer weiß… auf jeden Fall stürmten drei Sanitäter aus dem Wagen, zwei davon trugen eine Liege, der Dritte einen Koffer, direkt auf uns zu.

Sie knieten sich vor den Mann, überprüften seine Werte, hoben ihn auf die Trage und setzten ihm eine Sauerstoffmaske auf.

„Wissen Sie, wer dieser Mann ist, der ihnen beiden sein Leben verdankt?“ Wir schüttelten beide wahrheitsgemäß den Kopf. Daraufhin durchsuchte der Arzt die Taschen des Bewusstlosen, doch leider hatte er Pech, denn in genau dem Moment in dem er sich an die Taschen machen wollte, piepsten die Geräte die seine Kollegen in der zwischen Zeit angeschlossen hatten und er schreckte von seinem Tun auf. „Mist, wir müssen uns beeilen. Dann muss das wohl bis später warten. Wir müssen jetzt los, wollt ihr beide vielleicht mit kommen? Es ist immer schöner aufzuwachen, wenn andere Menschen da sind als alleine!“ Eigentlich wollte ich schon ablehnen, doch Emily zögerte keinen Moment und sagte schließlich „Ja natürlich wollen wir, ist doch Ehrensache!“ „Okay dann mal los!“, gab der Arzt noch von sich, während er versuchte zu seinen beiden Kollegen auf zu holen, die schon voraus gegangen waren…
 

Im Krankenwagen war es eng und stickig, mich wunderte es wirklich, dass sich der Gesundheitszustand der Patienten hier nicht noch mehr verschlechtert. Bei diesem Mief. Hier bekam ja ich, als „gesunder“ Mensch schon fast Atembeschwerden, was sollte dann erst jemand sagen, der sich eben erhängen wollte?

Na ja, aber anscheinend wirkte dieser Mief wirklich Wunder, so viele Patienten, die diesen Wagen schon lebend wieder verlassen hatten. Doch gerade als wir an der Auffahrt des Krankenhauses angekommen waren, wurden alle, sogar Emily, auf einmal hektisch und diskutierten über irgendwelche Werte des Mannes.

Es muss schon schön sein, wenn man eine Ausbildung zum Sanitäter oder ein Praktikum im Krankenhaus hinter sich hat und bei der Diskussion auch mitreden kann. Doch wenn man so ein Durchschnittsmensch wie ich ist, hat man das nicht und folglich kann man das auch nicht, weil mein schlicht und ergreifend keine Ahnung von all dem Fachchinesisch hatte. Deshalb sitze ich nur da, sitze da und starre den Mann an, den ich gerettet habe. Schon komisch, noch heute Morgen wollte ich dasselbe tun, mein Leben einfach weg werfen, alles hinschmeißen und den Schmerz beenden, einfach aufgeben, und jetzt? Bin ich wie ausgewechselt, keine Sorgen mehr, keine Gedanken über die Vergangenheit. Denn jetzt stehe ich da als Retter… Retter meines Lebens und Retter seines Lebens. Ich sah ihn mir noch mal genauer an und ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Ja ein Lächeln, nicht, dass ich froh wäre, dass dieser Kerl halb tot ist oder dass ich das auch tun wollte. Nein, eher ein stolzes Lächeln, dass ich es endlich zu was gebracht hatte und endlich jemandem helfen konnte.

Ich glaube ich hätte mir noch länger Gedanken über meine Tat, die Veränderung in den wenigen Stunden, mein Schicksal, sein Schicksal einfach alles gemacht. Wenn nicht in exakt diesem Moment der seit Beginn unseres „Ausflugs“ ins Krankenhaus immer noch weggetretene Mann die Augen einen Spalt weit geöffnet hätte. Er schüttelte leicht den Kopf, um sich zurecht zu finden, dachte ich zumindest anfangs, doch dann fing er auf einmal an zu sprechen, okay sprechen kann man es nicht nennen er flüsterte eher oder röchelte vor sich hin. Daher war es auch kein Wunder, das ich der einzige war, der ihn verstehen konnte, beziehungsweise dem es auffiel. „Jojo, dass ich das noch erleben darf… das macht mich so endlos glücklich!“ er schaffte es gerade noch das letzte Wort hervor zu krächzen, da fiel er auch schon wieder in die Ohnmacht und aus seinen Augen floss eine einzelne, einsame Träne. Ja wirklich eine Träne, er weinte ich weiß nicht warum. Warum er sich meinen Namen gemerkt hatte, warum es ihn glücklicht macht mich zu sehen, ich musste es nicht.

Aber als seine Augen wieder komplett geschlossen waren, begann das Piepsen, das die ganze Fahrt über in gleichmäßigen Abständen hervortrat, schneller zu werden. Die Ärzte schubsten mich zur Seite als die Tür des Fahrzeuges aufgerissen wurde und eine Gruppe von Schwestern und noch mehr Ärzten hektisch anfing, an dem Mann herum zuziehen, zu messen und zu drücken.

Plötzlich herrschte einen Moment Stille… ja wirklich Stille keiner redete, nichts. Keine Geräte die klapperten, Menschen die wild durch die Gegend schnatterten, nichts!

Obwohl, doch, da war ein Geräusch, das sich durch die Stille zog. Ein einzelner, einheitlicher Ton der ausgehalten wurde. Der Moment der Stille schien schier unendlich. Doch dann, als er vorbei war, herrschte Hektik. Alles redete und wuselte umher, ich verstand nicht was geschehen war, doch ein Wort konnte ich immer wieder heraus hören…TOT!
 

Der Mann wurde sofort in einen großen Operationssaal gefahren, mit einer großen roten Lampe die zu leuchten begann, als alle Ärzte darin verschwunden waren. Emily und ich mussten uns mit den bequemen, weißen Plastikstühlen zufrieden geben und hatten beide einen Fragebogen zum ausfüllen bekommen. Wir waren doch nur Zeugen gewesen, warum mussten wir dann so ein scheiß Teil ausfüllen? Na ja, was soll’s, immerhin vertreibt es uns die Wartezeit. Moment mal Wartezeit? Worauf denn? „Ähm du Emily, du hast doch schon mal in nem Krankenhaus ausgeholfen, oder? Worauf warten wir jetzt?“ Emily blickte etwas ungläubig von ihrem Fragebogen auf, den sie anscheinend bis gerade eben sehr genau studiert hat. “Worauf wir warten?“ fragte sie dann noch mal ungläubig, als hätte sie sich verhört, wartete jedoch meine Antwort nicht ab, sondern beantwortete sich ihre Frage selbst: „Wir warten darauf, dass das rote Licht da oben ausgeht und der Mann außer Lebensgefahr ist oder dass jemand raus kommt, der uns sagt, was jetzt los ist. Darauf warten wir und falls du’s nicht weißt, das ist eine Notaufnahme, in die nur besondere Notfälle kommen!“ Etwas genervt wand sie sich wieder dem Zettel zu, den sie vorhin schon studiert hatte.

So ist das also, er ist in Lebensgefahr. Na ja, nicht weiter nachdenken, einfach hinnehmen und ablenken. Fangen wir doch mal mit dem Fragebogen an. Also erste Frage, Name is ja noch einfach Jojo Glen. Zweite Frage, Geburtsdatum. Mh, wie wäre es mit in einigen Wochen vor 17 Jahren? Na ja okay, lassen wir die Scherze, siebter November, und die nächste Frage nach dem Älter hätte sich auch geklärt 16. So zogen sich die Fragen durch wie ein roter Faden, nach dem Familienstand, dem Wohnort, dem Stand zum Opfer und noch so einigen anderen meiner Meinung nach unwichtigen Details.

Nach kurzer Zeit hatte ich die Seiten wahrheitsgemäß ausgefüllt und auf den Tisch neben mir gelegt, auch Emily war mittlerweile fertig mit dem Ausfüllen ihres Bogens. So saßen wir also da und warteten. Und warteten und warteten. Halt, lief da nicht etwas falsch? Sollten wir nicht um spätestens 21 Uhr zuhause sein, da ja Emilys Mutter und Vater wieder vornehmen Besuch bekamen? Das war doch glatt ein Grund um meine Langeweile bei Seite zu schieben und doch noch ein Gespräch mit der sonst so quirligen Emily anzufangen.

„Sollten wir vielleicht mal anrufen, dass wir später kommen?“ Emily drehte sich zu mir und runzelte die Stirn. „Na ja, kommt ganz drauf an was du willst, ob du warten willst, bis er außer Gefahr ist oder bis er wach ist oder gar bis er entlassen wird? Ob du gerne zu Hause sitzt, den geregelten Tagesplan runter ratterst, beim Essen mit Dads Arbeitskollegen und wartest, dass es endlich soweit ist und der Kollege entweder geht oder wir ins Bett müssen. Also bleibt es ganz bei dir was wir tun!“

Ich überlegte kurz, ich wollte ja nicht unbedingt nachhause. Nur wusste ich, was sich Emilys Mutter für Sorgen machte, wenn wir nicht kommen, andererseits war mir aber auch bewusst, dass ihr Vater uns sofort nachhause holen würde, wenn er wüsste, wo und warum wir da waren und vor allem was wir zuvor getan hatten. Denn ihr Vater war nicht begeistert, dass ich noch so genau wusste, was in meiner Kindheit vorgefallen war und so genau wusste, dass ich nicht in diese Familie gehörte, sondern in eine andere. Er wollte es einfach nicht verstehen.

Die Tür öffnete sich und ich wurde aus den Gedanken gerissen. Eine Frau mittleren Alters kam heraus gelaufen und schloss die Tür sofort wieder hinter sich. Ich blickte zu dem Licht, das eigentlich zeigen sollte, dass er außer Gefahr war, doch es leuchtete noch.

Vorsichtig beugte ich mich zu Emily. „Glaubst du, du schaffst es irgendwie deine Mam ans Telefon zu kriegen und zu sagen, dass wir später kommen? Dann könntest du die Frau da fragen wo du mal eben telefonieren kannst.“ „Na ja, ich bin zwar nicht begeistert von deiner Entscheidung, aber einen Versuch ist es wert!“, flüsterte sie zurück, ehe sie aufstand mich an der Hand packte und mit aufzog. Sie zog mich weiter hinterher, bis wir schließlich an der Rezeption angekommen waren, dann erhob sie in einem geschäftsmäßigen Ton ihre stimme: „Entschuldigen sie Madame, könnte ich mal kurz telefonieren? Ich müsste zuhause Bescheid geben das mein Bruder und ich später zuhause ankommen!“ Die Frau erklärte ihr, dass sie gerne das Telefon benutzen konnte, sich aber in die Liste eintragen musste, die daneben lag. Fein säuberlich trug Emily ihren Namen ein und rief dann zuhause an.

In der Zwischenzeit wollte ich mich eigentlich wieder auf meinen Platz begeben, doch Emily hielt mich zurück und machte mir begreiflich, dass ich noch warten solle. Schließlich nach schier endlosen Diskussionen legte sie den Hörer auf die Gabel und bedankte sich bei der Frau an der Rezeption „Bitte sehr Miss Forster!“ Erwiderte diese warm. Ich hatte mich schon in Richtung des kalten, weißen, unbequemen Plastikstuhls gewand, um eine weitere Ewigkeit zu warten, da stoppte mich Emily und drehte sich wieder zu der Frau. „Wie geht es ihm denn?“ Die Frau blickte nachdenklich, ehe sie sagte: „Den Umständen entsprechend, also er lebt wieder, jedoch sieht es noch nicht all zu gut aus, auch wenn sich seine Werte schon bessern.“ Wir nickten betroffen. Hatte ich nicht im Krankenwagen noch gedacht ich wäre sein Retter? Wohl etwas falsch gedacht, denn gerettet ist er noch nicht. „Und wissen sie nun schon wie er heißt?“ Wollte Emily weiter wissen. Die Frau nickte, ehe sie ihr eine Antwort gab: „Ja er heißt Glen… Jordan Glen!“ Die Blondhaarige neben mir klopfte mir auf die Schulter, ehe sie mit einem breiten Grinsen witzelte „Wow was für ein Zufall Jojo, dein Schützling heißt ja mit Nachnamen genauso wie du! Ist doch mal ein geiler Zufall, wer weiß vielleicht seid ihr ja verwandt!“

Während meine Halbschwester immer noch Späße machte, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Denn ich wusste nun, warum er erschrocken war, als er meinen Namen hörte, warum er glücklich war, mich zu sehen. Ich wusste, dass sie Recht hatte, dass wir wirklich verwandt waren, auf eine gewisse Art und Weise. Man spricht immer von einer magischen Bindung zwischen zwei Geschwistern und diese muss es gewesen sein, die uns beide wieder zusammen geführt hat, mich und meinen Bruder.

„Was sie nicht sage… Herr Glen könnte ich bitte mal ihren Fragebogen sehen? Wäre das möglich? Oder kennen sie den Mann doch? Ist zwar eher unwahrscheinlich, da in seinen Papieren steht, dass er vor seinem achtzehnten Geburtstag zwei Jahre in einem Waisenhaus gewohnt hat, da er keinerlei Familienangehörige mehr hatte, aber wer weiß.“ Emily sah mich mit einem erwartungsvollen Grinsen an, doch dieses verging ihr als sie in mein Gesicht sah. Mit einer gefühlskalten Miene schritt ich zu dem Tischchen auf dem meine Unterlagen lagen und mit derselben Kälte antworte ich dann „Hier ist mein Fragebogen, aber ich kann ihnen auch so sagen, dass ich ihn kenne!“, ein flüchtiges Grinsen huschte über mein Gesicht wurde aber gleich wieder von der Kälte verbannt, „Er ist mein Bruder, gewissermaßen. Er wurde adoptiert von meinen Eltern, doch mein Vater zündete das Haus an und wenn sie sagen, dass Jordan Waise ist, heißt das, dass sie bei dem Brand ums leben gekommen sind. Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen und daher nicht wieder erkannt. Das alles ist jetzt fast acht Jahre her. Haben sie sonst noch Fragen?“

Emily sah mich geschockt an. Endlich wusste sie etwas über meine Vergangenheit, kannte einen Bruchteil des ganzen. Aber jetzt wurde auch endlich ihr klar, dass ich nicht in ihre Familie gehöre. Dass ich meine eigene Familie habe und dass ich heute nicht mit ihr zu ihrem Haus kommen werde. Ich werde dableiben, hier bei meinem Bruder. Denn er braucht mich jetzt mehr.

Im selben Moment in dem meine Gedankengänge beendet waren, gab es ein leises `PLING` und die Lampe über der Tür erlosch. Nur wenige Sekunden später öffnete sich die Türe und ein Bett wurde heraus geschoben. Ich heftete mich an die Fersen der Ärzte den Blick auf den Mann im Bett gerichtet. Keinen Gedanken im Kopf, einfach nur starr auf den leblosen Körper starren und verarbeiten war angesagt. Nach einigen Gang- und Etagenwechseln, waren wir schließlich in dem Zimmer angelangt, in dem Jordan liegen sollte. Wie lang wussten die Ärzte noch nicht, sie konnten es nicht genau sagen. Aber sie meinten, dass es nicht länger als eine Woche dauern sollte, bis er wieder einigermaßen fit war. Dann wollten sie mich nachhause schicken mit der Abfuhr „Es dürfen nur Familienangehörige über Nacht bleiben!“ Ich lachte einmal, es musste sich wohl seltsam angehört haben, vielleicht etwas verrückt, aber was wollte man anderes erwarten. „Ich bin der einzige Familienangehörige den er noch hat, und ich habe ihn über sieben Jahre nicht gesehen! Wollen Sie’s mir jetzt immer noch verbieten?“, giftete ich mein Gegenüber an.

Ich war gereizt, denn mir ist in dem Moment etwas klar geworden, was auf der Hand lag. Ich hatte ihn sieben Jahre lang nicht gesehen, sieben lange Jahre, und dann hätte ich ihn fast wieder verloren ohne auch nur zu wissen, dass er es war. Die Ärzte nickten nur und ich machte mich auf den Weg zu meinem Stuhl. Wieder einem dieser ewigen unbequemen Plastikteile. Aber das war mir egal. Ich wollte nicht bequem sitzen, ich wollte nur denken und ihn ansehen. Jetzt sickerten so langsam alle Informationen die ich bekommen hatte durch und wurden mir erst so richtig bewusst, bewusst wurde mir auch, dass das eine lange Nacht werden würde und ich viel denken würde.

Doch so kam es nicht, ich war nicht fähig zu denken, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Mir fehlten viel Tatsachen um denken zu können, Tatsachen die nur er wusste, Tatsachen zu der Nacht und mir fehlten Antworten, Antworten, warum er mich im Stich gelassen hatte, Antworten, warum ich ihm so wenig wert bin, dass er mich in eine Adoptivfamilie gegeben hat, warum er nicht mit dorthin gekommen ist. Warum er mich verdammt noch mal so lange unwissend gelassen hat. So lange im Glauben, dass ich alleine bin und mich die ganze Welt hasste.

In diesem Moment fing ich mit der Tätigkeit an, mit der ich tatsächlich die ganze Nacht beschäftigt war, ich schlang meine Hände um meine angezogenen Knie und legte meinen Kopf darauf. Eine Träne folgte der nächsten, immer mehr schluchzte ich und immer mehr machte sich eine Ungewissheit in mir breit. Ich wollte wissen, was geschehen war, warum es geschehen war. Aber an erster Stelle stand immer noch die Sorge, er sollte aufwachen, es sollte ihm endlich wieder gut gehen…

So verbrachte ich die halbe Nacht mit weinen, auf ihn starren und wenigen Gedanken, bis mich irgendwann die Erschöpfung einholte und sanft ins Reich der Träume zog. Die Schwester, die am Morgen Jordans Zustand überprüfen sollte, schrie kurz erschrocken auf, als sie mich sah. Das war auch der Grund, weshalb ich schließlich wieder in die Realität zurückkehren musste. Es war eine junge, braunhaarige Aushilfskraft, was man daran erkannte, dass sie kein Namensschild trug. „W-Was machen sie hier?“ Etwas verschlafen blinzelte ich sie an, bevor ich schließlich antwortete: „Bis eben habe ich so wie es aussieht geschlafen, aber dank Ihnen bin ich jetzt wach und ja ich atme und mir tun alle meine Knochen weh und ich müsste mal dringend auf die Toilette. Aber sonst sitze ich einfach nur.“ Der Spaß, den ich machen wollte damit sie keine Angst mehr hatte ging wohl in die falsche Richtung los, denn das junge Mädchen sah mich nun etwas verstört an, drehte sich dann jedoch um und trat ein Stück in den Gang „Schwester Eli, können sie bitte mal herkommen? Ich habe hier ein Problem!“

Problem?! Ich und ein Problem? Wenn sie so weiter machte würde sie bald ein echtes Problem mit mir bekommen! Gerade als ich sie wütend anschnauben wollte, kam die Frau, die sie gerufen hatte, und ich kannte sie nur zu gut, es war dieselbe Frau, die gestern Abend an der Rezeption gesessen war und mir die Nachricht überbracht hatte, dass ich die Nacht über hier bleiben konnte, mir aber erst morgen ein Bett bereit gemacht werden konnte, da derzeit keins in einem ordentlichen Zustand war. Sie lächelte mich nur an und fragte dann die verzweifelte Jüngere: „Was gibt’s denn für ein Problem, Moni?“ die Kleinere legte den Kopf etwas schief und deutete dann in meine Richtung „Er, darf er denn hier sein?“ Sie lachte erst, bevor sie schließlich nickte und dann begriff, dass Moni etwas überfordert war „Geh du doch schon mal in das nächste Zimmer, ich muss hier sowieso noch etwas klären, okay?“ Ohne einen Ton und mit einem Gesicht in der Farbe einer Tomate verließ sie den Raum und schloss die Tür hinter sich.

„So also, Jojo, wenn ich das richtig in Erinnerung habe“, ich nickte nur ehe sie weiter sprach „Die Werte deines Bruders sind okay, also nichts, was besorgniserregend war. Ihm geht es eigentlich richtig gut in anbetracht der Tatsache, dass er gestern für kurze zeit tot war. Jedoch wird er noch einige Zeit hier bleiben müssen. Das heißt, dass du die Wahl hast. Entweder du besuchst ihn jeden Tag oder du bleibst auch hier. Jedoch müsstest du deinen Aufenthalt zahlen, da du ja nicht verletzt bist. Oder wir machen das inoffiziell und du hilfst mir jeden Tag dabei, deinen Bruder zu waschen, bis er das selbst kann und kümmerst dich auch so um ihn, wenn er dann wieder wach ist. Dann könnte ich mit meinem Chef sprechen und du könntest auch ohne etwas zu zahlen hier bleiben.“ Ich nickte ließ mir die Möglichkeiten noch einmal durch den Kopf gehen. Er hatte mir so oft geholfen, sich immer um mich gekümmert, und jetzt hatte ich die Chance es wieder gut zu machen, für was dachte ich da überhaupt noch nach? „Okay gut und wann geht’s los?“ „Eigentlich jetzt sofort, da wir ihn umziehen müssen und waschen und um ehrlich zu sein, dir würde eine Dusche und frische Kleidung sicher auch gut tun!“

Ich nickte ihr zu und sie half mir Jordan zu entkleiden. Sein Körper war immer noch makellos, seine Haut weich, doch etwas störte mich. Es waren nicht die blauen Würgemale an seinem Hals, die mir nicht gefielen. Wenn ich richtig gesehen hatte, hatte er Narben an seinen Handgelenken. Ich wollte nicht genauer schauen, während die Schwester noch im Zimmer war. Doch als er dann fertig angezogen und gewaschen wieder auf seinem Bett lag und ich mit ihm alleine in dem sterilen Zimmer war, konnte ich einfach nicht anders, als es mir an zu sehen.

Ich erhob mich von meinem Platz gegenüber von seinem Bett und stellte mich vor ihn. Ich wollte gerade seinen Arm umfassen um auf die Unterseite zu sehen, als es klopfte.

Über mich selbst erschrocken ließ ich mich wieder auf meinen Stuhl fallen und rief schließlich in Gedanken verloren herein. Doch als sich die Tür öffnete und ich Emily sah, waren alle Gedanken wie weggeblasen, ich war so froh endlich jemanden zu haben, mit dem ich reden konnte. Jemand, der mich davon abhielt, in meinem Unglück zu versinken. Doch Emily war nicht so fröhlich wie sonst, sie strahlte nicht, fiel mir auch nicht um den Hals, sondern drückte mich nur ein Mal kurz abwesend, ehe sie es sich auf den Stuhl neben mir bequem machte und einen Beutel auf den Tisch legte. „Ich hab dir ein paar Sachen mitgebracht, zum anziehen und waschen und so, wirst ja wahrscheinlich längere Zeit hier bleiben.“ Ich Blick wurde trauriger, und sie konnte mir nicht in die Augen sehen. Einige Minuten herrschte eine bedrückende Stille, ehe ich es nicht mehr aushielt und schließlich fragte: „Wie geht es dir denn?“

Okay vielleicht nicht ganz die Frage die man erwartet hätte, aber ich wusste nicht wie ich sonst hätte anfangen sollten. Da sie mir direkt gegenüber saß, fiel es ihr schwer, die Tränen die sich ihren Weg bahnten vor mir zu verstecken. „Wie es mir geht? Wunderbar, grandios, fabulös, einfach fantastisch! Wie sollte es mir denn sonst auch gehen?“, spottete sie. „Hey Emily, was ist denn los?“ „Nichts ist los! Ich sagte ja, dass es mir super geht, reicht das nicht?“, fauchte sie mich gereizt an. „Wie sollte es mir denn auch anders gehen? Etwa beschissen? Nur weil mein einziger Bruder nun endlich seine echte Familie zurück hat? Nur weil mein einziger Bruder sich jetzt nicht mehr für mich interessiert? Nur weil er endlich wieder die Person hat, die ihm immer schon wichtiger war als ich? Nur weil mein bester Freund nun seinen besten Freund wieder hat?“ Ihre Schminke verlief sobald die erste Träne über ihre Wangen lief und ihr viele danach folgten „Nur weil die Person, die mir wichtiger ist als alles auf der Welt, für die ich alles tun würde, die ich nur ein einziges verdammtes Mal lachen sehn wollte, die ich glücklich machen wollte, von der ich so sehnlich wollte, dass sie mir diesen Tag mit ihrer Liebe dankt, nur durch das Wiedersehen dieses Typen da drüben glücklicher ist, als ich sie je hätte machen können?“ Ich war sprachlos, ja klar wusste ich, dass es ihr nicht gefällt, natürlich wusste ich, dass es auch eine Kehrseite gab, aber andererseits wusste ich nicht einmal, ob ich weiterhin so glücklich wegen ihm sein werde. Er hatte mich immerhin aus irgendeinem unbekannten Grund einfach so im Stich gelassen, alleine, seinen kleinen Bruder.

Emily stand auf und lief mit gesenktem Kopf und schlurfenden Schritten zur Tür, ich rief ihr hinter her: „Halt Emily, warte, bleib bitte stehen!“ und tatsächlich, sie blieb stehen und sah mich mit einem tieftraurigen Blick an. „Für was?“ Ich stand auf und legte meine Arme um sie, drückte sie fest an meinen Körper, darauf bedacht sie nicht zu erdrücken. „Emily, du wirst meine Schwester bleiben, immer mein kleiner Sonnenschein, der gute Laune verbreitet. Ich werde dich nicht vergessen, nur weil er wieder da ist. Ich weiß, dass du mich nicht nur als Bruder willst, ich bin mir dessen bewusst, was du für mich empfindest, nur ich erwidere diese Gefühle leider nicht. Ja, ich liebe dich als meine Schwester, als meine Freundin, meine beste Freundin, als eine Art Kumpel, ja mit dir kann man Pferde stehlen und ich bin dir auch verdammt dankbar, dass du das alles für mich getan hast. Nur es war nicht geplant und ich habe ihn solange nicht gesehen, ich freue mich einfach so riesig, dass mein tot geglaubter Bruder noch lebt, bitte versteh das doch!“ Sie sah mich an mit ihren großen… ach ihr wisst schon, Kulleraugen! Legte eine Hand auf meine Wange und während die andere in Richtung meines Nackens wanderte, beugte sie sich vor und legte ihre Lippen auf meine. Etwas verstört riss ich meine Augen auf, ich wusste in dem Moment nicht, was geschah und konnte mich nicht rühren, geschweige denn klar denken, sie forderte Einlass um den Kuss noch intensiver zu machen und ich hatte keine andere Wahl, als ihr eben diesen zu gewähren.

Schließlich, nach einer halben Ewigkeit, löste sie sich von mir und stolpere einen Schritt zurück. Wie automatisch fasste ich mir mit einer Hand an den weit offen stehenden Mund. War das gerade wirklich geschehen, hatte sie mich wahrhaftig, nein das konnte doch nicht sein. Etwas verdutzt sah ich sie an. Doch sie stand nur mit schüttelndem Kopf und gesenktem Blick da und murmelte vor sich hin „Warum, warum verdammt? Warum lässt du so was zu, so etwas wunderbares, wenn du mich doch nicht liebst, wenn es doch bei diesem einen Kuss bleiben wird? Wenn da doch kein Gefühl ist?“ Wieder fing sie an zu weinen, drehte sich um und stürzte aus dem Raum.

Ich stand noch einige Minuten wie angewurzelt an ein und derselben Stelle, bis ich auf einmal ein schmerzhaftes Stöhne vernahmen. Ich blickte zu Jordan und sah, dass seine Augenlider zitterten. Schnell lief ich die paar Schritte zu dem Bett und sah ihn an. Wirklich, seine Lider zitterten und er gab einige Geräusche von sich, die definitiv davor nicht zu hören waren. Leise zog ich meinen Stuhl näher an das Bett und setzte mich. Meine Hände hatte ich auf die Matratze gestützt und den Kopf in den Händen. Irgendwann wurde ich müde und legte meinen Kopf auf die flach auf dem Bett liegenden Hände. Gerade als ich am einschlafen war wieder eine Veränderung. Ich blickte auf, sah ihn einige Momente an, streckte mich kurz und als ich wieder zu ihm sah, wurde ich nachdenklich. Wie lange ich ihn nicht gesehen hatte, wie sehr er sich verändert hatte, ich hatte ihn gestern ja nicht einmal mehr erkannt. Seine Gesichtszüge waren markanter, grober, erwachsener, okay was wollte man denn anderes erwarten? Er war ja schließlich auch schon vierundzwanzig und wirklich erwachsen.

Vorsichtig legte ich meine Hand an seine Wange und fing an sanft darüber zu streichen, seine Haut war immer noch so weich, so weich wie damals. In dem Moment, in dem ich wieder in Gedanken verfallen wolle, öffnete er seine Augen einen Spalt breit und legte seine Hand auf meine und als er mich ansah, legte sich ein leichtes Lächeln auf sein Gesicht. „Mein kleiner Jojo, es tut mir so leid, ich wollte das nicht, wirklich, glaub mir…“ Ich strich eine Strähne aus seinem Gesicht und legte meinen Zeigefinger der anderen Hand auf meine Lippen. „Schhhhh, ganz ruhig, schon deine Stimme, du hast später noch genug Zeit mir alles zu erzählen! Und jetzt schlaf etwas, ruh dich aus, damit du bald wieder fit bist.“ Ich zog langsam meine Hand weg und wollte gerade aufstehen, um den Schwestern bescheid zu geben, dass er auf gewacht ist, da fasste er meine Hand und kreuzte seine Finger mit meinen. „Bitte bleib da, ich brauch dich doch!“, flüsterte er kaum hörbar „Ich bin doch gleich wieder da ich will nur den Ärzten sagen, dass du auf gewacht bist, dann bin ich wieder da.“ Hoffnungsvoll sah ich ihn an doch er schüttelte nur schwach den Kopf. „Nein die machen dann nur Tests und stellen Fragen, zu viele Fragen, ich will wieder fitter sein wenn sie fragen, ich will klar denken können. Bitte, bleib einfach bei mir!“ sanft drückte er meine Hand etwas fester und ich setzte mich schließlich wieder richtig auf den Stuhl und streichelte sanft mit meinem Daumen seinen Handrücken, bis er schließlich irgendwann gleichmäßig atmend eingeschlafen war.

Ich sah mich etwas in dem Zimmer um und entdeckte die Tasche, die Emily für mich mitgebracht hatte und erinnerte mich an meinen Plan zu duschen, den ich auch sogleich in die Tat umsetzte. Das warme Wasser tat gut, lange ließ ich es auf meinen nackten Körper hinab fließen, genoss die Wärme, dieses wohlige Gefühl von Zufriedenheit, das es in mir auslöste, ja, wirklich Zufriedenheit. Ich, Jojo Glen, war nach so langer Zeit endlich wieder zufrieden. Nach so vielen Jahren Einsamkeit, Trauer, Schmerz, Hass war ich endlich zufrieden und glücklich. Nicht überglücklich musste ich leider zugeben. Das, was mit Emily vorhin geschehen war, gab mir schon zu denken und auch so einiges anderes gab es noch, was ich klären musste, aber doch, im Großen und Ganzen war ich zufrieden.

Ich griff nach dem Duschgel und mein Blick fiel auf meinen Unterarm und holte mich wieder ein Stück weit in die grausamere Welt zurück, denn was ich sah gefiel mir nicht. Narben, von einem feinen zart rosa bis zu einem noch recht frischen dunklen Grind war alles dabei. Angewidert schüttelte ich mich, wie in Teufels Namen war ich nur dazu fähig gewesen so etwas zu tun? Mir selbst so weh zu tun? Doch mein nächster Gedanke galt nicht mir, er galt Jordan und dem was eigentlich mein Vorhaben war, bevor Emily mich dabei fast ertappt hätte. Schnell spülte ich den Schaum von meinem Körper, stieg aus der Dusche und zog mir frische Kleidung an. Ich musste es wissen. Hatte ich mich geirrt? War es nur eine Sinnestäuschung? Bitte Gott, lass es das gewesen sein, lass ihn nicht so dumm gewesen sein wie mich.

Etwas unsicher lief ich auf das Bett zu in dem Jordan immer noch so schlief, genauso wie zuvor, bevor ich unter die Dusche gestiegen war. Vorsichtig schritt ich auf den Stuhl zu mit dem ich mich mittlerweile angefreundet hatte. Ich setzte mich wie in Trance hin, sollte ich wirklich? War es mir erlaubt einfach so seine Privatsphäre zu durchbrechen? Ja, ich musste es einfach sehen, musste sehen, dass ich mich geirrt hatte, dass es nicht so war, ich hielt diesen innerlichen Druck nicht mehr aus, konnte ihn nicht verdrängen. Vorsichtig griff ich sein Handgelenk und drehte es so, dass die untere Seite nach oben zeigte und da waren sie, viele kleine Schnitte und Narben wie bei mir. Ich legte seinen Arm auf dem Bett ab und schob meine Jacke nach oben. Verglich die Verletzungen und war erstaunt. Wie bei mir genauso, vielleicht nicht die Anzahl, aber die Anordnung, die Stellen, die Tiefe und leider auch die Frische.

Erschrocken, als hätte ich etwas Verbotenes getan, legte ich seinen Arm wieder so hin, als wäre nichts gewesen und setzte mich wieder aufrecht hin um einen Blick auf die Uhr zu werfen.

Mh, 12 Uhr 30 Minuten, sollte es nicht irgendwann etwas zu Essen geben? Mir fiel auf, dass ich seitdem ich heute Morgen aufgewacht bin eigentlich hungrig war und seit über einem Tag keinen Bissen mehr gegessen hatte. Wie gerufen klopfte es an die Tür und Schwester Eli brachte mir mein Mittagessen. „Lass es dir schmecken!“, meinte sie noch und wollte wieder gehen, kurz davor stoppte ich sie noch einmal „Er ist vorhin aufgewacht, wollte aber nicht dass ich es ihnen mitteile, da er für die Befragung fit sein wollte. Ich werde ihnen Bescheid geben, wenn er sich bereit dazu fühlt!“ Sie nickte nur und verschwand aus dem Zimmer. Freudig setzte ich mich an den Tisch und aß mein Essen schnell auf, ich schlang es gerade zu in mich hinein. Es schmeckte überraschenderweise nicht mal schlecht, okay bei meinem Hunger hätte ich wahrscheinlich alles gegessen und behauptet es wäre ein hervorragendes Essen gewesen!

Schließlich nahm ich wieder meinen Platz auf dem Stuhl ein, legte jedoch meine Arme diesmal nicht auf die Matratze sondern auf seinen Oberkörper und meinen Kopf mit Blick zum Fußende auf meine Hände. Erst starrte ich nur etwas so vor mich hin ohne wirklich etwas zu denken, ich lauschte einfach nur den gleichmäßigen Atemzügen und genoss seine Wärme, doch irgendwann zog es mir meine Augen zu und ich schlief ein. Ich wusste nicht wie lange ich geschlafen hatte, doch ich wurde plötzlich geweckt, als ich merkte wie etwas durch meine Haare fuhr. Etwas murrend hob ich meinen Kopf und drehte ihn in die andere Richtung.

Als ich in Jordans Gesicht sah erschrak ich und hob meinen Kopf an. „Ent-Entschuldigen Sie! Ich, Ähm, meine ich… ich wollte das nicht!“, doch statt ernst zu meinen, dass es schon okay wäre, fing mein Gegenüber plötzlich an zu lachen und meinte: „Ach seit wann siezt du mich denn?“ Mir wurde bewusst, was ich eben von mir gegeben hatte. Mein Pech war nur, dass das Licht über uns brannte und dadurch die Tatsache, dass es um 23 Uhr eigentlich dunkel war, keinen Vorteil für mich brachte, als ich rot wie eine Tomate anlief „Ähm Schuldigung ich… ich meine natürlich du und so!“ Wieder grinste mein Bruder. „Ist schon gut mein Kleiner. Du siehst immer noch so süß aus wenn du rot anläufst!“ „Ich bin nicht klein und süß auch nicht!“, wehrte ich mich empört gegen die Aussage und verschränkte unbewusst die Arme vor der Brust, als wäre ich ein kleiner Junge der bockig ist. „Ach, das kannst du auch noch? Bist du aus dem Alter nicht eigentlich draußen?“, meinte er wieder lachend und strubelte mir durch meine Haare, worauf ich dann beleidigt eine Schmolllippe zog „Dafür ist man wohl nie zu alt!“, erwiderte ich trotzig als er seine Arme ausbreitete und mich schließlich aufforderte „Na komm her!“ Ich schlang meine Arme um ihn und er drückte mich fest an sich. „Endlich hab ich dich wieder, mein kleiner Engel!“, flüsterte er zu mir, doch ich war vor lauter Glück nicht fähig zu antworten, doch der Grund, dass ich nicht antworten konnte, wurde bald ein anderer. „Jordan? Könntest du mich bitte etwas lockerer nehmen, du erdrückst mich gerade!“ „Mh, lass mal überlegen… Nein!“ „Aber dann hattest du bald mal nen kleinen Bruder!“ „Na und? Mir doch egal!“, gab er gleichgültig zurück und ich konnte nur noch aufstöhnen, so ein Dickkopf. Gerade als ich mich aus seiner Umarmung befreien wollte, lockerte er sie doch noch und meinte entschuldigend: „Tut mir leid, nur ich bin so über glücklich dich wieder zu haben, ich würde dich doch nie im Leben ersticken lassen, oder erdrücken, oder auf sonst eine Weise wieder hergeben!“ Bei den Worten wieder hergeben zog sich mein Herz zusammen, aber warum hatte er es dann getan? Warum verdammt hatte er mich allein gelassen? Ich wollte gerade zu der Frage ansetzen, da überlegte ich es mir noch mal anders, es war nicht der richtige Moment dafür. Trotzdem hatte er wohl bemerkt, dass ich etwas sagen wollte und gab einen neugierigen Laut von sich. „Ich doch auch!“, meinte ich nur und kuschelte mich etwas fester an ihn.

Ich wäre fast wieder eingeschlafen, bis irgendwann mein Rücken anfing weh zu tun, deshalb löste ich mich aus der Umarmung und sah mich in dem Zimmer um, irgendetwas hatte sich verändert. Im ersten Moment wusste ich nicht was es war, doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen, da war es, groß und weiß und rief geradezu nach mir. Ja, mein Bett war endlich da, ich wusste nicht ob es schon da gewesen war, als Jordan mich in die Umarmung gezogen hatte oder nicht, aber ich wusste, dass es jetzt da war und dass mein Rücken sich danach sehnte sich auszustrecken. Ich stand auf und wollte mich umziehen, denn außer einigen Jeanshosen, T-Shirts und was man sonst noch so brauchte, hatte ich auch mein Shirt, das ich normalerweise zum schlafen trug in der Tasche von Emily gefunden. Zur Bestätigung knackten meine Wirbel laut als ich mich erhob. Schnell zog ich mich um und legte mich in mein Bett um endlich in die wundervolle Welt der Träume zu gelangen.
 

Doch dies blieb mir nicht so lange wie erhofft gegönnt, denn um vier Uhr morgens wachte ich durch seltsame Geräusche neben mir auf. Ein Husten, dann ein nach Luft schnappen und ein Würgen. Ich machte das Licht an und erschrak bei dem Anblick. „Jordan!“, flüsterte ich nur erschrocken, ehe ich verzweifelt den roten Knopf über mir betätigte um eine Schwester zu rufen. Das, was vor meinen Augen lag, war wirklich ein Bild des Schreckens. Jordan saß auf der äußersten Kante seines Betts und hustete, er hustete solange bis er schließlich würgen musste, doch da er anscheinend seit langem nichts gegessen hatte kotzte er nur Blut aus sich heraus, es hatte sich schon eine ganz schöne Menge auf dem Boden gesammelt. Vorsichtig stand ich auf, bedacht nicht in die Blutlache zu treten machte ich einen großen Schritt legte meine Hand um seine Schultern und fuhr ihm beruhigend über den Rücken. „Jojo...!“, stammelte er vor sich hin, nicht in der Lage weiter zu sprechen, da er wieder husten musste. Bei dem bitteren Anblick den er mir bot, kamen mir die Tränen. Er sah mich mit gläsrigen Augen an, seine Haare klebten verschwitzt an den Seiten und ein kleines Rinnsal Blut lief aus seinem Mundwinkeln. „Schhhhh, ganz ruhig es wir alles gut, es kommt gleich jemand und hilft dir!“, versuchte ich auf ihn einzureden, ich war mir nicht sicher, ob es zu seiner oder doch eher zu meiner Beruhigung war. Sanft strich er über meine Wange und wischte somit eine einzelne Träne, die aus meinen Augen gequollen war weg. „…du… du solltest das nicht sehen…“, murmelte er bedrückt vor sich hin. „Hey, ich bin mittlerweile alt genug um das zu verkraften!“, spottete ich, da ich selbst wusste, dass das nicht stimmte, ich hielt es nicht aus ihn so hilflos zu sehen und so leidend. Er war immer der gewesen, dem es nie schlecht ging, der immer fröhlich war, nie schlecht gelaunt oder einfach bedrückt. Das war zu viel für mich.

Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür und einige Schwestern kamen auf sein Bett zu gelaufen. Ich setzte mich im Schneidersitz auf mein Bett zurück und beobachtete genau was sie taten. Wie sie kreischten, die Ärzte verständigten, die im Bereitschaftsdienst waren, Jordan mitsamt seinem Bett aus dem Zimmer schoben, er sah mir noch einmal traurig nach, ehe sie ganz aus dem Zimmer verschwunden waren und nun war ich wieder allein, wieder in Sorge um Jordan.

Irgendwann nach einiger Zeit kam eine Schwester und wischte das Zimmer, beseitigte die Spuren, doch ich saß immer noch da, starrte auf die Tür und schwieg. Wann würde er wieder kommen? Was war überhaupt los? Warum konnte es ihm nicht einfach besser gehen? Ohne Komplikationen? So viele Fragen und doch keine Antworten. Nach einer halben Ewigkeit schließlich hörte ich das Rattern von Rollen auf dem Gang und dann öffnete sich die Tür. Das Bett wurde rein geschoben, Jordan schlief, war an einen Tropf gehängt, ihm folgte Eli, die mittlerweile fast wie eine Freundin für mich war, eine Vertraute im tristen Alltag des Krankenhauses, was rede ich, ich rede als wäre ich hier schon Ewigkeiten, dabei ist es erst einen Tag her, dass ich hergekommen bin.

„Was war los? Was hatte er?“, sie blickte zu Boden „Eine allergische Reaktion auf die Medikamente, die er bekommen hatte und da sein Magen schon von anderen Tabletten beschädigt war, kam es zu Blutungen, die aber von selbst aufhörten.“ Ich überlegte einen Moment, ehe ich fragte: „Tabletten? Was heißt das? Wie vorgeschädigt?“ Sie sah mich mit einem festen Blick an und meinte dann kühl: „Das mit dem Baum schien nicht das erste Mal zu sein, dass er versucht hatte sich umzubringen. Neben vielen Schnitten an seinem Unterarm, sowie einigen Verbrennungen am ganzen Körper, muss er auch schon durch eine Überdosis Schlaftabletten versucht haben sich umzubringen!“ Sie drehte sich um, blieb noch einmal in der Tür stehen und sah ihn abwertend an, dann schaute sie zu mir und ihr Blick wurde weicher. „Es tut mir leid, was mit deinem Bruder ist und das du dir solche Sorgen machen musst, bist ein netter, hübscher Junge und hast was besseres verdient… also schlaf jetzt noch ein paar Stunden, der Schlaf wir dir gut tun! Glaub mir!“ Mit den letzten beiden Worten schloss sich die Türe.

Tabletten also auch noch? Wurde das denn nie besser? Erfuhr ich denn nur noch Schlimmeres über ihn? Ich schüttelte den Kopf, wollte die Gedanken verdrängen. Das konnte nicht sein, warum nur? Ich war mir sicher, irgendwann würde der Zeitpunkt kommen, an dem ich ihn fragen werde warum er das getan hat. Aber nicht jetzt. Nicht in nächster Zeit! Ich schloss meine Augen und versuchte wieder einzuschlafen, was auch nach einiger Zeit klappte.
 

Als ich am nächsten Morgen erwachte schien bereits die Sonne und beim Blick auf die Uhr wusste ich auch warum. Es war immerhin schon elf Uhr und ich lag noch in meinem Bett und schlief. Genüsslich streckte ich mich. Ich hatte die Vorfälle der letzten Nacht schon fast vergessen, bis ich auf Jordans blasses Gesicht, den Tropf an dem er hing und die Blutreste auf seiner Haut sah. Ein Schauer durchfuhr mich und ich konnte ihn nicht weiter anschauen, ich musste weg! Schnell weg, irgendwo hin, wo ich nicht an ihn dachte, Mh geht nur schlecht wenn man in einem Krankenhaus festsitzt…

Also beschloss ich, dass ich ermal ins Bad ging um mich frisch zu machen. Ich zog mein T-shirt aus, tauschte meine Short gegen eine Neue und ging nur mit eben dieser neuen Short bekleidet in das kleine Bad, das zum Zimmer gehörte. In dem behelfsmäßigen Bad gab es nicht viel, einen riesengroßen Spiegel links von mir, der direkt über dem weißen Waschbecken hing, eine Toilette auf der rechten Seite und eine Dusche wenn ich gerade aus laufen würde. Duschen? Schon wieder? Ich war ja ein hygienischer Mensch, aber jeden Tag musste dann doch nicht sein. Somit beschloss ich also, dass eine Katzenwäsche genügen musste. Verzweifelt suchte ich nach einem Waschlappen und als ich im bad nicht fündig wurde beschloss ich, dass Emily doch sicher so nett gewesen war und auch an meine Kulturtasche zu denken. Nichts Schlimmes ahnend öffnete ich die Tür und ging wieder ins Zimmer. Als ich die Tür geöffnet hatte und mit einem schnellen Schritt heraustrat, lief ich direkt gegen die Aushilfsschwester, Moni hieß sie denke ich, wenn ich mich nicht irre.

Sie schwankte kurz etwas und schaute dann auf um festzustellen, was geschehen war, doch ihr Blick war nicht lange nach oben gerichtet, denn als sie gesehen hatte in welcher Situation sie sich befand und dass ich nur in Unterwäsche vor ihr stand, wurde sie wieder knallrot und sah zu Boden. „I-Ich… I-ich wollte Ihnen beiden nur das Mittagessen bringen, tut mir leid, dass ich nicht geklopft habe, ich dacht sie wären schon etwas länger wach!“ Ich grinste, ich fand es schon immer irgendwie putzig, wenn Mädchen beim Anblick eines Jungen rot wurden, als ich noch jünger war, war das ja noch normal bei den Mädchen im selben alter, aber dass das selbst mit, naja vielleicht 16 oder 17 auch noch der Fall war wunderte mich. „Ach, ist schon okay, ist doch nicht so schlimm, solange das nicht zur Gewohnheit wird, dass du dich jedes Mal blamierst wenn wir uns sehen.“ Und prompt wurde sie noch röter. „Oh tut mir Leid, ich wollte mich nicht über dich lustig machen.“ Sie blickte mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Nein ist schon gut. Kann ich die Versehen irgendwie wieder gut machen?“ Ich überlegte und sah mich in dem Zimmer um, Jordan schlief immer noch und es sah auch nicht so aus, als würde er bald aus seinem Schlaf erwachen und ich würde nur allein hier rum sitzen. „Mh, ich weis nicht, an was hattest du denn gedacht?“ Sie schwieg einen Moment und schien wirklich angestrengt nach zu denken „Ich hab’s!“, sprudelte es auf einmal stolz hervor „Das Essen hier ist ja nicht das Beste, deswegen würde ich das jetzt wieder mit nehmen und unten im unteren Teil des Krankenhauses gibt es ein kleines Restaurante und da gehen wir dann in meiner Mittagspause hin, da kannst du mal was Besseres essen!“ Ich sah sie etwas überrascht an, dass das Mädchen, das eben noch so schüchtern, klein und zerbrechlich wirkte auf einmal so aufgeschlossen war wunderte mich wirklich. Aber was soll’s, mir soll’s Recht sein, ein Essen umsonst und etwas Gesellschaft und das nur weil ich in Shorts vor ihr stand. So lässt sich’s leben… wenn das nur immer so einfach wäre im Leben. „Okay, kommst du dann wenn du Pause hast? Ich kenne mich hier ja nicht aus!“ Sie nickte nur und war plötzlich wieder das kleine, schüchterne Mädchen, doch hatte ich mich getäuscht oder hatte sie eben so ein Funkeln in den Augen? Na ja egal, wird sicher lustig, kann ich mich mal etwas vom tristen Alltag ablenken.

Ich ging, nachdem ich endlich meinen Kulturbeutel gefunden hatte, wieder ins Bad, machte mich fertig, zog mich an und schminkte mich, damit ich rechtzeitig fertig war, wenn Moni kommt, was auch bald der Fall war. Ein zaghaftes Klopfe an der Tür war ihre Ankündigung, dann kam sie auch schon herein. Und Wow, sie sah wirklich gut aus. Ihre sonst so streng zurück gebundenen Haare waren offen und statt des Arztkittels trug sie ein Top und darüber eine Jeansjacke. Ich musste sie wohl etwas lange so verdutzt angesehen haben, denn sie kam auf mich zu, schnappte sich meinen Arm und zog mich mit einem breiten Lachen mit sich aus der Türe. „Ich hab Schluss für heute! Muss nicht mehr arbeiten, können also wenn du nichts dagegen hast den ganzen Tag was zusammen machen!“ Ich musste nicht lange nachdenken um ihr zu zustimmen. Abwechslung war das, was ich brauchte und Abwechslung war es was sie mir bot!

„Und wohin gehen wir jetzt?“, fragte ich neugierig als sie mich durch die Gänge zog. „Lass dich überraschen Jojo!“ Etwas unzufrieden lief ich ihr murrend hinter her. Dieses fremde Mädchen zog mich quer durch ein Krankenhaus, in dem ich noch nie war, in dem ich meinen Bruder wieder gefunden habe und sagt mir nicht einmal wohin es gehen wird. So weit bin ich also gesunken, von einem mies gelaunten Jungen, der nichts machte, das er nicht wollte oder kannte, zu einem grinsenden Teenie, der sich von Wildfremden durch wildfremde Gebäude zerren ließ. Das machte mich wirklich stutzig, aber ich musste zugeben, es machte echt Spaß.

Unser Weg endete vor dem Restaurante des Krankenhauses. „Ich weiß, es ist kein Nobelladen oder so und das Essen ist auch nicht gerade wundervoll, aber das Einzige, das es in der Nähe gibt!“ Ich nickte nur und öffnete Moni dann die Türe. Wir setzten uns an einen Tisch weit hinten im Lokal, von dessen Fenster aus man einen tollen Blick auf, ja was war das eigentlich? Na ja auf jeden Fall auf das Dach des angrenzenden Gebäudes. Nachdem wir die Karte durchstöbert hatten, bestellten wir schließlich unser Essen und unterhielten uns noch lange über die verschiedensten Themen.

„Na willst du mal meinen Lieblingsplatz hier im Krankenhaus sehen?“, fragte sie mit einem breiten Grinsen „Ja klar, gerne, ich kenne mich hier ja nicht aus“ „Mh, zeige ich dir aber nicht!“ Sie streckte mir die Zunge heraus, stand auf und wollte schon weiter gehen, als sie sich noch mal umdrehte und meine Schmolllippe sah. „Ach komm schon Jojo, denkst du wirklich, dass ich dir den nicht zeige? Aber wenn du ihn sehen willst musst du schon mitkommen!“ Wieder begann ein Weg quer durch die Gänge des Hospitals. Nur mit dem Unterschied, dass ich diesmal nicht von ihr gezogen wurde, sondern gemütlich neben ihr her schlenderte, während sie damit beschäftigt war meine Hand zu umklammern. Vor einer Stahltür machte sie halt. „So und jetzt Augen zu und nicht blinzeln!“ Brav befolgte ich ihren Befehl und schloss meine Augen. Ich hörte das Quietschen des Metalls und ein Schleifen, als die Tür geöffnet wurde. Da ich von Grund auf ein sehr neugieriger Mensch war, wurde ich langsam ungeduldig. Schließlich fasste sie wieder meine Hand und zog mich ins Unbekannte. Irgendwann, nach Sekunden, die mir wie Minuten vorkamen und wenigen Schritten, die sich anfühlten als wären es Tagesmärsche, blieb sie stehen und flüsterte: „Ja, wir sind noch recht zeitig… komm jetzt kannst du deine Augen aufmachen Jojo!“

Langsam schlug ich meine Augen auf und war fasziniert von dem was ich sah. „Wow!“, war das Einzige was ich von mir geben konnte. Es war Atemberaubend, so schön und unbeschreiblich. Wie in einem Film. Um es genau zu sagen war die Aussicht genial. Man fühlte sich als würde man fliegen, links und rechts um einen herum war Stadt, die Stadt in der ich wohnte und lebte, so lange Zeit die Stadt, die ich so schrecklich fand. Doch sie sah anders aus, sie war wie in ein rosanes Licht getaucht. Alles hatte einen rötlichen Schimmer und genau gegenüber von mir ging sie Sonne gerade unter. Wie ein großer Feuerball der in ein Meer von Flammen taucht. „Na, zu viel versprochen?“ „Nein!“ Ich war wie benommen von der Aussicht. Es war alles so perfekt wie in einer schlechten Liebesgeschichte. Mit einem hübschen Mädchen an einem solch wunderbaren Ort es fehlte ja nur noch das sie... Doch ich wurde in meinen Gedanken unterbrochen.

„So und jetzt beantwortest du mir zur Belohnung drei Fragen wahrheitsgemäß!“ Ich nickte und stützte mich auf die Mauer, die um die Terrasse auf dem Dach des Krankenhauses gezogen war. „Okay, Frage eins: Wer war das Mädchen, das heulend aus deinem Zimmer gestürmt ist?“ „Ach Emily? Sie ist nur meine kleine Halbschwester, also die Tochter der Familie die mich adoptiert hat, und sie weinte, da sie es nicht verkraftet, dass ich jetzt meinen echten Bruder wieder habe. Nächste Frage?“ Ich wollte schnell weiter machen, damit ich nicht die schöne, fröhliche Stimmung durch meine schlechten Gedanken vermiese. „Okay, das heißt sie ist nicht deine Freundin… okay Frage zwei: Hast du denn eine Freundin?“ Ich schüttelte unbegeistert den Kopf. Was sollte diese Fragerei, was brachten ihr meine Antworten? Bevor sie die nächste Frage stellte, schritt sie auf mich zu und legte ihre Hände auf meine Schultern. „Die dritte und letzte Frage…“ Sie beugte sich immer weiter vor, bis nur noch wenig Abstand zwischen ihrem und meinem Gesicht war. „Darf…Darf ich dich küssen?“ Ich riss die Augen auf, schon wieder küssen? Wieder so unerwartet, doch bevor ich auch nur die Chance hatte zu antworten, legte sie ihre Lippen auf meine und küsste mich leidenschaftlich.

War Küssen immer so gefühllos? So kalt? Ohne Kribbeln? Ohne Wärme, Geborgenheit oder sonst etwas? Ich hatte vor Emilys Kuss noch nie einen bekommen, aber auch bei ihr war außer Verwirrung keine Gefühlsregung zu spüren. Ein Kuss soll jemanden davon überzeugen, dass es Liebe ist. Es soll ein Geschenk zweier Liebender sein, die so ihre Verbundenheit und ihre Liebe zeigten, aber das hatte nicht ansatzweise etwas damit zu tun. Und zu allem Überfluss stand ich gegen die Mauer, sodass ich mich nicht einmal hätte wehren können wenn ich wollte.

Als ich verwirrt genug war stieß ich sie von mir, fuhr mir mit meinem Handrücken über die Lippen und lief schnellen Schrittes wieder in das Gebäude. „Warte, halt Jojo, bleib stehen! Es… Es tut mir leid, ich wollte dich nicht so überrumpeln, es ist einfach so über mich gekommen… ich glaube ich habe mich in dich verliebt!“ Zwar vernahm ich die Worte und auch das Schluchzen, doch wollte ich es nicht hören. Zu viel Verwirrung hatten die beiden Küsse in mir gestiftet. Fast schon rennend suchte ich nach dem Zimmer in dem mein Bruder lag. Schnell öffnete ich schließlich die Tür, schloss sie wieder hinter mir und ließ mich an ihr herunter rutschen.

Warum musste das mir passieren? Warum immer ich? Als ich meine Gefühle wieder einigermaßen geordnet hatte, war es bereits 23 Uhr und aus irgendeinem Grund fühlte ich mich wirklich erschöpft, ich ließ meine Kleidung an und legte mich in mein Bett, schlug die Decke über mich und schlief, nachdem ich noch einen Blick auf meinen Bruder, dessen Zustand außer der Tatsache, dass der Tropf nun weg war, unveränderten war.
 

Ich war gerade am träumen, ein verwirrender Traum mit vielen Küssen. Gerade kam im Traum jemand auf mich zu, ich saß auf einer Bank, ich konnte nicht erkennen wer die Person war, obwohl sie direkt vor mir stand, sie rief meinen Namen, erst leise, dann immer lauter. Doch ich konnte die Stimme einfach nicht einordnen. Ich wollte antworten, doch auch das ging nicht. Plötzlich lag ich hellwach und lachend in meinem Bett. Jordan saß auf meiner Hüfte und musterte mich interessiert. Seine Hände lagen noch an meinen Seiten, an denen er mich so eben aus dem Schlaf gekitzelt hatte. „Gute Nacht!“, verkündete er freudestrahlend. „Gute Nacht?! Du weckst mich um mir gute Nacht zu sagen?“ Ich sah ihn verständnislos an, doch er legte nur den Kopf schief „Na ja ich kann auch guten Morgen sagen, obwohl, ist wohl etwas früh um 3 Uhr nachts! Komm, los, aufstehen!“ Mein Gesichtsausdruck wurde noch fassungsloser, aufstehen? Wohin wollte er denn mitten in der Nacht? Erst jetzt bemerkte ich, dass er nicht mehr seine Krankenhauskleidung trug, sondern wieder seine Jeans und sein T-Shirt. Los, anziehen! Lass uns keine Zeit verschwenden!“ Immer noch ungläubig sah ich ihn an. Er war nun 24 und immer noch genauso abenteuerlustig wie früher. Anscheinend war er außer seinen körperlichen Veränderungen und seiner Stimme kein Stück älter und vernünftiger geworden. Doch dann musste ich grinsen, eben typisch Jordan, immer seinen kleinen Bruder bei Laune halten. „Mh, aber du mal eine kurze Frage, wie denn, wenn du auf mir sitzt?“ Er sah kurz auf meinen Körper auf dem er saß, sah mir dann wieder in die Augen und runzelte die Stirn. „Okay, gut, das ist wirklich ein Argument!“ Langsam stand er auf, streckte sich dann einmal, während er genüsslich gähnte.

Ich schlug die Decke auf um noch mal überrascht zu werden. Hatte ich wirklich vergessen mich auszuziehen. „Hast du gewusst, dass ich dich mitten in der Nacht wecke oder ist das Zufall?“, wollte mein Bruder erstaunt wissen. Ohne weiteren Kommentar zog ich mir meine Schuhe an und stellte mich dann vor den Größeren. Neugierig sah ich ihn an. „Und jetzt?“ Kurz dachte er nach, ehe er antwortete: „Keine Ahnung, soweit ging mein Plan nicht, das wollte ich mir eigentlich überlegen während du dich anziehst!“ Etwas verlegen sah er zu Boden, bis ich ihn in die Seite kniff. „Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“ Er sah wieder auf und grinste mich breit an. „Nein, natürlich nicht. Jetzt muss ich erst Mal raus hier. Diese Luft und diese kalten Wände… das ist nichts für mich!“ Etwas genervt verdrehte ich die Augen. „Es ist aber besser für dich, immerhin warst du… oder wärst du fast…“ das letzte Wort konnte ich nicht aussprechen, auch konnte ich ihm nicht in die Augen sehen. „Hey, ich weiß, dass es nicht okay von mir war, aber ich hatte eben meine Gründe und falls es dich beruhigt, es ist nicht das erst Mal, dass ich hier liege wegen solchen Sachen.“ Ich schluckte, er war nicht der Einzige der deswegen schon hier war, nur er war es doch, der mich im Stich gelassen hat. Er hatte doch keinen Grund, er hatte sein Schicksal selbst gewählt und meins auch! Etwas bedrückt sah ich auf den Boden. Er legte seine Finger unter mein Kinn und hob meinen Kopf an „Hey zum Reden haben wir später noch genug Zeit und schau nicht so traurig, sonst bin ich auch traurig!“ Beleidig machte er ein tieftrauriges Gesicht. Ich wusste nicht mehr was ich sagen sollte, deswegen schlang ich einfach meine Arme um seinen zierlichen Körper. „Jordan, ich hab dich so vermisst!“, schluchzte ich. Er legte seine Arme um mich und strich mir beruhigend über den Rücken. „Jetzt bin ich doch wieder bei dir, mein kleiner Engel!“ Es tat so gut einfach bei ihm zu sein, zu wissen, dass man doch nicht so alleine war, ich drückte mich noch näher an ihn, ehe ich schließlich meinen Kopf hob und ihn aus glasigen Augen ansah. Erst sah er etwas bedrückt aus, ehe er wieder grinste und mir durch die Haare wuschelte. „So, dann wollen wir mal los!“ Langsam löste ich mich von ihm. „Und wohin, wenn ich fragen darf?“ Stutzig sah er mich an. „Ich hab doch gesagt raus!“ Er schob mich in Richtung der Tür und bedeutete mir mit an die Lippe gelegtem Finger ruhig zu sein. Langsam öffnete er die Tür und sah in den weißen Flur. Leise schlich er an mir vorbei und übernahm die Führung unserer Fluchtaktion.

Der Gang war leer, also fiel es uns nicht schwer in das Treppenhaus zu kommen. Leise schlichen wir die Treppen runter in die Eingangshalle. Hier saß auch nur eine Frau im Empfang, und die kannte ich nur zu gut. Es war Schwester Eli. Mit einigen großen Schritten überholte ich Jordan und lief grade auf sie zu. „Guten Abend, Schwester!“ „Ah, Guten Abend Jojo! Was machst du den so spät noch hier?“ „Ich wollte Sie nur fragen, ob es mir und meinem Bruder gestattet ist einen kleinen Nachtspaziergang zu machen!“ Sie sah mich etwas skeptisch an. „Und wann gedenkt ihr wieder zu kommen?“ Ich drehte mich etwas hilflos zu Jordan um, der nun direkt hinter mir stand und einen Arm um meine Schultern gelegt hatte. „Mh, wann ist die morgendliche Kontrolle?“ Eli drehte sich um und sah in ihre Unterlagen. „Also deine Visite ist auf 6 Uhr angesetzt, plus minus 30 Minuten. Normalerweise lasse ich das ja nicht zu. Aber bei euch beiden mache ich mal eine Ausnahme! Also los, haut ab, sonst überlege ich es mir anders!“

Ich nickte ihr noch kurz zum Dank zu, ehe Jordan seine Hände an meine Hüften legte und mich aus dem Gebäude schob. Draußen angekommen übernahm er wieder die Führung und lief schnellen Schrittes in Richtung des angrenzenden Parks. Dort angekommen steuerte er auf eine Bank unter einer der großen Eichen zu und setzte sich oben auf die Lehne, ich tat es ihm gleich und setzte mich neben ihn.
 

So sitzen wir also hier und schweigen uns an, keiner traut sich zu dem andern auch nur ein Wort zu sagen. Wie gerne hätte ich Klarheit über meine Vergangenheit, darüber, was er in den Jahren gemacht hatte. Doch eben soviel Angst sitzt in meinen Knochen, Angst ihn wieder zu verlieren. Ein weiteres Mal. Informationen zu bekommen, die ich nicht will, die ich nicht verkraften würde. Details, die nicht ausgesprochen werden sollen. Doch auch Dinge die ich brauche, um endlich mit dem Geschehenem abzuschließen. Um endlich einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Um endlich zu verstehen. Um ihm endlich zu verzeihen. Um ihn zu verstehen und das, was er vorgestern tun wollte. Zu wissen, warum ich all die Jahre so leiden musste. Warum er mich nicht gesucht hat, sich nie bei mir gemeldet hat. Es sind so viele offene Fragen, das ich nicht einmal sagen kann, welche ich zuerst stellen soll. Doch plötzlich fängt er an zu sprechen, er nimmt mir die Entscheidung ab. Kann er vielleicht doch meine Gedanken lesen? Na ja okay, früher hätte ich das vielleicht geglaubt, doch nun, mit fast 17, ja ich betone es wirklich gerne, glaubt man nicht mehr an solche Dinge. Ich sehe ihn nicht an. Will ihn nicht stören, will jedes einzelne Wort aufnehmen, das er zu mir spricht, will kein Einziges verpassen. Kein Puzzlestück soll fehlen. Ich will eine Vergangenheit, eine Vergangenheit, von der ich weiß warum und ich will sie jetzt. Hier und jetzt auf dieser Parkbank will ich meine Vergangenheit zurück haben. Und jetzt wird mich keiner mehr aufhalten!

„Also es wird wohl langsam Zeit, das du erfährst was damals geschehen ist... warum es so war… was mit mir war und warum alles so gekommen ist…“ Ich blickte zu ihm, sein eben noch so strahlender Blick war nun verschwunden und ein trauriger, sorgenvoller Blick war an seine Stelle getreten. „Also, ich weiß nicht so wirklich wo ich mit dem Erzählen anfangen soll… was willst du denn als erstes wissen?“ Ich dachte einen Moment nach. Am brennendsten interessiert mich ja warum er mich im Stich gelassen hatte, doch es ist wohl sinnvoller sich von der Vergangenheit nach vorne zu arbeiten. Deswegen werde ich erst eine andere Frage stellen und mich bemühen ruhig zu bleiben. „Was ist passiert nachdem du mich an der Schaukel sitzen gelassen hast? Warum bist du nicht wieder gekommen?“ Sein Mund formt sich zu einem Grinsen und jetzt sieht auch er mir ins Gesicht. „Ich glaube dir zwar nicht, dass es das ist, was dich am meisten interessiert, aber dann soll es so sein und du wirst als Erstes das erfahren, was noch am einfachsten zu erklären ist.“ Ruhig beginnt er zu sprechen.
 

(I)„Ich bin mir nicht sicher, ob du es noch weißt, aber auf dem Weg zum Haus habe ich die Feuer wehr gerufen. Zwar war mir klar, dass so viel nicht brannte, dafür waren es zu wenige Flammen, jedoch musste ich ja auf Nummer sicher gehen. Schon von weitem sah ich, dass unser Vater, Moment, dein Vater Bruno, im Flur stand mit einem Benzinkanister in der Hand und einem grauenvollen Lachen auf den Lippen. Als ich das Haus betrat, sprach er mich auch sofort an: „Siehst du, was du davon hast, wenn du mit dem Kleinen abhaust, siehst du, wie arm du dran bist, wenn ich nicht für euch sorge? Was willst du denn hier noch? Willst du wie die Schlampe oben im Schlafzimmer auch deinen Tod in dieser Nacht finden?“ Ich war etwas verwirrt, war ja nur noch mal zurückgegangen, um Kate zu retten. „Heißt das… heißt das etwa sie ist tot?“ Der Gedanke verunsicherte mich. Wie skrupellos konnte jemand sein, der seine eigene Frau, die er lieben und ehern sollte, umbringt? Würde er soweit gehen auch mich umzubringen? Meine Frage ob sie tot sei, wurde beantwortet indem er aus seiner Hosentasche ein Blut verschmiertes Messer zog. „Ist das tot genug für dich?“ Erschrocken machte ich einen Satz zurück, ich wollte wieder raus, raus aus dem Haus. Es hatte nur eine Vase auf der Vitrine gebrannt. Deswegen ist auch alles noch so gut erhalten, du hast es ja anscheinend mit eigenen Augen gesehen. Trotzdem zog sich ein Geruch von Benzin durch den Gang, der anscheinend aus dem Wohnzimmer zu kommen schien. Bruno packte mich an meinem Handgelenk und zog mich an ihm vorbei in Richtung Wohnzimmer, so dass er nun direkt zwischen mir und meinem Fluchtweg stand. Er zog mich näher an sich heran und schlug mir mitten ins Gesicht, so wie er es immer getan hatte. Mittlerweile weiß ich ja, dass du es die ganze Zeit wusstest. Wieder und wieder schlug er auf mich ein, mein Gesicht, meinen Oberkörper. Bis ich schließlich jappsend am Boden lag. Selbst dann trat er nach mir. Irgendwann wurde ich dann bewusstlos.
 

Es fällt mir schwer, mir das alles vorzustellen. Zu schrecklich ist das, was er mir soeben erzählt hat. Zu hart ist die Realität, doch ich weiß, dass es die Wahrheit war. Ich kannte meinen Vater. Ob er auch noch lebt? Wie hat er überlebt? Es tuen sich nur noch mehr Fragen auf.

Mehr Fragen, je mehr ich von der Wahrheit weiß. Mehr ungeklärte Tatsachen, von denen nur er wusste. Vorsichtig drehe ich mich zu ihm, in seinem Blick ist etwas Trauriges, aber auch etwas zutiefst Finsteres und von Hass zerfressenes. “Und dann?“, frage ich nur kleinlaut, ehe er seine Geschichte fortführt. Nein, nicht seine Geschichte. Unsere Vergangenheit.
 

Als ich wieder aufwachte, waren vielleicht zehn Minuten vergangen, vielleicht auch eine halbe Stunde, ich weiß es nicht mehr, pochte mein gesamter Schädel und alles tat mir weh von den Schlägen. Die Tür vor mir war verschlossen, doch aus dem Wohnzimmer drang der Klang des Fernsehers. Ich wusste also wo er war. Wusste wo der saß, der uns das alles angetan hatte. Leise rappelte ich mich vom Boden auf und schlich zur Türe. Vorsichtig wollte ich sie öffnen um unbemerkt zum Hinterausgang im Arbeitszimmer zu gelangen. Doch schon bei den ersten paar Zentimetern quietschte diese. Leise fluchte ich, ehe ich auch schon seine Stimme vernahm. „Komm schon rein Jordan. Komm doch her und trinke mit deinem alten Herren eine Flasche Vodka. Es ist so lange her, dass wir mal etwas zusammen gemacht haben. Unsicher drückte ich die Türe ganz auf. Er saß da wie immer in seinem Sessel, eine Flasche Alkohol in der Hand, in der andern eine Zigarette. Langsam lief ich auf ihn zu. „Setz dich doch, hier ist noch ein Sessel frei!“ Unsicher ging ich seiner Bitte nach und setzte mich. Abwertend sah er mich an. Keiner sagte ein Wort, bis ich auf einmal von draußen lautes Sirenengeheule vernahm „Fuck verdammt, wer hat die Bullen gerufen, warst du das etwa?“ Mit einem Satz war er aufgestanden und stand direkt vor mir. Wieder packte er meine Handgelenke. Seine Flasche Alkohol war auf dem Boden gelandet und seine Zigarette gleich hinter her. Plötzlich gab es ein seltsames Geräusch und orangerote Flammen breiteten sich an einer Spur entlang im gesamten Zimmer aus. „Das hast du nicht gedacht, was?“ Sofort fiel es mir wieder ein. Der Benzingeruch. An der Tür hämmerten die Feuerwehrmänner, doch das beeindruckte mein Gegenüber nicht sonderlich. Er zog mich in Richtung der Flammen, wollte mich in sie schubsen. Ich musste mich wehren, verstehst du… es war keine Absicht. Auch wenn ich ihn gehasst habe, ich wollte ihn nie umbringen doch in diesem Moment packte mich die Panik. Ich riss mich los und stieß ihn von mir weg. Er landete hart auf dem Boden, direkt neben den Flammen. Für mich gab es nur einen Ausweg, ich stürzte durch die Flammen in das angrenzende Arbeitszimmer, das auch schon anfing Feuer zu fangen, und dann in Richtung Ausgang. Doch auch diese Tür war verschlossen. So schnappte ich mir einen Stuhl und schlug die Glasscheibe ein. Wenig später mussten die Feuerwehrmänner die Eingangstüre aufgebrochen haben und in die Wohnung gestürmt sein. Einige Männer stürmten nach draußen zu mir und stellten mir einen Haufen Fragen zu meinen Personalien. Sie sagten mir auch, dass mein Vater tot sei und fragten mich, wer der kleine verängstigte Junge sei, der verschreckt und einsam auf der Schaukel saß. Verstehst du, ich wollte zurück zu dir, wirklich. Doch sie ließen mich nicht. Ich hatte Verbrennungen, die dringend versorgt werden mussten. Und einige Glassplitter hatten meine Haut durchbohrt. Nachdem sie wussten, dass du mein Bruder bist und mir erklärt hatten, dass ich nun die volle Verantwortung für dich trug und was sie mit mir machen sollten, ob du ins Heim sollst um adoptiert zu werden, oder ob ich es schaffen würde für uns beide zu sorgen. Ich war damals erst 16, genau wie du jetzt. Da schlug einer der Feuerwehrmänner vor, dass er eine Tochter hatte, die etwa im selben Alter war und dich gerne bei sich aufnehmen würde. Ich wusste nicht was ich sonst hätte tun sollen und stimmte zu. Sie setzten mir eine Sauerstoffmaske auf und brachten mich ins Krankenhaus. Noch auf dem Weg zum Krankenwagen fiel ich in Ohnmacht… Im Nachhinein erfuhr ich, dass auch Bruno bei dem Brand gestorben war und deine Mutter ermordet in ihrem Bett lag.“
 

Ich schlucke hart, das, was ich jetzt erfahren habe, muss ich erst einmal verkraften. Wieder blicke ich zu Jordan. Vorsichtig will ich meinen Arm um ihn legen, da ich sehe, dass seine Augen glasig sind und mit Tränen gefüllt, doch er schlägt ihn weg, kurz bevor ich ihn um seine Schulten legen konnte. Kalt blickt er mich mit seinen kalten blauen Augen an. Unmerklich zucke ich leicht zusammen bei dem ungewohnten Anblick. „Jetzt brauche ich auch kein Mitleid mehr. Es ist Teil meines Lebens, das habe ich mittlerweile eingesehen und ändern kannst du es auch nicht mehr Jojo! Und so viel Ehre habe ich nachdem was geschehen ist noch. Auch wenn ich im Waisenhaus als Sohn eines Vergewaltigers und Säufers bezeichnet worden bin. Auch wenn keiner etwas mit mir zu tun haben wollte. Auch wenn mir das einzige fehlte, was mir wichtig war, was meinem Leben einen Sinn gegeben hatte. Für das ich mein Leben gegeben hätte“ „Ich… ich verstehe nicht“, verlassen die stotternden Worte meine Lippen, doch er blickt nur noch aggressiver. „Was ist mit dir danach geschehen?“, frage ich schließlich, um die Stille zu überbrücken. Er schüttelt nur leicht den Kopf, ehe er weiter erzählt.
 

„Ich wurde mit dem Krankenwagen in ein Krankenhaus gebracht. Nicht dieses, irgendein anderes. Die Ärzte versorgten meine Wunden, trotz alledem musste ich einige Wochen auf der Station liegen bleiben und hatte Bettruhe verordnet bekommen. Genau wie heute. Trotzdem bin ich mitten in der Nacht raus gegangen, schon damals hasste ich Krankenhäuser. Doch ich wurde erwischt und somit gaben die Ärzte keine Garantie mehr auf vollständige Heilung ohne Narben. Warum verstehe ich bis heute nicht. Keine der Wunden war aufgeplatzt und auch hatte sich mein Zustand in keinerlei anderer Hinsicht verschlechtert. Ich wurde aus dem Hospital geworfen und landete, da ich noch nicht volljährig war, in einem Waisenhaus.

Dort fing der Ärger erst an. Einer der „Betreuer“, also ein volljähriger Waise, der dort blieb um den anderen zu helfen, erfuhr von meiner Vergangenheit und meinem „Vater“, diese Detail band er allen schön ausgeschmückt mit einigen erfundenen Einzelheiten auf die Nase. Somit hatte ich meinen Ruf weg und alle verabscheuten mich. Selbst die Heimleiterin konnte mich nicht leiden und gab mir immer die schwersten Arbeiten zu tun. Weißt du wie es ist zwei Jahre lang jeden Tag zu schuften für nichts? Klos zu reinigen, Wäsche zu sortieren, waschen, bügeln, für über 100 Jungen? Ich sag dir, dass sind zwei Jahre Hölle. In der Nacht zu meinem 18. Geburtstag packte ich dann schließlich meine paar wenigen Sachen und um Punkt Null Uhr verließ ich das Waisenhaus. Einige Monate lebte ich auf der Straße. Ohne regelmäßiges Essen, ohne Dach über dem Kopf. Als räudiger Straßenjunge. Was anderes hatte ich ja anscheinend nicht verdient. Bis mich eines Tages die Bullen erwischten, als ich aus einer Supermarktmülltonne einen Apfel stahl. Es war nicht mal im Geschäft. Der wäre eh verrottet und ich wäre sonst mit höchster Wahrscheinlichkeit verhungert. Die Beamten zerrten mich schließlich auf die Wache nahmen meine Personalien auf und fragten dann, wo ich wohnte. Ich erzählte ihnen knapp meinen derzeitigen Stand und sie verhalfen mir zu Arbeitslosengeld und einem Job als Kellner. Mittlerweile spiele ich in meiner Freizeit noch in einer Band Schlagzeug und singe und schlage die Zeit tot. Ja, das ist glaube ich alles was zu meinem Leben zu sagen ist.“
 

Traurig blicke ich ihn an. Mir war klar gewesen, dass er es nicht leicht hatte, auch war mir bewusst, dass er viel erlebt haben muss. Aber das es so grausam war, was er durch lebt hatte. Ich will nicht riskieren, dass er wieder wütend wird und meinen Arm weg schlägt, deswegen bleibe ich einfach sitzen und starre in die Dunkelheit. Nach einer schieren Ewigkeit durchbricht er endlich das Schweigen „So, du bist ja ganz schön neugierig. Hast du noch eine Frage an mich?“ Er bringt das so locker und leicht rüber, schon fast witzig, doch ich kenne ihn noch immer und ich weiß, dass er nur versucht seine echten Gefühle zu überspielen. Ja, es gibt eine Frage, die ich ihm noch stellen muss, unbedingt, aber soll ich das wirklich jetzt tun?

Ich reiße mich zusammen und frage schließlich: „Warum….Warum hast du mich allein gelassen und dich nie für mich interessiert in all den Jahren nicht?“ Schnell verschwindet sein Grinsen und Kummer breitet sich in seinem Gesicht aus, der Kummer breitet sich bei ihm genauso aus wie bei mir die Verzweiflung. Ohne zu wissen was ich jetzt wirklich tue springe ich auf, stelle mich direkt vor ihn und schreie ihn förmlich an: „Warum verdammt hast du mich im Stich gelassen? Dein Versprechen, dass du immer für mich da sein wirst nicht gehalten? Mir mein Leben zur Hölle gemacht? Mich im Unklaren gelassen, was mit dir geschehen ist? Warum hast du dich nie gemeldet, verdammt? Ich hätte dich doch gebraucht … ich… ich wollte mich wegen dir sogar…“ Das letzte Wort spreche ich nicht aus, denn mittlerweile ist Jordan aufgestanden und steht direkt vor mir. Ich schlage mit meinen Fäusten auf seinen Oberkörper ein und schluchze in den Stoff seines weißen T-Shirts. Plötzlich schlingt er seine Arme um mich und drückt mich an sich. Dann beginnt er ruhig zu sprechen, streicht mir dabei sanft über den Rücken und verliert hin und wieder auch selbst eine Träne. „In der Zeit im Krankenhaus ging das ja schlecht, sie hatten mich unter ständiger Beobachtung und ich hatte ja nicht einmal den Namen des Mannes, dem ich dich überlassen hatte. Im Waisenhaus hassten mich alle und wie schon gesagt auch die Besitzerin, sie ließ mich nicht telefonieren oder Nachforschungen anstellen. Auf der Straße ja okay, da hätte ich einmal die Chance gehabt, als dein Adoptivvater mich aufgesucht hatte. Er wollte sich erkundigen wie es mir geht. Doch da ich zu dieser Zeit auch extreme Probleme mit Drogen und Alkohol hatte und meine Arme zerschnitten waren, weil mein Leben keinen Sinn mehr ergab, ging er nach fünf Minuten wieder mit den Worten `bei dem Bruder als Vorbild ist der Zustand des Jungen ja kein Wunder und ich dachte Jojo wäre durchgedreht` diese Worte blieben lange in meinem Gedächtnis, ich wusste ja nicht was genau er damit meinte, aber ich wusste das solche Worte nie etwas Gutes zu bedeuten hatten. Doch beschloss ich, dass es sicher nicht sinnvoll ist wenn du mich siehst. Und später, als ich endlich selbstständig war, versuchte ich alles um dich zu vergessen…“ Vergessen… er wollte mich wirklich vergessen? Einfach so aus seinem Gedächtnis radieren? Okay hatte ich mit ihm auch vor, aber er wusste, dass ich lebe. Ich dachte er wäre tot, das ist ein grundlegender Unterschied. Er bemerkt den Kampf in mir, das ich nicht begreife warum und fügt noch hinzu: „Doch es ging nicht… ich hätte dich nie vergessen können, mein kleiner Jojo.“ Da fiel mir plötzlich noch eine Frage ein, die ich ihm unbedingt stellen musste. „Sind… Sind wir jetzt eigentlich noch Brüder?“ brachte ich mit einem Kloß im Hals hervor. Etwas geschockt blickt er zu mir herüber, so als wäre diese Frage wirklich unverhofft gekommen, was sie aber nicht war.

Er lässt mich für einen Moment los und torkelt einen Schritt zurück. „Wie meinst du das? Warum denn nicht?“ Etwas bedrückt blicke ich zu Boden. Ich komme mir immer noch wie ein kleines Kind in seiner Gegenwart vor. Deswegen stammle ich verlegen: „Na du bist ja ‚Nur’ mein adoptiv Bruder und nicht mein richtiger… deswegen … ich weiß ja nicht wie du das jetzt siehst…!“ Sein entsetzter Gesichtsausdruck wird zu einem Grinsen, ehe er mir durch meine Haare fährt und mit einer sanften Stimme antwortet: „Ach mein Kleiner, na klar sind wir noch Brüder, was du dir nur für Gedanken machst…!“ Vorsichtig legt er eine Hand an meine Wange und ich blicke ihn etwas traurig und mit Tränen in den Augen an. „Hey Jojo, schau doch nicht so traurig. Du wirst immer mein kleiner Engel bleiben, egal was passiert, ich werde immer auf dich aufpassen!“ Etwas überfordert stehe ich da. In mir herrscht das reinste Gefühlschaos, die Trauer, die Angst, die Sorge, alles, was mich in den Jahren so sehr bedrückt hat schwirrt in mir herum, aber auch die beiden Liebesgeständnisse der Mädchen lassen mich nicht so kalt, wie ich es gerne hätte, und dann dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, das Wohlbehagen, die Freude und die Müdigkeit die mir auch ganz schön zu schaffen macht. Etwas benommen torkele ich rückwärts auf die Bank zu und lasse mich auf eben diese fallen. „Jojo, alles okay?“, fragt Jordan bestürzt und kniet sich vor mir nieder. „Jaja, schon okay nur etwas geschafft… tut mir leid, jetzt, wo du schon mal wach bist und es dir wieder besser geht mache ich anscheinend schlapp!“, entschuldige ich mich mit einem leichten Grinsen auf meinen Lippen.

Plötzlich funkeln seine Augen seltsam und er fragt unschuldig: „Bist du müde?“ Unschlüssig was diese Frage jetzt soll nicke ich. Er steht auf streckt sich noch einmal genüsslich, ehe er eine Hand zwischen meine Schulterblätter legt und die andere unter meine Knie schiebt um mich dann auf Händen in Richtung Krankenhaus zu tragen. Unsicher lege ich meine Arme um seinen Hals, um nicht ab zu rutschen. „Was wird das denn?“, frage ich, unschlüssig, ob ich mich wehren oder es einfach genießen soll. „Na ich bringe dich ins Bett, in das so kleine Jungs eben um diese Uhrzeit gehören!“, scherzt er lachend. „Außerdem ist es schon 4 Uhr und wir müssen eh in einer Stunde wieder in meinem Zimmer sein. Oder hat der Herr etwas dagegen?“ Schnell schüttle ich den Kopf und klammere mich noch näher an den Größeren.

Wir durchqueren den Eingangsbereich, wo bei wir Eli Bescheid geben, dass wir da sind und machen uns auf den Weg zu unserem Zimmer, auf dem ja eigentlich niemand sein dürfte.

Und tatsächlich, ohne Komplikationen kommen wir an diesem an. Jordan legt mich noch auf meinem Bett ab ehe ich mich auch schon nach hinten fallen lasse, er mir noch einen Gute Nacht Kuss auf die Stirn gibt und bald darauf mit einem Grinsen auf den Lippen einschlafe.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Inan
2009-07-22T22:24:23+00:00 23.07.2009 00:24
*___*
Schöööön...
Klang jetzt zwar nicht besonders geistreich, aber ich meins so,
total toll geschrieben, gefühlvoll und alles,
also ich hab nix zu meckern^^
Von:  Die_Debby
2009-03-24T01:46:26+00:00 24.03.2009 02:46
Oh mein gott ich liebe diese FF....
Ich bin echt sprachlos...
Das ist alles so viel und so sehr ergreifend.
Ich musste echt weinen....
das hat echt Buch Format O.O
oh man.. schreib ganz schnell weiter...
ganz schnell =)

Debby♥
Von:  dani
2009-03-23T17:47:27+00:00 23.03.2009 18:47
WOW ich wiederhole mich vermutlich aber du bist einfach total klasse!!!
Echt super geschrieben und ich finde Jojo immer süßer *knuddel*
*verlegen grins*
naja warte schon sehnlichst auf deine nächsten kapi...
GLG
dani
Von:  Nik_Wonderland
2009-03-23T17:29:09+00:00 23.03.2009 18:29
uiiiii!!!!!
ERSTE!!!!
man ich find die story total toll und schön geschrieben auch die vielen gedanken die jojo sich macht sind toll!!!!!!!!
auch finde ich das du jordan sehr sympathisch rüberkommt so das man ihn einfach lieb habne muss!!!!!!!!
super schreibstiel freu mcih wenn es weitergeht!!!!
LG Danny


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