Mut
Das Gebäude war groß. Sehr groß. Es hatte viele Fenster auf der Seite zur Straße hin und wirkte schick. Gleichzeitig erschlug die Größe jeden, der direkt vor den Stufen zum Eingang stand. Man fühlte sich klein und schwach, man hatte das Gefühl, dass man es niemals besiegen konnte. Die vielen Stufen, die zu der breiten Flügeltür führten und an beiden Seiten mit verschiedenen Figuren geschmückt waren, deren Gesichter so geformt und bemalt waren, dass man das Gefühlt hatte, dass sie einen anstarrten, ihn fast durchbohrten wie mit einem Speer, fügten der ganzen Szenerie ein weiteres Merkmal hinzu. Der große Engel, der vor der Tür von der Decke hängte, ein Schwert und eine Waage trug, sowie die Menschen mit seinem finsteren, düsteren Blick um den letzten Mut brachte, machte aus jedem Elefanten eine Mücke. Selbst die Wortgewandtesten fühlten das Nichts, das sie waren. Man war erschlagen, traute sich nicht in das Gebäude.
„Der Wahre fürchtet nichts.“ stand in goldenen Lettern über der Tür geschrieben und stand im Gegensatz zum Rest des Einganges. Die Tür war dunkel gestrichen, hatte keine Fenster und wirkte gewaltig, wie der Schlund eines Drachen. Manch einer stand davor und war erstarrt.
Doch W. war nicht so. Lange stand er vor der Tür, atmete tief. Er unterdrückte jede Regung seines abgemagerten Gesichtes, ließ keine Emotion nach außen durch. Dann griff er nach dem Türgriff aus schwarzem Stahl und drückte die schwere Tür, die sich jedoch geräuschlos öffnen ließ, in das Gebäude.
Schwärze umgab ihn, als er eintrat. Die Tür schloss sich hinter im und ein schwaches Licht durchwanderte den Gang. Es war ein langer Gang, dunkel, viele Türen gingen von ihm ab. Alle waren groß und dunkel. Der Boden war glatt, W. musste aufpassen, dass er nicht ausrutschte. Doch er führte langsam, aber bestimmt seine Schritte fort, gerade aus in die Schwärze.
Nach kurzer Zeit stand er vor einer weiteren Tür. Sie war genau so groß wie das Eingangstor und genau so furchteinflößend. Man hatte das Gefühl, dass man, wenn man hinter diese Türe trat, nie wieder zurückkommt. Doch im Gegensatz zum Eingang öffnete sie sich selber und offenbarte einen schwarzen Schlund, einen Eingang zur Hölle.
W. ging durch die geöffnete Tür. Keine Miene rührte sich.
Dann stand er vor einem Gatter, dem einzig beleuchten, schwach durch ein paar kleine Glühbirnen, Ort des Raumes. Es ging ihm etwa bis zur Hüfte und bestand aus dunklem Eisen. Zwar konnte der Mann nichts sehen, doch sein Gefühl sagte ihm, dass der Raum sehr groß war. Tief atmend wartete er.
„W.! Wissen sie, warum wir sie hier her einberufen haben?“ schallte eine tiefe Stimme aus dem Raum. W. konnte nicht sagen, woher sie kam.
„Ja.“ antwortete W. kurz.
„Erklären sie sich.“
„Ich werde nicht zusehen, was sie tun.“
Die Stimme lachte laut und böse. „W., was soll aus ihnen werden? Sehen sie ein, wir sind nicht zu besiegen. Wir sind allmächtig.“
„Allmächtig? Dass ich nicht lache.“ W. blieb ruhig und kühl.
„Sie wissen, was mit ihnen und ihrem Möchtegern-Mut passiert?“
„Ja.“
„Gut. Erklären sie ihren 'Mut'.“
„Warum? Es ändert doch nichts an meiner Situation.“
„Klug, W. Wirklich klug. Es scheint, als hätten wir uns ihn ihnen geirrt. Offenbar sind sie nicht so klein, wie sie scheinen.“
W. antwortete nicht, sondern stand ruhig vor dem Gatter. Seine Hände befanden sich in seinen Hosentaschen.
„Schade, dass sie so spät gekommen sind. Dann hätten sie noch Zeit gehabt, ihren Mut abzulegen und ordentlich zu verabschieden. Jetzt müssen sie auf das verzichten.“
Es klang, als würde ein Sack Kartoffeln auf den Boden fallen. Dann war Ruhe.