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Elena - Das phantastische Kindermädchen

von

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Kindermädchen

Ein winziger Sonnenstrahl kämpft sich seinen Weg durch die Wolken und bestrahlt glitzernd eine Pfütze, die vom letzten Regenfall übrig geblieben ist. Gedankenverloren steht Elena an der Bushaltestelle und blickt auf die Straße hinaus, ohne die Schönheit des Lichtspiels auf der Wasseroberfläche wahrzunehmen. Seit drei Tagen ist sie nun schon in dieser Stadt, doch außer ihren ständig wiederkehrenden Träumen hat sie noch keinen Hinweis auf ihre Vergangenheit gefunden. Und doch wird sie das Gefühl nicht los, dass sie nicht aufgeben darf, dass sie weitersuchen muss, und dass sie früher oder später etwas finden wird. Was genau das sein soll? Elena weiß es nicht. Sie weiß nur, dass sie es erkennen wird, wenn sie darauf trifft, was auch immer es sein mag.

Der Bus, der mit gemächlichem Quietschen vor ihrer Nase zum Stehen kommt und den Blick auf die schillernde Pfütze unterbricht, reißt sie aus ihren Gedanken. Stimmt, erst einmal hat sie andere Probleme: Wenn sie länger in dieser Stadt bleiben will, um ihre Suche so gründlich wie möglich fortsetzen zu können, braucht sie einen Job!

Also steigt die junge Frau ein, löst beim Fahrer ein Ticket und sucht sich einen freien Sitzplatz. Es ist vormittags, kurz nach Schulbeginn, daher ist der Bus bis auf einige ältere Menschen und verspätete Bürohengste leer, und sowohl die Sitzbank vor als auch hinter Elena ist nicht besetzt. Mir einem leisen Seufzer massiert sich Elena den Nacken – das Bett in ihrem kleinen Hotelzimmer ist nicht gerade bequem, weshalb sie sich nun fühlt, als hätte sie auf Beton geschlafen. Doch immerhin ist es günstig, und das ist schließlich das Hauptargument für die Auswahl einer Bleibe, vor allem, wenn man nicht weiß, wie lange man noch von seinem Ersparten leben muss.

Mit einem unsanften Rucken setzt sich der Bus in Bewegung, und Elena geht in Gedanken noch einmal die Stellenanzeigen durch, die sie in den Zeitungen der letzten Tage gefunden hat. Bedauerlicherweise ist keine Anzeige für ein Kindermädchen darunter, doch ein Bäcker im nächsten Stadtteil sucht eine Aushilfskraft im Verkauf. Und genau dorthin ist Elena nun unterwegs, um sich direkt persönlich vorzustellen und hoffentlich einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Der Geruch von frischem Backwerk… Eine Erinnerung steigt in ihr hoch, an einen Duft aus ihrer Kinderzeit, wenn morgens in aller Frühe die großen Steinöfen geheizt wurden. Es ist fast, als könne sie es tatsächlich riechen, dieses ganz besondere Brot mit der geheimen Kräutermischung, deren Zusammensetzung Sophiern immer so streng geheimgehalten hat.

Sophiern? Wer ist Sophiern? Elena stockt in ihren Gedanken, versucht sich zu erinnern - die Erklärung ist zum Greifen nahe, und doch…

Wütend ballt Elena die Faust, so feste, dass ihr ganzer Arm zittert. Wieso kann sie sich nicht erinnern? Wieso kommen ihr immer nur diese winzigen Fragmente ins Gedächtnis, ohne Sinn und Zusammenhang? Wieso…?

„Hach du meine Güte, was für ein Wetter.“, hört sie plötzlich eine raue, aber eindeutig weibliche Stimme neben sich. „Ist neben Ihnen noch frei, junges Fräulein?“

Elena blickt nach oben und sieht in das lächelnde Gesicht einer älteren Dame, um deren Augen herum sich freundliche Lachfalten bilden.

„Ähm – ja – natürlich.“, stottert Elena, beschämt ob ihrer Gedankenverlorenheit, und deutet einladend auf den freien Platz neben sich. „Bitte sehr.“

„Dankeschön.“, lächelt die Dame und lässt sich mit einem erleichterten Seufzer neben Elena sinken. „Es ist viel zu nass draußen. Das geht mir sofort in die alten Knochen, wissen Sie.“

Nass? Verwundert Elena schaut zum Fenster hinaus, und tatsächlich: Es regnet schon wieder. Wie gut, dass sie vorhin noch ihren Schirm eingepackt hat!

„Ja, es regnet sehr viel in letzter Zeit.“, wendet sie sich ihrer Nachbarin zu und nickt bestätigend. Eigentlich hat sie keine Lust auf eine Unterhaltung, doch unhöflich möchte sie auf keinen Fall reagieren.

Ihr Gegenüber ist zwischen 60 und 65 Jahre alt – Elena tut sich immer schwer mit dem Schätzen, daher würde sie keine Garantie darauf geben -, trägt einen dicken Mantel und eine dazu passende Strickmütze, unter der ein paar sorgfältig drapierte silbergraue Strähnen hervorschauen. Trotz ihres Alters blicken die blassblauen Augen der Frau mit einer kleinen Portion Schalk in die Welt, und das gefällt Elena.

„Aber bald wird es sicher wieder angenehmer.“, ergänzt sie also aufmunternd und wirft einen kurzen Blick auf die Anzeige im Bus, in der der Name der nächsten Haltestelle aufleuchtet.

„Verzeihen Sie – ich wollte Sie nicht belästigen. Eine alte Frau, die sich die Busfahrt mit einem guten Schwätzchen vertreiben will, ist wohl leider nicht allzu gerne gesehen.“

Elena erschrickt regelrecht ob der Missinterpretation ihrer Gestik und hebt abwehrend die Hände. „Nein nein, bitte, so war das nicht gemeint. Ich kenne mich hier nur nicht aus, und war mich nicht sicher, wo...“, setzt sie hastig zur Entschuldigung an, wird jedoch von der Dame unterbrochen.

„So ernst meinte ich das nicht.“, zwinkert die Ältere. Elena seufzt erleichtert und erwidert das Lächeln der Frau. Vielleicht ist es doch gar nicht so schlecht, auf andere Gedanken gebracht zu werden.

„Sie sind also fremd hier?“, fragt die Dame nun und blickt Elena mit zurückhaltender Neugierde an. Elena nickt nur. „Wissen Sie, meine Tochter ist auch erst vor Kurzem hierher gezogen, gemeinsam mit ihrem Mann und den Kindern.“, beginnt sie nun zu erzählen, und plötzlich wird ihr Blick sorgenvoll. „Sie ist gerade zum dritten Mal schwanger.“

„Aber das ist doch schön.“, wirft Elena mit einem Lächeln ein, doch die ältere Dame schaut nur noch ernster drein, und ihre Stirn legt sich in besorgte Falten.

„Gibt es Komplikationen?“, fragt Elena also vorsichtig nach; sie ahnt, dass es wohl genau diese Frage ist, auf die ihre Sitznachbarin wartet, um guten Gewissens weitererzählen zu können.

„Leider ja“, seufzt die Frau und rutscht in eine bequemere Sitzposition. Längere Zeit in einem Bus zu sitzen, ist selbst für Menschen jüngerer Generationen nicht gerade angenehm, das muss Elena zugeben. „Sie wurde gestern in die Notaufnahme gebracht, weil die Wehen eingesetzt haben - zwei Monate zu früh.“ Ein dramatisches Seufzen folgt auf diese Worte, und so sehr Elena das Schicksal der Tochter berührt, muss sie ein Schmunzeln unterdrücken. Alte Leute haben eine ganz besondere Art, ihre Geschichten zu erzählen und zu untermalen – jedoch eine durchaus liebenswerte Art.

"Gott sei Dank haben sie das Kind retten können. Es ist schwach, doch es wird durchkommen, sagen die Ärzte. Wir machen uns natürlich trotzdem Sorgen, vor allem Mareike und Bernhard. Und Mareike muss sich auch erst noch erholen." Ein leichtes Kopfschütteln leitet das nächste Kapitel der Geschichte ein. "Der arme Bernhard... Er will so oft wie möglich bei ihr und dem Kleinen sein; aber er muss natürlich arbeiten, und sich dann auch noch um die anderen Beiden kümmern. Ich helfe ihm natürlich dabei, aber ich bin auch nicht mehr die Jüngste. Und Nina und ihr Bruder sind manchmal sehr anstrengend." Mit einem weiteren Seufzen betrachtet sie ihre alten, runzligen Hände, und Elena, die den letzten Sätzen in unterdrückter Aufregung gelauscht hat, wittert ihre Chance.

„Vielleicht sollten Sie sich Hilfe dazuholen?“, wirft sie behutsam ein und wartet auf die Reaktion der Frau, die aus einem Seitenblick und einem leisen Schnauben besteht.

„Das hat Mareike auch schon vorgeschlagen. Aber so kurzfristig findet man heutzutage keine Haushaltshilfe mehr, vor allem, wenn noch zwei Kinder mit im Spiel sind. Und obendrein nimmt man natürlich auch nicht die Erstbeste, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Verschwörerisch sieht sie zu Elena hinüber, und die junge Frau schließt aus diesen Worten, dass die Ansprüche der Älteren recht hoch gesteckt sein müssen. Dennoch kann sie diese Gelegenheit nicht einfach vorbeiziehen lassen und wagt einen Vorstoß.

„Es mag wie ein dummer Zufall klingen, aber ich habe bereits mehrmals als Kindermädchen gearbeitet.“, äußert sie also vorsichtig. „Und ich suche gerade einen Job... Ich habe auch Empfehlungsschreiben der Familien, bei denen ich bisher war.“, beeilt sie sich zu ergänzen und beobachtet aufmerksam die Mimik ihrer Nachbarin.

Ein prüfender Blick trifft sie und scheint sie von oben bis unten abzuschätzen, bis die Dame sie schließlich mit hochgezogenen Augenbrauen ansieht. „Das scheint wirklich ein seltsamer Zufall zu sein.“ Sie überlegt noch einmal kurz, dann beginnt sie zu lächeln. „Wissen Sie - Sie scheinen mir ein nettes Mädchen zu sein. Aber ob sie auch mit Nina und Kevin zurechtkommen – nun, ich denke, es auszuprobieren schadet nicht.“

Dankbar und glücklich strahlt Elena die Frau an – der Vorstellungstermin beim Bäcker ist vergessen...
 

„Hängen Sie Ihre Jacke ruhig hierhin.“, bietet Frau Kranz an, und Elena folgt der Aufforderung, während sie sich im Flur des Hauses umsieht. Auf der restlichen Fahrt hierher haben sich die beiden Frauen über Elenas bisherige Erfahrungen unterhalten, und je mehr Frau Kranz dem potentiellen Kindermädchen ihrer Enkel zuhörte, desto zufriedener schien sie der Gedanke zu stimmen, die beiden Kinder in ihrer Obhut zu wissen.

Doch die Feuerprobe steht ihr natürlich noch bevor.

„Die Kinder sind momentan in der Schule. Um diese Zeit beginne ich üblicherweise zu Putzen und bereite das Mittagessen vor.“ Die Ältere streift sich mit leisem Ächzen die Schuhe von den Füßen und schlüpft in bereitstehende Pantoffeln. „Meine Tochter hat leider keine Hausschuhe für Gäste – obwohl ich ihr schon ein paar Mal gesagt habe, sie solle doch endlich einmal welche kaufen!“

Elena zieht eine Augenbraue hoch – sie würde sich von ihrer Mutter auch nichts sagen lassen, wenn es um ihre eigene Wohnung ginge. Wenn sie denn eine hätte, versteht sich. Doch das erwähnt sie lieber nicht laut, um es sich nicht mit Frau Kranz zu verscherzen.

„Das macht nichts.“, entgegnet sie also und zieht ihrerseits die Schuhe aus. „Ich habe bei solchem Wetter immer dicke Socken an.“

Wohlwollend nickt Frau Kranz ob der Voraussicht der jungen Frau, und geht dann voraus in die Küche, wohin ihr Elena auf dem Fuße folgt. Es ist eine erstaunlich große Küche, in die durch zwei Fenster jede Menge Licht fallen würde – doch anstatt strahlenden Sonnenscheins sieht man durch die fröhlich weißen Gardinen nur den Garten des Hauses, der unter der Last des grauen Himmels einzugehen scheint. Bei diesem Anblick wünscht sich Elena wieder den Sommer herbei, doch darauf würde die Welt noch ein paar Monate warten müssen.

„Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie die Beiden damals den Entschluss fassten, endlich ein Haus zu kaufen und hierher zu ziehen.“, berichtet Frau Kranz und tritt neben Elena. „Es wurde auch langsam Zeit mit den zwei Kindern! Es ist doch immer noch besser, etwas außerhalb aufzuwachsen als in einer Großstadt - Kinder müssen herumtollen können, am Besten in der freien Natur! Und ich war sehr froh, Mareike wieder in meiner Nähe zu haben - sie haben vorher recht weit weg gewohnt, und ich habe keinen Führerschein. Es war immer eine Tortur, mit der Bahn dorthin zu kommen!!!“ Sie schüttelt unwirsch den Kopf, dann schaut sie kurz zu Elena hinüber, die den Blick interessiert erwidert, und sieht dann wieder zu den großen Fenstern hinüber. „Diese Fenster haben Mareike so gut gefallen - sie wollte schon immer eine große und helle Küche haben. Das war mit ein Grund, weshalb die Entscheidung im Endeffekt auf dieses Haus gefallen ist. Doch genug abgeschweift, ich muss hier fertig sein, bevor die Kinder kommen.“

Und schon schreitet Frau Kranz zur Tat und holt aus einer kleinen Abstellkammer einen Eimer und einige Lappen hervor. „Sie scheinen bisher ganz schön weit herumgekommen zu sein, Ihren Erzählungen im Bus zu Folge.“, beginnt die ältere Dame, während sie ein paar Tropfen Reiniger in den Eimer gibt und ihn daraufhin in der Spüle mit heißem Wasser volllaufen lässt. „Wie kommt es, dass Sie so viel herumreisen? Gab es in Ihrem Heimatort nichts, was sie gehalten hätte? Falls ich das fragen darf, versteht sich.“, erkundigt sie sich und schaut kurz auf und zu Elena hinüber, bevor sie ihre Konzentration wieder auf den bereits halb vollen Eimer richtet.

Das ist eine Frage, mit der sie jedes Mal konfrontiert wird, daher ist Elena nicht überrascht, sie auch dieses Mal wieder zu hören. Anfangs hatte sie sich überlegt, sich eine Geschichte auszudenken, die sie als Antwort auf diese Frage präsentieren kann, etwas, das nicht so kurios klingt wie die Wahrheit. Doch sie mag es nicht, andere Menschen anzulügen, vor allem nicht, wenn sie so freundlich zu ihr sind wie die Familien, bei denen sie bisher gearbeitet hat. Also wird sie auch Frau Kranz nicht anlügen.

„Ich bin auf der Suche nach meinem Vater und hangle mich an Hand von kleineren - und manchmal auch größeren - Hinweisen von Stadt zu Stadt und hoffe, ihn irgendwann zu finden.“ Dass ihre „Hinweise“ aus Träumen bestehen, verschweigt sie geflissentlich.

„Hm...“, macht Frau Kranz und verzieht nachdenklich das Gesicht. Der Eimer ist mittlerweile voll, und sie dreht das Wasser ab und hievt den nun schweren Eimer aus der Spüle.

„Warten Sie, ich mache das!“ Elena eilt zu Hilfe und nimmt der Älteren den Eimer aus der Hand.

„Danke.“, ächzt Frau Kranz und winkt Elena, ihr aus der Küche heraus zu folgen. „Wir fangen im Wohnzimmer an. Dann arbeiten wir uns durch das Schlaf- und die Kinderzimmer, und dann geht es im Bad weiter.“, erklärt sie ihren üblichen Putzrundgang und geleitet Elena in das gemütlich dreinschauende Wohnzimmer des Hauses.

„Das heißt also, Sie finanzieren mit dieser Arbeit Ihre Suche?“, nimmt die Dame das ursprüngliche Thema wieder auf, und Elena nickt. Sie tut es Frau Kranz gleich, durchnässt einen der Lappen, wringt ihn aus und beginnt, die Regale und Schränke abzuwischen.

„Was wiederum heißt, dass Sie, sobald Sie an einem Ort nicht mehr weiterkommen oder Ihren nächsten Hinweis gefunden haben, auch wieder weiterziehen?“ Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage, und Elena bleibt nichts anderes übrig, als aus ihrem zunächst unentschlossenen Kopfwackeln ein Nicken zu machen.

„Doch üblicherweise warte ich so lange, bis die Familie einen Ersatz gefunden hat oder ich nicht mehr gebraucht werde. Ehrensache, verstehen Sie?“, lächelt Elena, um Frau Kranz gütlich zu stimmen. Doch die scheint ihr ihre Ehrlichkeit nicht übel zu nehmen, sondern wischt eifrig weiter und überlässt dabei mit Freuden die höheren Regale der jungen Frau an ihrer Seite. Eine Zeit lang putzen die beiden Frauen schweigend, dann unterbricht Frau Kranz die Stille.

„Was ist mit Ihrer Mutter?“

Elena stockt in der Bewegung. Vor ihrem inneren Auge sieht sie wieder das Antlitz ihrer Mutter, sieht ihr Lächeln und das Funkeln in ihren smaragdgrünen Augen. Kurz kneift sie die Augen zusammen, um das Bild loszuwerden – ‚Nicht sentimental werden, Elena!’ -, dann schaut sie mit einem kleinen Lächeln, dass ihre Traurigkeit nicht verbergen kann, zu Frau Kranz hinüber. „Sie starb, als ich noch ein junges Mädchen war.“

Mit einer solchen Antwort hatte die ältere Dame scheinbar fast gerechnet, denn sie nickt abwesend, und ihre Augen sind voll Mitgefühl. „Es muss schrecklich sein, so früh die Eltern zu verlieren.“ Mit leiser Stimme fragt sie weiter. „War das, bevor oder nachdem Ihr Vater...“ Sie zögert kurz und sucht nach den richtigen Worten. „... Sie verlassen hat?“

„Davor. Und mein Vater hat mich nicht verlassen. Wir wurden getrennt, durch einen unglücklichen Zufall. Und ich weiß, dass er auch nach mir sucht, wo immer er jetzt sein mag.“ Zuversichtlich nickt Elena. Ja, ihr Vater sucht ganz sicher nach ihr! Nur wird es für ihn ebenso schwer sein, sie zu finden, wie andersherum - wenn nicht sogar noch schwerer...

„Verstehe...“, murmelt Frau Kranz, obwohl sie eigentlich gar nichts versteht, und belässt es erst einmal dabei.

Schweigend arbeiten sich die beiden Frauen durch den Rest des Wohnzimmers, und auch im Schlafzimmer will außer der üblichen Konversation über das Wetter, Frau Kranz’ gesundheitliche Beschwerden und anderer nur wenig interessanter Dinge keine Unterhaltung aufkommen. Erst als die beiden Frauen eines der Kinderzimmer betreten und Elena schmunzeln muss ob der gewohnten Unordnung eines kleinen Jungen, kommen sie wieder auf das ursprüngliche Thema zurück.

„Ach du meine Güte, wie sieht es denn hier aus?“, entfährt es Frau Kranz, als sie das Durcheinander sieht, und entschuldigt sich bei Elena. „Es ist doch jeden Tag das Gleiche bei dem Burschen... Ich weiß nicht einmal, wie er es immer wieder schafft, in so kurzer Zeit solch ein Chaos anzurichten!“ Entrüstet schüttelt sie den Kopf und beugt sich nach unten, um Kevins herumliegende Spielsachen einzusammeln.

„Ich glaube, jeder Junge ist so. Mir wäre zumindest noch keiner begegnet, der Ordnung gehalten hätte.“, lacht Elena fröhlich und geht in die Knie, um der älteren Dame zu helfen.

„Wahrscheinlich haben Sie schon mehr Jungen kennengelernt als ich, von daher muss ich es Ihnen wohl glauben.“ Mit einem Ächzen erhebt sich Frau Kranz wieder und dirigiert Elena, wo die vielen unterschiedlichen Spielzeuge ihren angestammten Platz haben - abgesehen vom Fußboden natürlich. Nachdem es in Kevins Zimmer bald wieder ansehnlich ausschaut, nehmen sich die beiden Frauen das Mädchendomizil vor, das direkt nebenan liegt. Hier schaut es nicht so wüst aus, dafür allerdings ist das Bett übersät mit unzähligen Kuscheltieren in allen erdenklichen Formen und Farben.

„Ich nehme an, bei Mädchen schaut es auch immer genauso aus...?“, fragt die Ältere und hebt eine Augenbraue, als sie Elena ansieht.

Diese lächelt nur und lässt den Blick noch einmal durch den Raum schweifen. „So ähnlich, ja. Die meisten haben nicht ganz so viele Kuscheltiere, aber dafür ist es hier weniger rosa als in anderen Zimmern, die ich bisher gesehen habe.“

„Sah es bei Ihnen auch so aus, als Sie klein waren?“

Ein wenig überrascht von der Frage, muss Elena kurz nachdenken, bevor sie antwortet. „Bei meinen Eltern zuhause hatte ich ein paar Puppen, die meine Mutter mir genäht hatte. Danach hatte ich nur noch ein Kuscheltier, das meine Pflegeeltern mir auf einem Jahrmarkt gekauft haben. Ich besitze es immer noch.“

Anstatt darauf einzugehen, dass Elena immer noch ein Plüschtier mit sich herumträgt, scheint die ältere Dame auf ganz andere Dinge Wert zu legen. „Ihre Mutter hat Puppen genäht? Ein höchst ungewöhnliches Hobby!“ Bewundernd zieht sie die Augenbrauen hoch.

„Ja, sie hat das Handarbeiten sehr geliebt.“, antwortet Elena mit einem abwesenden Lächeln. „Doch leider habe ich ihre Begabung hierfür nicht geerbt - ich kann Knöpfe annähen und auch mal ein Paar Socken stopfen, aber für alles Weitere bin ich absolut unbegabt.“

Ein leichtes Kopfwiegen von Frau Kranz zeigt Elena, dass sie soeben einen Minuspunkt eingefahren hat – aber andererseits bringt es auch nichts, diese Unzulänglichkeit geheim zu halten. Zumal es schließlich nicht sonderlich häufig dazu kommt, dass in einem normalen Haushalt versiertere Handarbeitskünste notwendig sind.

„Aber das hier kriegen Sie hin, oder?“, entgegnet Frau Kranz und reicht Elena eines der Plüschtiere, das sie gerade mit skeptischem Blick vom Bett gefischt hat.

Die junge Blondine nimmt das Tier, einen blau-gelben Papageien, entgegen und betrachtet das Dilemma. Einer der filzenen Vogelfüße ist kurz davor, vom Körper des Kuscheltieres abzureißen, und hält sich gerade noch tapfer durch ein paar Fäden mit dem Papageienbauch verbunden – die nächsten Schmuseeinheiten der kleinen Besitzerin wird er wahrscheinlich nicht mehr überstehen.

Die Reparatur des Stoffvogels erscheint Elena nicht sonderlich kompliziert. „Das sollte mit ein paar Stichen gemacht sein.“, lächelt sie der älteren Dame zu, woraufhin diese nickt.

„Vielleicht könnten Sie dann schnell den Papageien nähen, während ich hier fertig sauber mache.“ In fragender Aufforderung hebt sie eine Augenbraue und blickt Elena, die zunächst kurz die Stirn runzelt, an.

„Ähm – natürlich. Gerne.“

„Sehr gut. Ich bin gleich wieder da.“

Ein wenig unwohl fühlt sich Elena schon in ihrer Haut, als Frau Kranz das Zimmer verlässt, um Nadel und Faden zu holen. Die ältere Dame scheint recht wählerisch zu sein bei der Auswahl eines Kindermädchens, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass sie bisher noch niemanden gefunden hat, der der Aufgabe – zumindest in Frau Kranz’ Augen – gewachsen wäre. Elena seufzt; sie kann die Vorsicht und Skepsis bei der Auswahl der Kinderbetreuung nur zu gut verstehen, und dennoch findet sie es übertrieben, ausgerechnet ihre Handarbeitsfähigkeiten auf die Probe zu stellen.

Nachdenklich betrachtet die junge Frau den Papageien in ihren Händen und denkt an den Tag zurück, an dem sie mit ihren Pflegeeltern zum ersten Mal auf einem Jahrmarkt gewesen war.

Damals war sie noch ein sehr junges Mädchen gewesen und fühlte sich in ihrem neuen Leben hoffnungslos verloren, obwohl ihre frischgebackene Familie sich redlich um sie bemühte und ihr all die Liebe zukommen ließ, die auch leibliche Eltern ihren Kindern entgegen bringen. Dennoch kam sich Elena fremd und einsam vor, was sie erst in dem Moment kurz vergaß, in dem sie die bunten Lichter und sich drehenden Karusselle der Kirmes sah und mit großen und staunenden Augen an der Hand ihrer Pflegemutter durch die Gassen des Jahrmarkts lief. An diesem Tag aß sie das erste Mal Softeis und wunderte sich über die extreme Süße der kalten Masse, die ihr klebrig schmelzend auf die Finger tropfte. Doch das, was ihr von diesem Rummelbesuch am Lebhaftesten in Erinnerung geblieben ist, ist das Kuscheltier, dass ihre Eltern an diesem Tag kauften, weil Elena in stummer Faszination mit offenem Mund und der mittlerweile fast völlig vom Eis befreiten Waffel in der Hand vor einem Tisch mit stapelweise aufgeschichteten Plüschtieren stehen geblieben war. Ihre Pflegeeltern waren dem Blick des kleinen Mädchens gefolgt, der auf ein hellbraunes Stoffwiesel fixiert war; mit einem Lächeln hatte sich Elenas Pflegemutter schließlich zu dem kleinen Mädchen hinunter gebeugt und es sanft gefragt, ob es gerne eines der Tiere mit nach Hause nehmen würde. Ein entschlossenes Kopfschütteln war damals die Antwort. „Er war schwarz.“, hatte das Kind leise gemurmelt und dem Stand ruckartig den Rücken gekehrt. „Wer war schwarz?“, kam die behutsame Gegenfrage, doch Elena sah nur bittend auf und sagte, dass sie wieder nach Hause wolle. Ihre Zieheltern hatten sich gegenseitig verwirrt angesehen, und während ihre Mutter schließlich wieder Elenas Hand nahm und gemeinsam mit ihr zum Auto zurückkehrte, kaufte ihr Vater heimlich eines der Wiesel und schenkte es im Auto seiner jungen Tochter. Doch anstatt sich zu freuen, hatte Elena sich nur höflich bedankt, das Stofftier neben sich auf den Rücksitz gelegt und es keines weiteren Blickes bedacht.

Elena lacht mit einem leisen Schnauben, als sie an diese schweigsame Autofahrt zurückdenkt.

Das Plüschtier hatte sie dann auch noch im Auto liegen gelassen, und ihre Eltern waren nun erst recht betroffen, trauten sich jedoch nicht, ihr frisch gebackenes Kind nach dem Grund zu fragen, aus dem heraus es das Kuscheltier nicht haben wollte. Ihre Mutter war schließlich diejenige, die sich an den Satz erinnerte, dass „er“ schwarz gewesen sei, und die das vorher braune Wiesel einem Färbebad unterzog.

Als sie schließlich das nun schwarze Plüschtier ihrer Tochter präsentierte, begannen die Augen des Mädchens zu leuchten, und in eben jenem Moment, in dem die kleine Elena liebevoll das Wiesel in ihre Arme nahm und es fest an sich drückte, war das Eis zwischen ihr und ihren Zieheltern gebrochen.

Weiter kommt Elena in ihren Gedanken nicht, denn Frau Kranz kommt ins Zimmer zurück und reicht der jungen Frau Nadel, Faden und einen Fingerhut.

Verdutzt dreht die Blondine das rote Plastikteil zwischen den Fingern. „Ich habe noch nie einen Fingerhut benutzt.“, gesteht sie.

„Na, dann wird es aber Zeit! Sonst zerstechen Sie sich beim Nähen noch Ihre zarten Finger!“, empfiehlt Frau Kranz mit einem ernsten Nicken und überlässt Elena ihrer Aufgabe, während die ältere Dame sich erneut dem Putzen zuwendet.



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