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Die Welt vor Augen

von

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Die Welt vor Augen

Der Regen prasselte nieder, wusch all den Dreck und das Blut fort, aber nicht den Gestank, der den jungen Werwolf verfolgte und der so unerbittlich näher kam. Das Geräusch der umfallenden Mülltonnen, als der Junge scharf in eine Seitenstraße einbog, verklang ungehört in der zur Neige gehenden Nacht.

Er wusste nicht wie er dieser Hölle aus Untoten entkommen war, aber er wusste bereits, dass dieses Glück wohl langsam zu Ende ging. Der hohe Maschendrahtzaun klapperte laut als der Junge ihn hastig emporkletterte, seine Fähigkeiten als Werwolf waren noch nicht ausgebildet genug, sodass er ihn einfach hätte überspringen können. Für seinen Verfolger schien das jedoch nicht zu gelten, sodass ihm nichts anderes übrig blieb als wieder in seine Wolfsgestalt zu wechseln und weiter zu hasten. Weiter durch die engen Straßen und Gassen, durch das Labyrinth aus Mülltonnen und Autos, durch die später Nacht – oder den frühen Morgen – der Großstadt.

Ein schrilles Aufheulen folgte und seine Flucht war je beendet. Völlig regungslos hing er in unsichtbaren Seilen. Magie.

Der junge Werwolf blickte seinem Tod entgegen, der sich nun unheilverkündend aus der Dunkelheit schälte – Und sich überraschender Weise als weiblich herausstellte.

Sie war nicht gerade des Teufels Tochter, sofern er das erkennen konnte, aber definitiv eine Frau. Rein äußerlich wirkte sie nicht sonderlich alt. Ihre Haut schien in dem schalen Licht der Laternen faltenfrei und ebenmäßig... Der Junge würde sie auf höchstens Ende 20 schätzen, wenn er es nicht besser wüsste. Seine Gegenüber war um vieles älter. Vielleicht nur ein paar Jahrzehnte, vielleicht aber auch Jahrhunderte.

Er würde es eh nie erfahren. Seine Fähigkeiten waren mit ihren nicht zu vergleichen, sein Tod war so gut wie besiegelt.

„Ein Kind...“, sprach sie, schien ein wenig enttäuscht, vielleicht aber auch erleichtert, so genau konnte man das nicht sagen.

„Du hättest nicht hier sein sollen. Es war nicht deine Nacht.“, erklärte die Vampirin und löste doch tatsächlich seine Fesseln. Zumindest nahm der junge Werwolf noch immer an, dass sie das tat, wirklich ersichtlich war es nämlich nicht. Keine mystische Geste, kein nachlässiger Handwink, kein Fingerschnippen, kein Wort, nicht mal ein verdammtes Augenzucken!

Und ohne, dass sie noch etwas sagte oder tat, wandte sie sich von ihm ab und kehrte langsam in den Schatten zurück.

„Warte!“, rief der Junge ihr nach, „Warum verschonst du mich auf einmal?!“

„Willst du denn... sterben?“, war die schlichte Gegenfrage der Untoten, „Dann hättest du nicht weglaufen sollen.“

„Nein!“, stieß er erschrocken aus, „Aber... aber... Du lässt mich gehen? Einfach so?“

„Nein...“, meinte die Vampirin langsam, „Du bist mir ähnlich. Es wäre zu früh dich zu töten. Dies ist deine Geschichte. Ich lasse sie dir und mache die meine zu einem Teil der deinen. Wenn sie mir nicht gefällt kann ich dich immer noch umbringen.“

Der junge Werwolf aber schluckte sichtlich, was der toten Frau vor ihm nur ein leichtes Lachen entlockte.

„Wie alt bist du, Junge?“, fragte sie ihn dann ganz direkt.

„...15.“, antwortete er ihr und wagte es nicht ihn anzulügen, denn auch wenn er sie nicht sah, so fühlte er doch ihre Augen bis auf den Grund seiner Seele blicken... Sie hätte gewiss jede noch so kleine Lüge erkannt.

„So jung...“, meinte die Vampirin wie in Nostalgie vertieft, „Es ist... ungewöhnlich. Normalerweise sind die Welpen wesentlich jünger oder eben älter als du. Du machst aber keinen sonderlich erfahrenen Eindruck.“, stellte sie fest.

Der ‚Welpe’, der durchaus erstaunt war, dass ein Vampir diese Bezeichnung benutzte, fühlte sich irgendwie ertappt, ganz zur Belustigung der Frau.

„Wie heißt du?“, fragte sie weiter ohne eine Antwort abzuwarten.

„Merlin.“, gab er ihr kleinlaut zur Antwort.

Diesmal lachte die Vampirin viel lauter und vor allem herzhafter.

„Merlin...“, wiederholte sie und schüttelte den Kopf, offensichtlich höchst amüsiert. Der junge Werwolf aber wurde hochrot, wütend und peinlich berührt zugleich.

„Also gut, Merlin.“, fing die Untote nun wieder an und wandte sich von ihm ab, zurück in die Dunkelheit, „Du hast deine Chance, nutze sie.“

„Hey! Hey warte!“, rief er hastig, „Wer bist du?“

Doch es blieb still. Merlin war allein.

Immer noch unsicher, er konnte kaum glauben was passiert war, begab er sich langsam auf den Weg zurück.
 

Seine Ankunft im Anwesen wurde mit Erstaunen, fast mit Entsetzen aufgenommen ehe sich die allgemeine Freude darüber einstellte, dass der junge Werwolf doch tatsächlich diese Nacht überlebt hatte. Ganz im Gegensatz zu den anderen, die bei ihm gewesen waren. Merlin wusste ob seiner Begabung und ihrer Wichtigkeit für das Rudel, aber im Moment fühlte er sich einfach nur elend. Hundeelend.

Er hatte überlebt, weil diese Vampirin es so gewollt hatte und er würde sterben, wenn sie es so wollte. Überhaupt... Sie hatte eine Menge verwirrendes Zeug gesagt.

Merlin fühlte sich als ob er aus einem Alptraum in einen anderen erwacht war – und es gab nicht mal jemanden, der ihn verstehen konnte.

Das war an und für sich nichts Neues, aber das war einer jener Momente, in denen es ihm besonders schmerzlich bewusst wurde. Aber wer sollte schon verstehen wie sich magisch Begabte fühlten, wenn sie von anderen bedroht wurden? Man konnte ihn nicht beschützen und wenn er es selbst nicht konnte – Tja, dann hatte man wohl ein Problem.

Mittlerweile lag Merlin auf seinem Bett und starrte die Decke an. Eigentlich hätte er schlafen sollen, aber der junge Werwolf fühlte sich nicht danach. Ganz und gar nicht.

Wütend presste er das Kissen auf sein Gesicht und warf es schließlich an die Wand. Wer war die eigentlich gewesen?! Es wurmte ihn gewaltig, dass eine Fremde eine derartige Macht auf ihn hatte und dann ausgerechnet auch noch eine dreckige Vampirin! Verdammt, er wusste nicht einmal wer sie war! Sein Wissen beschränkte sich auf genau drei Dinge: Weiblich, untot, magiebegabt.

Toll, das half ihm ja ungemein.

Der junge Werwolf stöhnte genervt auf. Was sollte er denn nur tun?

„PAH! Von wegen meine Geschichte!“, meinte er laut zu sich selbst, „Die will mich bloß verrückt machen und quälen bevor sie mich killt!“

Unwillig wälzte Merlin sich herum, erreichte dabei das Ende der Bettkante und machte so eine höchst unliebsame Bekanntschaft mit dem Fußboden.

„Ach, Scheißdreck hier!“ fluchte er und rappelte sich dann auf. Er würde sich das nicht bieten lassen! Er kam zwar nicht gegen sie an, aber das hieß doch nicht, dass Merlin es ihr einfach machen musste! Er war auch jemand und – verdammt! – er hatte auch noch seinen Stolz! Er war immerhin ein Werwolf!

Der Junge seufzte auf und ließ sich zurück auf sein Bett fallen. Merlin fühlte sich wie der letzte Idiot. Um irgendetwas zu tun müsste er wissen wer sie war, sie womöglich treffen. Aber das war lachhaft. Es gab hunderte, wenn nicht sogar tausende Vampire in München und einfach einen fragen ging auch nicht. Abgesehen davon, dass es wahrscheinlich Selbstmord war und er eh keine Antwort bekommen würde, wusste er nicht mal ihren Namen. Der Junge würde sie nicht mal ordentlich beschreiben können. Wiedererkennen war vielleicht noch drin, wenn er sie sah, aber Beschreiben definitiv nicht. War ohnehin nicht seine Stärke.

„Hey... Merlin... Was hast du denn?“ – Megan. Sie war Werwölfin, Häsin und soetwas wie seine große Schwester. Der Himmel allein wusste wie sie auf einmal ins Zimmer gekommen war.

„Frag lieber nicht. Ich weiß es auch nicht... Es ist nur...“, druckste der Junge herum.

„Es ist nicht leicht der einzige Überlebende zu sein, oder?“, fragte Megan dann verständnisvoll nach.

„Darum geht es gar nicht mal...“, meinte Merlin dann langsam, „Es ist viel eher der Grund weshalb ich noch lebe. Ich mein... Es lag doch nur an der Laune dieser beschissenen Blutsaugerin!“

„Das versteh ich nicht. Warum sollte ein Vampir einen Werwolf verschonen? Das macht doch gar keinen Sinn!“ meinte die Häsin energisch.

„Das weiß ich doch selber!“, gab er harsch zurück, „Aber die Kuh hat nur was davon gelabert von wegen ich wäre ihr ähnlich und dass das jetz meine Geschichte ist und wenn die ihr nicht passt, kann sie mich ja immer noch killen!“

„Dass ist echt strange.“, kommentierte die Werwölfin.

Merlin seufzte, ‚strange’ war eins von Megans Lieblingswörtern, aber diesmal traf es ziemlich genau zu.

„Und was soll ich deiner Meinung nach tun?“, fragte er die Häsin.

„Naja...“, erwiderte diese gedehnt, „Du solltest vielleicht rausfinden, wer sie ist, oder?“

„Ach nee!“ kam es sarkastisch von Merlin, „Soweit war ich auch schon, aber ich hab keinen Plan wie ich das anstellen soll.“

„Schlag doch in der Datenbank des Rudels nach.“, schlug Megan vor, völlig unbeeindruckt von seinem Tonfall, „Die ist zwar zum großen Teil vor zehn Jahren geschrottet worden, aber mittlerweile steht ja wieder eine Menge drin. Vielleicht hast du ja Glück.“

„Hm...“, kam es nur von dem Jungen ehe er schließlich aufstand, „Ja... Das ist immerhin besser als nichts. Danke Meg.“

„Keine Ursache, Kleiner.“, erwiderte die Werwölfin und verließ dann mit ihm zusammen das Zimmer.
 

Eine Woche später war Merlin genauso schlau wie zu Beginn seiner Arbeit. Zunächst hatte er einfach nur nach weiblichen Vampiren mit Magiebegabung gesucht, aber die Ergebnisse konnte man an einer Hand abzählen. Wirklich mehr Suchkriterien gab es ja auch nicht.

Die genauere Analyse von Bildern und Eigenschaften brachte dann eine ziemlich ernüchternde Ausbeute: Keine Übereinstimmungen. Weder bei den zugeordneten Eigenschaften wie Verhalten oder Gewohnheiten – nicht, dass er die wirklich hätte beurteilen können - , noch beim Aussehen, sofern es bekannt war. Die meisten Bilder in der Datenbank waren ohnehin nicht mehr als Phantombilder. Einen mehrere hundert Jahre alten Vampir zu fotografieren – sofern man solange überlebte – hatte etwa den gleichen Effekt als würde man stattdessen Luft aufnehmen. Nur, dass Vampire nicht so gut posierten.

Merlins zweiter Anlauf beschränkte sich dann darauf, nach Vampiren zu suchen, die nur weiblich waren. Bis er nach drei Stunden Dauerklicken dann auf die Idee kam vielleicht auch die auszusortieren, die es definitiv nicht sein konnten, beispielsweise jene, die nicht auf Jagd gingen. Sein erster Grundgedanke, dass in der Datenbank vielleicht nicht verzeichnet war, dass sie Magie benutzte, war ja nicht schlecht gewesen, aber selbst mit seiner neuen Einschränkung hätte Merlin die Nadel im Heuhaufen wahrscheinlich schneller gefunden.

Am Ende dieser einen Woche kannte der Junge wahrscheinlich mehr Vampire als manch anderer Werwolf. Er hatte einiges neues erfahren, aber natürlich nicht das was er wollte. Und da ihm auf die Schnelle auch nichts neues einfiel, hatte er begonnen einen neuen Eintrag zu verfassen.

Als der Junge auch das erledigt hatte, kam er zu dem Schluss, dass er nach wie vor ein Problem hatte. Diese Woche war bestimmt alles andere als ein spannendes Kapitel seines Lebens gewesen und er hoffte, dass SIE es ihm nicht übel nahm.

Merlin war zwischendrin sogar derartig verzweifelt gewesen, dass er es allen Ernstes mit Pendeln versucht hatte. An und für sich vielleicht nicht die schlechteste Idee, immerhin versuchte der Jungmagier ja noch herauszufinden in welchem Bereich der Magie er begabt war, aber als er das Pendel schließlich angesetzt hatte, hatte es einfach nicht aufhören wollen zu schwingen. Das konnte aber auch Millionen Gründe haben. Dass Merlin zu nervös war und das Pendel so gar nicht zur Ruhe kommen konnte, dass das Pendel nicht gut war – WOHER sollte er auch wissen welches Material besonders geeignet war?! - , dass SIE zu mächtig war und nicht gefunden werden wollte oder, dass der Junge Werwolf einfach null Talent für das Pendeln hatte. Deprimiert hatte er den Kram einfach irgendwo hineingestopft und sich wieder seiner Arbeit mit der Datenbank gewidmet. Ohne es irgendwann später noch einmal zu probieren.
 

Merlin hätte nicht sagen können ob und wieviel er an manchen Tagen gegessen hatte, jetzt aber, wo sich eine Leere in ihm breit machte, von der er nicht wusste wie er sie füllen sollte, war sein Hirn auch wieder in der Lage die Leere in seinem Magen zu registrieren.

Mit einem Knurren, das definitiv NICHT aus seiner Kehle kam, machte Merlin sich auf den Weg in die Stadt, auf der Suche nach dem nächstbesten Fast Food Restaurant. Natürlich hätte er auch was im Anwesen bekommen, aber er wollte jetzt laufen, frische Luft atmen, einfach weg von all dem und zumindest für ein oder zwei, vielleicht auch drei Stunden ein ganz normaler Teenager sein.

Es war später Nachmittag, man könnte auch sagen früher Abend, und Merlin vertilgte mittlerweile seinen vierten Burger. Draußen dämmerte es bereits, aber nichtsdestotrotz hatte es etwas zwischen all den Menschen zu sitzen und einfach nur die Passanten draußen vor dem großen Fenster zu beobachten. Von hier waren sie alle Menschen, der Werwolf konnte ihre Gerüche hier drin nicht erfassen. Sie waren dort draußen und er dort drinnen in seiner kleinen Fast Food-Welt aus kalten Getränken, Bugern, Pommes, Braten- und Frittenfett – und im Moment waren das die besten Gerüche auf der ganzen Welt.

Der Junge seufzte leicht auf. Er war jetzt schon über ein Jahr lang ein Werwolf, aber so etwas war ihm noch nie passiert – und langsam begann er sich zu fragen ob es wirklich eine gute Idee gewesen war. Natürlich wollte er alles was in seiner Macht stand für das Rudel tun, aber letztlich... war das nicht sonderlich viel.

Der junge Werwolf war magisch begabt, soviel war von Anfang an klar gewesen. Das Problem aber war, dass es im Rudel niemanden gab, der ihn fördern konnte oder wollte... So sicher war er sich da nicht. Magisch begabte Werwölfe hatten halt den Haken, dass sie früher oder später starben, ganz im Gegensatz zu Vampiren. Und Merlin konnte sich gut vorstellen, dass diese auch bevorzugt attackiert worden waren. Dass ihn irgendwann dieses Schicksal auch ereilen könnte, soweit dachte er dann doch noch nicht. Er hatte keine Fähigkeiten, die irgendwer fürchten müsste und das würde auch eine ganze Weile so bleiben, wenn sich nicht ein Lehrmeister für ihn fand – oder ein passendes Buch. Natürlich hatten auch die Werwölfe Aufzeichnungen über Magie, wenn auch wenige, und diese hatten sie Merlin natürlich auch zur Verfügung gestellt. Die waren allerdings so schwer verständlich, sei es weil sie fast unleserlich oder in einer alten Sprache verfasst waren, dass sie ihm auch nicht weiterhalfen. Folglich musste der Junge sich alles allein beibringen und das einzige an dem er sich wirklich orientieren konnte, war die Auffassung der Menschen zu Magie, die nicht selten mehr als nur fragwürdig war.

Der junge Werwolf schlürfte seinen Milchshake und starrte, während er in seinen Gedanken versunken war, Löcher in die Luft als er plötzlich einen starken Ruck spürte und sich auf dem Boden wiederfand, natürlich mit seinem Vanilleshake auf dem T-shirt. Wütend sah er auf, aber... erblickte niemanden. Dabei war Merlin sich völlig sicher, dass irgendjemand ihn geschubst oder doch zumindest angerempelt hatte und er jetzt mehr als nur eine Entschuldigung verdient hatte. Das gesamte Restaurant starrte ihn zwar an, aber als er sich wieder aufrichtete nahmen auch die anderen Gäste wieder ihre Tätigkeiten von zuvor auf. Ein Hoch auf die Anonymität der Großstadt, sonst wäre das noch peinlicher gewesen als es ohnehin schon war.

Nur das glockenhelle Mädchenlachen, zeigte ihm wie bescheuert er ausgesehen haben musste.

„Na wenigstens einer, der was davon hat.“, brummelte Merlin zu sich selbst und versuchte sein T-shirt trocken zu bekommen. Nur das Mädchen hörte nicht mehr auf zu lachen, was zur Folge hatte, dass er sie und ihre Begleiterin böse anfunkelte. Zumindest die Freundin dieser gackernden Gans schien das Ganze nicht sonderlich lustig zu finden, das entnahm der Junge den Gesprächsfetzen, die er aufschnappte während eine weitere Serviette versuchen sollte das Getränk aus seinem T-shirt zu saugen.

„...konntest du...“ – klang vorwurfsvoll. Scheinbar hatte er recht gehabt und es war die vermutlich Ältere – und vernünftigere - von beiden.

„...keiner gemerkt!“ – Doch. Nämlich der junge Werwolf, der sich ziemlich blöd vorkam und das alles ganz und gar nicht witzig fand.

„...nicht in der Öffnt...“ – Okay, es war nicht sonderlich nett, dass sie ihn so offen auslachte, aber die Zeiten wo das wirklich ernste Konsequenzen haben konnte, waren doch längst vorbei, oder?

„:..spießig!“ – Konnte dieses Gesumme von anderen Stimmen nicht mal aufhören? Dass die beiden sich nun stritten war für Merlin nämlich die pure Genugtuung und er hätte es nur zu gerne voll ausgenutzt.

„...Meisterin sagen!“ – Petze. Zumindest war das sein erster Gedanke. Sein zweiter war, dass es vielleicht gar nicht um das Lachen ging, sondern... Hatte sie ihn womöglich doch geschubst?

Der Junge konnte diesen Gedankengang leider nicht zu Ende führen, denn die ältere der beiden, jene die offensichtlich ziemlich verärgert gewesen war, bemerkte nun Merlins Blick. Sie erwiderte ihn kurz und schluckte schließlich schwer als wäre er nicht ein normaler 15-jähriger, sondern ein durchgedrehter Amokläufer oder irgendein wildes Tier, das sie mit von Tollwut vernebelten Sinnen anfallen wollte. Hastig griff sie nach dem Arm ihrer Freundin und zog sie mit sich nach draußen, wo sie relativ schnell in der Masse verschwanden und so auch Merlins Blickfeld. Dem Jungmagier aber kam das mehr als nur spanisch vor. Die beiden hatten nicht einmal was bestellt und waren verschwunden, nur weil er sie angesehen hatte? Aber sonst ging’s noch? Er entschied sich also ihnen zu folgen. Eilig verließ der Werwolf das Schnellrestaurant und rannte in die Richtung, die die beiden Mädchen genommen hatten, aber die waren natürlich längst weg. Wie vom Erdboden verschwunden. Egal welche Richtung der Werwolf auch anschlug, egal welche Seitenstraße er abging, sie blieben weg. Es gab nicht mal eine klitzekleine Geruchsspur. Kein Adrenalin, keine Hektik, keine Panik, nicht mal ein Deo. Zumindest nicht auf den Hauptwegen. In der Masse nach den Gerüchen der beiden zu suchen glich dem Suchen eines Vampirs in der Kanalisation. Er wusste was das bedeutete... Und NIEWIEDER würde er dort hinunter steigen.

Wieder einmal entwich Merlin ein Seufzen. Was machte er hier eigentlich? Langsam begann er wirklich zu glauben, dass ihn die Paranoia erwischt hatte. Jetzt verfolgte er schon zwei Mädchen nur weil sie abgehauen waren ohne sich einen Burger... oder doch eher einen Salat zu bestellen. Und was war die Quittung dafür? Er hatte keinen Plan wo er war, total verirrt. Diese Gegend hatte er nie weiter gesehen, vielleicht allerhöchstens aus dem Auto oder der Bahn heraus. Wenn überhaupt. Und dunkel war es auch schon. Große Klasse.

Der Junge ließ sich auf der Treppe eines leerscheinenden Gebäudes nieder um einfach einen Moment auszuruhen. Er war zwar definitiv ein besserer Sportler als Magier, aber vielleicht würde er seine Kräfte noch für den Rückweg brauchen. Was für ein Glück, dass er wenigstens gut gegessen hatte.

Aber was machte er auch für einen Mist? Er hatte in letzter Zeit echt kein Glück... Alles was schief gehen konnte ging auch wirklich schief. Hatte er den Zorn einer höheren Macht auf sich gezogen, oder was? Merlin wusste es nicht.

„Dich hätte ich hier nicht erwartet.“, unterbrach ihn eine weibliche Stimme in seinen Gedanken.

Der Werwolf fühle sich als ob sein Herz stehen bleiben würde. Er kannte diese Stimme, wie könnte er sie auch vergessen? Langsam, fast mechanisch drehte er den Kopf und blickte in das Gesicht der Frau, der er das ganze Chaos zu verdanken hatte – und das kaum einen Meter entfernt.

Merlin sprang wie von der Tarantel gestochen auf und schrie als hätte sie ihn nicht angesprochen, sondern versucht ihn zu ermorden. Er stolperte rückwärts in der Absicht möglichst viel Raum zwischen sich und die Vampirin zu bringen und landete dabei in der Hecke neben der Treppe als eben diese zu Ende war. Hastig versuchte sich der Junge zu befreien, aber wirklich vorwärts kam er ob der ganzen Äste und Zweige, die sich in seiner Kleidung verfangen hatten, nicht.

Die Vampirin seufzte nur und schüttelte den Kopf ehe sich auf einmal die Zweige des feindlichen Busches auseinander bogen und der Junge ohne Probleme zurück auf den Gehweg treten konnte, wenngleich er auch ein wenig sehr zerzaust wirkte.

„Für einen Werwolf scheinst du mir ja ziemlich ungeschickt, mein lieber Merlin.“, meinte die Vampirin und ließ sich dann auf den Stufen nieder, das linke Bein von sich gestreckt.

„EY! Lass den Scheiß!“, fuhr Merlin sie wütend an, „Wenn du mich wirklich umbringen willst, dann tu’s doch endlich! Ich halt das nicht mehr aus!“

„Du wirst mir doch diesen kleinen Witz von eben nicht übel nehmen, oder?“, erwiderte die Untote grinsend, „Und du willst doch nach all den Strapazen gewiss nicht sterben, oder?“

„Was weißt du schon!“, schrie der Werwolf sie an, völlig fertig mit den Nerven. Es sollte aufhören! Sie sollte aufhören! Sofort!

„Du hast mich gesucht.“, antwortete sie ihm ruhig und wie selbstverständlich, „Du willst wissen wer ich bin, mit wem du es zu tun hast. Du hast die ganze Datenbank durchsucht und sogar versucht deine Magie zu benutzen.“

Merlin stand nur der Mund offen, damit hatte er wahrhaftig nicht gerechnet, „Woher...“

„Woher ich das weiß?“, unterbrach ihn die Vampirin und lachte glockenhell, „Ach Merlin, Merlin...Hast du wirklich gedacht, dass ich mir auch nur ein Detail deiner Geschichte entgehen lasse? Hältst du mich für so närrisch?“

Der junge Werwolf schluckte schwer. Sie hatte ihn also die ganze Zeit beobachtet? Und er hatte es nicht bemerkt? Die ganze Zeit?!?

„Geschockt?“, fragte sie lachend, „Na ich muss doch nachsehen wie du dich machst. Aber wo wir grade beim Thema sind. So sehr ich deine Mühe schätze, aber ich muss dich eindringlich bitten diesen Eintrag über mich in eurer Datenbank wieder zu löschen, besonders da du mein Gesicht jetzt richtig gesehen hast. Ich würde ungern jemanden darum bitten müssen, wenn du verstehst was ich meine.“

„Naja... Nein.“, gab Merlin dann ungeschönt zurück und starrte die Vampirin aus großen Augen an. Dass sie einfach nur hier war und mit ihm sprach erschien ihm nach wie vor mehr als surreal. Er war sich auch nicht wirklich sicher was sie eigentlich wollte oder ob sie nicht doch einfach nur verrückt war.

„Es könnte mehr verschwinden als nur der Artikel über mich.“, erklärte die Vampirin ohne irgendeine Drohung – und der Junge nickte. Er hatte begriffen.

„Warum ist dir so wichtig, dass dich keiner kennt?“, fragte er dann aber direkt, wenn auch verständnislos nach – und erntete wieder nur ein Lachen.

„Ja, so eine Frage konnte nur von jemandem kommen, der wirklich und ehrlich wissen will, wer ich bin.“, erwiderte die Frau, „Aber weißt du, mein kleiner Werwolf, das Problem ist nicht, dass ich anonym bleiben will, sondern, dass auch heute noch zu viele wissen wer ich bin. Als ich die Gelegenheit dazu hatte, habe ich nicht darauf geachtet wem ich alles bekannt bin. Nun ist es zu spät und auch noch sehr gefährlich. Nicht unbedingt für mich, ich kann mich wehren. Aber es ist auch für andere gefährlich – und das bereitet mir manchmal Kopfzerbrechen.“

Merlin staunte. Bisher hatte er angenommen, dass alle Vampire furchtbar egoistisch waren, aber den Eindruck machte das Beispiel vor seinen Augen ganz und gar nicht.

„Versuch bitte nicht weiter heraus zu finden wer ich bin.“, bat sie ihn schließlich, „Es wäre schade zu sehen wie du deine Zeit damit verschwendest. Wenn du deine Sache gut machst bekommst du deine Antwort eh, wenn du sie am allerwenigsten erwartest.“, riet sie ihm und erhob sich wieder um zu gehen.

„Aber... Aber was soll ich dann machen?“, fragte Merlin verzweifelt. Jetzt hatte er sie endlich getroffen und gebracht hatte es ihm nichts!

„Na gut... Ich gebe dir eine kleine Hilfestellung.“, gab die Vampirin nach, „Die Lösung hast du in deiner Tasche, du musst nur kleiner anfangen. Die Antwort aber findest du, wenn du die beiden Mädchen von vorhin wiederfindest. Also dann. Ciao kleiner Merlin.“ – Und das letzte was der junge Werwolf sah bevor sie im Nichts verschwand, war wie die Vampirin ihr linkes Bein nachzog.

Alles was zurückblieb war ein völlig verwirrter Junge.

Warum musste diese Untote auch immer so komisches Zeug von sich geben?! Wie sollten ihm diese blöden Weiber von vorher nutzen! Die waren doch weg! Und überhaupt, was sollte das denn sein, was er da in der Tasche hatte?! So ein Quatsch! Da war doch nichts weiter... Merlin stockte. Dort war der Stadtplan... und das Pendel... Aber... dort hatte er es doch gar nicht hingetan, oder? Jetzt verstand er die Welt wirklich nicht mehr.

Wenigstens hatte er dank des Plans nun auch die Möglichkeit zurück zum Anwesen zu finden, wenn auch ohne Pendel, denn die Fähigkeit zu lesen war ihm dann doch gegeben.
 

In Gedanken versunken saß Merlin in seinem Zimmer, starrte auf die Karte und die Münze, welche an einer Schnur hing und so sein Pendel bildete.

Er sollte es benutzen, soviel hatte der Junge den Worten der Vampirin entnommen. Aber was zur Hölle meinte sie mit ‚kleiner anfangen’? Sollte er ein kleineres Gewicht oder eine kürzere Schnur nehmen? Er wusste es nicht, schon gar nicht, weil sich nichts änderte egal was er probierte!

Es klopfte an der Tür, was den jungen Werwolf zurück in die Realität holte. „Ja?“

„Hallo Kleiner!“ trällerte Megan zur Begrüßung und hielt dann inne, „Du hockst ja schon wieder hier und grübelst vor dich hin!“, meinte sie vorwurfsvoll, „Das kann doch nicht gesund sein!“

Merlin antwortete ihr zunächst mit einem langgezogenem Seufzer ehe er einen... doch recht interessanten Geruch in die Nase bekam.

„Meg... Was hast du da?“, fragte er sie neugierig. Die Werwölfin aber grinste zunächst nur und hielt ihm dann aber strahlend einen Teller mit frischen Plätzchen unter die Nase.

„Ich muss dich doch ein bisschen aufmuntern.“, meinte sie breit grinsend, „Aber leider sind die Kekse ein wenig zusammen gebacken. Backbleche haben definitiv eine zu kleine Fläche... Vielleicht sind auch nur die Öfen zu klein... Echt strange...“, überlegte Megan laut und hob schließlich lachend die Schultern. Merlin aber sah sie an als wäre ihr auf einmal ein zweiter Kopf gewachsen.

„Was hast du da grade gesagt, Meg?“ fragte er sie hastig, ungläubig ob des gehörten.

„Dass der Ofen vielleicht zu klein war?“, erwiderte die Häsin ein wenig unsicher.

„Nein, nein!“, meinte der junge Werwolf unwirsch, „Das davor!“

Megan überlegte einen Moment, sie war sich nicht ganz sicher ob er jetzt nicht doch völlig durchgeknallt war. Sie verstand jedenfalls nicht was er damit bezweckte, aber wenn es half...?

„Ich glaub ich hab was gelabert von wegen, dass die Kekse zusammengebacken sind, weil die Fläche zu klein war.“, antwortete die Werwölfin schließlich.

„Megan! Das ist!“, rief der Junge überschwänglich und laut aus, völlig aus dem Häuschen.

„Ahja... klar...“, meinte die Werwölfin und gelang immer mehr zu der Erkenntnis, dass mit Merlin etwas nicht stimmen konnte.

„Erklär ich dir später!“, erwiderte dieser allerdings nur aufgebracht, „Kannst du mir einen Plan vom Anwesen organisieren?“

„Sicher kann ich.“, bejahte sie die Frage. Ihr war das alles immer noch zu ‚strange’.

„Super! Dann mach das bitte! Und bring dein Handy mit! Ich muss was ausprobieren!“, meinte Merlin aufgebracht. Wenn das klappte...!

„Himmel... Dich hat’s ja ganz schön erwischt.“, sagte die Werwölfin nur kopfschüttelnd bevor sie den Teller abstellte und sich aufmachte um seiner Bitte nachzukommen. Aber irgendwie war er ihr so auch lieber. Ein bisschen durchgeknallt, strange eben, aber voller Tatendrang und mit einem klaren Ziel vor Augen und nicht so wischiwaschi wie die ganze letzte Woche.
 

Eine halbe Stunde später war sich Megan nicht mehr ganz so sicher. Sie stand im hintersten Zimmer der Etage während Merlin in seinem Zimmer hockte und sie angeblich von dort finden wollte. Eine Art Versteckspiel, allerdings ohne, dass wirklich gesucht wurde. Die Häsin wartete jetzt eigentlich nur darauf, dass ihr Handy klingelte und Merlin ihr sagte wo sie war. Wenn sie es richtig verstanden hatte, dann wollte er es wieder mit dieser komischen Münze an der Schnur probieren. Sie hob die Schultern als ihr mobiles Telefon die Melodie von ‚Who let the dogs out’ spielte und nahm dann schließlich ab, „Ja?“

„Meg?“ tönte die Stimme des Jungen, „Bist du hinten im letzten Zimmer? Also von der Treppe aus...“ – er sah noch einmal kurz nach – „rechts?“

„Jap.“, erwiderte die Werwölfin grinsend, aber noch glaubte sie ihm nicht so recht.

Merlin aber störte das wenig, viel zu groß war seine Freude über diesen Erfolg. Megan würde er auch noch überzeugen, da war er sich sicher, denn zum allerersten Mal hatte der Jungmagier etwas worin er seine Magie wirklich trainieren konnte.
 

Dass irgendwo an einem ihm unbekannten Ort eine Vampirin mehr als zufrieden lächelte, konnte der junge Werwolf natürlich nicht wissen. Ebenso wenig was die Nachricht ‚Bald wird er da sein. Sein Name verrät ihn.’ auf einem völlig überfüllten Schreibtisch bedeuten sollte.

„Was tust du hier?“ fragte eine alte Stimme deren Besitzer in der Nähe des Feuers saß, während sie im Schatten stand.

„Oh... Du bist wach.“, antwortete die Vampirin und trat langsam in den Schein des Feuers, „Habe ich dich geweckt? Das wollte ich nicht.“

„Du solltest nicht hier sein.“, erwiderte ihr der alte Mann.

„Ja. Du hast recht. Ich habe dir eine Nachricht gebracht.“, erklärte sie ihr Verhalten.

„Eine Nachricht?“, fragte der Alte dann.

„Ja. Es geht um einen Jungen. Er ist von deiner Art.“, erzählte die Untote.

„Ich verstehe.“, meinte der Mann nur.

„Ja. Ich werde dann gehen.“, wollte sie schließlich das Gespräch beenden.

„Ich liebe dich.“

Die Vampirin stockte und kehrte doch noch einmal um. Sie trat in das Licht des Feuers und hockte sich dann vor den Sessel, in dem der Alte saß.

„Ich liebe dich auch.“, erwiderte sie ihm schließlich.

„Obwohl ich schon so alt bin?“, fragte er belustigt, was der Untoten zumindest ein Lächeln entlockte, wenn auch ein trauriges.

„Du weißt, dass ich genauso alt bin wie du. Und trotzdem...“ fing sie an wurde aber von dem alten Mann unterbrochen.

„Trotzdem siehst du aus als ob du keinen Tag gealtert wärst.“, sprach er es aus und es klang fast wie ein Kompliment.

„Ja, da hast du recht.“, stimmte die Vampirin zu, „Aber ich muss jetzt wirklich gehen.“

„Kommst du mich wieder besuchen?“ fragte der Alte dann nach.

„Du weißt, dass ich das nicht darf.“, schalt sie ihn liebevoll.

„Ja... Ich weiß.“, meinte der Mann müde und beugte sich dann schwerfällig nach vorn um die Vampirin auf die Stirn zu küssen. Sie seufzte traurig, denn ihre Tränen waren versiegt. Die Untote stand dann langsam auf, griff dabei nach seinen Händen und küsste diese.

„Pass auf sie auf, ja?“ bat sie ihn noch.

„Das weißt du doch.“, gab der Alte zurück.

Die Vampirin nickte nur und verschwand danach wieder im Nichts.
 

Die darauffolgende Zeit nutzte Merlin dafür sehr intensiv. Und Megan unterstützte ihn natürlich tatkräftig indem sie weiterhin mit ihm Verstecken spielte. Am Anfang gewann sie noch recht oft, besonders dann, wenn der Junge eine neue Karte benutzte oder das Areal vergrößerte oder wenn sie sich in besonders kleinen Räumen versteckte.

Aber der junge Werwolf wurde besser. Er begann damit Megan sich nicht nur auf einer Etage, sondern im ganzen Anwesen zu verstecken und später sogar im ganzen Gelände um das Anwesen herum. Als er sie auch dort fehlerfrei fand, gingen sie dazu über den ganzen Stadtteil mit einzubeziehen. Für Merlin aber war ein Punkt besonders wichtig: Würde er Megan auch finden, wenn er einen Stadtplan vor sich hatte? Und... wäre er auch in der Lage jemanden zu finden, der nur einmal kurz gesehen hatte, so wie die Mädchen damals im Schnellrestaurant? Denn wenn ihm das nicht gelang... dann wäre die ganze Arbeit umsonst gewesen.
 

Merlin war aufgeregt. Er hatte nur diesen einen Versuch. Je größer das Gebiet, desto mehr Konzentration brauchte er, folglich sank mit jedem größeren Areal die Anzahl der Versuche, der hatte und desto länger war seine Regenerationszeit bis er es erneut wagen konnte das Pendel anzusetzen. Das war übrigens das Einzige, was sich in den ganzen Wochen nicht geändert hatte. Mit der Ausnahme, dass Merlin nun eine kleinere, gelochte Münze verwendete.

Langsam kreiste er das Pendel möglichst gleichförmig über dem Stadtplan und als der Junge zufrieden war schloss er langsam die Augen, blendete alles aus außer der abnehmenden Schwingung – bis diese schließlich erstarb. Nervös nahm Merlin sein Handy und wählte die Nummer von Megan, die gerade gemütlich in einem Eiscafé saß und sich einen Schokoladeneisbecher gönnte.

„Ja?“, fragte sie neugierig als sie Merlins Anruf entgegennahm, „Was denkst du wo ich bin?“

„In dem Gebäude an der Ecke Goethestraße und Berliner Straße. Linke Seite vom Bahnhof aus.“ Aufgeregt kniff er die Augen zusammen, die Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Er schickte ein Stoßgebet gen Himmel als Megan zum Sprechen ansetzte und schließlich einfach nur sagte: „Stimmt.“

Das nächste was sie hören konnte war ein dumpfes Aufschlagen als sich der junge Werwolf einfach hatte umfallen lassen. Das Schwerste hatte er nun geschafft, jetzt würde er mit etwas Übung in der Lage sein, jeden in der Stadt zu finden.

Als der Tag schließlich kam an dem Merlin es versuchen wollte, es war sieben Tage nach seiner letzten Übungsstunde, schien alles wie immer. Der Junge hatte ausgeschlafen, gut gefrühstückt und vor allem hatte er sich extra viel Zeit zur Regeneration gegönnt. Er wollte einfach möglichst viele Störfaktoren ausschließen
 

Zwei Stunden später war sich Merlin gar nicht mehr so sicher. Er war an dem Ort, dem ihm das Pendel gezeigt hatte, daran bestand kein Zweifel. Das Problem war nur, dass es sich um ein altes, leerstehendes Einfamilienhaus handelte.

Der Junge wollte schon umkehren , aber als er am alten Gartentor vorbei kam, roch er ganz deutlich Menschen – und es war noch gar nicht solange her, dass sie hier vorbeigegangen waren. Unsicher schlich er sich auf das Grundstück und wechselte schließlich sogar in seine Wolfgestalt. Die Gerüche waren nun wesentlich deutlicher als zuvor und wem er dort drinnen auch begegnen sollte, würde Merlin in dieser Gestalt schneller wegkommen.

In das Haus kam er durch ein kaputtes Kellerfenster, die Tür auszuprobieren wagte er nicht. Vom Keller aus schlich er dann ins Erdgeschoss und auch hier war der Geruch nach Mensch wieder sehr intensiv, während er gleichzeitig Stimmen von oben hören konnte, vier oder vielleicht fünf verschiedene.

Die Treppe ins Obergeschoss knarzte unter Merlins Schritten, aber von den Leuten schien ihn niemand zu bemerken. Dabei empfand er sich selber als unheimlich laut.

Oben angekommen erstreckte sich zu seiner rechten ein Flur und aus einem Zimmer schien ein Streifen Licht auf den sonst abgedunkelten Gang. Leise schlich der Werwolf an der Wand entlang während seine Pfoten Abdrücke im dicken Staub hinterließen. Als Merlin die offene Tür erreichte und vorsichtig um die Ecke lugte, konnte er doch tatsächlich die beiden Mädchen aus dem Fastfood Restaurant erkennen. Dann war da noch ein drittes Mädchen und zwei Jungs. Sie alle schienen mehr oder weniger in seinem Alter zu sein und irgendwie erstaunte das den jungen Werwolf. Die beiden Mädchen hatten ihn schon verwundert, aber jetzt... machten sie ihn alle neugierig. Er fühlte regelrecht, dass irgendwas in der Luft lag.

Was taten sie hier? War das womöglich so eine Art Geheimversteck? Oder taten die hier sogar was verbotenes?

Aber vor allem beschäftigte den Werwolf die Frage warum ihm die Vampirin geraten hatte nach den beiden Mädchen zu suchen...

„KEVIN!“, schrie plötzlich das Mädchen, das ihn damals so dreist ausgelacht hatte, und funkelte ihn wütend an – Und der Junge wusste, dass man ihn entdeckt hatte.

„HAB ICH DIR NICHT GESAGT, DASS DU DICH NIE WIEDER BLICKEN LASSEN SOLLST!“, schrie sie aufgebracht, sprang auf und irgendwas schlug neben Merlin in der Tür ein, dass die Späne nur so flogen, was ihn dann auch veranlasste die Beine... oder besser die Pfoten in die Hand zu nehmen und das Weite zu suchen.

Wer immer dieser Kevin war, er hatte gerade verdammtes Schwein, ganz im Gegensatz zu Merlin, der dafür schon um sein Leben bangen musste, weil er wegen einer Verwechslung von einer durchgeknallten Magierin, die offensichtlich sehr... offensive Magie verwendete, quer durch das alte Haus gejagt wurde.

Die Treppe ins Erdgeschoss schaffte der Junge noch ohne Probleme, aber an der Kellertreppe landete seine Verfolgerin dann doch einen Treffer. Der junge Werwolf verlor den Boden unter den Füßen und fiel ziemlich unelegant die Treppe hinunter und blieb an deren Fuß benommen liegen. Er war nicht bewusstlos, zumindest glaubte Merlin das im Nachhinein.

Er erinnerte sich wie er sich noch unter großer Mühe zurückverwandelt hatte, dann an die lauten Stimmen als die Erkenntnis kam, dass er eben nicht jener Kevin war und er erinnerte sich daran wie sein Körper begann die Verletzungen des Sturzes zu heilen.

Als der junge Werwolf wieder klar sehen und denken konnte, erkannte er über sich das Gesicht einer jungen Frau, die nun mehr als erleichtert ausatmete.

„Wie fühlst du dich, Junge? Alles noch heil?“, fragte sie ihn.

„Wieder... Ich glaub mein Arm war gebrochen.“, erwiderte Merlin und setzte sich langsam auf.

„Es tut mir so leid!“, mischte sich nun die Urheberin seiner Schmerzen ein, „Ich dachte du bist dieser Mistkerl Kevin... Der ist nämlich auch ein Werwolf und er... na ja.... Er hätt’s abwehren können und... Oh, es tut mir wirklich leid!“

„Davon kann er sich auch nichts kaufen, du Hohlkopf.“, meinte ihre ältere Freundin und verpasste ihr eine Kopfnuss, „Ein Werwolf kann genauso draufgehen, wenn er sich das Genick bricht!“

„Marie... Bitte nicht jetzt. Ich denke ich werde mit Jenny eh noch darüber reden müssen was ich euch über den Gebrauch von Magie erklärt habe.“, versuchte die Frau das Mädchen zu beschwichtigen.

„Ja... Natürlich...“, gab jene Marie gehorsam zurück, warf aber ihrer Freundin, die noch immer betroffen schwieg, einen bitterbösen Blick zu.

„Nun aber zu dir.“, wandte sich die junge Frau wieder an Merlin, „Ich denke, du schuldest allen hier auch eine Erklärung.“

„Naja... ich...“, druckste der Junge herum, „Ich hab’s echt nicht böse gemeint... Ich hab nur ausprobiert wie gut ich mit meinem Pendel bin.... Ich wollte wissen ob ich auch jemanden wiederfinden kann, den ich nicht kenne und nur einmal oder so gesehen habe. Und da hab ich mich für die beiden entschieden.“, erklärte Merlin und deutete auf Marie und Jenny.

„Oh Scheiße! Du bist der Kerl, den ich vom Stuhl geschubst habe, oder?!“, ging Jenny ein Licht auf, allerdings hielt sie sich im nächsten Moment erschrocken den Mund zu als ihr klar wurde, was sie da gerade gesagt hatte, „Oh bitte nicht böse sein, Meisterin!“

Diese seufzte und schüttelte nur den Kopf, „Was soll ich denn noch alles mit dir anstellen?“, fragte sie laut und sah dann Merlin wieder an, „Ich muss mich für das Verhalten meiner Schülerin bei dir entschuldigen. Sie ist leider ein wenig... impulsiv.“

„Hab ich gemerkt.“, gab der Werwolf zurück und streckte sich so sehr, dass alle seine Glieder laut knackten.

„Du hast gesagt, du pendelst?“, fragte die ‚Meisterin’ dann nach, „Wer hat dir das beigebracht?“

„Äh... niemand.“, erwiderte der Junge, „Das war ich selber.“

„Das ist interessant.“, gab die junge Frau zurück und schien für einen Moment in Gedanken versunken, „Wer ist dein Lehrmeister?“

„Ich hab keinen.“, erwiderte Merlin wie selbstverständlich, aber diese Antwort brachte ihm nur allgemeines Erstaunen ein.

„Ähm... na ja... bei uns im Rudel gibt’s sonst niemanden.“, rechtfertigte er sich unnötigerweise.

Die Frau aber nickte verständnisvoll, „Darf man denn dann nach deinem Namen fragen?“

„Ich bin Merlin.“, gab der Junge zur Antwort und das allgemeine Erstaunen wurde zur allgemeinen Belustigung. Die einzige Ausnahme war diese ominöse Meisterin.

„Als ob ich was für meinen Namen könnte.“, grummelte der Werwolf, hochrot vor Verlegenheit.

„Ist schon gut.“, meinte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter ehe sie sich wieder an die anderen wandte, „Okay Leute es reicht! Ab nach Hause mit euch!“

Und tatsächlich setzte dich die kleine Gruppe, wenn auch unter einstimmigen Murren, in Bewegung. Erst als alle weg waren, ergriff die Meisterin wieder das Wort.

„In Ordnung. Dass du in eine Gruppe Jungmagier gerannt bist, hast du ja sicherlich schon gemerkt, schätze ich mal.“, fing sie an, „Aber ich hätte nicht erwartet, dass du so zu uns stößt.“

„Bitte?“, kam es nur überrascht von Merlin.

„Wie du dir vielleicht gedacht hast, bin auch ich magisch begabt.“, fing sie an, „Mein Name ist Marika Meinhardt und ich bin die momentane Leiterin der Schule für ‚Sonderbegabte’ – zu deutsch: Der Magierschule.“

„Magierschule?“, fragte der junge Werwolf verwirrt nach, „Und da haben Sie mit mir gerechnet? Können Sie hellsehen?“

Marika aber lachte nur, „Nein, kann ich nicht.“, versicherte sie ihm, „Mein Großvater meinte, dass bald ein junger Werwolf mit einem eindeutigen Namen auftauchen würde. Keine Ahnung woher er das wusste. Tja... Und jetzt bist du da.“

„Und... Was heißt das jetzt?“, fragte Merlin verunsichert nach.

„Naja... Du könntest jetzt gehen und wir sind uns nie begegnet. Du kannst aber auch mitkommen und zumindest meinen Großvater mal treffen. Er würde sich bestimmt freuen. Es verlangt ja keiner, dass du bei uns bleibst.“, schlug Marika ihm vor.

„Ich... na ja... Das verwirrt mich alles ziemlich...“, meinte er unsicher, aber auch neugierig. Zum ersten Mal gab es da tatsächlich Menschen, die so waren wie er.

„Das ist nicht verwunderlich.“, gab Marika lächelnd zurück und irgendwie kam Merlin dieses Lächeln bekannt vor. Er wusste nur nich woher.

„Von uns weiß ohnehin niemand. Normalerweise suchen wir die Magiebegabten, nicht umgekehrt.“, lachte sie und diesmal erwiderte er das Lachen zögerlich.

„Also? Riskierst du’s und kommst erst einmal mit?“, fragte die junge Frau schließlich und reichte ihm die Hand.

„Naja... okay.“, gab der Junge nach und ergriff die ihm dargebotene Hand.
 

Eine halbe Stunde später traute er seinen Augen kaum. Das Gebäude an sich war sehr unscheinbar und auch wenn es nicht viele Bewohner zu geben schien, steckte es doch voller Leben.

„Viele von denen, die hier zur Schule gegangen sind, unterstützen und auch heute noch.“, erzählte Marika während sie ihn durch einige Gänge führte, „Die Schule hier wurde von meiner Großmutter gegründet. Ich habe sie leider nie kennen gelernt, denn sie ist verschwunden als ich noch nicht einmal geboren war.“

„Das ist schade.“, erwiderte Merlin aufrichtig. Er hätte gerne die Frau getroffen, die offenbar genau gewusst hatte wie schwer es war magiebegabt zu sein.

„Das ist es allerdings.“, gab die Magierin zurück, „Aber sie hat meiner Familie ein großartiges Erbe hinterlassen. Nicht nur diese Schule, sondern auch eine ganze Reihe Bücher, auch sehr alte über Magie und viele Notizen und auch ein Tagebuch, in das sie ihre Gedanken und Vermutungen zur Magie niedergeschrieben hat. Sie war wirklich unglaublich.“

Der junge Werwolf nickte beeindruckt. Soetwas war wahrscheinlich der Traum von jedem Magier...

„Sie und ihre Familie können wirklich stolz sein.“, versicherte er der jungen Frau.

„Das sind wir. Ich bewundere sie sehr und daher war ich um so stolzer als meine Familie entschieden hat, dass ich die Leitung hier übernehme.“, erzählte die Marika.

„Bedeutet das nich eine Menge Papierkram?“, fragte der Junge verwirrt, aber die junge Frau lachte nur.

„Nicht ausschließlich.“, meinte sie, „Ich bin in erster Linie für unsere Schüler da. Als Lehrerin und Betreuerin.“

„Aha... Und... was machen Ihre anderen Familienmitglieder dann?“, wollte Merlin dann wissen.

„Sie sind unterwegs und suchen junge Leute und Kinder wie dich. Unser Hauptanliegen ist es sie auszubilden und zu verhindern, dass sie ungewollt zwischen die Fronten geraten.“, erklärte sie.

„Aber ich...“, fing der Junge an, wurde aber von der Schulleiterin unterbrochen.

„Ich weiß, dass du längst ein Werwolf bist. Ich habe es nicht vergessen.“, sagte sie, „Aber wir machen hier keine Unterschiede zwischen den Rassen. Ob Mensch, Werwolf oder Vampir, hier sind alle gleich.“

„Alle gleich?!“, kam es entsetzt von Merlin, „Aber... das geht doch nicht! Werwölfe und Vampire hassen sich! Sie bekriegen sich regelrecht!“

„Und warum?“, fragte Marika nur nach und sah den Jungen aus offenen Augen an.

„Na weil Vampire böse sind!“, erwiderte der Junge aufgebracht, „Sie sehen Menschen nur als Mittel zum Zweck!“

„Und du kennst alle Vampire persönlich?“, fragte die Magierin nach.

„Natürlich nicht! Ich bin doch nicht lebensmüde!“, meinte der Werwolf heftig.

„Und woher weißt du’s dann?“, wollte Marika wissen.

„Woher weiß ich was?“, fragte er nach.

„Dass alle Vampire böse sind. Du weißt ja auch, dass nicht alle Menschen gut sind.“, erwiderte die Schulleiterin, „Denkst du nicht, dass die Aussage ‚Vampire – böse, Werwölfe – gut’ ein wenig sehr pauschal ist?“

„Ähm... Ich... na ja...“, kam Merlin ins Straucheln. Das stimmte irgendwie. Marika aber lachte nur wieder.

„Siehst du, das mein ich.“, sagte sie, „Es ist nicht alles schwarz und weiß.“

Der junge Werwolf erwiderte nichts, sondern staunte nur.

Marika währenddessen führte ihn in einen anderen Teil des Gebäudes, der hinter dem eigentlichen lag, was er für das Schulgebäude hielt. Es ging durch eine Halle und dann eine große, alte Treppe mit weiten Stufen hinauf. Irgendwo konnte er die Stimmen der anderen widerhallen hören und Merlin war froh, dass die Schulleiterin nicht weiter nachhakte.

„Wie viele Schüler gibt es hier eigentlich?“, fragte er um das Thema zu wechseln.

„Acht.“, erwiderte Marika, „Mit dir neun. Vorausgesetzt du willst vielleicht doch bleiben.“

Der Junge wusste nicht, was sie mit dieser Aussage bezwecken wollte, aber er fragte auch nicht danach.

Er hätte auch die Gelegenheit nicht mehr gehabt, denn die Schulleiterin hielt plötzlich vor einer der vielen Türen an und klopfte schließlich gegen das schwere Brett aus Eichenholz bevor sie es leise öffnete und hineinspähte.

„Opa?“, fragte die junge Frau in die Stille und trat dann auf einen alten Ohrensessel zu, wo sie ruhig auf jemanden einsprach.

Merlin war unsicher im Türrahmen stehen gebliebem und traute sich nicht hinein. Einen Moment lang spielte er sogar mit dem Gedanken doch wegzulaufen, denn er fühlte, dass die Dinge sich zu verändern begonnen hatten und nun Ausmaße annahmen, die er nicht mehr überblicken, geschweige denn kontrollieren konnte.

„Du kannst dann reingehen.“ – Merlin erschrak zunächst und zuckte sichtlich zusammen als Marika ihn ansprach.

„Du brauchst nicht aufgeregt zu sein. Niemand will dir was Böses.“, meinte sie beruhigend und trat dann zur Seite um ihn einzulassen.

Vorsichtig betrat der Junge das Zimmer. Es war nur schummrig beleuchtet, das Licht selber kam von einer kleinen Lampe auf einem Beistelltisch, der in der Nähe des Ohrensessels stand. Die Luft roch ein wenig abgestanden und verbraucht und Merlin konnte das schwere Atmen einer Person hören, die wohl im Sessel saß.

Unsicher schritt er näher und sah dabei immer mehr Details. An den Wänden hingen Bilder und in der Nähe des Sessels, der irgendwie das Zentrum des Zimmers bildete, war ein altmodischer Schreibtisch auf dem viele gerahmte Fotos standen, deren Motive der junge Werwolf nicht erkennen konnte und je dichter er kam, desto mehr galt seine Aufmerksamkeit dem alten Mann, der vor ihm im Sessel auftauchte. Er hatte eine wärmende Decke auf dem Schoß und wirkte auch sonst sehr... großväterlich. Sein silbergraues Haar war leicht zerstrubbelt und auf seiner Nase thronte eine große runde Brille, die er nun, nachdem er die Augen geöffnet hatte, zurück nach oben auf die Nasenwurzel schob.

„Da bist du also...“, richtete der alte Mann das Wort an Merlin, „Wir haben dich erwartet.“

„Ähm... ja...“, erwiderte dieser nicht sonderlich intelligent, aber was sollte er darauf auch groß erwidern? Der junge Werwolf schluckte leicht. So alt dieser Mann auch sein mochte, seine Augen waren klar und hellwach. Solche Augen hatte er noch nie gesehen, so dunkel, regelrecht schwarz und undurchdringlich, und eben diese schienen nun bis zum Grund von Merlins Seele zu blicken.

„Du brauchst dich nicht zu fürchten. Ich fress dich schon nicht.“, meinte der Alte belustigt.

Der Junge wurde rot vor Verlegenheit, nickte dann aber.

„Darf ich Sie was fragen?“, wollte er dann wissen als er seine Sprache wiedergefunden hatte.

„Natürlich. Ich nehme an, dass du einige Fragen hast.“, antwortete der Mann ihm.

„Naja... zuerst... Wer sind Sie und woher wussten Sie, dass ich kommen würde?“, platzte es Merlin schließlich heraus.

„Mein Name wird dir wahrscheinlich nicht viel sagen, aber falls es dich beruhigt, ich heiße Kabuto.“, bekam der Junge zur Antwort.

„Wie der Kabuto, der 2007 mitgewirkt hat die große Werwolfsseuche zu besiegen?“, fragte der Werwolf dann neugierig nach und staunte nicht schlecht als der alte Mann zu lachen begann. Zunächst hatte er sich erschrocken, denn es war ein komisches Geräusch. Erst klang es als ob er sich verschluckt hätte, aber dann wurde das Lachen immer klarer.

„Was ist denn daran so lustig?“, wollte der Junge dann natürlich wissen.

„Ich bin erstaunt, dass so ein Jungspund wie du noch etwas von der großen Seuche weiß.“, meinte Kabuto, „Und dann auch noch weiß wer ich bin.“

Merlin war im ersten Moment schlicht und ergreifend baff. Damit hatte er absolut nicht gerechnet.

„SIE sind das gewesen? Das glaub ich jetzt nicht... Aber... Sind Sie nicht tot? Zumindest steht das in den Archiven der Werwölfe! Stopp mal... Da bedeutet ja, dass sie auch...!“, sprudelte es aus dem Jungmagier, der völlig von der Rolle zu sein schien.

„Beruhig dich wieder, Junge.“, sprach der Alte auf ihn ein, „Ja, ich bin genauso ein Werwolf wie du einer bist. Und wie du hoffentlich siehst, bin ich noch sehr lebendig, wenn gleich auch schon sehr alt.“

„Aber was machen Sie hier und warum denken alle Sie wären tot?“, löcherte Merlin den alten Werwolf gleich weiter mit Fragen.

„Junge, was glaubst du denn, was ich hier mache? Ich genieße die Nähe zu meiner Familie, jetzt wo ich so alt bin und versuche ihnen so gut es geht mit meinem Wissen weiter zu helfen.“, erwiderte der alte Mann und hob die Schultern, „Und wenn man lange genug verschwunden ist, wird man irgendwann auch für tot erklärt.“

„Verstehe.“, meinte der Junge, der sich nun halbwegs wieder gefangen hatte, „Aber woher wussten Sie nun, dass ich komme?“

„Na weil ich weiß wer dich hergeführt hat.“, gab Kabuto zurück und zum ersten Mal konnte Merlin soetwas wie Schalk in seinen Augen tanzen sehen als der Alte zum Schreibtisch mit den Fotos hinüberdeutete.

Unsicher trat der junge Werwolf an eben diese Bilder heran und musterte sie schließlich skeptisch. Es waren Kinder darauf zu sehen. Vermutlich seine oder gar seine Enkelkinder, auf einem glaubte er sogar Marika zu erkennen. Schließlich hatte Merlin ein Bild in der Hand, von dem er schlichtweg nicht glauben konnte, dass es real war.

Es zeigte eindeutig den alten Werwolf, den er ja lebendig vor sich hatte, in jüngeren Jahren und Arm in Arm mit IHR.

„Aber das... das kann doch gar nicht sein!“, stieß der Junge verwirrt aus. Diese Frau war eine Vampirin!

„Das war kurz bevor sie geküsst wurde... Sie war und ist meine Frau.“, erzählte der alte Werwolf und wurde ein wenig traurig bei diesen Erinnerungen.

Merlin hingegen war einfach nur... Er wusste selbst nicht was er war. Alles schien so falsch, so unwirklich und doch war es die Realität, die sich vor seinen Augen zeigte.

„Aber... die ganze Geschichte, die sie mir da aufgetischt hat... Das war bloß damit ich hier her finde?!“, fragte der junge Werwolf ungläubig nach.

„Ja.“, erwiderte der alte Mann ungeschönt, „Du hättest ja wohl kaum auf sie gehört, wenn sie es direkt gesagt hätte, oder? Manchmal sind die Dinge nicht so wie sie zu sein scheinen. Als Magier solltest du das wissen.“

„Aber ich...“, fing Merlin an und wusste nicht mehr, was er hatte sagen wollen. Das war alles zuviel für ihn.

„Du solltest jetzt gehen, mein junger Freund.“, sprach der alte Werwolf, „Wenn du dich entschließen willst zu bleiben, dann wird Marika alles mit dir klären. Behalte aber bitte unser kleines Geheimnis für dich.“

Merlin sagte nichts mehr, sondern nickte nur bevor er das Foto an seinen Platz zurückstellte und das Zimmer schließlich langsam verließ.

„Ist alles okay bei dir?“, hörte er die Stimme der jungen Schulleiterin, „Du siehst ja gar nicht gut aus.“

Der Junge hob nur die Schultern. Er wusste auch nicht wie er das formulieren sollte. Alles woran er geglaubt hatte, seitdem er ein Werwolf war, schien auf einmal wertlos. War er wirklich so festgefahren gewesen? Und was sollte jetzt werden? Er konnte doch nicht einfach weitermachen wie bisher, oder? Aber wie sollte es dann weitergehen?

Merlin wusste es nicht.

„Hey... was ist denn?“, wollte Marika immer noch wissen und sah ihn besorgt an.

„Ich... ich weiß nicht was jetzt werden soll.“, erwiderte der junge Magier, „Die ganze Zeit über hab ich nur dafür gearbeitet für das Rudel nützlich zu sein, weil ich überzeugt war, dass es richtig ist. Aber hier... hier ist irgendwie alles anders und ich... ich bin mir gar nicht mehr so sicher.“

„Das ist doch gut.“, gab die Magierin dem nun verdutzten Merlin zurück, „Wenn alles klar wäre, dann hätten wir doch keine Probleme an denen wir wachsen könnten. Manchmal merkt man auf seinem Weg halt, dass es nicht nur in eine Richtung geht und dann sollte man inne halten und sich überlegen ob man nicht eine andere Richtung einschlagen will.“

Der Junge seufzte aber nur niedergeschlagen, da hatte er sich ja eine schöne Zwickmühle zusammengezimmert.

„Du lebst in zwei verschiedenen Welten, Merlin.“, sprach Marika ruhig auf ihn ein, „Soetwas ist nie leicht.“

„Zwei verschiedene Welten?“, fragte dieser aber nur verwirrt nach.

„Natürlich. Du bist ein Werwolf UND ein Magier. Das heißt du hast sehr viel Macht, aber auch eine große Verantwortung. Da musst du entscheiden was du bist und wofür du einstehst. Das kann sehr ähnlich sein, aber auch sehr verschieden.“, erklärte sie ihm.

„Und... was soll ich ihrer Meinung nach jetzt tun?“, wollte Merlin wissen.

„Das kann ich dir leider nicht sagen. Das weißt nur du allein.“, erwiderte die Schulleiterin.

Der Junge selber nickte nur, „Ich würde dann gerne nach Hause.“

„Natürlich. Es steht dir frei zu gehen – und auch wieder zu kommen.“, betonte Marika.

Merlin nickte wieder und verließ dann langsam das Gebäude. Mit schweren Gedanken machte er sich auf den Rückweg zum Werwolfsanwesen. Das Gefühl, das ihn begleitete war ähnlich dem, das er nach dem Treffen mit der Vampirin gehabt hatte. Es war nur viel intensiver. Er war unsicher und verwirrt und diesmal hatte er keine Idee für eine Lösung.
 

Merlin wusste nicht wie spät es war, aber das Abendessen war sicher schon vorbei. Es machte ihm nichts aus, er hätte sowieso nichts runter bekommen. Und ohne, dass ihn jemand groß zur Kenntnis genommen hatte, war er in seinem Zimmer verschwunden. Das Licht ließ er aus und schließlich schnappte er sich seine Decke und setzte sich ans offene Fenster. Der Abendwind wehte ihm die verschiedensten Gerüche entgegen, Gerüche, die er kannte und die ihm vertraut waren, aber irgendwie... war es nicht mehr heimisch.

Es klopfte und Merlin erschrak, „Ja?“

„Himmel, warum sitzt du denn hier im Dunkeln?“, begrüßte ihn Megan.

„Oh... Hi Meg. Was gibt’s?”, fragte der junge Werwolf ohne auf ihre Frage einzugehen.

„Eigentlich nichts. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Du benimmst dich als ob du krank wärst.“, meinte die Häsin, „Echt strange.“

„Das nicht... Aber ich fühl mich nicht wirklich wohl.“, gab Merlin zu, „War ein komischer Tag.“

„Wieso? Ist was passiert?“, wollte Megan dann natürlich wissen.

„Ich habe ein paar merkwürdige Leute getroffen.“, erzählte der junge Werwolf.

„Und das nimmt dich so mit?“, fragte die Werwölfin ungläubig nach.

„Nee... Ja, auch. Aber ich bin heute durch die halbe Stadt gelaufen. Ich bin einfach fix und fertig.“, lenkte er ab.

„Was machst du auch solche Sachen?“, lachte Megan, wuschelte ihm durchs Haar, fragte aber auch nicht weiter nach.

„Sag mal Meg...“, fing Merlin dann wieder an, „Hast du jemals daran gezweifelt, dass deine Arbeit als Häsin richtig ist?“

„Nein, nie.“, gab diese erstaunlich überzeugt zurück, „Warum auch?“

„Glaubst du, dass es auch ‚gute’ Vampire gibt?“, fragte der Junge aber nur weiter nach.

Megan sah ein wenig verdutzt drein als wollte sie ihn fragen wie er soetwas kam, ließ es dann aber.

„Nein, glaube ich nicht.“, beantwortete sie Merlins Frage, „Unsere Aufgabe ist es die Menschen vor der Versklavung durch diese elenden Blutsauger zu bewahren!“

„Aber es sind auch nicht alle Menschen gut, oder?“, brachte der Junge dann an.

„Natürlich nicht.“, erwiderte Megan, „Wenn’s so wäre, dann gäb es ja keine Vampire.“

„Du meinst also nur schlechte Menschen werden zu Vampiren?“, fragte Merlin überrascht nach.

„Na, ist doch logisch!“, meinte die Werwölfin energisch, „Oder glaubst du, dass jemand, der nur halbwegs bei klarem Verstand ist, freiwillig zu einem dieser widerlichen Zombies wird?“

„Nein... Nein, natürlich nicht.“, kam es leise von dem Jungen, der nun wieder aus dem Fenster sah.

„Siehst du? Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen. Wir tun mit Sicherheit das Richtige. Zerbrich dir also wegen so was nicht den Kopf, hau dich lieber aufs Ohr.“, schlug die Häsin vor.

„Ja... Nacht, Meg.“, erwiderte Merlin und erhob sich.

„Nacht, Kleiner. Schlaf gut.“, meinte die Werwölfin und verschwand leise.

Merlin aber hatte nur das Bild der Vampirin im Kopf, die eine Schule gegründet hatte, in der es egal war was man war.

Der Junge fühlte sich schlecht, besonders nach dem Gespräch mit Megan. Merlin wusste, dass er nun eine Entscheidung treffen musste. Allerdings konnte er es drehen und wenden wie er wollte, das schlechte Gewissen blieb.

Merlin wusste es noch nicht, aber er hatte begonnen nicht mehr wie ein Werwolf zu denken – und seine Entscheidung würde das Leben von vielen Leuten beeinflussen, seines eingeschlossen. Die vergangenen Wochen waren vielleicht nicht wirklich ereignisreich, aber wahrscheinlich waren sie die prägsamsten seines Lebens gewesen.
 

Und nun musste er entscheiden: War er ein Werwolf mit magischen Fähigkeiten? – Dann war es auch besser wie ein Werwolf zu leben. Merlin aber konnte nicht mehr verallgemeinern. Werwölfe gut, Vampire böse, Menschen schutzbedürftig.

War er dann ein Magier, der einmal im Monat zu einer reißenden Bestie wurde? Zweiteres stimmte schon irgendwie, aber ersteres noch nicht so ganz. Es gab für ihn noch soviel zu lernen.

Und da draußen gab es Menschen, die ihn verstanden.

Merlin traf seine Entscheidung. Hastig holte er eine alte Tasche hervor, die noch aus der Zeit stammte als er zu den Werwölfen gekommen war, und verstaute in dieser die wichtigsten seiner Sachen. Klamotten, ein paar Bücher und ein paar persönliche Dinge wie ein Foto seiner Eltern und einen Anhänger, den er von Megan bekommen hatte.

Der Jungmagier nickte leicht als er die Liste in seinem Kopf noch einmal durchging. Erst dann zwang er sich zur Ruhe und begann eine Nachricht für die Häsin zu verfassen.

Als er auch das erledigt hatte, zögerte Merlin doch. Verriet er nicht grade die, die sich wirklich um ihn gekümmert hatten? Der Junge schluckte schwer und warf dann seine Tasche aus dem Fenster bevor er hinterher sprang und schließlich in der Dunkelheit verschwand.

Und alles, was Megan am nächsten Tag fand als sie nach Merlin sah, weil er nicht beim Frühstück aufgetaucht war, war ein Zettel, nicht einmal wert ihn als Brief zu bezeichnen, so unsauber und unzusammenhängend war er.

„Liebe Meg,

ich habe eine neue Richtung eingeschlagen. Mach dir keine Sorgen, es ist nicht deine Schuld. Ich glaube, ich bin mehr Magier als Werwolf. Und deshalb muss ich lernen. Viel lernen. Von denen, die das verstehen. Kann also dauern. Ich hoffe du hast mich dann trotzdem noch gern.

Hab dich lieb,

Merlin.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Carnidia
2007-12-25T16:04:28+00:00 25.12.2007 17:04
Der letzte Absatz ist ja sooo süß =^.^=
Überhaupt hat mir die Geschichte super gefallen, auch wenn ich gleich am Anfang wusste, wer die Fremde ist, noch vor den Fäden. :P
Aber das mit Kabuto ist traurig. T.T
Warum muss er so alt sein? Die arme Julia. *schniff*
DANKE auf jeden Fall und *plüüüsch*
jäh schreibt man übrigens so: jäh, nicht: je ^.^
„Dass alle Vampire böse sind. Du weißt ja auch, dass nicht alle Menschen gut sind.“, erwiderte die Schulleiterin, „Denkst du nicht, dass die Aussage ‚Vampire – böse, Werwölfe – gut’ ein wenig sehr pauschal ist?“
Schließlich sagen das alle Werwöfe und viele davon sind auch schon Vampiren begegnet. Ich hätte eigentlich erwartet, dass er sich von so nem Argument nicht gleich rumreden lässt. :P
Ich finds auch ein bisserl seltsam, dass Kabuto Merlin so schnell wieder wegschickt. Das erscheint irgendwie so grundlos. Hättest du sein Alter vorsgeschoben oder dass er sich nicht mehr aufregen darf, wär das glaubwüriger rüber gekommen. ;)
Und ich find den Schluss zu schnell, also dass er so bereitwillig annimmt, dass es tatsächlich alles stimmt, was man ihm da erzählt hat. Schließlich weiß er doch am Besten, dass es Magie gibt und dass man damit Menschen auch was vorgaukeln kann. Ich hätt an seiner Stelle auf jeden Fall erstmal einen Beweis verlangt. :D
Ich find wirklich, dass das alles etwas schnell ging, aber vielleicht hängt das damit zusammen, dass mir die Geschichte gar nicht lang genug hätte sein können. ;)
Naja, Folgerung ist also daraus:
SPITZE!
KLASSE!
ICH WILL MEEEHR!! \^.^/
*knuddelplüüüsch*
Und danke ^.^b


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