Lügner! von Maginisha ================================================================================ Kapitel 1: Ein unerwartetes Wiedersehen --------------------------------------- Die Stille des Konferenzraums wurde von einem lauten Klatschen durchbrochen. Eine Dokumentenmappe schlitterte über die lange Tischfläche in dessen Mitte, bis die Bewegung jäh von einem Paar brauner Halbschuhe gestoppt wurde. Ihr Besitzer hatte seine übereinandergeschlagenen Beine auf der Armlehne eines teuer aussehenden Ledersessels drapiert, in dem er augenscheinlich gerade ein Mittagsschläfchen hielt. Als die Mappe gegen seine Fußsohle stieß, öffnete Schuldig belästigt ein Auge. „Was ist das?“, fragte er den Eindringling, der im Anzug und mit vor der Brust verschränkten Armen in der Tür stand. „Wenn du reinguckst, weißt du es“, gab Crawford zurück. „Wenn du's mir sagst, weiß ich's schneller“, grinste Schuldig und blies sich eine blassgrüne Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wenn ich dich nicht im ganzen Gebäude hätte suchen müssen, hätte ich vielleicht sogar Zeit dafür“, knurrte Crawford ungehalten. „Aber ich muss das Treffen mit Takatori in einer Stunde vorbereiten. Denk dran, dass du pünktlich bist. Voller Staat dieses Mal.“ Jetzt öffnete Schuldig auch das zweite Auge und verzog das Gesicht zu einer weinerlichen Grimasse. Anklagend wies er auf die große Fensterfront, hinter der Tokio unter einer sommerlichen Dunstglocke lag und schwitzte. „Du willst mich ernsthaft bei dieser Hitze in einen Anzug stecken? Da draußen sind mindestens 48 Grad. Hab Erbarmen! Kannst du nicht einfach so tun, als wäre ich im Einsatz? Irgendwo weit weg? Vielleicht am Strand oder so.“ Crawford schüttelte den Kopf. „Keine Chance. Takatori will Schwarz vollständig versammelt haben. Also schwing die Hufe und sorg dafür, dass die anderen beiden fertig sind. Wir treffen uns in 45 Minuten in Takatoris Büro.“ Schuldigs Augenbrauen wanderten nach oben. „Alle vier? Auch Farfarello und der Knirps? Wie sagt ihr Amerikaner da so schön: Who peed in his Cheerios?“ Crawfords Lippen verzogen sich zu einem mikroskopisch kleinen Lächeln. „Sein Sohn Masafumi ist in seinem Kalender eingetragen. Sieht so aus, als wolle er die Kröte mit den Budgetkürzungen nicht einfach so schlucken.“ „Na wenn es darum geht, sollte ich erst recht keinen Anzug tragen. Bei Masafumi ist weniger mehr. Wie wäre es mit einer Badehose?“ Schuldgig wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. „Dann hätte sein weiblicher Schatten auch was zu gucken.“ Crawford atmete hörbar aus, setze die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken, bevor er sie wieder aufsetzte. „Schuldig, ich habe jetzt wirklich keine Zeit für solchen Blödsinn. Du wirst hier nicht nur für deine körperliche Anwesenheit bezahlt.“ „Ah, aber jemand der so aussieht wie ich, sollte dafür bezahlt werden.“ „Und deswegen verkriechst du dich in einem unbenutzten Besprechungsraum im hinterletzten Winkel des Gebäudes in einem Stuhl, dessen Bestellung, nebenbei bemerkt, nicht genehmigt war? Wo hast du überhaupt die Unterschrift dafür her?“ „Och, ich habe da so meine Möglichkeiten.“ Schuldigs Züge wurden für einen Augenblick scharf und wölfisch, bevor das schelmische Grinsen wieder zurückkehrte. „Na meinetwegen. Wir wollen ja nicht, dass dir graue Haare wachsen. In 45 Minuten bei Takatori.“ „35“, berichtigte Crawford ihn. „Du kostest mich mal wieder mehr Zeit, als es wert ist. Und guck in die Akte! Es könnte sein, dass das nachher wichtig ist.“ Bevor Schuldig noch etwas erwidern konnte, war Crawford bereits wieder aus der Tür gerauscht. Schuldig gähnte schmatzend und angelte nach der Akte, während er sich wieder in dem Sessel zurücklehnte. Dieses Schmuckstück war wirklich seinen horrenden Preis wert. Er verstand überhaupt nicht, warum die hier darauf bestanden, dass alle die gleichen Stühle hatten. Wenn er hier der Chef wäre, würde er seinen Hintern auf dem weichsten Kalbsleder betten, das sich finden ließ. Nur mäßig interessiert klappte er den Ordner auf. Er überflog den Bericht, der von der Zerstörung einer der weiter am Stadtrand gelegenen Forschungseinrichtungen handelte. Was Masafumi dort zusammengebraut hatte, ließ sich aus der Akte nicht entnehmen. Wohl aber, dass es sich bei der Explosion nicht um einen Unfall gehandelt hatte. Man hatte Überreste von Sprengstoff gefunden. Die Täter waren in der Nacht eingebrochen, hatten die Bomben gelegt und waren dann wieder verschwunden, ohne irgendwelche Spuren außer dem völlig zerstörten Labor zu hinterlassen. An dieser Stelle endete der offizielle Bericht. Was folgte, war eine lose Din-A4-Seite in Nagis nahezu unleserlicher Klaue. Noch während sich Schuldig bemühte, die kryptischen Zeichen des jüngsten Mitglieds von Schwarz zu entziffern, rutschte etwas aus der Akte und fiel zu Boden. Aus den Augenwinkeln sah er, dass es sich um ein Foto handelte. Ein unscharfes Bild einer Überwachungskamera, das eine Gruppe von drei oder vier Personen zeigte, die gerade in eine Art Van stiegen. Schuldigs Augen weiteten sich interessiert, als er glaubte, eine der Gestalten zu erkennen. „Na hallo, wen haben wir denn da?“ Er hob das Bild auf und betrachtete es von nahem. „Wenn das mal nicht unser kleines Glückskind ist. Fujimiya Junior. Dich habe ich ja lange nicht mehr gesehen. Scheint, als hättest du neue Freunde gefunden. Aber was treibt ihr da draußen mitten in der Nacht? Warum wart ihr an diesem Labor? Und wer hat euch geschickt?“ „Wo bleibt Omi nur?“, stöhnte Ken und schob schnaufend eine große Topfpflanze auf dem Bürgersteig zurecht. „Wir könnten hier echt Hilfe gebrauchen. Ich weiß schon gar nicht mehr, wo ich die ganze Ware lassen soll. Irgendwer muss sich bei der Bestellung vertan haben.“ „Omi war diese Woche dran, sich darum zu kümmern“, gab Yoji zur Auskunft und ordnete mit einer Hand ein paar einzelne Rosen neu in ihrem Wassereimer. Sinnierend betrachtete er sein Werk und begann dann erneut, das knappe Dutzend Blüten zu arrangieren. Ken richtete sich stöhnend auf und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Die Luft um ihn herum flimmerte über dem Asphalt. Er griff nach einem Schlauch, um der neu platzierten Auslage das dringend benötigte Nass zuzuführen, damit sie nicht sofort verwelkte. Es war ihm anzusehen, dass er sich am liebsten selbst unter den Wasserstrahl gestellt hätte. „Also hat er es erst verbockt und lässt uns die Suppe dann auch noch alleine auslöffeln? Das nenne ich mal Teamgeist. Und wo steckt er jetzt? Immerhin sind Ferien. Da könnte er ruhig mal mehr im Laden mitanpacken.“ „Er muss noch einen Bericht schreiben. Wegen gestern.“ Yojis Ton war beiläufig, so als würde er über eine x-beliebige Hausaufgabe sprechen, aber Ken wusste sofort, worum es ging. Das Ergebnis ihren Einsatzes in dem Labor, in dem laut ihrem Missionsbefehl eine neuartige Designerdroge hergestellt worden war, war den ganzen Tag die Nachrichten rauf und runter gelaufen. Der Name des Besitzers der Einrichtung war dabei jedoch nie genannt worden. „Ich frage mich, wer hinter der Schweinerei steckt“, murmelte Ken und nahm sich einen Besen, um die letzten Erdkrümel zu beseitigen. „Takatori.“ Aya war unbemerkt in den Laden getreten. Er band sich seine Schürze um und bezog Posten hinter der Ladenkasse. Hinter ihm beschlugen die gekühlten Auslagen, in denen die Schnittblumen lagerten. Die Luft im Laden war wirklich zum Schneiden dick, seit die Klimaanlage vor zwei Tagen den Geist aufgegeben hatte. „Takatori und Drogen?“, fragte Ken nach und winkte ab, als Yoji ihn anzischte, damit er leiser war. „Was denn? Ist doch gerade keiner da.“ Er wandte sich wieder an Aya. „Wie kommst du darauf, dass Takatori da mit drin steckt? In dieser Stadt scheint es zwar kaum etwas zu geben, wo er nicht seine Finger drin hat, wenn man mal von Blumen und Schokolade absieht, aber Drogen? Das kann sich einer von seinem Format doch gar nicht leisten.“ Aya blickte nicht auf und gab vor, die bisherigen Einnahmen zu zählen. „Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Takatori auch davor nicht zurückschreckt. Meine ... ich weiß es einfach, ok?“ Ken zog die Augenbrauen nach oben. „Na gut, wenn du meinst. Aber gab es denn irgendwelche Hinweise darauf?“ Ayas Stimme war kaum zu verstehen, als er antwortete: „Ich habe einen Brief gefunden mit Takatoris Unterschrift. Ich würde sie unter tausenden wiedererkennen.“ Yoji machte jetzt irgendwelche Zeichen mit der flachen Hand, aber Ken begriff immer noch nicht, was er ihm zu sagen versuchte. Er stützte sich auf seinen Besen und fixierte Aya, der jetzt begonnen hatte, ein Bouquet zu richten. „Bist du deswegen so durchgedreht? Ich meine, wir mussten dich ja förmlich aus dem Gebäude ziehen, bevor Omi es hochgejagt hat. Man hätte glauben können, du wolltest es allein mit dem Katana in Schutt und Asche legen.“ „Ken, halt jetzt endlich die Klappe“, fauchte Yoji und schubste ihn unsanft nach drinnen. „Du kannst doch nicht auf offener Straße über eine Mission reden. Wenn das jemand mitbekommt, sind wir tot.“ Ken blies die Backen auf und zog die Schultern hoch. „Als wenn wir nicht eh schon mit einem Bein im Grab stehen würden. Irgendwann erwischen die uns sowieso.“ Yoji sah für einen Augenblick verblüfft drein, dann setzte er ein betont fröhliches Grinsen auf. „Na du bist ja heute ein richtiger Sonnenschein. Warum machst du für heute nicht Feierabend? Geh noch ein bisschen mit den Jungs kicken oder so?“ „Die sind doch alle im Sommerlager, du Witzbold“, knurrte Ken. „Außerdem ist es viel zu heiß dafür. Kein Wunder, dass sich heute niemand blicken lässt.“ Yoji rollte theatralisch mit den Augen. „Dann geh ein Eis essen. Oder schwimmen. Irgendwas, das dich abkühlt. Jetzt gleich.“ Ken murmelte noch etwas Unverständliches, nahm aber gehorsam seine Schürze ab, schmiss sie an den Haken und griff nach seinem Motorradhelm. „Ich bin dann mal weg.“ „Ja ja, viel Spaß dann noch!“, flötete Yoji und winkte Ken mit einer Hand nach, während er die andere lässig in die Hüfte stemmte. „Und wenn du morgen später kommst, macht das auch nichts.“ Als sich die Tür hinter Ken schloss, fiel die fröhliche Maske von Yoji ab wie ein welkes Blatt in einem Herbststurm. Mit ernstem Gesicht drehte er sich zu Aya herum und kam auf ihn zu. „So, und jetzt erzähl mal. Was ist hier los?“ Aya blinzelte überrascht. „Was …? Wovon sprichst du?“ „Na bestimmt nicht davon, dass du gerade die Blumen massakrierst. Wir haben zwar gerade etwas Überbestand, aber zum Wegwerfen sind sie dann doch zu schade.“ Yoji griff an Aya vorbei, schnappte sich eine rote Rose aus dem Strauß und hielt sie sich unter die Nase. „Ah, wundervoll. Die hier kann ich wohl noch retten, den Rest können wir höchsten verschenken. Möchtest du das heute übernehmen?“ Aya blinzelte noch einmal. „Die Blumen verschenken? An wen?“ „Na die Mädchen“, lachte Yoji und wies in Richtung Schaufenster. „Sag bloß, du hast nicht bemerkt, dass hier jeden Nachmittag unzählige von diesen jungen Dingern auffällig langsam vorbeischlendern. Einige von ihnen fünf- oder sechsmal jeden Tag. Denken wahrscheinlich, ich merke das nicht, aber einem Yoji Kudo entgeht nichts. Auch nicht, dass du uns etwas verheimlichst. Also willst du es mir gleich erzählen oder soll ich es selbst herausfinden?“ Aya sah auf die Blumen in seinen Händen und presste die Kiefer aufeinander. Yoji hatte recht; der Strauß war vollkommen ruiniert. Er war zwar inzwischen besser geworden, was diese Blumengeschichte anging, aber von Yojis Kunstfertigkeit beim Binden von Sträußen oder Anordnen von Gestecken war er noch meilenweit entfernt. Selbst Ken machte dabei eine bessere Figur als er. Mit einem Anflug von Wärme im Gesicht erinnerte er sich daran, wie Yohji ihn damit aufgezogen hatte, dass der Umgang mit einer Blume dem Umgang mit einer schönen Frau ähnele und dass er, Aya, wohl noch nicht viel Erfahrung damit habe. Drei Monate waren inzwischen vergangen, seit er bei einem seiner nächtlichen Feldzüge auf die drei Weiß gestoßen war. Er war gefangen und vor die Wahl gestellt worden, sich dem Team entweder anzuschließen oder zu sterben. Manchmal glaubte er noch, den Draht zu spüren, mit dem ihn Yoji damals eingefangen hatte wie eine Fliege in einem klebrigen Spinnennetz. Den Druck von Birmans Waffe an seiner Schläfe. Das Leben, dass er seither führte, war so surreal, dass er manchmal das Gefühl hatte, in einem immerwährenden, bösen Traum festzustecken. Und der weitaus absurdere Teil dieses Traums war der, in dem er versuchte, als harmloser Blumenhändler zu erscheinen. „Ich habe dir nichts zu sagen“, knurrte er und stampfte mit den geknickten Blumen in Richtung Abfalleimer. Den Kopf gesenkt lief er dabei fast in Yoji hinein, der sich wie aus dem Nichts vor ihm aufgebaut hatte und ihn über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg musterte. „Hör zu, Aya. Es ist ein offenes Geheimnis, dass deine Schwester verletzt wurde, als irgendjemand die Firma deiner Eltern in die Luft gesprengt hat, und dass sie seitdem im Koma liegt. Jetzt hat Kritiker sich ihrer angenommen und dadurch den Daumen auf dir und deinen Diensten hier bei Weiß. Wenn Perser sagt 'Spring!' dann fragst du genau wie wir nicht einmal mehr, wie hoch. Aber ...“ Aya unterbrach den anderen grob. „Das geht dich nichts an. Ich will nicht darüber reden.“ Yoji beugte sich ein wenig vor, sodass sich ihre Nasen fast berührten. „Stell dir vor, das ist mir aufgefallen. Aber, wie ich bereits sagte, bin ich nicht blind. Und deine Reaktion gestern spricht Bände. Irgendwas hat Takatori was mit der Sache zu tun. Ist er derjenige, den du gejagt hast, als wir dich aufgegriffen haben? Willst du wirklich einem der einflussreichsten Männer der Stadt, wenn nicht gar des Landes, ans Leder? Das kann unmöglich funktionieren und schon gar nicht allein!“ Aya schwieg dazu. Er wollte Yoji nicht die Genugtuung liefern, die Geschichte auch noch zu bestätigen. Es schmerzte ohnehin genug, sie aus seinem Mund zu hören. Warum sollte er auch noch aussprechen, was ihm regelmäßig nachts den Schlaf raubte? Dass er zum Mörder geworden war, um seine Schwester zu retten, und damit gleichzeitig das Recht verwirkt hatte, ihr je wieder unter die Augen zu treten. Und dass er das Gefühl hatte, sich mit jedem Tag weiter von seinem Ziel, Reiji Takatori dafür zur Rechenschaft zu ziehen, zu entfernen. Aber das durfte nicht passieren. Er durfte nicht scheitern, denn dann war alles umsonst gewesen. Dann hatte er den einzigen Menschen, der ihm noch etwas bedeutete, umsonst in Kritikers Fänge gegeben. „Ich muss diese Blumen entsorgen“, murmelte er und trat an Yoji vorbei, um das Gesagte in die Tat umzusetzen. Er hatte seine Rechnung ohne die enorme Reichweite von Yojis Armen gemacht. Der hielt ihn fest, beugte sich noch einmal vor und sah ihm tief in die Augen. In dem dunklen Grün schienen kleine, goldene Funken zu tanzen. „Du solltest es vielleicht doch mal mit dem Verschenken versuchen. Die eine oder andere junge Dame würde sich bestimmt über ein wenig mehr Freundlichkeit von dir freuen. Ich sehe genau, wie enttäuscht sie jedes Mal sind, wenn du dich von ihnen abwendest, ohne sie auch nur richtig angesehen zu haben. Du weißt ja, ich kann eine schöne Frau nicht weinen sehen. Und wer eine Frau schlecht behandelt, der kann von mir keinerlei Gnade erwarten.“ Aya hielt Yojis Blick einen Moment lang stand, dann wandte er den Kopf ab. „Ich habe kein Interesse daran, einer der Kundinnen zu gefallen. Das hier ist nicht einmal mein richtiger Job. Alle nur Fassade.“ Er machte sich von Yoji los, um nun endlich die Blumen wegzuwerfen. Der sah ihm nach und schüttelte leicht den Kopf. „Du versinkst, Aya“, sagte er leise zu sich selbst. „All das Blut und der Hass wird dich eines Tages ersticken. Sei schlau und nimm die Gelegenheit wahr, dich wenigstens in den wenigen, hellen Stunden des Tages von deiner Schuld freizumachen. Die Monster der Nacht werden dich schon früh genug wieder einholen. Ich weiß, wovon ich spreche.“ Wie von selbst war bei diesen Worten seine Hand zu seinem linken Oberarm gewandert, wo unter dem Stoff seines Shirts ein Tattoo auf seiner Haut prangte. Lange Nägel formten halb unter einem Paar Flügel verdeckt das englische Wort 'Sin' und darunter stand in kleinen, fast unleserlichen Buchstaben 'When you gonna learn'. „Ich weiß es nicht“, flüsterte er fast unhörbar; eine flüchtige Antwort auf eine viel zu oft gestellte Frage. „Ganz ehrlich, Asuka, ich weiß es nicht. Manchmal ist das Einzige, was einem bleibt, einfach nur einen Schritt vor den anderen zu machen.“ Kapitel 2: Familienbande ------------------------ Entnervt nestelte Schuldig an seinem Kragen herum. „Ich weiß nicht, was das Theater soll. Masafumi kennt uns doch schon. Diese ganze 'böser Bodyguard'-Masche zieht doch bei ihm gar nicht mehr.“ „Hör auf zu nörgeln und komm endlich“, erklang Crawfords Stimme durch die geöffnete Tür. „Ich habe Nagi und Farfarello mitgebracht. Eine Aufgabe, die du eigentlich erledigen solltest.“ „Du mich auch“, knurrte Schuldig auf Deutsch, allerdings so leise, dass sein Kollege es nicht hören konnte. Er rückte noch einmal seine Krawatte zurecht und begab sich dann Richtung Nebenraum. Im Türrahmen blieb er wie angewurzelt stehen und blickte ungläubig auf den Rest des Teams. „Crawford, ich bringe dich um!“ Farfarello stand in schwarzes Leder gehüllt neben Nagi, der so etwas wie eine Schuluniform trug. Ein taubenblauer Anzug mit kleinem Stehkragen, der ihn mehr denn je wie den kleinen Jungen wirken ließ, der er in Schuldigs Augen noch war. Trotzdem hatte er das Kinn hochgereckt und stand da, als hätte er einen Stock verschluckt. „Bist wohl mächtig stolz auf dich, was?“, stichelte Schuldig und versuchte noch einmal, die Krawatte auf ein erträgliches Maß zu lockern. „Es wundert mich, dass du keinen Anzug trägst wie Braddy-Daddy.“ In Crawfords Augen blitzte eine unmissverständliche Warnung auf. „Schuldig …!“ Der Deutsche stellte sich taub und dumm. Er hatte schlechte Laune, weil er sich als Einziger zum Affen machen musste, und hatte vor, das an jemandem auszulassen. Vorzugsweise an jemandem ohne Vorliebe für spitze Gegenstände. Farfarello, der aus diesen Gründen ausschied, schenkte ihm ein wissendes Lächeln. Schuldig zog die Oberlippe hoch und knurrte ihn an, bevor er sich wieder Nagi zuwandte. „Nein wirklich, du hättest mal in der Kinderabteilung schauen sollen. Da gibt es bestimmt hübsche Partnerlooks für euch beide. Oder der Zwerg lässt sich die Haare noch ein bisschen wachsen. Dann könntest du ihm Zöpfe flechten und ihn in ein Sailormoon-Kostüm stecken. Die Macht des Mondes würde sich bestimmt kranklachen.“ „Über lange Haare rede ich mit dir nicht“, knurrte Nagi mit einem wütenden Blitzen in den Augen. Man musste kein Gedankenleser sein, um die Worte 'grüner Wischmopp' in der Luft hängen zu sehen, auch wenn Nagi sie nicht aussprach. „Das hier“, Schuldig wies auf seine Haare, „ist ein Statement, keine modische Verirrung so wie dein Look. Wenn man dich in einem Aufzug vergisst, werden dich alle für den Pagen halten.“ „Schuldig!“ Crawfords Stimme schnappte wie eine Peitschenschnur durch den Raum. „Takatori wartet.“ „Soll er doch. Zuspätkommen ist sexy.“ „In welcher Welt?“ „In allen Welten!“ Crawfords biss die Zähne zusammen. Wenn Schuldig in so einer Stimmung war, konnte man ihn am besten mit dem beruhigen, was die Aufmerksamkeit aller bockenden Kleinkinder erregen konnte: Süßigkeiten und Fernsehen. „Ich nehme an, du hast die Akte gelesen?“ Schuldig blieb ob des plötzlichen Themenwechsels kurz der Mund offenstehen. „Ja, habe ich“, schnarrte er jedoch bereits im nächsten Atemzug. „War das auf dem Foto Fujimiyas Junge?“ „Ich nehme es an.“ Crawford öffnete die Tür und, wie er gehofft hatte, folgte ihm Schuldig auf dem Fuße. „Ich dachte, du hättest dich um die Sache gekümmert.“ „Ich hab's versucht, aber nachdem unser Glückskind überall auf taube Ohren stieß, ist es plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Farfarello war hilfreich dabei, die restlichen, kritischen Stimmen zum Verstummen zu bringen. Ich dachte, dass sich die Sache damit erledigt hätte.“ Der weißhaarige Ire, der einen halben Schritt hinter ihen lief, strich gedankenverloren mit dem Daumen über die Klinge seines Messers. Dass er dabei die Haut ritzte und die blitzende Schneide einen schmalen, roten Rand bekam, schien ihm nicht weiter aufzufallen. „Um die Schmiergelder für die örtliche Polizei habe ich mich gekümmert“, ließ sich Nagi vernehmen. „Vergiss das nicht, Schuldig. Und die Adressen der anderen habe ich euch auch besorgt.“ „Jaja, bis ein ganz fleißiger, kleiner Hacker“, antwortete der Deutsche und wedelte mit der Hand, als wolle er eine Fliege verscheuchen. „Aber jetzt halt die Klappe, wenn die Erwachsenen reden.“ Nagi kniff den Mund zusammen und schwieg gehorsam. Er wusste genau, dass sie ihn brauchten. Eine Faust konnte nur dann effektiv zuschlagen, wenn sie die Schwachstellen des Gegners kannte. Nagi besaß die Fähigkeit, diese Schwachstellen zu finden. Er konnte alles finden, was sie benötigten. Ohne ihn wäre Schwarz nur halb so effektiv gewesen. Entschlossen drückte er den Rücken durch und schritt hinter den anderen den Gang entlang. Bei dem Treffen mit Takatori wollte er unbedingt dabei sein. Am Ende des Ganges tauchten plötzlich drei Gestalten auf, die ihnen gemessenen Schrittes entgegenkamen. Als Crawford und Schuldig sie sahen, verstummten sie sofort. Ein kurzer Blickwechsel zeigte an, dass sie das Gespräch später fortsetzen würden. Jetzt galt es zunächst einmal, ihren derzeitigen Arbeitgeber zufriedenzustellen. „Na wenn das nicht Masafumi Takatori und seine reizende Begleiterin sind“, tönte Schuldig sogleich. „Wie war doch gleich der Name?“ „Aoi“, antwortete die Frau im Business-Kostüm kühl. Sie schob ihre Brille zurecht und strich eine der kurzen, schwarzen Haarsträhnen hinter das Ohr. „Chizuru Aoi. Wir hatten schon einmal das Vergnügen.“ „Ich erinnere mich“, grinste Schuldig und zwinkerte ihr zu. „Aber wen haben wir denn da? Hirofumi Takatori. Ich wusste gar nicht, dass das hier ein Familientreffen wird.“ Crawford deutete eine Verbeugung an. „Es ist uns eine Ehre, Sie hier zu treffen, meine Herren. Dürfen wir Sie in das Büro Ihres Vaters begleiten?“ Hirofumi, der ebenso wie Crawford eine elegante und tadellos gepflegte Erscheinung an den Tag legte, erwiderte die Verbeugung mit einem Nicken. Dass er seinem Bruder danach einen vielsagenden Blick zuwarf, blieb nicht unbemerkt. „Sie scheinen überrascht, uns hier zu sehen“, implizierte Crawford eine Frage. Es überraschte Schuldig immer wieder, wie gekonnt der Amerikaner sich doch die Gepflogenheiten dieses Landes bereits zu eigen gemacht hatte. Selbst wenn er bei dem Tanz, den man hier bei Begegnungen aufzuführen pflegte, einen Fehler machte, war er meist in der Lage, diesen Patzer erfolgreich zu verschleiern. Er war wie ein Aal, den man versuchte mit bloßen Händen zu fassen. Ein giftiger Aal. Hirofumi sah noch einmal in Masafumis Richtung, bevor er sich räusperte. „Nun, wir hatten mit einem etwas privateren Rahmen für dieses Treffen gerechnet. Unser Vater hat uns nicht über Ihr Kommen in Kenntnis gesetzt.“ „Ich verstehe.“ Auf Crawfords Gesicht erschien ein unverbindliches Lächeln. „Nun, vielleicht liegt auch eine Verwechslung vor. Dieses Missverständnis wird sich sicherlich schnell aufklären lassen.“ „Dessen bin ich sicher“, antwortete Hirofumi glatt und wandte sich zum Gehen. Er stockte in der Bewegung, als er Farfarello bemerkte. Er ließ seinen Blick für einen Augenblick abschätzig über dessen Gestalt gleiten, bevor er sich auf den Weg zum Büro seines Vaters begab. Masafumi, der weniger diplomatisches Geschick besaß als sein älterer Bruder, ließ die Erscheinung des einäugigen Iren jedoch nicht unkommentiert. „Wie ich sehe, hat Schwarz Zuwachs bekommen. Es scheint, er verfügt über einiges an Kampferfahrung. Die Narben bedeuten allerdings wohl, dass er kein besonders guter Kämpfer ist.“ Bevor Crawford es verhindern konnte, hatte Farfarello schon den Mund geöffnet. „Wenn ich kämpfe, spüre ich keinen Schmerz. Eine Verletzung hindert mich nicht daran, das Leben meiner Gegner auszulöschen. Einige zeigen dabei mehr Widerstand als andere, aber am Ende treten sie alle dem Herrn gegenüber.“ „Keinen Schmerz, soso.“ Masafumis Augen glühten förmlich vor Gier. Sein Gesichtsausdruck erinnerte an einen Raubvogel, der eine lohnende Beute erspäht hatte. „Ich würde mich freuen, wenn ich eine Blutprobe bekommen könnte, um seine Gensequenz zu analysieren. Eine solche Fähigkeit wäre sicherlich unheimlich wertvoll, wenn man sie reproduzieren könnte.“ „Tut mir leid, aber das wird nicht möglich sein.“ Crawford und schob die Brille auf seinem Nasenrücken zurecht. „Natürlich können Sie gerne einen entsprechenden Antrag stellen, aber ich fürchte, man wird Ihrem Gesuch nicht stattgeben.“ Der Raubvogel sah ein, dass er sein Ziel verfehlt hatte, und setzte wieder eine lächelnde Maske auf. „Nun, wir werden sehen, Crawford. Mein Vater ...“ „Erwartet uns bereits“, beendete der Amerikaner den Satz. „Ich denke, wir sollten uns keine weitere Verzögerung leisten. Er könnte ungeduldig werden.“ Masafumi wurde bei diesen Worten ein wenig blass. „Natürlich nicht. Entschuldigen Sie. Wenn mich die Begeisterung für ein Projekt übermannt, vergesse ich manchmal Zeit und Raum.“ Er drehte sich mit einer entschiedenen Geste herum und folgte dem Weg, den sein Bruder bereits genommen hatte. Die Frau im Kostüm schloss rasch zu ihm auf, ohne sich noch einmal nach Schwarz umzusehen. Crawford atmete hörbar aus. „Ich bin mir nicht sicher, ob Takatoris Plan nicht nach hinten losgeht“, murmelte er. „Er wollte seinen Sohn einschüchtern, aber ich fürchte, er hat da etwas in Gang gesetzt, das sich vielleicht nicht so einfach wieder unter Kontrolle bringen lässt.“ Schuldig warf Crawford einen fragenden Seitenblick zu. „Ich nehme an, du weißt da mehr als ich?“ Crawfords Miene war unergründlich. „Die Akte“, sagte er schließlich. „Ich denke, du weißt, was zu tun ist?“ Schuldig nickte. „ Natürlich. Aufspüren, evaluieren und, wenn notwendig, eliminieren.“ „Genau das. Und Schuldig“, Crawford fasste seinen Kollegen scharf ins Auge, „keine Fehler dieses Mal, verstanden?“ Auf Schuldigs Gesicht erschien ein überhebliches Grinsen. „Wann hätte ich je einen Fehler gemacht?“ „Möchtest du eine Liste?“ „Spielverderber.“ Schuldig rollte theatralisch mit den Augen. „Also gut, ich kümmere mich darum. Jetzt sofort? Takatori wartet schließlich.“ Es dauerte einen Augenblick, bis Crawford antwortete. „Nein, wir müssen zunächst unsere Aufgaben hier erfüllen. Um deinen Bockmist auszubügeln, hast du später immer noch Zeit.“ Schuldig, der sich bereits von dem unbequemen Polyester befreit gesehen hatte, sank in sich zusammen. „Also schön, wie du meinst. Gehen wir ein bisschen auf dicke Hose machen. Mit Fujimiya kann ich später immer noch spielen.“ Das Büro war wie geschaffen, um Eindruck zu machen. Es lag in einem der oberen Stockwerke des Gebäudes, sodass man durch die unzähligen Panoramafenster einen unverstellten Blick auf die Stadt hatte. Neben einem riesigen Schreibtisch gruppierte sich eine mit edlen Stoffen bezogene Sitzecke um einen massiven Glastisch. Daneben bot eine gut bestückte Bar eine Auswahl an in- und ausländischen Getränken für durstige Besucher. Aktenschränke ließ der Raum vermissen; dafür gab es eine Zimmergolfanlage, einen kleinen Springbrunnen und eine erquickliche Anzahl an ausgewählten Pflanzen, die den Raum zu einem ausnehmend angenehmen Aufenthaltsort für dessen Besitzer machten. Er ließ jedoch, wie Hirofumi und Masafumi Takatori feststellen mussten, eine Sache vermissen: Sitzgelegenheiten für diejenigen, die sich auf der anderen Seite des Schreibtischs wiederfanden. Wie zwei unartige Schuljungen standen die ungleichen Brüder vor dem schweren Möbelstück und warteten darauf, dass ihr Vater ein Telefonat beendete. Er hatte sie hineinrufen lassen und danach zum Hörer gegriffen. Momentan sah man von ihm nicht viel mehr als die linke Hand, in der eine dicke Zigarre ihren würzigen Duft im Raum verteilte. Unter den übrigen Personen herrschte angespanntes Schweigen. Schuldig hätte es nie offen eingestanden, aber er amüsierte sich trotz des Anzugs ausgesprochen prächtig. Es war wirklich interessant mitanzusehen, wie die beiden gestandenen Männer vor ihrem Vater kuschten. Wie er schon mehrfach hatte feststellen können, lag es Japanern einfach nicht, einem Mächtigeren die Stirn zu bieten. Sie zuckten lieber mit den Achseln und senkten lächelnd den Kopf. Jedes Rädchen blieb genau an dem Platz im Getriebe, der ihm zugedacht war. Nur nicht das Gesicht verlieren, koste es, was es wolle. Was seine Aufmerksamkeit allerdings noch mehr beanspruchte, war Masafumis Begleiterin. Sie stand einen halben Schritt hinter ihrem Mentor und hielt ein Klemmbrett wie ein Schutzschild vor sich. Was darauf stand, interessierte Schuldig nicht, obwohl er es mit einem leichten Vorlehnen seines Oberkörpers sicherlich hätte erkennen können. Er war vielmehr an ihrer Reaktion auf seine Anwesenheit interessiert, der Quelle seines Amüsements. Der fremdländische Mann, der ein ganzes Stück näher an ihrer Rückseite stand, als ihr lieb war, blieb nicht ohne Wirkung auf die äußerlich so gefasst wirkende Frau. Schuldigs Mundwinkel hoben sich, als er sich noch ein winziges Stück näher an sie heranschob und im nächsten Augenblick hören konnte, wie sich ihr Atem beschleunigte. Ein Schweißtropfen rann über ihre Schläfe und an der pulsierenden Ader an ihrem Hals konnte er sehen, wie ihr Herzschlag schneller wurde. Ihre Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf und Schuldig lächelte, weil er auch das hören konnte. Und weil sie wusste, dass er es konnte. Takatori hatte Masafumi bei ihrem ersten Zusammentreffen darüber in Kenntnis gesetzt, wie besonders die neuen Mitarbeiter waren, die Eszett ihm geschickt hatte. Der Magnat war auserkoren worden, die Interessen der Organisation in Japan zu vertreten, und diese Stelle brachte einige Annehmlichkeiten mit sich. Unter anderem wurde ihm eine persönliche Leibwache von übersinnlich Begabten zur Seite gestellt. Zwar reichten Schuldigs und Crawfords Fähigkeiten lange nicht so weit, wie Takatori seinen Sohn hatte glauben lassen wollen – Crawford konnte mitnichten alles sehen, was die Zukunft bereithielt, und Schuldigs Fähigkeit, die Gedanken seines Gegenübers zu lesen, beschränkte sich auf einen engen, räumlichen Rahmen – aber trotzdem waren sie mit diesen Fähigkeiten etwas Besonderes. Ein Geschenk, ein Statussymbol, das Takatori nur umso aufgeplusterter in seinem Sessel sitzen ließ, als er jetzt endlich das Telefongespräch beendete. „Sieh an, meine missratenen Söhne“, knurrte er und nahm einen Zug aus seiner Zigarre. Trotz seines fortgeschrittenen Alters, das seine Haare und seinen Schnauzbart inzwischen grau und den auffälligen Backenbart weiß gefärbt hatte, wirkte Reiji Takatori nicht im Geringsten schwach oder gebrechlich. Er war groß, für einen Japaner, und der maßgeschneiderte Anzug ließ ihn noch breiter wirken. Die leicht getönte Brille nahm seinem Blick, der sich jetzt auf Hirofumi richtete, nichts von seiner Härte „Ich habe dich nicht herbestellt. Was willst du?“ „Ich hörte, dass du dich mit Masafumi in finanziellen Verhandlungen befindest, und wollte dir daher eine neue, lukrative Idee vorstellen. Ich denke, dass du sie...“ „Du willst deinen Bruder unterstützen?“, schnitt Takatori seinem ältesten Spross das Wort ab. „Aus welchem Grund?“ Hirofumi wirkte durch die Frage deutlich verwirrt. „Nun, ich dachte ...“ „Das ist dein Problem, Sohn“, blaffte Takatori und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Du denkst zu viel. Dabei ist dein Bruder der deutlich Intelligentere von euch beiden.“ Masafumi, der sich bei diesen Worten aufrichtete, schrumpfte schon beim nächsten Satz wieder in sich zusammen. „Dafür hat er nicht einen Hauch von Geschäftssinn. Steckt seinen Kopf immer nur in Bücher und schnüffelt an Reagenzgläsern. Manchmal wünschte ich wirklich, ich hätte nur einen Sohn statt zwei solcher Hohlköpfe, die sich offensichtlich die Begabungen teilen, die ein richtiger Takatori haben sollte.“ Masafumi versuchte aufzubegehren. „Aber Vater, meine Firma ...“ „Die Firma, die ich dir überlassen habe“, unterbrach Takatori seinen Sohn erneut. „Korin Pharmaceuticals war mal ein gewinnbringendes Unternehmen. Seit du die Führung übernommen hast, schreibt dieser Zweig nur noch rote Zahlen. Du vergrößerst die Forschungsabteilung, kaufst neue Gebäudekomplexe, gibst das Geld – mein Geld! - mit vollen Händen aus. Und dann lässt du auch noch zu, dass irgendwelche dahergelaufenen Gestalten mein Eigentum niederbrennen. Aber damit ist jetzt Schluss. Wenn du nicht bis zum Jahresabschluss wieder Gewinne verzeichnest, ernenne ich jemandem zum Präsidenten, der es kann.“ Schuldig hatte Mühe, nur in sich hineinzugrinsen und nicht in lautes Lachen auszubrechen. Crawford warf ihm einen warnenden Blick zu. „Aber Vater“, versuchte Masafumi es noch einmal. „Meine Forschungen werden die Welt verändern. Bald werden wir in der Lage sein ...“ „Interessiert mich nicht!“ Takatoris Faust krachte auf den wuchtigen Schreibtisch und brachte ihn zum Erzittern. „Was mich interessiert, ist der Gewinn. Entweder das oder die Möglichkeit, meine Gegner aus dem Weg zu räumen. Aber dazu benötige ich euch nicht. Was ich benötige, sind Resultate.“ Für einen Augenblick war der Rauch der Zigarre das Einzige im Raum, das sich bewegte. Masafumi hatte die Hände zu Fäusten geballt und schien kurz davor, seinem Vater die Meinung zu sagen. Hirofumi bereute augenscheinlich die Entscheidung, bei diesem Treffen dabei gewesen zu sein, und die Sekretärin, oder was immer sie darstellte, starrte auf ihre Fußspitzen und versuchte, den Atem des Fremden in ihrem Nacken zu ignorieren. Sie schluckte. „Geht mir aus den Augen“, knurrte Takatori schließlich und winkte mit der freien Hand in Richtung Tür. „Aber Vater, ich ...“ Hirofumi machte einen erneuten Versuch, sich seinem Erzeuger gegenüber wertvoll zu zeigen, doch dieser hatte bereits wieder nach dem Telefonhörer gegriffen. Der hagere Mann senkte den Kopf. „Ich werde dir einen Bericht zukommen lassen.“ Mit diesen Worten drehte er sich herum und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen. Masafumi warf ihm einen hasserfüllten Blick nach, bevor er seiner Begleiterin winkte und ebenfalls ging. Schuldig tauschte einen Blick mit Crawford. Der nickte unmerklich. „Komm, Nagi, wir gehen“, sagte Schuldig und wandte sich ebenfalls dem Ausgang zu. Nagi zögerte sichtlich, bevor er seinem älteren Kollegen nach draußen folgte. Auf dem Gang hatte er Mühe, mit dem weitaus größeren Deutschen Schritt zu halten. „Wo gehen wir hin?“, wollte er wissen. „In mein Büro.“ Nagis Schritte wurden für einen Augenblick langsamer. „Du hast ein Büro?“ „Ja, furchtbar nicht wahr? Sie haben darauf bestanden, mir eins zu verpassen. 'Aber Schuldig-san' haben sie gesäuselt und mich nickend wie eine Schar Pinguine in Balzstimmung in einen winzigen Käfig gesperrt. Mit einem Schreibtisch!“ Nagi konnte das Problem daran nicht wirklich erkennen, folgte Schuldig aber trotzdem weiter. Als sie an dem Raum ankam, der mitnichten so winzig war, wie er zunächst vermutet hatte, deutete Schuldig auf den Computer. „Mach dich an die Arbeit. Ich brauche ein paar Infos zu dieser Sache mit dem zerstörten Labor.“ Nagis Mund verzog sich zu einem schmalen Lächeln. „Natürlich, Schuldig-san. Was möchtest du wissen?“ Schuldig warf sich in einen Sessel, legte die Beine über die Lehne und erwiderte Nagis Gesichtsausdruck. Das Lächeln in seinem Gesicht wirkte ungleich verschlagener. „Finde für mich heraus, wo die Tochter von Fujimiya geblieben ist.“ Kapitel 3: Der Mann mit der eisernen Maske ------------------------------------------ Es war erst halb acht, doch die Hitze kroch bereits wieder über das Pflaster und kündigte einen neuen, schwülwarmen Tag an. Die Straßen waren zu dieser Jahreszeit leerer als sonst. Nicht wenige der Bewohner Tokios suchten außerhalb der Stadt Zuflucht vor der unerbittlichen Wärme, die der Moloch aus Stahl, Glas und Beton während des Tages speicherte, und die auch in der Nacht, wenn die Augustsonne längst gesunken war, die Temperaturen noch deutlich jenseits der 20 Grad hielt. Einige besuchten Verwandte auf dem Land, ganze Familien fuhren in die Ferien. Zurück bleiben die, die sich eine solche Reise nicht leisten konnten. Oder diejenigen, die keine Familie hatten. „Soll ich das Fenster lieber wieder schließen?“ Ayas Stimme war fröhlich, sanft, fast so als erwarte er tatsächlich eine Antwort von der schmalen Gestalt, die regungslos auf dem Krankenhausbett hinter ihm lag. „Es wird wieder warm heute, aber ich dachte mir, ein wenig frische Luft würde dir guttun. Jetzt wird es wohl langsam Zeit, die Vorhänge wieder vorzuziehen, damit sich das Zimmer nicht so aufheizt. Ja, ich denke, ich werde es zumachen.“ Trotz seiner Ankündigung blieb er am Fenster stehen und starrte auf die Straße hinab, die Hand untätig am Fenstergriff. Es war heute ... schwerer als sonst. Wenn er hierherkam, um Aya - die richtige Aya - zu besuchen, gab er sich normalerweise Mühe, die dunkle Welt, die zu seiner zweiten Realität geworden war, draußen vor der Tür zu lassen. Aber als er heute das Zimmer betreten hatte, die Fenster verdunkelt, kein Licht, kein Lebenszeichen, nur undurchdringliche Stille, hatte es sich angefühlt, als würde er ein Grab betreten. Nicht ihres, sondern sein eigenes. Das Gefühl hatte sich nicht abschütteln lassen, auch nicht, nachdem er die Fenster geöffnet und den Sonnenschein hineingelassen hatte. Irgendetwas machte ihm heute das Atmen schwer. Er verzog das Gesicht und schloss energisch das Fenster. Als es gegen den Rahmen krachte, zuckte er zusammen. „Entschuldige“, murmelte er und zog langsam die Vorhänge zusammen, bis das Zimmer in ein warmes Halbdunkel getaucht war. Ganz so, wie er es manchmal getan hatte, wenn seine Mutter ihn gebeten hatte, Aya zu wecken. Er hatte gemault und die Augen verdreht, bevor er mit lauten Schritten zu ihrer Tür gestampft war. Drinnen jedoch hatte er zumeist die Jalousien nur so weit geöffnet, dass ein schmaler Lichtstreifen auf ihr Bett fiel, und hatte sie leicht an der Schulter gerüttelt, bis sie erwachte. Jetzt jedoch würde kein Rütteln dieser Welt seine Schwester zum Aufwachen bringen. Mit einem schweren Atemzug ließ er sich auf der Bettkante nieder. Sie wirkt friedlich, ein wenig verschwitzt. Er würde einer der Schwester sagen müssen, dass sie sie waschen sollten. Oder sollte er einen Lappen holen und wenigstens ihr Gesicht abtupfen? Es würde ihm das Gefühl geben, etwas Sinnvolles zu tun. Irgendetwas Sinnvolleres als nur an ihrem Bett zu sitzen und mit ihr zu reden, obwohl er sich nicht einmal sicher war, dass sie ihn überhaupt hörte. Die Ärzte hatten gesagt, dass sie körperlich vollkommen gesund sei. Die Prellungen, der verstauchte Knöchel, die Quetschung der Lunge, die Schürfwunden und Schnitte, all das war ausgeheilt. Sie atmete selbständig und musste lediglich auf künstlichem Wege mit Wasser und Nahrung versorgt werden. Alles sprach dafür, dass sich ihr Zustand bald verbesserte, aber er tat es nicht. In gewisser Weise standen auch die Mediziner vor einem Rätsel. „Sie ist wie das Gegenteil von einem Geist“, hatte einer der Männer im weißen Kittel zu ihm gesagt. „Ihr Körper ist hier, aber ihre Seele weilt nicht mehr unter uns.“ Aya hatte ihm die Faust in den Magen gerammt und ihm gesagt, wo er sich seine Weisheiten hinstecken könne. Birman war kurze Zeit später aufgetaucht und hatte ihm deswegen eine Predigt gehalten. Er hatte kaum hingehört. Sie hatte ihn einst ihren Hund genannt. Er hatte allerdings nicht vor, sich an der Leine herumführen zu lassen und Männchen zu machen. Sicherlich, sie hatten einen Teil ihrer Vereinbarung eingehalten. Das Krankenhaus, in dem sich seine Schwester jetzt befand, war weitaus besser eingerichtet als das, was er sich vorher hatte leisten können. Die Zimmer waren größer, die Flure breiter und heller, die medizinischen Einrichtungen moderner. Und er konnte hierherkommen, wann immer er wollte, und musste nicht mehr versuchen, mit drei schlecht bezahlten Jobs genug Geld für die horrenden Rechnungen zusammenzukratzen. Ja mehr noch, er hatte durch seinen Eintritt bei Weiß die Möglichkeit erhalten, für eine Zukunft zu sparen. Eine Zukunft für Aya. Eine Zukunft, die sie verdiente. Sein Weg jedoch glich mehr denn je einer Sackgasse. Er kam nicht an Takatori heran und wann immer er das Thema Manx oder Birman gegenüber zur Sprache brachte, wimmelten sie ihn ab. Er solle Geduld haben. Aber er hatte keine Geduld. Er wurde wahnsinnig! Die Hände zur Faust geballt, blickte er auf die Uhr. Er musste los; das Koneko würde bald öffnen. Momentan hatten sie besonders in den Morgenstunden relativ viel zu tun. Die Kunden besorgten die empfindlichen Blumen lieber, bevor es zu heiß wurde. Auch er war deswegen so früh zu einem Besuch hier aufgebrochen. Auf Ayas Nachttisch stand ein Gesteck, das er selbst gefertigt hatte. Yoji hatte ihm dieses Buch... Aya unterbrach seine Gedanken. Über den Playboy mit dem lässigen Getue und seiner ständigen Flirterei mit allem, was einen Rock anhatte, wollte er jetzt bestimmt nicht nachdenken. Genauso wenig wie über den immer freundlichen Omi oder gar Ken, der tagsüber mit festen Händen Blumen ausgab und mit den gleichen Händen nachts den Tod verteilte. Seit er Mitglied von Weiß war, hatte sich eine ganze Dimension aus Blut, Gewalt und Verbrechen aufgetan. Ein klebriger Sumpf, aus dem es kein Entkommen mehr gab, der ihn langsam zu verschlucken drohte. Aya schüttelte den Kopf und fühlte den langen, goldenen Ohrring, der gegen seinen Hals schlug. Seine Schwester hatte ihm das Paar zu seinem 18. Geburtstag geschenkt zusammen mit der Aufforderung, sich eine Freundin zu suchen und ihr den Schmuck zu schenken, damit aus ihm kein 'vertrockneter, alter Knacker' wurde. Inzwischen war er 19 und von der Welt, in der ihr Wunsch in Erfüllung gehen konnte, war nicht einmal mehr ein Staubkorn übrig. So hatte er bei einem seiner Besuche den Ohrring in Ayas Hand hinterlassen. Er hatte ihre Finger darum gekrümmt und ihr versprochen, dass alles gut werden würde. Es war eine Lüge gewesen, auch wenn er das nicht gewusst hatte. Es würde nicht gut werden; es tat einfach nur weh. „Ich muss jetzt gehen“, sagte er und stand auf. Es wurde Zeit, den Panzer wieder anzulegen, der ihn durch den Tag brachte. Der ihm half, nicht durchzudrehen und die Kunden im Laden anzuschreien, dass sie doch endlich verschwinden und ihn in Ruhe lassen sollten. Der ihn nicht immerzu daran denken ließ, dass das alles nur eine Lüge war. Der ihn funktionieren ließ. „Ich komme bald wieder.“ Die Worte blieben ungehört, unerwidert. Entschlossen wandte er sich von der stillen Gestalt ab und trat auf den Gang hinaus. Hier waren die Schwestern bereits damit beschäftigt, den anderen Patienten ihr Frühstück zu bringen. Der Geruch von Miso, Toast und gebratenem Ei vermischte sich und ließ Ayas Magen knurren. Er hatte noch nichts gefrühstückt, denn der Kühlschrank seiner kleinen Einzimmerwohnung war am Morgen nahezu leer gewesen. Er hatte vergessen einzukaufen. Das unvermittelte Treffen auf Takatoris Namen an ihrem Einsatzort vorige Woche, hatte ihn mehr aufgewühlt, als er zugeben wollte. Er wartete gerade auf die Ankunft des Aufzugs, als ihn ein eigenartiges Gefühl überkam. Es kribbelte, als würde jemand mit dem Finger über die feinen Härchen in seinem Nacken streichen. Alarmiert fuhr er herum, doch der Platz hinter ihm war leer. Eine Krankenschwester, die ihn nicht einmal besonders beachtete, kam aus einem der Zimmer und hakte etwas auf einer Liste ab, bevor sie den nächsten Raum betrat. Niemand befand sich in seiner unmittelbaren Nähe; es gab nicht einmal Kameras. Trotzdem blieb das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Als stünde ein unsichtbarer Fremder direkt an seiner Seite … Das Klingeln des ankommenden Aufzugs riss ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn zusammenzucken. Als sich die Türen öffneten, erwartete er fast, dahinter auf einen mysteriösen Unbekannten zu treffen, aber die Kabine war leer. Das einzige Gesicht, in das er blickte, was sein eigenes Spiegelbild an der Rückseite der Fahrstuhlwand. Immer noch das eigenartige Kribbeln im Nacken stieg er ein und drückte den Knopf für das Erdgeschoss. Langsam schlossen sich die Türen und auch die Hand, von der er erwartete, dass sie unvermittelt auftauchen und die Metallplatten daran hindern würde aneinanderzustoßen, blieb aus. Mit einem kleinen Ruck setzte sich der Aufzug in Bewegung und fuhr nach unten. Schuldig lehnte den Kopf an die Wand und lauschte dem Geräusch der sich schließenden Aufzugtüren. Dem leisen Schleifen folgte das Brummen, mit dem sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte. Erst dann ließ er langsam die Luft wieder entweichen. Die ältere Dame, die wie ein Kaninchen vor der Schlange aufrecht in ihrem Bett saß, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er legte nur den Zeigefinger auf die Lippen, zwinkerte ihr zu und verließ den Raum ebenso leise, wie er erschienen war. Ein wenig unentschlossen blieb er auf dem Gang stehen. Ursprünglich war er lediglich hergekommen, um Nagis Angaben zu überprüfen. Der kleine Hacker hatte ihm mit einigen Mühen endlich die Adresse eines Krankenhauses besorgen können. Die Tatsache, dass die Tochter des toten Firmenchefs so schwer zu finden war, bestätigte Schuldigs Vermutung, dass mehr hinter der Sache steckte als nur ein kleiner, persönlicher Rachefeldzug eines verzweifelten Jungen mit einem Schwert. Irgendjemand hielt hinter den Kulissen die Fäden in der Hand. Jemand mit Einfluss und Geld. Um denjenigen zu finden, hatte Schuldig vorgehabt, im Krankenhaus Stellung zu beziehen, bis sich Fujimiya Junior zeigte. Mit der Klinke bereits in der Hand hatte er plötzlich bemerkt, dass das Krankenzimmer der Kleinen nicht ganz so leer war, wie er angenommen hatte. Er hatte kurz gewartet und seine Geduld war mit dem Anblick eines bekannten, roten Haarschopfs belohnt worden. Die perfekte Gelegenheit um Fujimiya und seine Komplizen ausfindig zu machen. Womit Schuldig allerdings nicht gerechnet hatte, war die Tatsache, dass der Junge ihn bemerken könnte. Es hätte nicht passieren dürfen, war eigentlich unmöglich, und doch hatte er wie schon damals am Tag der Explosion auf Schuldigs Versuch, seine Gedanken zu lesen, reagiert. Der Telepath hatte sich daraufhin ruhig verhalten und war nicht weiter in ihn gedrungen, aber die Reaktion war trotzdem sehr ungewöhnlich. Schuldig verzog den Mund zu einem überheblichen Grinsen. „Na schön, dann eben auf die altmodische Art und Weise. Spielen wir ein bisschen Hänsel und Gretel. Du läufst weg und ich folge deiner Spur aus Brotkrumen. Mal sehen, wohin die Reise geht.“ Schuldig ging dem Jungen in einigem Abstand nach. Dieser hatte es inzwischen ziemlich eilig und drängte sich teilweise rücksichtslos durch die Menge. In der U-Bahn blieb er stehen und starrte die ganze Zeit auf die vorbeirauschenden Tunnelwände, während Schuldig ihn aus einem anderen Wagen heraus beobachtete. Dass er dabei selbst von nicht wenigen Fahrgästen angestarrt wurde, fiel dem Telepathen erst auf, als er den Blick mit einer jungen Frau kreuzte, die immer wieder unter dunklen Wimpern heraus zu ihm aufsah. Natürlich war Schuldig es gewohnt, Aufmerksamkeit zu erregen, aber heute kam ihm diese eher ungelegen. Er musste verhindern, dass Fujimiya ihn bemerkte. „Was glotzt du so?“, fragte er unfreundlich auf Deutsch. „Noch nie nen Touristen gesehen?“ Die Frau senkte schnell den Kopf und nestelte an ihrem Rock herum, bis sie am nächsten Bahnhof fluchtartig den Zug verließ. Er nahm noch wahr, wie sie darüber nachdachte, dass sie so zu spät zu ihrer Verabredung kommen und ihr Freund darüber sicherlich ungehalten reagieren würde, aber das hätte ihm nicht gleichgültiger sein können. Ihn interessierte nur, wo der Junge im nächsten Waggon hinwollte. Als sie die U-Bahn endlich verließen, waren sie in einem gemischten Wohn- und Geschäftsviertel angekommen, dessen Tempo gemächlicher schien als das der überfüllten Innenstadt mit ihren Menschenmassen und Leuchtreklamen. Zwischen drei- bis fünfstöckigen Häusern aus rotem Backstein, verlief eine zweispurige Straße, deren Fahrbahn von einem Rohrzaun und einzelnen Bäumen gesäumt wurde. Ein breiter Gehweg bot Platz für die Fußgänger und die Auslagen der zahlreichen Geschäfte, die sich in mit eisernen Toren verschlossenen Nischen im Erdgeschoss der meisten Gebäude befand. An einer Ecke befand sich ein kleines Hotel, das sauber und bezahlbar wirkte. Die ersten Geschäfte hatten bereits ihre Rollläden hochgezogen und räumten Werbetafeln und Waren auf den Bürgersteig. Eines dieser Geschäfte steuerte Schuldigs Zielperson jetzt an. „Ein Blumenladen?“ Schuldig zog die Augenbrauen hoch. Gleich darauf jedoch erschien eine zweite Gestalt vor dem Laden, die Schuldig ebenfalls zu erkennen glaubte. Er hatte sie bereits auf dem Foto gesehen, das Nagi der Akte beigelegt hatte. Der Mann war groß, schlank und begrüßte seinen Kollegen mit einem lässigen Winken. Fujimiya erwiderte den Gruß nicht und verschwand im Inneren des Geschäfts. Der andere sah ihm kopfschüttelnd nach und rief ihm etwas hinterher, das Schuldig nicht verstand. Als er keine Antwort erhielt, zündete er sich eine Zigarette an. Mit selbstzufriedenem Gesichtsausdruck stand er da und ließ den Rauch in der warmen Morgenluft aufsteigen. Er ließ eine Sonnenbrille aus den Haaren nach vorne rutschen und machte sich daran, den Gehweg vor dem Geschäft mit einem Wasserschlauch zu säubern. Nachdenklich verfolgte Schuldig das Geschehen. „Mhm, es scheint, als hätte ich den Schlupfwinkel des Jungen gefunden. Wie heißt der Laden?“ Schuldig kniff die Augen zusammen und las den Aufsteller neben der Tür. „Koneko no sumu ie? Das Haus, in dem Kätzchen wohnen? Na das nenne ich mal einen interessanten Namen. Die Frauen stehen vermutlich Schlange, wenn ich mir die Kater so ansehe, die hier hausen. Aber was treiben die da drinnen?“ Er verbrachte eine ganze Zeit damit, den Laden zu beobachten. Von einem leicht versteckten Platz in einem Café aus, sah er zu, wie auch die übrigens Läden ihre Tore öffneten und das Tagesgeschäft begann. Immer mehr Leute drängten sich bald auf dem Gehweg, sodass er bald Mühe hatte, von seinem Sitzplatz aus noch etwas von dem zu erkennen, was auf der anderen Straßenseite vor sich ging. Das, was er sah, erschien ihm jedoch nahezu unglaublich. „Es ist tatsächlich ein Blumenladen“, sagte er zu sich selbst, während er an dem Strohalm seines mittlerweile lauwarmes Getränks herumkaute. „Die führen hier allen Ernstes einen Blumenladen. Wenn es nicht so lächerlich wäre, könnte man es glatt für genial halten. Niemand würde für möglich halten, dass einer von den Vieren da drüben irgendetwas anderes ist als ein einfacher, freundlicher Blumenhändler. Ja mehr noch. Bis auf Fujimiya scheinen die drei ziemlich gut darin zu sein, diese Tatsache sogar vor sich selbst zu verheimlichen. Aus keinem von ihnen ist auch nur eine vernünftige Information herauszuholen. Eigentlich ist es ungewöhnlich, dass ich überhaupt so viel von ihnen empfange. Es ist, als würden sie das Ganze quasi projizieren. Ich frage mich, woran das liegt.“ Schuldig beschloss, dass er genug gesehen hatte. Er warf dem Ladenbesitzer ein paar Scheine auf den Tisch und verschwand, ohne den sich eifrig verbeugenden Mann noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Seine Gedanken kreisten weiter um die vier ungewöhnlichen Blumenhändler. Wie es schien, konnte er die Informationen, die er wollte, nicht auf die sonst übliche Art und Weise bekommen. Er würde auf andere Tricks zurückgreifen müssen, um die mysteriösen Attentäter und nach Möglichkeit auch ihren Auftraggeber in die Finger zu bekommen. Außerdem musste er mehr über Fujimiya herausfinden. An dem Jungen war etwas eigenartig und Schuldig war entschlossen herauszufinden, was das war. Das erforderte Fingerspitzengefühl und vor allem aber etwas, das Schuldig gleich in die Tat umsetzen würde, wenn er zu Hause ankam. Kurzentschlossen zog er sein Handy aus der Tasche und wählte noch im Gehen eine Nummer. Kapitel 4: Sprachbarriere ------------------------- Mit Argusaugen beobachtete Ken jede Bewegung des Technikers, der an der Klimaanlage herumwerkelte und dabei immer wieder unmutige Laute von sich gab. „Können Sie es reparieren?“, wagte er endlich zu fragen, als seine Ungeduld die Oberhand gewann. „Vermutlich“, war die wenig befriedigende Antwort. „Es kann aber noch ein wenig dauern. Vielleicht möchten Sie sich solange eine andere Beschäftigung suchen?“ Ken schnaubte und wandte sich den restlichen drei Mitgliedern von Weiß zu, die gerade die Auslagen nach dem ersten Kundenansturm am Morgen wieder auffüllten. „Er kriegt's nicht hin.“ „Das habe ich nicht gesagt!“, tönte der Mann aus dem Hintergrund, aber Ken zog es vor, ihn zu ignorieren. Ihm ging die andauernde Wärme ganz gehörig auf den Zeiger. Vor allem, da er den lieben, langen Tag hier im Laden eingesperrt war. Es war zu warm, zu voll und überhaupt. „Wenn du möchtest, können wir tauschen“, bot Yoji an. Er war gerade dabei, den kleinen Wagen des Geschäfts mit den heutigen Lieferungen zu beladen. „Dann halte ich hier die Stellung und du ...“ „Kannst du vergessen“, lehnte Ken eilig ab. „Hier habe ich wenigstens die Chance, dass die Klimaanlage demnächst irgendwann anspringt. In dem Ding da ist ja nicht mal eine. Also danke, aber nein, danke. Heute musst du mal in der Bullenhitze herumfahren. Ich war schon die letzten drei Tage dran.“ Der Blick, den Yoji ihm über die Sonnenbrille hinweg zuwarf, hätte einen Eisberg schmelzen können, aber Ken gab sich unbeeindruckt. Er hatte inzwischen eine gewisse Hitzeresistenz entwickelt. Ohne Yoji noch weiter zu beachten, schnappte er sich einen Schlauch und begann, die Pflanzen, die Aya gerade aus dem Lager gebracht hatte, zu wässern. Seufzend schob Yoji die Sonnenbrille nach oben und sah sich nach einem neuen Opfer um. Da Aya ihm den Rücken zudrehte, weil er eine der Vitrinen abwischte, blieb sein Blick an Omi hängen. Der war gerade dabei, neue Sträuße für die geplünderten Vasen zusammenzustellen. „Omi, mein Freund ...“ Er kam nicht weiter, da Omi den Zeigefinger hob, ohne ihn anzusehen. „Kommt nicht in die Tüte, Yoji. Ich war die zwei Tage vor Ken dran. Und die davor Aya. Wenn du also nicht zufällig noch einen weiteren Angestellten unter dem Ladentisch versteckt hast, bist du an der Reihe, mein Lieber. Es wird dir schon kein Löckchen dabei abbrechen.“ Yoji schob die Augenbrauen nach oben, bevor sich ein Schmunzeln über sein Gesicht zog. Er zog Omi an sich und wuschelte ihm ein wenig zu grob durch die Haare. „Sieh an, sieh an. Die Hitze macht selbst aus dem Chibi einen Giftzwerg.“ Omi entwand sich seinem Griff. „Nenn mich nicht Zwerg!“ „Bist aber einer!“ „Gar nicht, du Bohnenstange!“ „Wie ich sehe, ist hier alles in bester Ordnung.“ Die weibliche Stimme brachte den Streit sofort zum Erliegen. „Manx!“ Omi wischte sich die Hände an der Schürze ab und wollte Persers Sekretärin in Empfang nehmen, aber Yoji war schneller. Wie eine große Raubkatze glitt er neben die rothaarige Frau und legte ihr den Arm um die Schultern, die ihr kurzes Sommerkleid großzügig freiließ. „Manx, du bist meine Rettung. Bitte sag mir, dass das in deinen Händen das ist, was ich denke.“ Die Frau schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. “Tut mir leid, Yoji, aber heute bin ich nur wegen Omi hier.“ Der Playboy griff sich ans Herz. „Ich hoffe du weißt, wie sehr mich das schmerzt.“ Omi verdrehte die Augen. „Mach dich endlich auf den Weg, Yoji. Die Blumen werden sonst noch welk.“ Er wandte sich an Manx. „Was kann ich für dich tun?“ Manx sah sich im Laden um und bedachte den Mann an der Klimaanlage mit einem prüfenden Blick, bevor sie Omi einen Umschlag reichte. „Ich möchte, dass du dir das mal ansiehst. Ist wahrscheinlich keine große Sache. Lediglich ein kleines Sicherheitsproblem in der Datenbank, aber mir wäre wohler, wenn du es mal überprüfen könntest. Die Details findest du hier drin.“ Omi nahm den Umschlag entgegen. „Kein Problem. Ich kümmere mich darum.“ Manx nickte ihm lächelnd zu. „Danke Omi. Meine Herren.“ Perser Sekretärin winkte noch einmal lässig in die Runde, setzte sich ihre dunkle Sonnenbrille wieder auf die Nase und stöckelte aus dem Laden. Ken sah ihr nach und war insgeheim froh, dass sie nur ein wenig Recherche benötigte. Seine Motivation, sich nach den anstrengenden Tagen auch noch die Nächte bei einer Mission um die Ohren zu schlagen, ging gegen Null. Um nicht nutzlos in der Gegend herumzustehen, begann Ken, Omi die Blumen für die Sträuße vorzubereiten. Er entfernte Dornen und überschüssige Blätter, sortierte schon schlappe Exemplare aus und legte die fertigen griffbereit auf den Tisch. Als er seinen Blick zu Omi schweifen ließ, band der gerade die vierte Gerbera in einen kleinen Handstrauß. „Hey, Omi, was soll das werden?“ Der andere zuckte zusammen und sah schuldbewusst auf sein Werk. Er grinste entschuldigend und legte die überschüssige Blüte zur Seite. „Sorry, ich habe nicht aufgepasst.“ „Bist wohl mit deinen Gedanken woanders?“, wollte Ken wissen und reichte seinem Freund stattdessen etwas Füllgrün. „Mhm ...“ Omi arbeitete weiter an dem Strauß, aber Ken konnte sehen, dass sein Blick immer wieder zu dem braunen Umschlag wanderte, den er unter den Ladentisch gelegt hatte. Ken konnte es ihm nicht verdenken. Die Aussicht, sich im schattigen Keller des Koneko gemütlich vor den Rechner zu setzen, erschien selbst ihm attraktiver, als hier weiter im heißen Blumenladen herumzustehen. Und er wusste, dass es für Omi noch viel schlimmer war. Der jüngste Weiß war völlig vernarrt in seinen Computer und wenn es dort ein Problem gab, war das wie ein Mückenstich für Omi. Er konnte es einfach nicht ignorieren. Wie oft hatte Ken ihn mit dem Kopf auf der Tastatur gefunden, wenn er mal wieder bis tief in die Nacht auf den Bildschirm gestarrt hatte, um irgendein Problem zu lösen. Er wusste, dass genau das heute auch wieder passieren würde, wenn er nichts dagegen unternahm. Kurzentschlossen nahm Ken Omi die Blumen aus der Hand und schubste ihn vom Arbeitstisch weg. „Los, verzieh dich. Aya und ich kommen hier schon alleine klar.“ Omi sah ihn ungläubig an. „Im Ernst?“ Nun war es Ken, der mit den Augen rollte. „Na klar. Bis zum Mittag ist hier doch ohnehin nicht viel los, da müssen wir nicht zu dritt hier herumsitzen. Mach dich lieber an die Arbeit. Wenn was ist, können wir dich ja immer noch rufen.“ Omis Gesicht glühte förmlich auf vor Begeisterung. „Klasse, Ken. Also dann, bis später.“ Er war aus der Tür, bevor Ken seinen Gruß erwidern konnte. Kopfschüttelnd machte Ken sich daran, den angefangenen Strauß zu Ende zu binden. „Ich bin fertig.“ Der Techniker hielt ihm einen Zettel unter die Nase. „Da unten bitte unterschreiben. Die Rechnung kommt dann per Post.“ Ken biss sich auf die Zunge, um nicht zu erwidern, dass das vermutlich schneller ginge, als die Reparatur. Man sah sich ja bekanntlich immer zweimal im Leben und wenn die Anlage diesen Sommer nochmal ausfiel ... Ken wollte lieber nicht daran denken. Die Tür hatte sich kaum hinter dem Mann geschlossen, da stand er bereits mit ausgebreiteten Armen unter dem Luftauslass. „Ah, eine Wohltat. Jetzt kann die Sonne da draußen scheinen, wie sie will. Ich bleibe hier, bis mir Eiszapfen an der Nase hängen.“ Gerade als er überlegte, ob er sich wohl einen Stuhl in den kühlen Luftstrom stellen sollte, öffnete sich die Ladentür. Eine ihrer Stammkundinnen kam herein. „Ich übernehme das“, verkündete Ayas tiefe Stimme und Ken ließ ihn widerstandslos gewähren. Alles, wenn er hier nur nicht weggehen musste. Aya nahm diese ganze Blumengeschichte ohnehin viel ernster als er. Seit er im Koneko angefangen hatte, war er sehr gewissenhaft, ja geradezu verbissen dabei, wenn es um seine Arbeit hier im Blumenladen ging. Außerdem konnte Ken so noch weiter hier im … Wieder öffnete sich die Ladentür. Seufzend drehte sich Ken herum und hatte bereits eine Begrüßung auf den Lippen, als er in der Bewegung stockte. An der Ladentür stand ein Ausländer. Ken ließ seinen Blick über den Fremdling schweifen. Er trug ein wenig abgetretene Sneaker ohne Socken, eine halblange, dunkle Hose und ein knallgelbes, bedrucktes T-Shirt. Auf seinem Kopf saß eine Baseballkappe, aus der hinten ein kupferroter Pferdeschwanz herausragte, und auf der linken Schulter hing ein khakifarbener Rucksack. Als der junge Mann Ken sah, lächelte er und kam auf ihn zu. Kens Herz begann schneller zu klopfen, sein Magen zog sich zusammen und es rauschte in seinen Ohren. Schweiß trat auf seine Stirn. Er wusste genau, was jetzt kam. Ab und an verirrten sich Touristen hierher und, als wenn sie ein Radar dafür hätten, dass Ken keine Fremdsprachen konnte, kamen sie grundsätzlich zu ihm. Yoji behauptete immer, er sähe halt sehr vertrauenswürdig aus, aber Ken glaubte fest daran, dass ihm irgendwann mal jemand einen bösen Fluch angehängt hatte. Einen, der ihn dazu zwang, peinliche Gespräche mit Leuten zu führen, die er nicht verstand. Er schluckte trocken und versuchte, das pelzige Ding, in das sich seine Zunge verwandelt hatte, irgendwie in Bewegung zu setzen. Es wurde ihm bewusst, dass der Fremde ihn bereits mehrfach etwas gefragt hatte. Jetzt legte der junge Mann den Kopf schief und es kam die Frage, auf die Ken schon die ganze Zeit gewartet hatte. Die er gefürchtet hatte. „Do you speak English?“ Ken gab sich innerlich einen Tritt und bekam seinen Körper wieder unter Kontrolle. Er öffnete den Mund und gab den einzigen Satz von sich, der ihn in dieser Situation noch retten konnte. „AYA! Dein Typ wird verlangt.“ Als Kens Schrei durch den Laden gellte, wickelte Aya gerade einen Strauß Nelken für seine Kundin in Papier. Er runzelte die Stirn, murmelte etwas in Richtung der Frau, das als Entschuldigung durchgehen mochte, und kassierte sie ab. Erst dann drehte er sich herum und … blickte in ein Paar strahlendblauer Augen. Für einen Augenblick schien die Welt stillzustehen. Aya vergaß, was er hatte sagen wollen. Stattdessen blieb ihm der Mund offenstehen und er starrte den Fremden vor sich einfach nur an. Da war etwas, ein Gefühl, eine unbestimmte Regung, die er nicht einzuordnen wusste. Wie eine Gänsehaut, die über den ganzen Körper lief. Der junge Mann sah ihn mit schiefgelegtem Kopf an. „English?“, fragte er hoffnungsvoll. „Ähm ja, ich verstehe Sie“, antwortete Aya in der gleichen Sprache und sandte Ken einen bösen Blick, damit dieser endlich die Klimaanlage runterstellte. Er fror und schwitzte zur gleichen Zeit. Der Mann war sichtlich erleichtert. „Oh wundervoll! Ich glaube, mein Japanisch ist doch noch nicht so gut, wie ich dachte. Ihr Kollege hat mich anscheinend nicht verstanden.“ Aya schickte Ken einen zweiten, finsteren Blick. Wahrscheinlich hatte der in seiner Panikattacke nicht mal gemerkt, dass der Kunde mit ihm Japanisch gesprochen hatte. Ken zuckte mit den Schultern, warf noch einen zweifelnden Blick auf den Kunden und machte sich dann an einer der Vitrinen zu schaffen. Kopfschüttelnd wandte Aya sich ab. Der junge Mann vor ihm lächelte immer noch ein wenig schief. Er hatte Aya nicht aus den Augen gelassen und zögerte jetzt sichtlich weiterzusprechen. Anscheinend waren ihm die Schwingungen im Laden nicht entgangen. Aya riss sich zusammen. „Womit kann ich Ihnen helfen?“ „Nun … ich … möchte einige Blumen kaufen. Leider habe ich keine Ahnung, was ich nehmen soll.“ „Zu welchem Anlass sollen die Blumen denn sein?“ Aya klammerte sich an den professionellen Verkaufston wie an eine Rettungsleine. Irgendetwas an diesem Mann machte ihn nervös, aber er konnte den Finger nicht darauf legen, was es war. „Ich brauche sie für die Frau meines Chefs. Oder besser für die Frau des Mannes, von dem ich hoffe, dass er mein Chef wird. Äh ... versteht man das?“ Der andere lachte kurz auf. Es war ein angenehmer, perlender Laut, der einen erneuten Schauer über Ayas Rücken schickte. Er griff nach der Kante des Ladentischs. „Ein Bewerbungsgespräch also?“ „Ja. Und ein Abendessen. Mein hoffentlich zukünftiger Boss hat mich zu sich nach Hause eingeladen. Ich soll seinem Sohn Sprachunterricht geben. Deutsch. Ich komme von dort.“ 'Das erklärt die helle Augenfarbe', dachte Aya bei sich. Er musste wirklich aufhören, den Kunden anzustarren. Vielleicht sah er lieber auf dessen Hände. Der Mann hatte lange, schlanke Finger, gepflegte Nägel, weiche Haut. Hände von jemandem, der an einem Schreibtisch arbeitete. Obwohl er am Handgelenk eine kleine Narbe hatte. Vielleicht von einem Unfall? Aya bemerkte, dass der Andere ihn fragend ansah. Anscheinend hatte er etwas gesagt, aber Aya hatte es nicht gehört. Er schüttelte leicht den Kopf. „Ich … Entschuldigung, was haben Sie gesagt?“ „Ich sagte, ich möchte auf keinen Fall Blumen wie die Frau vor mir. Keine Ahnung, wie die auf Englisch heißen.“ Aya wusste es auch nicht. Und wenn er es einmal gewusst hatte, war ihm das Wort in diesem Moment entfallen. Er war gerade sehr froh darüber, dass er noch wusste, wie man atmet. „Auf Japanisch heißen sie Kānēshon.“ Der junge Mann wiederholte das Wort gehorsam. Er lachte wieder. „Nun, jetzt weiß ich, was ich nicht kaufen möchte. Kānēshon lassen mich immer an Beerdigungen denken. Aber welche Blumen könnte ich denn nehmen? Ich hatte an Tulpen gedacht. Gelbe vielleicht?“ Aya schüttelte entschieden den Kopf. “Nur, wenn Sie ihren zukünftigen Chef gleich am ersten Abend kompromittieren wollen. Gelbe Tulpen stehen in Japan für eine einseitige Liebe. Ich denke, das wäre kein passendes Geschenk für seine Frau.“ Der junge Mann wurde ein wenig rot und hob abwehrend die Hände. „Um Himmels willen, nein! Er ist zwar Amerikaner, aber ich möchte doch lieber auf Nummer sicher gehen. Was wäre denn ungefährlich? Einen Kaktus sollte ich vermutlich lieber auch nicht mitbringen, oder? Der hat doch wahrscheinlich ebenfalls irgendeine Bedeutung. Ich-kann-dich-nicht-leiden oder etwas in der Art.“ Aya fühle, wie nun sein Gesicht warm wurde. Er öffnete den Mund, konnte es aber nicht über sich bringen, dem anderen zu erklären, dass es sich bei Kakteen um ein Symbol für körperliches Begehren handelte. Ein Schmunzeln antwortete ihm. „Ich sehe an Ihrer Reaktion, dass das ebenfalls gänzlich in die falsche Richtung gehen würde. Wahrscheinlich hätte ich mich doch etwas besser vorbereiten sollen. Schlimm genug, dass ich keine saubere Kleidung mehr im Gepäck habe. Ich muss wirklich unbedingt in eine Wäscherei, sonst muss ich morgen Abend nackt erscheinen. Ich fürchte, da helfen dann auch keine Blumen mehr.“ Der Mann grinste jetzt und zwinkerte Aya zu. Unwillkürlich musste Aya auch lachen. Er griff nach einigen Zinnien. „Nehmen Sie diese hier. Zinnien stehen für Loyalität. Ihr zukünftiger Arbeitgeber wird das zu schätzen wissen.“ Aya wollte die einzelnen Stängel schon in Papier einschlagen, als er es sich anders überlegte. Er nahm einige Blättern und Gräsern und drapierte diese so um die Blüten, dass diese besser zur Geltung kamen und sich nicht gegenseitig erdrückten. Er kürzte alle Stiele auf die gleiche Länge und wand dann ein Sisalband darum. Während er das tat, hatte er das Gefühl, sich selbst dabei zuzusehen. Wann genau hatte er angefangen, wie ein Blumenhändler zu denken? Normalerweise erforderte das einige Anstrengung, aber heute? Heute fand er Spaß daran, für diesen Wildfremden einen Blumenstrauß zusammenzustellen. Ein kurzer Seitenblick verriet ihm, dass der junge Mann jede seiner Bewegungen beobachtete. Aya überlegte. Sollte er dem Mann sagen, dass Blumen im Grunde gar kein so gutes Gastgeschenk waren? Es gab hier in Japan ein Sprichwort: „Lieber Klöße als Blumen.“ Seine Landleute schätzten praktische Geschenke wie beispielsweise Lebensmittel. Blumen mochten in anderen Kulturen ein geeignetes Gastgeschenk für einen ersten Besuch sein, aber hier würde er damit vermutlich nicht auf viel Gegenliebe stoßen. Andererseits war er nicht von hier. Man würde ihm diesen Irrtum sicher verzeihen. Und die Frau eines Amerikaners würde wohl kaum annehmen, dass der junge Mann an ihrer Haustür ihr den Tod an den Hals wünschte, nur weil er mit ein paar Blumen in der Hand auftauchte. Im Grunde ging ihn das ja auch gar nichts an. Der Mann war ein Kunde, nichts weiter. Er atmete hörbar aus. „Hier, der Strauß ist fertig. Soll ich ihn einwickeln?“ Auf das Nicken seines Gegenübers hin verpackte er die Blumen sorgfältig und reichte sie zusammen mit der Nennung des Kaufpreises über den Ladentisch. Der junge Mann bezahlte und verbeugte sich leicht. „Vielen Dank für Ihre Mühen“, sagte er auf Japanisch. Er lächelte Aya noch einmal an und schickte sich an, den Laden zu verlassen. An der Tür angekommen, drehte er sich noch einmal herum. Ihre Blicke trafen sich über das Meer an Blumen hinweg und bevor Aya es verhindern konnte, hatte sein Mund sich selbstständig gemacht. „Süßigkeiten“, rief er. „Sie sollten einige Süßigkeiten besorgen. Für Ihren Schüler.“ Der Mann stutzte kurz, dann zog sich ein warmes Lächeln über sein Gesicht. „Das werde ich tun. Vielen Dank für den Tipp.“ Damit drehte er sich endgültig herum und war verschwunden. Die Ladentür schloss sich und Aya hatte plötzlich das Gefühl, wieder freier atmen zu können. Er wollte gerade die Spuren seiner Arbeit beseitigen, als sein Blick auf Ken fiel. Sein Kollege sah ihn aus großen, runden Augen und mit heruntergeklapptem Kiefer an. Aya runzelte die Stirn. „Was?“ Ken sah aus, als wäre er nicht ganz bei Trost. Aber noch bevor er jedoch auf Ayas Frage antworten konnte, klingelte die Glocke an der Ladentür erneut und Yoji platzte herein. „Uff, das ist wirklich eine unerträgliche Hitze da draußen. Zum Glück …“ Er stockte, als er Aya und Ken gewahr wurde, die sich wortlos gegenüberstanden. „Ok, Leute, was ist hier los? Mein Detektiv-Spürsinn sagt mir, dass hier irgendetwas in der Luft liegt. Ich kann es förmlich riechen. Ihr habt doch nicht vor, wieder aufeinander loszugehen?“ Aya wollte gerade antworten, als Ken ihm zuvorkam. „Aya hat einen Kunden angelächelt“, platzte er heraus. „Aya! Gelächelt!“ Yojis Augenbrauen näherten sich seinem Haaransatz. „Das ist in der Tat ein sehr ungewöhnlicher Fall. Sollen wir da irgendwen anrufen? Die Feuerwehr? Luftwaffe vielleicht? Mobile Streitkräfte? Irgendeine Naturkatastrophe scheint nämlich bevorzustehen, ansonsten kann ich mir das nicht erklären.“ Er setzte ein breites Grinsen auf und steckte die Daumen in den Bund seiner tief sitzenden Hose. Aya folgte der Geste mit den Augen und musste feststellen, dass Yoji es mal wieder mit der Länge seines Shirts untertrieben hatte. Seine Augen streiften jede Menge nackte Haut. Aus irgendeinem Grund ließ ihn das plötzlich erröten. Er drehte sich schnell um, als Ken in wieherndes Gelächter ausbrach und Yojis Grinsen noch mehr in die Breite wuchs. „Ihr habt sie doch nicht alle“, schimpfte er vor sich hin, während er etwas suchte, mit dem er seine Hände beschäftigen konnte. Ein Haufen alters Rechnungen musste wirklich ganz dringend wegsortiert werden, befand er. Eilig raffte er sie an sich und floh förmlich in Richtung des kleinen Büros, das an den Verkaufsraum angrenzte. Dass er dabei schon wieder lächelte, fiel ihm gar nicht auf. Kapitel 5: Tischgespräche ------------------------- Der Geruch von feuchter Erde und Blumen lag in der Luft und die Blätter eines Farns wedelten gleichmäßig im Luftzug der Klimaanlage. Kein Kunde hatte in den letzten zwanzig Minuten das Koneko betreten und es hätte eine friedliche Szene sein können, wenn nicht die durchdringende Stimme der Nachrichtensprecherin aus dem kleinen, altersschwachen Fernseher in der Ecke gewesen wäre. Mit geradezu reißerischer Wichtigkeit erklärte sie: „Die bekannte Wirtschaftsgröße Reiji Takatori wurde heute durch einstimmige Wahl zum Parteivorsitzenden ernannt. Er tritt dabei die Nachfolge des kürzlich überraschend verstorbenen Shigeru Hatoyama an. Bei seiner Antrittsrede erklärte er, dass er der Politik in Tokio und in ganz Japan eine neue Richtung geben wolle. Man müsse Stärke zeigen und den Fortschritt weiter vorantreiben, um eine stabile Wirtschaftslage zu sichern. Die Familie Takatori blickt auf eine lange Tradition von ...“ „Können wir das mal abschalten?“ Ayas Ton war unüberhörbar gereizt. Nicht nur, dass Takatori seine gierigen Hände jetzt auch nach politischer Macht ausstreckte, nein, das Ikebana vor ihm auf dem Tisch ließ jegliche Eleganz vermissen. Es wirkte plump und unausgegoren. Am liebsten hätte er alles hingeworfen. Er musste wirklich ganz dringend 'den Kopf freikriegen' wie Ken es nannte, wenn er sich manchmal auf sein Motorrad schwang und einfach durch die Landschaft fuhr. An nichts denken, außer an die Bewegung, die Geschwindigkeit, den Rausch. Aya zog in Erwägung, sich in den Trainingsraum zurückzuziehen, aber er wusste aus leidiger Erfahrung, dass er dort nicht lange allein bleiben würde. Zumal Omi immer noch im Keller an dieser Computersache arbeitete. Irgendwer würde schon nach kurzer Zeit zu ihm kommen und mit ihm reden wollen. Aya wollte aber nicht reden. Nicht über Weiß, nicht über Takatori und erst recht nicht über den geheimnisvollen Kunden, der ihm seit drei Tagen nicht aus dem Kopf ging. Was allerdings nicht nur an dem Kunden selbst, sondern vielmehr an seinen geschwätzigen Kollegen lag. Yoji und Ken hatten sogar angefangen, Witze zu erzählen, nur um ihm ein Lächeln oder gar Lachen abzuringen. Er musste zugeben, dass einige davon wirklich komisch waren, aber das Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen, machte ihn verrückt. Selbst in seinen Träumen schlug er sich damit herum, wenngleich diese ungleich düsterer waren als die Beschäftigung im Blumenladen. Trotzdem erdrückte ihn das alles heute. Aya warf die Schere beiseite, mit der er einen störrischen Ast hatte bändigen wollen, und band seine Schürze ab. „Ich gehe Mittag essen. Allein!“, verkündete er, bevor auch nur einer der anderen auf die Idee kommen konnte, ihm seine Gesellschaft aufzudrängen. Die Tatsache ignorierend, dass es erst halb zwölf war, verließ er den Laden und ging eilig die Straße hinunter. Eigentlich war er nicht hungrig, aber die sich bietenden Alternativen waren nicht besonders attraktiv. Er erwog kurz, sich in die U-Bahn zu setzen und zu Aya zu fahren, verwarf diesen Gedanken dann aber wieder. Er wollte den anderen nicht noch mehr Angriffsfläche liefern, indem er unnötig lang der Arbeit fernblieb. So steuerte er kurzentschlossen das nächste Restaurant an und ließ sich dort an einen Tisch bringen. Er vergrub den Kopf in der Speisekarte und sah auf die Bilder, ohne wirklich etwas zu erkennen, während er seine Gedanken wandern ließ. „Entschuldigung, ist hier noch frei?“ Aya schreckte aus dem Studium der angebotenen Gerichte hoch. Die Stimme, die ihn da auf Englisch angesprochen hatte, kam ihm vage bekannt vor. Er blickte auf. Vor ihm stand der junge Mann aus dem Blumenladen. Aya hätte ihn fast nicht erkannt, denn er trug heute lange Stoffhosen und ein kurzärmeliges, weißes Hemd. Seine Haare fielen lose über die Schultern und hingen ihm ein wenig in die Augen. Er grinste Aya an und wedelte mit der Speisekarte in seiner Hand. „Ich hoffe, ich störe nicht, aber ...“, er sah sich nach allen Seiten um, rutschte dann in die Bank gegenüber und senkte die Stimme, „ich könnte wirklich Hilfe brauchen. Ich sterbe vor Hunger, aber ich traue mich nicht so wirklich, was zu bestellen.“ Sein Grinsen wurde ein wenig schief. „Hilfe?“ Aya öffnete den Mund, obwohl er nicht so recht wusste, was er sagen sollte. Er hatte eigentlich allein sein wollen, um nachzudenken. Aber jetzt, wo ihm der junge Mann gegenübersaß und ihn um seine Hilfe bat, fühlte er sich nicht in der Lage, ihm eine Abfuhr zu erteilen. Er schloss den Mund wieder und nickte. „Oh gut.“ Sein Gegenüber strahlte ihn an und schob seinen Rucksack unter den Tisch. „Ich hatte da nämlich mal ein wirklich schräges Erlebnis in einem Restaurant. Ich habe Yakitori bestellt und bekam stattdessen Reis mit Gemüse. Ich weiß nicht, woran es lag, aber irgendetwas habe ich anscheinend falsch gemacht. Oder sie haben mich für einen Vegetarier gehalten. Sehe ich aus wie ein Vegetarier?“ Er lachte und seine Augen funkelten. „Na wie auch immer. Heute möchte ich auf jeden Fall unbedingt Fleisch essen. Ich habe nämlich was zu feiern.“ Aya sah sich in dem Restaurant um. Es war noch nicht besonders voll, aber einige Tische waren bereits besetzt. Keiner der Gäste schien sich besonders um ihn und seinen ungewöhnlichen Tischnachbarn zu kümmern. Eine Tatsache, die Aya eigenartig vorkam. Er hätte den Mann mit der auffälligen Haarfarbe vermutlich angestarrt, wenn er ihn das erste Mal gesehen hätte. Im Grunde genommen tat er das sogar genau in diesem Augenblick. Etwas verspätet fragte er: „Etwas zu feiern? Was denn?“ „Ich habe den Job. Als Sprachlehrer.“ Der Andere richtete sich auf und strahlte jetzt über das ganze Gesicht. „Ich bin nun offiziell Teil der arbeitenden Bevölkerung Japans. Na, wie klingt das?“ „Glückwunsch“, war das Einzige, was Aya über die Lippen brachte. Die Redseligkeit seines Gegenübers war ein wenig einschüchternd. Er kannte ja nicht einmal dessen Namen … „Oh, ich bin wirklich unhöflich.“ Der Andere sah ihn ein wenig zerknirscht an und streckte seine Hand über dem Tisch. „Erst setze ich mich einfach zu dir und dann habe ich mich nicht einmal vorgestellt. Ich heiße Tim.“ „Tim?“ „Ja, so wie in Tim und Struppi.“ Der junge Mann – Tim – sah ihn an, als erwarte er eine Reaktion darauf. Aya hatte nur keinen Schimmer welche. Als seinem Gegenüber das klar wurde, zog er seine Hand zurück und sackte ein wenig in sich zusammen. „Ich bin wirklich ein Esel“, murmelte er. „Tim und Struppi ist ein Comicbuch über … naja einen Jungen und seinen Hund, die in der ganzen Welt Abenteuer erleben. Ich fürchte nur, auf dieser Seite des Globus ist es nicht so bekannt.“ Er sah Aya unter seinem Pony hervor an. „Ich rede ganz schön viel, oder? Das tue ich immer, wenn ich aufgeregt bin. Tut mir leid.“ Tim nahm eine der Karten und versteckte sich dahinter. Erst jetzt wurde Aya klar, dass er weder die Begrüßung erwidert, noch seinen eigenen Namen genannt hatte. Aus irgendeinem Grund war ihm das fürchterlich peinlich. „Aya“, sagte er. „Ich … mein Name ist Aya.“ Blaue Augen musterten ihn über den Rand der Speisekarte hinweg. „Mhm, ich hab's gehört. Das letzte Mal im Blumenladen. Dein Kollege war schwer zu überhören.“ „Ken ist laut“, bestätigte Aya. Er hatte jetzt keine Lust über ihn zu reden. „Aya ...“, sinnierte Tim und legte den Zeigefinger an die Nase. Das bedeutet … kleine Blume.“ Er lachte wieder. „Entschuldige bitte. Ich lache nicht über deinen Namen, obwohl der Zufall, dass jemand mit deinem Beruf so heißt, schon amüsant ist. Mir ist nur gerade aufgefallen, dass 'kleine Blume' eine der Vokabeln ist, die ich in den meisten Sprachen kenne. Wusstest du, dass das auf Suaheli 'Uadogo' heißt?“ Aya schüttelte den Kopf. Er fühlte ein eigenartiges Kribbeln in seinem Bauch, als würden sich dort tausend Ameisen einen Krieg liefern. Sein Herz klopfte schneller und seine Hände hinterließen einen leicht feuchten Abdruck auf der Tischplatte. Er ließ sie schnell darunter gleiten und hoffte, das Tim das nicht bemerkt hatte. Der hatte jetzt die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt und betrachtete ihn mit schiefgelegtem Kopf. „Eigentlich siehst du nicht wie eine 'kleine Blume' aus. Also wenn ich dir einen Namen geben würde, dann wäre es irgendetwas Würdevolleres.“ Er griff nach seinem Rucksack, zog ein japanisches Wörterbuch heraus und blätterte eifrig darin herum. „Hier, wie wäre es damit? Botan. Das bedeutet Pfingstrose.“ Er sah in Ayas Gesicht. „Ok, nein, das ist zu pompös. Wir finden schon noch etwas. Ah, das hier. Ren. Lotus. Das ist schon eher passend, aber irgendwie auch noch nicht ganz das Richtige.“ Er blätterte weiter und steckte die Nase zwischen die Seiten. Irgendetwas an der Art, wie er das tat, ließ Aya lächeln. Er überlegte einen Augenblick und beschloss dann, dass er im Grunde nichts zu verlieren hatte. Was war schon ein Name? Und vielleicht … „Ran“, sagte er. „Wie wäre es mit Ran?“ Tim runzelte die Stirn und blätterte in dem Buch. „Ran bedeutet Orchidee“, las er vor. „Oder Wasserlilie, ein Symbol für Reinheit.“ Er sah Aya direkt in die Augen und der konnte nicht verhindern, dass sich seine Wangen ein wenig röteten. Wenn man es so betrachtete, war der Name eine infame Lüge. Er war weit entfernt davon, 'rein' zu sein. Aber etwas in ihm wünschte sich, genau das zu sein. Einfach die Zeit ein Jahr zurückdrehen und alles wäre wieder beim Alten. Er wäre Ran und würde … mit einem völlig Fremden in einem Restaurant sitzen und Ameisen in seinem Bauch haben, wenn dieser ihn ansah? Das war so widersinnig, dass es schon fast komisch war. Er musste unwillkürlich lächeln. „Sieht so aus, als würde dir der Name gefallen“, schlussfolgerte Tim und klappte sein Buch zu. „Also ist es beschlossene Sache, ich nenne dich ab jetzt Ran. Und wenn du dich auf den Kopf stellst.“ Aya/Ran wollte zunächst protestieren, doch die Bedienung unterband jeglichen Kommentar seinerseits, indem sie an den Tisch kam, um die Bestellung aufzunehmen. Tims Gesichtsausdruck wurde flehend. „Bitte bringen Sie uns zweimal das hier“, bat Ran/Aya mit einem Fingerzeig auf die Karte, bevor er sie der Bedienung zurückgab. Die verbeugte sich und sammelte auch Tims Speisekarte ein, bevor sie davon eilte, um die Bestellung weiterzugeben. Tim schob die Unterlippe vor. „Na das hätte ich auch gekonnt. Ich dachte, ich kann bei dir lernen, wie ich etwas Gescheites zu Essen bestelle.“ „Das habe ich dir doch gezeigt“, antwortete Ran und konnte ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. „Was glaubst du, warum die Karten alle mit Bildern sind?“ Tim sah ihn für einen Augenblick verblüfft an, bevor er auch wieder anfing zu grinsen. „Ich hoffe für dich, dass, was immer du bestellt hast, Fleisch enthält. Ich bin schon seit 6 Uhr heute Morgen unterwegs und brauche unbedingt neue Kraftreserven. Und eine Wohnung. Auf die Dauer wird das Wohnen im Hotel zu teuer.“ Aya griff nach seinem Glas und trank einen Schluck. Es gab ihm Zeit zu überlegen. Er wollte nicht unhöflich oder neugierig erscheinen, aber es hätte ihn wirklich interessiert, wo Tim herkam und was er in Japan tat. Aber konnte er einfach danach fragen? Und was würde er im Gegenzug erzählen? Die Wahrheit wäre wohl kaum etwas, das er einem völlig Fremden auf die Nase binden konnte. Er brauchte eine Geschichte. Eine gute Geschichte, die nicht allzu viele Fragen nach sich ziehen würde. „Wie bist du nach Japan gekommen?“, fragte er schließlich. „Mit einem gelben U-Boot.“ Ran blinzelte überrascht. „Im Ernst?“ „Nein, aber ich wollte das schon immer mal sagen.“ Tim lachte und stützte das Gesicht auf seine Hände. Er zog die Augenbrauen nach oben. „In Wirklichkeit bin ich auf einem fliegenden Teppich hergeflogen.“ Ran konnte nicht anders, er musste lachen. Tim grinste ihn an. „Nein, mal im Ernst. Ich bin natürlich geflogen, aber mit einem ganz normalen Flugzeug. Japan hat mich schon immer fasziniert. Also habe ich mich zu einem Work-and-Travel-Programm angemeldet. Aber die von der Agentur haben irgendwie Mist gebaut und so war mein Platz doppelt vergeben und in meinem Bett schlief eine 17-jährige Finnin. Ich meine, nicht, dass etwas gegen Finninnen im Bett einzuwenden wäre, aber sie war halt noch ziemlich jung und das Bett etwas zu eng, um nachts nebeneinander zu liegen. Also habe ich mich mit der Organisation geeinigt und die Sache selber in die Hand genommen. Die ganzen Unterlagen, die ich brauchte, hatten sie zum Glück bereits ausgestellt. Na und dann bin ich mit dem Zug nach Tokio gefahren, um mir hier was zu suchen. Momentan wohne ich noch in dem Hotel um die Ecke, aber das knabbert so langsam meine Ersparnisse weg. Ich werde mir wohl eine WG suchen oder so was in der Art. Einen Arbeitsplatz und somit geregeltes Einkommen habe ich ja jetzt.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich rede schon wieder zu viel, oder?“ Ran schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Ich finde es interessant. Woher kommst du eigentlich genau?“ Tim griff nach einer Serviette und begann diese in kleine Stücke zu zerrupfen. „Aus einem winzigen Dorf in Deutschland. Das ist echt so klein, dass da nur eine Straße rein aber nicht wieder herausführt. Das Ende der Welt quasi. Da musste ich einfach raus. Ich hatte schon immer ein Händchen für Sprachen und da dachte ich mir, ich versuche es mal hier. War vielleicht etwas voreilig. Ich dachte, ich schaffe das locker, aber das mit dem 'big in Japan' ist wohl mehr ein Mythos. Hier zurechtzukommen, ist gar nicht so einfach. Ich … Du und deine Landsleute, ihr seid alle so höflich und gleichzeitig wie ein Buch mit sieben Siegeln. Und ich fühle mich manchmal, als würde ich mit meinen großen Füßen immer unweigerlich jemand auf die Zehen treten. Dabei bin ich eigentlich nicht mal besonders groß. Du solltest mich mal Basketball spielen sehen. Vollkommen hoffnungslos.“ Er lachte müde über seinen eigenen Witz und verfiel dann in Schweigen. Der Haufen an Serviettenschnipseln wurde langsam größer. Ran hatte keine Ahnung, was er jetzt dazu sagen sollte. Das alles waren sehr … persönliche Informationen. Er wusste nicht so recht, wie er damit umgehen sollte. Hatte er noch nie gewusst. Ab und an war es vorgekommen, dass ein Gast in dem Restaurant, in dem er gearbeitet hatte, zu tief ins Glas geschaut hatte. Die Geschichten, die dabei zutage gekommen waren, waren oft nicht besonders erheiternd. Meist hatte er versucht, diesen Leuten fernzubleiben. Aber Tim wollte er nicht fernbleiben. Er wollte … keine Ahnung, was er wollte. Auf jeden Fall diesen Ausdruck von Tims Gesicht entfernen. Der Deutsche gefiel ihm besser, wenn er lachte. Tim blickte schuldbewusst auf. „Siehst du, jetzt tue ich es schon wieder.“ „Was?“ „Zu viel reden. Ich weiß, das klingt verrückt, aber bei dir habe ich das Gefühl, dass ich dir einfach vertrauen kann. Du bist nett. Ich würde … ich würde mich freuen, wenn wir mal etwas zusammen unternehmen könnten.“ Zu Rans Glück enthob ihn die Bedienung, die in diesem Moment mit dem Essen auftauchte, einer Antwort. Sie stellte die Platten mit verschiedenen Fleischspießen und einige Schüsseln mit Beilagen auf den Tisch. Tims nachdenkliche Stimmung war augenblicklich verschwunden. Er griff blitzschnell nach einem der Spieße und zog mit den Zähnen ein Fleischstück herunter. Während er mit geschlossenen Augen kaute, erschien auf seinem Gesicht ein Ausdruck purer Glücksseligkeit. „Oh mein Gott, Ran, das ist köstlich! Ich bin dir zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet.“ Ran schmunzelte, setzte dann aber ein tadelndes Gesicht auf. „Man sagt zuerst 'Itadakimasu', bevor man anfängt zu Essen.“ Tim öffnete die Augen wieder, schluckte und legte mit betroffener Miene den Spieß wieder zurück. Er setzte sich kerzengerade hin und ruckte mit dem Kopf in einer Art Verbeugung nach unten. „Hai, Sensei!“ „Und man legt niemals ein angebissenes Stück wieder auf den Teller.“ Tim schlug die Hände vors Gesicht und gab ein falsches Schluchzen von sich. „Ich bin unwürdig, dass Ihr mich unterrichtet, oh großer Meister.“ Lachend griff Ran nach seinen Stäbchen. „Keine Sorge. Wir kriegen das schon hin“, meint er gutmütig. Tim spähte zwischen seinen Fingern hindurch zu ihm herüber. „Heißt das, du triffst dich nochmal mit mir?“ Ran zögerte kurz, dann nickte er und konzentrierte sich schnell auf sein Essen, um Tim nicht weiter ansehen zu müssen. Das Kribbeln in seinem Nacken ignorierte er dabei ebenso wie das Flattern in seiner Magengrube. Das Gefühl würde sicherlich verschwinden, wenn er etwas aß, denn es konnte unmöglich etwas anderes als Hunger sein. Und es hatte ganz sicherlich nichts mit dem Rotschopf mit den kristallblauen Augen zu tun, der ihm da gegenübersaß und versuchte, ein Fleischklößchen auf sein Stäbchen zu spießen, das ihm vorher schon zweimal vom Teller gerollt war. Als alle Schüssel und Teller geleert waren, schob Tim den Teller von sich. Ran begann, das Geschirr wieder in die korrekte Anordnung zu bringen. Als er aufstehen wollte um zu bezahlen, hielt Tim ihn zurück. „Darf ich dich einladen?“ Ran zögerte. „Ich … warum?“ „Einfach so. Weil du mir so geholfen hast. Mit dem Job und so.“ Ran fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken. Tim hatte angedeutet, dass er nicht viel Geld hatte. Er selbst hatte dieses Problem nicht. Es wäre unfair, sich auf Kosten des anderen aushalten zu lassen. „Ich sehe schon, du willst nicht. Aber es würde mir wirklich viel bedeuten. Also bitte, darf ich?“ Ran zögerte noch einen Augenblick, dann lächelte er und nickte. „Aber nur dieses Mal. Das nächste Mal lade ich dich ein.“ Tim grinste und reckte den Daumen nach oben. Er ging, um die Rechnung an der Kasse zu begleichen. Als er wiederkam, hatte er einen Zettel in der Hand. Er reichte ihn Ran. „Hier, das ist meine Handynummer. Vielleicht ... vielleicht meldest du dich ja, wenn es bei dir mal passt.“ Ran blickte auf den Zettel, als hielte er das achte Weltwunder in Händen. Er hätte Tim auch gerne seine Nummer gegeben, aber eine Stimme warnte ihn gerade noch rechtzeitig davor, dass das zu Komplikationen führen könnte. So zog er entschuldigend die Schultern hoch. „Ich habe meine Nummer leider nicht dabei. Ein neues Handy. Ich … ich weiß die Nummer noch nicht auswendig.“ Tim lachte und winkte ab. „Du hast ja meine Nummer. Ich verlasse mich darauf, dass du sie auch benutzt.“ Er schulterte seinen Rucksack, legte die Hände vor der Brust zusammen und verbeugte sich. „Ran-sensei, ich danke Ihnen für Ihre Zeit.“ Ran war so perplex, dass er nicht einmal daran dachte, den Gruß zu erwidern, bevor Tim sich bereits umgedreht und zur Tür hinaus verschwunden war. Nachdenklich drehte er den Zettel in seinen Händen. Er würde sich eine wirklich gute Geschichte ausdenken müssen. Kapitel 6: Eine Verbindung erschaffen ------------------------------------- Nagi hatte nicht erwartet, Schuldigs Büro besetzt vorzufinden. Noch viel weniger hatte er allerdings erwartet, dass der Deutsche tatsächlich an seinem Schreibtisch saß. Er hatte die Hemdsärmel aufgekrempelt, den Kopf in die rechte Hand gestützt und las in einem Buch. Als Nagi eintrat, strich er sich die neuerdings rostrote Mähne aus dem Gesicht und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Nagi! Was verschafft mir die Ehre?“ „Ich soll dir das hier von Crawford bringen.“ Nagi trat an den Schreibtisch und legte eine Dokumentenmappe und einen versiegelten Umschlag neben die diversen Schriftstücke, die sich bereits auf der Tischplatte aufstapelten. „Was tust du?“ „Arbeiten.“ Schuldig grinste. „Hättest du nicht gedacht, was?“ Nagi wollte eigentlich nicht antworten, aber bevor er es verhindern konnte, war ihm das „Nein, nicht wirklich“ schon herausgerutscht. Schuldig blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und klappte mit einem Ruck das Buch zu. „Hast recht, reicht für heute.“ Er streckte sich und wollte gerade aufstehen, als ihm etwas einzufallen schien. Er öffnete die oberste Schublade seines Schreibtischs, wühlte kurz darin herum und zog dann eine längliche Schachtel heraus. Ohne Vorwarnung warf er sie Nagi zu, der sie gerade noch auffangen konnte. „Hier für dich. Und sag jetzt nicht, du hättest Matcha gewollt. Diese Abscheulichkeit weigere ich mich nämlich zu kaufen.“ Ungläubig sah Nagi auf eine Packung Pocky herab. „Was … warum … woher?“ Schuldig grinste erneut. „Hast du ein Glück, dass ich Gedanken lesen kann. Aus deinem Gestammel wird ja keiner schlau. Das ist eine Packung Gebäckstangen mit Schokolade. Die schenke ich dir, weil ich nett bin. Und woher ich wusste, dass du die magst, kannst du dir vielleicht selbst beantworten.“ Nagi konnte es immer noch nicht so ganz glauben und drückte die Packung ein wenig enger an sich. Nur für den Fall, dass der Telepath sie plötzlich wieder zurück haben wollte. „Und was willst du dafür?“ Schuldig hob gespielt erstaunt die Augenbrauen. „Kann ich nicht einmal einfach nett zu einem Kollegen sein?“ „Schul~dig!“ Nagis Ton machte deutlich, dass er sich gerade veralbert fühlte und ihm das überhaupt nicht gefiel. Der Telepath hob beschwichtigend die Hände. „Ok ok, ich hätte da was. Du weißt doch bestimmt, wo man hier Mangas kaufen kann.“ Nagi runzelte die Stirn. War das eine Fangfrage? Schuldig rollte mit den Augen: „Nein, ist es nicht. Also los, nun rück schon raus mit der Sprache. Wo bekommt man hier die Hefte mit den vielen, bunten Bildern? “ Nagi musste zugeben, dass er ein wenig irritiert war. Natürlich wusste er um Schuldigs Talent, aber normalerweise war der Telepath nicht so … verschwenderisch damit. So wie er mitbekommen hatte, strengte das Benutzen der Gabe Schuldig an. Jetzt jedoch schien er beste Laune zu haben. War ihm etwa nicht einmal aufgefallen, dass Nagi seine Frage nicht ausgesprochen hatte?   Schuldigs Handy, das auf dem Tisch neben ihm lag, gab einen Ton von sich und das Nachrichtensymbol auf dem Display leuchtete auf. Er nahm es in die Hand, las den Text und ein zufriedener Ausdruck trat auf sein Gesicht. Bevor Nagi fragen konnte, worum es ging, war er bereits aufgestanden und hatte das Handy in der Hosentasche verschwinden lassen. „Also, was ist? Zeigst du mir jetzt einen dieser berühmten Manga-Mega-Stores. Wenn möglich einen, in dem man auch ältere und gebrauchte Ausgaben bekommt.“ Nagi konnte nicht anders, als zu nicken und Schuldig nach draußen zu folgen.   Während sie im Aufzug nach unten fuhren, lehnte sich Schuldig an die Wand des Aufzugs, legte den Kopf leicht zurück und schloss die Augen. Die Muskeln in seinem Gesicht spielten unter der Haut, verschiedene Ausdrücke huschten darüber, seine Lippen bewegten sich unter ungesagten Worten. Er lachte leise. „Sieh an, sieh an. Yamada aus der Buchhaltung möchte also die Sekretärin seines Chefs vernaschen. Wirklich, wirklich unanständig, was er sich da wünscht. Allein die Leine … kinky.“ Nagis Blick glitt zur Anzeige an der Fahrstuhlwand. Sie passierten gerade den fünften Stock. Die Buchhaltung saß im dritten.   Sie verließen den Aufzug im Erdgeschoss und durchquerten die Vorhalle des Gebäudes mit den getönten Scheiben und dem Fußboden aus weißem Marmor. Die Dame am Empfang grüßte sie höflich, bevor sie der Gebäudekomplex endgültig auf die Straße entließ. Die Hitze traf Nagi wie ein Schlag und er musste für einen Augenblick gegen die auf ihn einströmende Helligkeit anblinzeln. Schuldig grinste ihn an und schob sich eine Sonnenbrille auf die Nase. „Brauchen Sie einen Fahrer, Herr Naoe?“ „Wir fahren nicht mit der U-Bahn?“ „Nein, heute nicht. Heute gelüstet es mich mal danach, selbst am Steuer zu sitzen.“ Nagi konnte es kaum glauben, dass er kurze Zeit später in einem roten Sportwagen durch Tokio chauffiert wurde. Als sie an einer Ampel hielten, stießen sich zwei junge Männer am Straßenrand bewundernd in die Seiten. Nagi rutsche tiefer in seinen Sitz. „Keine Bange, die Scheiben sind undurchsichtig.“ Schuldig zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Ist das denn erlaubt?“ „Wo kein Kläger, da kein Richter“, antwortete Schuldig leichthin und gab Gas, als die Ampel auf Gelb sprang. Ein paar Fußgänger, die zu langsam gewesen waren, sprangen kreischend zur Seite, bevor sie als Kühlerfigur endeten. „Das solltest du aber nicht auf der Kreuzung in Shibuya machen“, murmelte Nagi und kontrollierte noch einmal, ob er auch wirklich angeschnallt war. Schuldig antwortete nicht, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Er hatte das schon mal gemacht. „Hast du wen erwischt?“ „Fast.“ Nagi lachte. Er hätte es nicht gedacht, aber es machte Spaß, Zeit mit Schuldig zu verbringen. Was immer seinen Kollegen in so gute Stimmung versetzt hatte, konnte ruhig noch eine Weile anhalten.     Das an einer Straßenecke gelegene Gebäude mit der schwarz-getäfelten Fassade und dem auffälligen, weißen Schriftzug auf rotem Grund, sah mehr wie eine Festung, denn wie ein Laden aus, in dem man bunte Plastikfiguren und Comics bekam. Lediglich die Schaufenster ließen erahnen, dass sich im Inneren ein wahres Paradies für Fans von One Piece, Naruto, Pokémon und Co finden ließ. Sie betraten den Laden und Nagi steuerte zielsicher auf den Aufzug zu. „Du weißt wohl, wo wir hinmüssen?“ „Man kann kaum in Tokio aufgewachsen und noch nie hier gewesen sein.“ Nagi drückte den Knopf und trat dann zurück, um Platz für eventuell aussteigende Kunden zu machen. Als sich die Türen öffneten, hatten sie jedoch Glück und die Kabine war leer. Nagi drückte den Knopf für den zweiten Stock und die Türen wollten sich gerade schließen, als mit zwitschernden Stimmen zwei Mädchen in den Laden stoben und sich gerade noch rechtzeitig durch die Tür quetschten. Die eine von ihnen trug einen Haarreif mit Katzenohren und unter ihrem Rock lugte ein passender Schwanz hervor. Nagi starrte auf das pelzige Anhängsel und bekam bei dem Gedanken, wo dieses wohl befestigt war, rote Ohren. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Schuldig zu grinsen begann. Zu Nagis Glück stiegen die beiden Mädchen schon im nächsten Stock wieder aus und verschwanden immer noch kichernd in einem bunten Durcheinander aus Puppen und Kostümen. Die Tür schloss sich wieder und er atmete hörbar aus. Schuldigs Grinsen wurde breiter, er sagte aber nichts. Als sich die Tür erneut öffnete, reihten sich vor ihnen Reihen über Reihen von bunten Heftrücken auf. Bis zu zwei Meter hohe Regale bildeten enge Gassen, auf deren schwarzglänzenden Fußboden sich die ganze Pracht noch einmal spiegelte. In ihrer einheitlichen Vielfalt wirkten sie fast bedrückend und lösten leichte Platzangst in Nagi aus. „Die gebrauchten Hefte sind weiter hinten“, erklärte er. „Ich bleibe hier.“ Schuldig wirkte, als wolle er noch etwas dazu sage, verschwand dann aber im Gewirr der Gänge. Nagi konnte hören, wie er einen der Verkäufer ansprach. Er selbst lehnte sich zurück und starrte auf die unzähligen bunten Bilder. Er hatte Schuldig nicht ganz die Wahrheit gesagt. In Wirklichkeit war er noch nie im Inneren des großen, wenn nicht sogar größten Kaufhauses dieser Art gewesen. Natürlich hatte er es das eine oder andere Mal sehnsüchtig von außen betrachtet, als er noch jünger gewesen war. Aber er hatte sich nie hineingetraut, denn wer hier etwas kaufen wollte, brauchte etwas, das Nagi zu der Zeit noch nicht gehabt hatte: Geld. In dem Waisenhaus, in dem er aufgewachsen war, hatte man ihn mit allem versorgt, was er zum Leben brauchte. Zum Überleben. Kleidung, Essen, ein Dach über dem Kopf, den Besuch einer Schule. All das hatte er bekommen. Und er hätte dankbar sein sollen, so hatte man ihm immer wieder gesagt. Doch Nagi war das nicht genug gewesen. Er hatte von einer besseren Zukunft geträumt. Anders als die anderen hatte er jedoch genau gewusst, dass niemand kommen würde, um ihm diese Zukunft in den Schoß zu legen. Kinder wie ihn wollte niemand. Es sei denn, sie hatten etwas, dass jemand anderes gebrauchen konnte. Nagi hatte so etwas. Er konnte mit Computern umgehen. Schon immer. Irgendwann hatte er sich nachts Zutritt zum Büro des Heimleiters verschafft und hatte sich in das Sicherheitssystem der japanischen Nationalbank gehackt. Einfach um zu sehen, ob er es konnte. Am nächsten Tag waren Männer gekommen und hatten ihn mitgenommen. Aber nicht, um ihn einzusperren, wie er zunächst gedacht hatte, sondern um ihm einen Job anzubieten. Er war ausgebildet worden, hatte weiter gelernt und jetzt war er einer der Besten, ein Meister der Tastatur. Schlussendlich hatte man ihn Schwarz zugeteilt und nun … stand er in dem einst so bewunderten Mangaladen herum und wartete auf Schuldig. Nagi seufzte. Manche Träume sollten vielleicht nicht in Erfüllung gehen.   „Ich habe alles, wir können gehen.“ Schuldig war wieder aufgetaucht und hielt zwei bunte Hefte in der Hand. Nagi konnte nicht sehen, um was es sich handelte, aber die Hefte waren augenscheinlich schon älteren Datums. „Was willst du eigentlich damit?“ Schuldig grinste und wedelte mit dem Zeigefinger vor seiner Nase herum. Er sagte etwas auf Deutsch, das Nagi nicht verstand. Nagi hasste es, wenn er das tat. Mit aufeinander gepressten Lippen drehte er sich abrupt zu der orangen Aufzugtür um. Hätte er Superkräfte gehabt, wäre vermutlich ein Loch in dem zentimeterdicken Metall gewesen. So konnte er jedoch nur versuchen, eins hineinzustarren. „Ich habe gesagt, dass du zwar alles essen, aber nicht alles wissen darfst.“ Nagi zog es vor, darauf nicht zu antworten. „Willst du, dass ich es dir beibringe?“ „Was?“ „Na Deutsch. Wir könnten ein paar Mal die Woche üben. Bei deiner Intelligenz hast du das bestimmt schnell drauf. Und ich verspreche auch, nicht zu lachen.“ Nagi schielte zu Schuldig herüber. Der hatte die Sonnenbrille in die Haare geschoben und lächelte ihn offen an. Nagis Blick glitt tiefer zu der ausgestreckten Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Mit einiger Verzögerung griff er danach. „Ok, abgemacht“, sagte er. „Aber jetzt bekomme ich was zu essen. Und du bezahlst.“ „Deal!“, antwortete Schuldig und grinste ihn an. „Wir fahren zu einem schicken Restaurant und dann darfst du dir aussuchen, was du möchtest.“ „Das wird aber nicht billig.“ „Natürlich nicht.“ „Und ich will Eiscreme.“ „Ok.“ „Mit Matchageschmack!“ „Würg. Alles nur das nicht.“ Schuldig machte ein verkniffenes Gesicht und Nagi betrat lachend den Aufzug. Vielleicht war das mit dem Deutsch lernen gar keine so schlechte Idee. Man konnte nie wissen, was die Zukunft noch so mit sich brachte.         Aya hatte das Gefühl, das er gleich durchdrehen würde. Jeden Moment musste es soweit sein. Dann würde er dem nächsten Kunden seine Blumen ins Gesicht werfen und ihn anschreien, dass er kündigte. Für immer. Stattdessen wickelte er den Blumenstrauß in Papier und reichte ihn mit knirschenden Zähnen über den Ladentisch, bevor sich bereits der Nächste mit seinen Wünschen an ihn wendete. Dabei war es nicht so, dass das Koneko vor Leuten überquoll. Es war mehr ein stetiger Fluss von Kaufwilligen, der heute durch die Tür tröpfelte, um Blumen zu erstehen. Weiß war dabei die vorherrschende Farbe, aber auch bunte Sträuße und Gestecke fanden ihren Weg über die Theke, damit die Leute sie heimtrugen oder gleich zum nächsten Friedhof gingen, um dort die Gräber für das bevorstehende Obonfest zu schmücken. Am Abend würden sie Feuer und Laternen entzünden, um den Verstorbenen den Weg aus dem Totenreich in die Welt der Lebenden zu weisen. Auch Aya hatte überlegt, ob er das Grab seiner Eltern besuchen sollte. Sie waren auf einem Friedhof nahe ihres ehemaligen Wohnhauses begraben worden. Er war kurz nach ihrem Tod einmal am Friedhof gewesen, hatte es aber nicht über sich bringen können, das Grab zu besichtigen. Irgendwann, wenn der Tod seiner Eltern gerächt und Aya wieder erwacht war, würde er es vielleicht schaffen, mit ihr zusammen dort hinzugehen. Für den Moment jedoch würde er die Toten ruhen lassen.   Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf seine Arbeit. Das war allerdings leichter gesagt, als getan, denn es gab etwas, das ihm heute Morgen nicht aus dem Kopf gehen wollte. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu dem Handy, das sich in seiner hinteren Hosentasche befand. Das ungewohnte Gewicht drückte sich an sein Gesäß und erinnerte ihn bei jeder Bewegung daran, dass es da war. Er hatte es am Morgen vor Öffnung des Blumenladens noch schnell erstanden und eine einzige Nummer einprogrammiert. In einem kurzen Moment der Ruhe, hatte er sich in den Lagerraum geschlichen, um Tim von dort aus eine Nachricht zu schicken. „Das hier ist meine Nummer“, hatte er geschrieben und dann volle fünf Minuten überlegt, ob er die Nachricht wirklich abschicken sollte. Irgendwann hatte Ken mit der Faust gegen die Tür geschlagen und ihn sehr nachdrücklich aufgefordert, wieder bei der Kundschaft zu helfen. Also hatte er auf 'Senden' gedrückt und das kleine Gerät wieder in seiner Hosentasche verschwinden lassen. Seitdem wartete er auf eine Antwort. 'Vielleicht hätte ich doch noch warten sollen. Es war aufdringlich, sich so schnell zu melden. Oder nicht? Ich hätte noch etwas dazu schreiben sollen. Hätte ich ein Treffen vorschlagen sollen? Nein, lieber warten, ob er etwas vorschlägt. Aber vielleicht war die Nachricht zu unfreundlich. Ich habe nicht einmal Grüße dazu geschrieben. 'Bis bald' zum Beispiel. Ja, das wäre gut gewesen. Aber nun ist es zu spät. Ob ich noch eine Nachricht schreiben sollte? Nein, das ist albern. Ich muss abwarten, bis er sich meldet.' Aya unterdrückte ein Seufzen und wendete sich dem nächsten Kunden zu, der gerade den Laden betreten hatte. Es blieb ihm gerade genug Zeit, um sich Gedanken zu machen, aber nicht genug, um diese in die Tat umzusetzen. Und immerzu spürte er das Handy in seiner Tasche. Es war auf lautlos gestellt. Er glaubte zumindest, dass er das getan hatte. Was, wenn nicht? Leichte Panik begann sich in ihm auszubreiten. Er musste dringend nachsehen. „Hey, Ken, wo bleibt Yoji? Der hätte doch schon vor einer halben Stunde da sein sollen.“ Ken zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung. Hat vermutlich mal wieder verschlafen. Holst du mal neue Chrysanthemen aus der Kühlung?“ Aya schnaubte unwillig, machte sich aber auf den Weg. Das war mal wieder typisch. Kaum artete ihre Beschäftigung im Blumenladen wirklich in Arbeit aus, tauchte Yoji einfach nicht auf. Wobei es ja nicht so war, dass er und Ken die Arbeit nicht schafften. Und sie hatten immer noch Omi als Backup, falls es wirklich zu voll werden sollte. Aber trotzdem hätte Aya sich gerade heute über etwas mehr Luft gefreut. Wenn doch nur endlich eine Antwort käme.   Er presste die Kiefer zusammen und griff nach dem Wassereimer mit den Chrysanthemen. Der intensive, leicht herbe Geruch der Blüten schlug ihm entgegen und hüllte ihn ein. Unwillkürlich fragte er sich, ob er wohl nach Blumen roch, wenn er von der Arbeit kam. Wenn er im Restaurant bedient hatte, hatte sich der Geruch der Speisen oft in seinen Haaren und seiner Kleidung festgesetzt wie ein öliger Film. Ob das wohl auch hier so war? Er schüttelte den Kopf. Was für unsinnige Gedanken er heute hatte. Und immer noch hatte das Handy sich nicht gerührt. Mit grimmiger Entschlossenheit fasste er den Eimer fester und ging in den Laden zurück. Er wollte gerade die verbliebenen Blumen in den neu dazugekommenen Eimer stellen und den alten entsorgen, als sich die Ladentür öffnete und mehrere Personen den Laden betraten. Er sah auf und wurde mit dem Anblick von drei jungen Mädchen belohnt, von denen zwei die dritte vor sich herschoben. „Muss das wirklich sein?“, jammerte die Geschobene. „Ihr wisst doch gar nicht, ob er heute da ist.“ Eines der anderen Mädchen lachte. „Es sind Ferien, wo sollte er wohl sonst sein?“ „Genau, Ouka“, bestätigte die andere. „Stell dich nicht so an. Wir wollen doch nur mal 'Hallo' sagen.“ Das erste Mädchen lachte und strich sich die Haare hinter die Ohren. Sie drehte sich um und sah sich mit Aya konfrontiert, der sie mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte. „Oh, hallo, ich … wir wollten fragen, ob Omi Tsukiyono heute arbeitet.“ Aya seufzte innerlich. Er hatte schon mitbekommen, dass sich immer, wenn Omi im Laden war, mehr der jungen Mädchen hier herumdrückten. Yoji behauptete immer, sie umschwärmten ihn wie Bienen einen Honigtopf, auch wenn Omi das fürchterlich peinlich war und er steif und fest behauptete, die Mädchen kämen wegen der Blumen. Seit dem Beginn der Ferien hatte die nachmittägliche Flutwelle von schnatternden Schülerinnen deutlich abgenommen, aber heute hatten die zwei Mädchen, von denen sich Aya vage erinnerte, dass es sich um Klassenkameradinnen von Omi handeln musste, anscheinend beschlossen, dass die Schonzeit vorbei war. Und sie hatten gleich noch jemanden gefunden, den sie dafür den Kopf hinhalten lassen konnten.   Aya wurde bewusst, dass er immer noch nicht auf die Frage des Mädchens reagiert hatte. Die unglückliche Auserwählte stand vor ihm und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war sie kurz davor, den Laden fluchtartig zu verlassen. Das wiederum würden ihre beiden Begleiterinnen vermutlich zu verhindern wissen. Er fühlte einen Anflug von Sympathie für das Mädchen in sich aufsteigen, deren zwei kichernde Schatten ihn plötzlich verdächtig an Yoji und Ken erinnerten. Sie musste sich wahnsinnig vorgeführt fühlen. Und wenn er jetzt nichts dagegen tat, würden die drei womöglich immer wieder kommen, bis sie Omi irgendwann erwischten. Es war also nur logisch, dass er das gleich im Keim erstickte. Mit einem entschlossenen Gesicht legte er das Messer weg, das er die ganze Zeit, ohne es zu merken, in den Händen gehalten hatte. „Ich gehe ihn holen“, verkündete er und ging unter den ungläubigen Blicken von Ken und zwei der drei anwesenden weiblichen Wesen in Richtung Kellertür. Die dritte sah, wenn er das richtig interpretierte, vage erleichtert aus. Erleichtert und aufgeregt gleichzeitig. Er hatte das eigenartige Gefühl, dass er wusste, wie ihr zumute war.   Das Geräusch, das seine Schritte auf den metallenen Stufen machten, hallte ein wenig dumpf von den kahlen Wänden wieder. Einige betagte, nicht zueinander passende Polstermöbeln lungerten im nur von einer kleinen Lampe erhellten Halbdunkel herum, auf einem niedrigen Couchtisch lagen einige Zeitschriften und Dartpfeile. Ein halbvoller Aschenbecher hinterließ einen unangenehmen Geruch nach kaltem Rauch. Er musste Yoji wirklich sagen, dass er das Ding abends ausleeren musste. „Aya!“ Omis helle Stimme klang freudig überrascht. Ein Tonfall, den der Junge unabhängig von seiner derzeitigen Gemütslage jederzeit abrufen konnte. Manchmal, ganz manchmal hatte Aya das Gefühl, dass ein Teil dieser Fröhlichkeit nicht echt war. „Ich bin gerade fertig geworden. Braucht ihr Hilfe oben im Laden?“ Omi große, blaue Augen sahen ihn fragend an. Für einen Bruchteil erinnerten sie ihn an ein anderes Paar blaue Augen, auch wenn der Ausdruck darin ein völlig anderer gewesen war. Aya stopfte die hinderlichen Gedanken ganz weit hinten in seinen Kopf. „Oben sind ein paar Mädchen, die dich suchen.“ „Mädchen?“ Omi überlegte kurz, bevor sich Erkenntnis auf seinem Gesicht ausbreitete „Das werden Eri und Hanako sein. Ich habe die beiden vorgestern im Park getroffen. Sie sagten, sie wollten mal vorbeikommen“ „Sie haben noch jemand mitgebracht. Eine gewisse Ouka.“ „Ouka?“ Omi blinzelte überrascht. „Das muss ... Ouka Sakaki sein. Sie ist Anfang des Schuljahres neu in unsere Klasse gekommen. Ich … wir haben uns noch nicht sehr oft unterhalten.“ „Es sah so aus, als wolle sie das jetzt ändern.“ Mit einer gewissen Genugtuung bemerkte Aya, dass Omi die Hände in den Ärmeln seines Pullovers zu verstecken versuchte. Das tat er immer, wenn er nervös war. Mit einem auffordernden Nicken zur Treppe hin fügte er hinzu: „Du solltest sie vielleicht nicht warten lassen.“ Omi begann zu stammeln. „Ja … ja, da hast du recht. Ich … ich sollte sie nicht warten lassen.“ Er sprang von seinem Schreibtischstuhl auf wie ein zurückgeprallter Gummiball. „Machst du noch das Licht aus?“, bat er Aya, während er bereits nach oben hastete.   Aya unterdrückte ein Schmunzeln und griff in seine Hosentasche. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass das Handy tatsächlich auf lautlos gestellt war – und immer noch keine Nachricht empfangen hatte – wanderte seine Hand schon zum Lichtschalter, als er das kleine, rote Licht bemerkte, das im Dunkeln neben dem Schreibtisch leuchtete. Was war das? Hatte Omi vergessen, den Rechner herunterzufahren? Das sah ihm gar nicht ähnlich, denn der Junge war immer sehr gewissenhaft, was die Pflege seines technischen Equipments anging. Und trotzdem war da dieses Licht und jetzt, da er es gesehen hatte, konnte Aya auch das leise Geräusch der Lüftung hören. Der Computer war definitiv noch an. Omi hatte lediglich den Bildschirm ausgeschaltet. Wenn man nur flüchtig hinsah, konnte man es leicht übersehen. Ob er das mit Absicht getan hatte?   Aya beschlich ein eigenartiges Gefühl. Er sah noch einmal zur Kellertreppe, dann ließ er sich auf den Drehstuhl gleiten und drückte den Knopf unten am Bildschirm. Sofort erwachte dieser wieder zum Leben. Mit großen Augen starrte Aya auf das Bild, das sich ihm bot. Dort, aufgeteilt in Bytes und Pixel, war sein Leben. Geburtsurkunde, Zeugnisse, Fotos, Krankenberichte, alles. Wie von selbst kroch seine Hand zur Maus und er begann, sich durch die verschiedenen Fenster zu klicken. Dort standen Dinge, die er selbst nicht einmal mehr wusste. Das Ergebnis seiner Kendo-Prüfung? Warum sah Omi sich das an? Was wollte er mit diesen Informationen? Aya wollte sich schon von diesem Puzzle, das einmal sein Leben gewesen war, abwenden, als er auf der Taskleiste noch einen zweiten, geöffneten Ordner entdeckte. Er war mit 'AF' beschriftet. Aya merkte, wie er zu zittern begann. Trotzdem schob er den Mauszeiger auf den zweiten Ordner, atmete tief durch und klickte darauf. Im nächsten Moment krallte sich seine Hand um die Maus, als wolle sie diese zerdrücken. Vor ihm auf dem Bildschirm war das Foto eines Krankenbetts. Das Mädchen darin war unverkennbar seine Schwester. Die Tatsache, die Aya daran so wütend machte, war die, dass es sich um ein Bild aus dem Krankenhaus handelte, in dem Aya jetzt lag. Was sollte das? Was für ein Spiel wurde hier gespielt? Dass er selbst jetzt so etwas wie Kritikers Eigentum war, damit konnte er sich abfinden. Aber er würde nicht zulassen, dass Aya in irgendetwas hineingezogen wurde, das mit Weiß zu tun hatte. Mit einem entschlossenen Mausklick löschte er den Ordner und nach kurzem Zögern auch den mit den Informationen über ihn selbst. Sollte Omi ihn danach fragen, so würde er selbst einige Fragen parat haben. Dieser kleine Schnüffler sollte sich schon mal warm anziehen. Er schaltete den Bildschirm wieder ab und wollte sich gerade wieder zurück in den Blumenladen begeben, als es plötzlich in seiner hinteren Hosentasche vibrierte. Er hatte eine Nachricht von Tim!   Kapitel 7: Geheimnisse ---------------------- Schuldig lehnte sich zurück und legte das Handy auf den Tisch. Er wusste, dass Nagi viel zu beschäftigt war, um es zu bemerken. Der Junge löffelte gerade seine dritte Portion Eiscreme in sich hinein. „Man könnte denken, dass Crawford dir nichts zu essen gibt“, bemerkte Schuldig amüsiert. Nagi gefror in der Bewegung und sah ihn unter seinem Pony hervor schuldbewusst an. „Das stimmt nicht. Er kümmert sich um alles. Es ist nur ...“ „Er hat keine Ahnung, dass du ein absoluter Eiscreme-Junkie bist. Oder auch sonst alles inhalierst, was Zucker enthält.“ Nagi war die Richtung, in die das Gespräch ging, offensichtlich unangenehm. Schuldig nahm das Bedürfnis wahr, keinen schlechten Eindruck zu machen. Nagi legte betont langsam den Löffel beiseite. „Er macht manchmal Pancakes zum Frühstück.“ „Aber?“ Schuldig zog fragend die Augenbrauen hoch. Er merkte genau, dass Nagi krampfhaft versuchte, nicht an etwas zu denken. Er hätte es vermutlich herausfinden können, aber er zog es vor, den Jungen ein wenig schmoren zu lassen. Wenn das hier funktionieren sollte, musste Nagi ihm vertrauen. Nagi schluckte und starrte auf seine Hände, die in seinem Schoß lagen. „Der Sirup ist eklig“, murmelte er so leise, dass Schuldig es fast nicht hören konnte. „Voll bitter, das Zeug. Wie kann man das essen?“ Schuldig unterdrückte ein Grinsen. „Das sagst ausgerechnet du?“ Er wies auf die Schalen mit den grünen Eisresten. „Das ist was anderes“, grummelte Nagi. „Außerdem ist es ja nur ganz selten. Er sagt immer, ich müsse gesund essen. Oder er sagt es nicht, aber er kauft ein, also … was soll ich machen?“ „Ihm sagen, dass er gefälligst Erdbeersauce kaufen soll. Die schmeckt viel besser auf Pancakes. Wenn du willst, sage ich es ihm.“ „Nein!“ Nagi sah ehrlich entsetzt aus. „Ja. Ich meine … würdest du?“ „Kein Problem, Kleiner.“ Schuldig winkte der Bedienung, damit sie ihm die Rechnung brachte. Nachdem sie bezahlt hatten, trottete Nagi an seiner Seite zurück zum Auto, den Kopf gesenkt. „Wie ist das so, mit Crawford zusammenzuwohnen?“ Nagi zuckte mit den Schultern. „Ist okay. Wir sehen uns mehr bei der Arbeit als zu Hause. Er kauft ein und kocht, ich räume auf und kümmere mich um die Wäsche. Könnte schlimmer sein.“ Schuldig nickte verständig. „Stimmt. Du könntest mit Farfarello zusammenwohnen.“ Nagi blinzelte überrascht. „Du wohnst mit Farfarello zusammen?“ Jetzt musste Schuldig lachen. „Nein, bist du wahnsinnig? Da müsste man ja jede Nacht Angst haben, morgens mit einem Messer in der Brust aufzuwachen. Obwohl, jetzt wo du es sagst...“ Ein Plan begann in Schuldigs Kopf zu reifen. Ja, vielleicht ließ sich da etwas arrangieren. Immerhin hatte er Fujimiya erzählt, er wolle sich eine Wohngemeinschaft suchen. Und je unattraktiver seine eigene Wohnung war ... ja, das könnte funktionieren.   Das Handy in seiner Tasche gab einen Ton von sich. Er zog es hervor und öffnete die Antwort auf seine Nachricht. Der Chatverlauf war kurz aber aufschlussreich,   Ran: Das hier ist meine Nummer. Tim: Ja cool, dann kann ich dich ja jetzt jederzeit erreichen. Tim: Sag mal, hast du morgen Abend schon was vor? Ran: Nein, habe ich nicht.   Da spielte jemand den Unnahbaren. Schuldig lachte leise in sich hinein. Nur nicht das Gesicht verlieren. Typisch Japaner. Aber diese Nuss würde er schon noch knacken. Allein die kurze Antwortzeit zeigte ihm, dass er auf dem richtigen Weg war. „Denial is not just a river in Egypt, mein Freund. Aber keine Bange, das kriegen wir schon hin. Ich muss wohl einfach noch etwas deutlicher werden.“ Er tippte eine weitere Antwort.   Tim: Wollen wir dann was zusammen unternehmen?   Jetzt galt es abzuwarten, ob er noch ein weiteres zufälliges Treffen arrangieren musste, oder ob der Fisch bereits an der Angel hing. Schuldig war sich ziemlich sicher, dass das zweite der Fall war. Er warf einen Blick auf seinen Beifahrer. Nagi hatte sich in seinem Sitz zurückgelegt und wirkte zufrieden wie selten. Der Junge war ehrgeizig, das musste man ihm lassen. Er würde einen guten Schüler abgeben. Eine weitere Figur auf Schuldigs Schachbrett. Wenn man, so wie er, Einblick in die Gedanken der Menschen hatte, lernte man eines ziemlich schnell: Eine gute Lüge beinhaltete immer zwei Fingerbreit Wahrheit. Hielt man sich an diese Regel, war jeder bereit, sie zu schlucken, egal aus welchem Bullshit man den Rest zusammenmixte. Und die Leute waren immer geneigt, etwas zu glauben, das ihnen gefiel. Man musste nur die Werbung betrachten. 'Kauf dieses Produkt und du wirst besser sein als die anderen.' Es war ausgemachter Blödsinn, aber es funktionierte. Weil die Leute es glauben wollten. Dabei stammten sie alle aus demselben Sumpf, bereit rücksichtslos übereinanderzuklettern und die anderen in die Tiefe zu reißen, wenn sie nur selber einen Vorteil davon hatten. Selbst diejenigen, die sich für gute Menschen hielten, hatten solche Gedanken. Sie führten sie nicht aus, aber sie waren da und Schuldig konnte sie hören. Er konnte sie alle hören. Die Gedanken des Mannes, der das minderjährige Mädchen in der U-Bahn betrachtete und sich ausmalte, wie es aus tränenüberströmten Augen zu ihm aufsah, während es seinen Schwanz im Mund hatte. Die Gedanken der braven Ehefrau, die sich selbst ihren Mann mit einem Messer statt mit einem liebevoll gekochten Abendessen empfangen sah. Die Gedanken der Mutter, die ihr schreiendes Kind am liebsten aus dem nächsten Fenster werfen würde, damit es endlich still war. Sie alle bissen sich auf die Zunge, setzten sich auf ihre Finger, atmeten tief durch und spielten weiter das Schauspiel, das sie ihr Leben nannten. Und Schuldig lachte über sie alle.   Sie hatten Takatoris Hauptsitz kaum betreten, als Schuldigs Handy klingelte. Er runzelte die Stirn, als er Crawfords Nummer auf dem Display sah. „Ja?“ „Wo bist du? Und wo steckt Nagi?“ Crawford klang vage gestresst, aber das war bei dem Amerikaner eigentlich ein Dauerzustand. Vielleicht irgendetwas Genetisches. Fastfood und der legalisierte Verkauf von Schusswaffen konnten nicht der einzige Grund sein, dass so viele von seinen Landsleuten so früh ins Gras bissen. „Sind gerade wieder vom Mittagessen zurück. Ich hatte noch was in der Stadt zu erledigen und habe den Jungen mitgenommen.“ Nagi warf ihm einen Blick unter den langen Stirnfransen zu. Schuldig nahm wahr, wie er sich wünschte, jetzt über ein Supergehör zu verfügen. „Kommt rauf. Takatori hat für Morgen Abend einen Termin anberaumt. Wir müssen die Sache noch überprüfen.“ „Oha, hattest du einen schwarzen Hund in deinem Kaffeesatz?“ Schuldig grinste Nagi an. „Lass die Witze, Schuldig. Die Sache ist ernst.“ Crawford hatte diesen speziellen No-Nonsense-Ton drauf, der Schuldig alle Flachserei vergessen ließ. „Wir sind gleich da.“ Er legte auf. „Crawford erwartet uns.“ Nagis Ausdruck wurde ernst. „Takatori?“ „Jupp. Einsatz morgen Abend. Teambesprechung in fünf Minuten. Ich gehe mir nur noch einen Kaffee holen.“     Als Schuldig ankam, saßen Crawford und Nagi bereits über einer Karte. Crawford erklärte den Grundriss. „Es gibt Kameras auf dem ganzen Gelände. Ich will, dass du dir die Daten auf dein Laptop holst und selber überwachst. Wenn irgendwas aus dem Ruder läuft, gibst du sofort Bescheid. Takatori und ich werden hier sein. Schuldig übernimmt den Posten am Eingang.“ Er sah auf. „Du musst schon eine Stunde vorher da sein. Ich will, dass du alle abcheckst, die da rein- und rausgehen.“ „Wird gemacht, Boss“, antwortete Schuldig und ließ sich in einen Sitz fallen. „Aber dafür muss ich nicht früher da sein. Es reicht, wenn ich das mache, wenn wir kommen.“ Crawford öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Schuldig winkte ab. „Ich schaffe das, okay?“ Der Amerikaner schien nicht überzeugt, ließ das Ganze aber unkommentiert. Das mochte Schuldig so an Crawford. Der nahm seine Wahrheit lieber pur. Ohne Eis und sonstigen Schnickschnack.   Schuldig betrachtete die Karte und runzelte die Stirn. „Das ist das alte Gelände von Pangan Electricity. Was will Takatori da?“ „Sein Sohn Hirofumi hat dort ein Projekt aufgezogen und seinen Vater offensichtlich erfolgreich bekniet, sich das mal anzusehen. Morgen Abend ist eine Vorführung. Exklusives Publikum. Allerhand interessante Namen.“ Crawford reichte Schuldig eine Liste. Der warf einen Blick darauf und pfiff anerkennend durch die Zähne. „Ist ja so ziemlich alles dabei, was Rang und Namen hat. Hoffentlich lässt Watanabe seinen schießwütigen Bonzai-Gorilla zu Hause. Ich kann den Kerl nicht ab. Der meint immer, einen Schwanzvergleich mit mir machen zu müssen.“ „Schuldig!“ Crawford nickte in Nagis Richtung. „Was? Meinst du, der Kleine hat noch nie das Wort 'Schwanz' gehört? Hinter welchem Mond lebst du denn?“ Crawford sagte dazu nichts, aber Nagi grinste Schuldig dankbar an. Der zwinkerte zurück und meinte dann: „Ach übrigens, Nagi kann deinen dämlichen Ahornsirup nicht leiden. Du solltest ihm was anderes besorgen.“ Nagi quollen fast die Augen über und seine gerade noch so große Dankbarkeit kippte in das mentale Äquivalent eines gewaltigen Tritts gegen Schuldigs Schienbein. Der rieb sich die Schläfe und grinste nur umso breiter. Seine Lippen formten ein lautloses 'Gern geschehen'. Crawford beachtete sie nicht weiter. Er schob die Brille auf dem Nasenrücken nach oben und brummte: „Mache ich. Können wir jetzt bitte weiter arbeiten?“ Sie gingen noch weitere Details des Abends durch, bis Crawford endlich zufrieden war. Der Amerikaner hasste solche kurzfristigen Aktionen und war lieber auf alle Eventualitäten vorbereitet. Manchmal ersparte ihm eine Vision etwas Planungsarbeit, aber meistens blieb es komplett an ihm hängen, Takatoris Hintern in Watte zu packen. Eine Aufgabe, um die Schuldig ihn nicht beneidete.     Der Telepath leerte gerade den dritten Kaffeebecher, als sein Blick auf sein lautlos gestelltes Handy fiel, das auf dem Sitz neben ihm lag. Auf dem Display blinkte das Nachrichtensymbol. Er fluchte leise.   Ran: Wann und wo?   Die SMS war bereits zwei Stunden alt. Schuldig begann, auf seinem Handy herumzutippen.   Tim: Sorry, mir ist was dazwischen gekommen. Ich kann Morgen nicht.   Der Termin mit Takatori warf ihm den ganzen Plan durcheinander. Fujimiya war ein schwieriger Fang. Wenn er die Leine zu schnell einholte, sprang er ihm womöglich vom Haken. Das Gleiche konnte aber auch passieren, wenn er zu viel Leine ließ. Schuldig kniff die Augen zusammen und sah auf die Uhr. Vielleicht ...   Tim: Wie wäre es stattdessen mit heute Abend? Tim: Um halb acht im Ikeda? Ich schicke dir die Adresse.   Jetzt galt es abzuwarten. Halb zufrieden steckte er das Handy in die Tasche. „Ich muss los. Hab noch was vor.“ Crawford runzelte die Stirn. „Wir sind eigentlich noch nicht fertig. Ich wollte noch was anderes mit dir besprechen.“ „Muss warten. Ich bin an Fujimiya dran. Die Sache könnte sich zu was Größerem entwickeln.“ Crawford zögerte kurz, dann nickte er. „Okay, meinetwegen. Aber ich verlasse mich auf dich, Schuldig. Wenn das schiefgeht ...“ Der Telepath breitete entwaffnend die Arme aus. „Du kennst mich. Wenn ich Spaß an etwas habe, bin ich am besten.“ Ein schmales Lächeln umspielte Crawfords Lippen. „Ich erwarte, dass du mir das Ganze auf einem Silbertablett servierst.“ Schuldig erwiderte seine Gesichtsausdruck und wirkte dabei wie eine Katze, die gerade entdeckt hatte, dass der Käfig des Kanarienvogels offenstand. „Ich steck noch ein Petersiliensträußchen dran, wenn es dich glücklich macht. Und glaube mir, es wird dich glücklich machen.“         Aya konnte es kaum erwarten, dass es endlich Zeit wurde, das metallene Gitter herunterzulassen. Er wollte hier raus und ein wenig Abstand zwischen sich und seinen Fund im Keller bringen. Außerdem wollte er nachsehen, was Tim ihm geschrieben hatte. Momentan war das allerdings ein Ding der Unmöglichkeit, denn die Kunden schienen heute entschlossen zu sein, das Koneko bis auf den letzten Stängel leerzukaufen. Die Türglocke stand quasi seit über einer Stunde nicht mehr still und ungefähr genauso lange saß beziehungsweise stand Aya auch schon auf heißen Kohlen. Vielleicht kam er wenigstens vor dem Aufräumen dazu … „Aya, hilfst du heute mal bei den Pflanzen? Ich brauch eine Pause.“ Yoji drückte den Rücken durch und ließ den Nacken knacken. „Wirst wohl alt“, stichelte Omi und kassierte dafür beinahe einen Katzenkopf. „Pass auf, wen du hier alt nennst, du Zwerg. Dich stecke ich immer noch in die Tasche. Außerdem muss ich mich schonen. Ich habe heute Abend noch eine Verabredung. Und man weiß ja nie, wie lange die Dame gedenkt, mich heute auf Trab zu halten.“ Er zwinkerte Omi über den Rand der Sonnenbrille hinweg zu. Der überlegte einen Augenblick und lief dann bis über beide Ohren rot an, als er endlich verstand, was Yoji angedeutet hatte. „Wer feiert, kann auch arbeiten“, knurrte Aya und drückte dem verdutzten Yoji einen Besen in die Hand. „Los, saubermachen!“ „Hey, Aya! Sei doch nicht so kratzbürstig. Man könnte denken, du hättest heute auch noch was vor.“ Aya kniff die Lippen zusammen und versuchte, sich auf den Kassenabschluss zu konzentrieren. Nur nicht hinsehen. „Oh nein, das glaube ich jetzt ja nicht.“ Yoji blieb wirklich für einen Augenblick der Mund offenstehen. „Du hast heute noch was vor. Aya 'Rühr-mich-nicht-an' Fujimiya hat heute ein Date.“ „Ich habe kein Date“, fauchte Aya. Das fehlte ihm jetzt gerade noch, das Yoji seine spitze Nase in seine Angelegenheiten steckte. „Ich hoffe, du hast nicht vor, in den Klamotten da aufzutauchen. Wo wollt ihr denn hin? Hat er was gesagt?“ „Nein, hat er nicht.“ Aya erstarrte in der Bewegung. Eine Münze fiel aus seinen Händen zu Boden und rollte mit zielsicherer Genauigkeit dem breit grinsenden Yoji vor die Füße. Er bückte sich, hob das Geldstück auf und reichte es Aya über den Ladentisch. „Sie haben da was verloren, Herr Fujimiya.“ Er ließ seine Wimpern ein paar Mal auf und ab flattern. „Hatte ich erwähnt, dass ich ein Spitzen-Privatdetektiv war?“ „Gelegentlich“, knirschte Aya und ließ die Kasse so heftig zuschnappen, dass Yoji erschrocken zurückprallte. „Aber dieses Mal liegst du vollkommen falsch. Also nochmal zum Mitschreiben: Ich habe heute kein Date, verstanden? Nicht die klitzekleinste Verabredung. Ich bin einfach nur bereits, im Gegensatz zu anderen Anwesenden, den ganzen Tag auf den Beinen und will jetzt endlich Feierabend haben. Ist denn das zu viel verlangt?“ Aya war mit der Zeit immer lauter geworden. Yoji verschanzte sich instinktiv hinter seinem Besen. Ken tat höchst geschäftig mit einigen Pflanzen. Niemand sagte ein Wort, bis Omi sich schließlich räusperte. „Also … wir schaffen das heute bestimmt auch ohne dich, Aya-kun. Wenn du möchtest, kannst du ruhig gehen.“ Aya wollte zuerst erwidern, dass sich Omi seine Freundlichkeit sonst wohin stecken konnte, aber dann überlegte er es sich anders. Vielleicht war es ganz gut, wenn er jetzt einfach ging. Sollten die drei anderen doch sehen, wie sie ohne ihn zurechtkamen. Er band seine Schürze ab, knüllte sie zusammen und warf sie in eine Ecke. Sollten sie die doch auch gleich mit wegräumen. Ohne ein weiteres Wort des Grußes verließ er den Laden und ging straffen Schrittes die Straße entlang. Dabei holte er das Handy aus der Tasche. Drei Nachrichten. Er las die erste und wurde unwillkürlich langsamer. Tim hatte abgesagt. Er las die nächste Nachricht. Er wollte sich heute mit Ran treffen? Und das schon in einer halben Stunde?   Aya sah an sich herab. Eine schwarze, leicht verwaschene Hose und ein schwarzes T-Shirt. Yoji hatte gemeint, er könne so nicht zu einer Verabredung. Aber er hatte keine Zeit, um sich noch umzuziehen. Was sollte er tun? Absagen? In diesem Moment piepte das Handy wieder. Noch eine Nachricht! Tim: Ich weiß, es ist etwas kurzfristig. Wenn du möchtest, können wir auch etwas anderes abmachen.   Aya überlegte. Wahrscheinlich wäre es wirklich das Klügste, das Ganze zu verschieben. Doch bei der Erinnerung an die Szene im Laden regte sich Widerstand in ihm. Wer war er denn, dass er sich von irgendeinem dahergelaufenen Möchtegern-Cassanova erzählen ließ, wie sein Leben auszusehen hatte? Mit entschlossener Miene tippte er eine Antwort.   Ran: Nein, es passt mir. Ich komme allerdings direkt von der Arbeit.   Tim: Das macht nichts, ich auch. ^_~   Aya starrte auf den zwinkernden Smiley und fühlte ein Grinsen auf seinem Gesicht. Na also. Ein ganz normales Nach-der-Arbeit-was-Trinken-gehen. Dass er und Tim keine Kollegen waren, konnte man dabei sicherlich vernachlässigen. Immerhin arbeitete Tim ja noch nicht so lange in Japan. Es war also mitnichten ein Date, wie Yoji gemeint hatte. Es war nur … Egal, was es war, wenn er sich nicht beeilte, würde er zu spät kommen. Er steckte das Handy weg und sprintete in Richtung U-Bahn.       Das Ikeda war bereits gut besucht, als Aya leicht abgehetzt dort ankam. Er hatte die erste Bahn verpasst und dann zehn Minuten auf die nächste warten müssen, die in die richtige Richtung fuhr. Er spähte ins Innere der Bar, die an einer etwas ruhigeren Ecke des sonst recht belebten Stadtviertels lag. Der Laden war mit hellen Holzmöbeln eingerichtet und wurde von schmalen Hängelampen in unterschiedlicher Höhe ausgeleuchtet. Einige Grünpflanzen, von denen er sofort sah, dass sie aus Plastik waren, erzeugten einen Anflug von Heimeligkeit. Die Wand hinter der Bar bedeckte ein riesiger Spiegel, vor dem eine Auswahl von Flaschen stand, und an der Bar saß … Tim. Allein. Die Tische um ihn herum wurden von jeder Menge fröhlicher Menschen umlagert und auch an der Bar stand eine Gruppe von Gästen, die anscheinend keinen Sitzplatz mehr bekommen hatte. Tim saß ein wenig abseits und hatte ein Glas vor sich stehen, in dem er gedankenverloren herumrührte. Mit dem hellgrünen Hemd, das er heute trug, und den auffälligen, roten Haaren war er trotzdem nicht zu übersehen. Aya hielt einen Moment inne. Sollte er da jetzt wirklich reingehen? Zu all diesen normalen Leuten mit ihren normalen Leben? Was, wenn ihn jemand nach seinem Ausweis fragte? Er hatte keinen. Offiziell existierte er gar nicht. Er war ein Nichts, ein Niemand. Unwillkürlich machte er einen Schritt rückwärts, raus aus dem Licht wieder zurück in die Schatten, aus denen er gekommen war. Vielleicht sollte er doch lieber gehen. In diesem Moment sah Tim auf und ihm direkt in die Augen. Zumindest bildete sich Aya ein, dass es so war. Die Mundwinkel des jungen Deutschen hoben sich und er winkte Aya zu. Jetzt gab es kein Zurück mehr.   Aya atmete tief durch und fuhr sich noch einmal durch die Haare, bevor er an der ersten der doppelten Glastüren zog, die ihn nach drinnen führte. Nachdem er auch die zweite geöffnet hatte, schwappte ihm eine Welle von Gelächter entgegen. An einem Tisch wurde gerade eine neue Runde mit lautem „Kampai!“-Rufen eingeläutet. Alle erhoben ihre Gläser und prosteten sich zu, bevor sie einen großen Schluck nahmen. Derjenige, dessen Glas danach den niedrigsten Füllstand aufwies, wurde zum Sieger erklärt und durfte allen Anwesenden erneut einschenken. Danach ging es weiter. Aya ließ sie links liegen und ließ sich neben Tim auf einen Barhocker gleiten. „Tut mir leid, dass ich so spät bin“, sagte er statt einer Begrüßung. „Hab die Bahn verpasst.“ Tim drehte sich halb zu ihm herum. Seine blauen Augen funkelten amüsiert. „Keine Panik, ich habe doch jede Menge Unterhaltung. Bin auch gerade erst gekommen.“ Sein halbleeres Glas sprach eine andere Sprache, aber Aya wusste den Versuch, ihn nicht dumm dastehen zu lassen, zu schätzen. Der Barkeeper kam und musterte Aya für einen Augenblick, bevor er nach seinen Wünschen fragte. „Er nimmt das Gleiche, was ich habe“, bestimmte Tim und grinste Aya an. „Ich kann dich doch zu einem 'Safer Sex on the Beach' verführen, oder nicht? „Zu einem was?“, krächzte Aya. Er glaubte, sich verhört zu haben. „Ein Cocktail ohne Alkohol. Ich weiß ja nicht, wie das bei dir ist, aber ich hatte kein Abendessen, da vertrage ich noch nichts.“ „Ja, ich auch nicht“, log Aya und war froh, so um die Sache mit dem Ausweis herumgekommen zu sein. Wie alt mochte Tim wohl sein? „Hier, probier mal. Wenn's nicht schmeckt, nehme ich deinen und du kannst dir was anderes bestellen.“ Tim drückte ihm sein halbleeres Glas in die Hand. Aya starrte wie hypnotisiert auf den Strohalm. Aus dem hatte Tim schon getrunken. Sollte er jetzt …? Als hätte der andere seine Gedanken gelesen, grinste er plötzlich, nahm den Strohhalm und drehte ihn um. Dann drückte er das Glas in Richtung von Ayas Mund. „Nun stell dich nicht so an, Ran. Runter damit.“ Ach ja, er war jetzt Ran. Siedend heiß fiel ihm ein, dass er sich noch keine Geschichte ausgedacht hatte, die er Tim erzählen wollte. Das hieß, er hatte Ansätze einer Geschichte, aber noch längst nicht alle Details ausgearbeitet. Keine besonders gute Voraussetzung.   Tim legte den Kopf schief und musterte ihn nachdenklich. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Ist alles in Ordnung?“ Aya/Ran nickte und nahm schnell einen Schluck aus dem Glas. Es schmeckte gut, nach verschiedenen Säften, vornehmlich nach Ananas. Eher er sich versah, war das Glas ausgetrunken und der Strohhalm gab einen unanständigen Laut von sich. Zum Glück wurden gerade wieder Trinkrufe von einem der Tische laut. Tim grinste und nickte mit dem Kopf in Richtung der Trinkenden. „Die sind ja lustig drauf. Ist heute irgendein Feiertag?“ „Nein ... ja. Also.“ Ran/Aya atmete tief durch. „Heute ist der erste Tag des Obon, aber ich glaube nicht, dass diese Runde etwas damit zu tun hat. Sie werden sich einfach nach der Arbeit getroffen haben. Das ist hier so üblich. Die Kollegen, auch die höhergestellten, tauschen sich hier aus, während sie etwas trinken. Der Alkohol macht es leichter. Am nächsten Morgen wird dann nicht mehr darüber geredet, was in dieser Runde besprochen wurde.“ Tim zog die Augenbrauen hoch. „Na das sollten sie mal bei uns einführen. Aber was ist dieses Obon?“ Ran nahm dankend ein Glas entgegen, das der Barkeeper ihm reichte. Er brauchte etwas, an dem er sich festhalten konnte. Tim orderte gleich noch ein Mineralwasser. „Obon ist das Fest, bei denen die Toten aus ihrem Reich in die Welt der Lebenden kommen. Wir feiern in ihrem Beisein, bis sie dann am dritten Tag wieder mit leuchtenden Laternen zurück ins Jenseits geleitet werden. Dazwischen gibt es große Feiern, Tänze, Musik an den Schreinen. Es gibt sogar spezielle Tänze, die nur zu diesem Fest aufgeführt werden.“ Tim hörte ihm mit großen Augen zu. „Das klingt toll. Aber da darf man als Außenstehender doch bestimmt nicht hin.“ „Natürlich, die Tempel sind für alle offen.“ Tims Gesicht begann zu leuchten. „Würdest du da mit mir mal hingehen? Alleine würde ich mir da komisch vorkommen. Oder gehst du mit deiner Familie?“ Ran sah seine Chance kommen. „Meine Familie lebt nicht hier. Ich stamme ursprünglich aus Osaka. Mein Vater arbeitet dort in einer Bank. Wir sehen uns nur selten.“ „Und was tust du dann hier alleine?“ „Geld verdienen. Ich … wir sind nicht so gut miteinander ausgekommen, da bin ich ausgezogen. Tokio schien mir eine gute Idee zu sein.“ Tim nickte verständig. Die Ähnlichkeit zu seiner eigenen Geschichte war ihm anscheinend nicht aufgefallen. Ran fing an, sich ein wenig zu entspannen. Die erste Hürde war genommen. Er nippte an seinem Drink. „Also wenn du möchtest, können wir das Fest gerne besuchen. Es geht bis übermorgen.“ Tim nickte. „Gut, einverstanden. Das mit Morgen tut mir wirklich leid. Ich muss leider arbeiten. Babysitting für den Knirps. Seine Eltern sind auf irgendeinem Bankett und da haben sie mich gefragt, ob ich ihm Gesellschaft leisten würde. Er war ungefähr so begeistert wie ich, aber was tut man nicht alles.“ Tim lachte und Ran stellte fest, dass ihm das Geräusch einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Sein Magen begann leicht zu flattern. Er warf einen Blick in den Spiegel, der hinter der Bar hing. Sie gaben schon ein seltsames Paar ab, wie sie hier so an der Bar saßen und Fruchtsaft tranken, während um sie herum der Alkohol langsam, aber sicher die Gesichter rötete und die Lautstärke steigen ließ. „Wir sehen aus wie zwei Papageien in einer Schar voller Pinguine“, sagte Tim plötzlich und zwinkerte ihm zu. Er stieß mit Rans Glas an. „Kampei, kleine Blume.“ Ran grinste und stieß zurück. „Selber Kampei. Das bedeutet übrigens so viel wie 'leeres Glas'. Also runter damit.“ Sie grinsten beide und leerten ihre Getränke in einem Zug. Das hieß, Tim versuchte es, musste aber zwischendurch abbrechen, weil er sich so verschluckte. Ran widerstand dem Drang, ihm auf den Rücken zu klopfen. Er war sich Tims Gegenwart ohnehin schon zu sehr bewusst. Da waren diese kleinen Gesten, die Fast-Berührungen, die Blicke, die ihm direkt in den Magen fuhren und ihm ein Kribbeln über den gesamten Körper jagten. Wenn sich tatsächlich Alkohol in seinem Glas befunden hätte, hätte die Wirkung nicht verheerender sein können. Ran merkte, wie ihm langsam die Kontrolle entglitt.   Als er sich wieder gefangen hatte, drehte Tim sich um und lehnte sich mit den Ellenbogen auf die Theke. „Lass uns ein Spiel spielen“, schlug er vor. „Ein Spiel?“ Ran drehte sich ebenfalls herum und sah sich in der Bar um. „Ja, ein Spiel. Es heißt 'Märchenstunde'.“ Ran versuchte, das fremdartige Wort aus Tims Muttersprache nachzusprechen, scheiterte aber kläglich. Er schüttelte den Kopf. „Erklär mir lieber, wie das Spiel geht, sonst habe ich mir vorher die Zunge gebrochen.“ Tims Augen funkelten. „Es ist ganz einfach. Du suchst dir eine Person aus und denkst dir ein Geheimnis über sie aus. Wer das beste Geheimnis erfindet, hat gewonnen.“ Ran runzelte die Stirn. „Du fängst an“, legte er fest. Dieses Spiel wollte er sich erst einmal ansehen. Tim sah sich um und hatte schon bald sein erstes Opfer erspäht. „Siehst du den kleinen Dicken dahinten mit der Glatze? Ich sage dir, der sammelt kleine Porzellan-Einhörner. Außerdem schläft er in einem Schlafanzug mit kleinen Katzen drauf, den ihm seine Mama geschenkt hat.“ Ran prustete in sein Glas und Tim grinste ihn siegessicher an. „Na los, jetzt bist du dran.“ Ein junger Man erweckte Rans Aufmerksamkeit. Er war schon ziemlich betrunken und anscheinend kurz davor, von der Bank zu kippen, auf der er saß. „Der da träumt davon, ein berühmter Ramen-Koch zu werden, musste aber wegen eines eingewachsenen Zehennagels einen anderen Beruf ergreifen.“ Tim nickte anerkennend. „Nicht übel. Aber jetzt pass mal auf. Der, der neben ihm sitzt, hat sich in deinen Hobbykoch verknallt und überlegt gerade fieberhaft, wie er ihm das wohl beibringen soll.“ Tatsächlich lehnte sich der Banknachbar von Rans Kandidaten gerade sehr nahe herüber, sodass es fast aussah, als wolle er ihn umarmen. Aber dann griff er doch nur nach dessen Glas und füllte es erneut, bevor er es ihm in die Hand drückte. „Siehst du, er versucht ihn betrunken zu machen, damit es besser läuft. Aber er sollte aufpassen, sonst kotzt sein Angebeteter ihm heute Abend noch die Schuhe voll. Dabei hat er die doch extra auf Hochglanz poliert, um bei ihm Eindruck zu machen. Und jeden Tag kommt er bei ihm vorbei, um mit ihm Mittagessen zu gehen, aber dann traut er sich doch nicht in sein Büro und geht stattdessen mit der hässlichen Schrapnelle vom Empfang. Er weiß nämlich nicht genau, ob sein Schwarm auch auf Männer steht, und irgendwie verpasst er immer den Punkt, das mit ihm zu klären.“ Rans Blick wanderte zu Tims Schuhen. Er trug polierte, schwarze Halbschuhe. Tim hob fragend eine Augenbraue. „Und? Hat er Chancen?“ Rans Mund wurde plötzlich trocken und der Raum schien sich ein wenig um ihn zu drehen. Heißkalte Schauer liefen über seinen Rücken und der forschende Blick von Tims Augen wurde fast unerträglich. Er wollte … er konnte … er musste … „Ja“, flüsterte er so leise, dass Tim ihn unmöglich verstanden haben konnte. „Ja, hat er.“ So etwas wie Erleichterung glitt über Tims angespannte Züge. Er wandte sich plötzlich ab und sah wieder in Richtung der Feiernden. „Das ist gut“, hörte Ran ihn kaum vernehmbar sagen. „Ich steh nämlich auch auf ihn.“ Kapitel 8: Menschenjagd ----------------------- Mit federnden Schritten eilte Schuldig die Treppe zu seinem Apartment empor und nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal. Er klimperte mit den Wohnungsschlüsseln und war kurz davor, vor sich hin zu pfeifen. Der Abend war grandios gelaufen und Fujimiya hatte ihm geradezu aus der Hand gefressen. Wobei er zugeben musste, dass ihm dieser Teil seines Jobs wirklich Spaß machte. Der Junge war … anregend. In doppelter Hinsicht. Schuldigs Mundwinkel hoben sich ein Stück weit. So unschuldig und ahnungslos, was gewisse Dinge anging, aber trotzdem kein Püppchen. Ein bisschen wie ein junger Panther; schön, gefährlich, sich seiner Kraft aber nicht bewusst und deswegen fast so harmlos wie ein Kätzchen. Wenn man sich in acht nahm. Ja, er würde jede Minuten ihres Zusammenseins genießen.   Schuldig schloss die Tür zu seinem eigenen Reich auf, streifte noch während des Hineingehens die Schuhe ab und ließ die Tür ins Schloss fallen. Mit Befriedigung nahm er die empörten Gedanken des Nachbarn unter sich wahr. Rücksichtnahme, my ass! Er wanderte durch den kleinen Flur, ohne das Licht anzuschalten, und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Er hatte den Raum kaum betreten, als er sich der Präsenz bewusst wurde. Irgendwo dort im Dunkeln vor ihm war jemand. Er verharrte regungslos in der Nähe der Tür und verfluchte seine eigene Leichtsinnigkeit. Atemgeräusche waren zu hören, seine eigenen und die des Eindringlings. Ein Geruch mischte sich in die samtige Schwärze. Süß und metallisch, der Geruch von frischem Blut. Ein Lächeln breitete sich langsam auf Schuldigs Gesicht aus. Er griff nach dem Lichtschalter. Die Deckenbeleuchtung flammte auf und enthüllte den Besucher, der geduckt auf seinem Couchtisch hockte. „Na da habe ich ja Glück, dass das hier jetzt kein Till-Schweiger-Film ist“. Sein Gegenüber hob fragend eine einzelne, weiße Augenbraue. Schuldig rollte mit den Augen. „Ach vergiss es. Los, runter vom Tisch.“ Er ließ sich auf das Sofa fallen und betrachtete Farfarello, der die Betrachtung erwiderte. Er wusste, dass er nichts von dem Iren zu befürchten hatte. Zum einen zierten Farfarellos Kleidung – und Schuldigs Tisch – deutliche Spuren davon, dass er heute bereits Blut vergossen hatte. Und zum anderen hatte er schlichtweg keine Angst vor ihm. Seit sie sich das erste Mal getroffen hatten, herrschte eine Verbindung zwischen ihnen, die wie eine Freundschaft aussehen mochte, von Schuldig jedoch eher als eine Art Nicht-Angriffs-Pakt betrachtet wurde.   Er war damals gerufen worden, um Farfarello zu reparieren. Er sah ihn noch vor sich, wie er mitten im Raum umringt von einem Haufen Leichen auf dem Boden lag und an die Decke starrte. Doch noch bevor der Telepath hatte versuchen können, in den Geist des Killers vorzudringen, der gerade nicht weniger als zehn Rosenkreuz-Wachen um die Ecke gebracht hatte, hatte der aus heiterem Himmel ein Messer gezogen und versucht, ihm die Hand abzuschneiden. Die Narbe des Vorfalls zierte immer noch Schuldigs Handgelenk und erinnerte ihn daran, stets wachsam zu bleiben. Farfarello hingegen schien das als eine verquere Art von Blutsbrüderschaft zu betrachten. Seit dem Tag tat Schuldig so, als wenn der irre Ire normal wäre, und Farfarello tat im Gegenzug so, als wäre das die Wahrheit.   „Möchtest du ein Bier?“ Farfarello, der immer noch keine Anstalten machte, vom Tisch zu steigen, schüttelt den Kopf. Schuldig zuckte mit den Schultern, erhob sich, ging zum Kühlschrank und nahm eine Dose heraus. Es zischte, als er den Verschluss öffnete. „Dosenbier macht ja bekanntlich schlau“, witzelte er, bevor er sich wieder auf die Couch fallen ließ. „Schönen Abend gehabt?“ Er wies auf die Blutspuren. Farfarello antwortete nicht, stieg aber endlich vom Tisch und begann im Zimmer umherzuwandern. Er hinterließ eine Spur blutiger Abdrücke. Schuldig atmete innerlich tief durch. Er mochte schöne Dinge, wenngleich sich seine Definition von schön auch hier und da von denen normaler Leute unterschied. Farfarello hingegen hasste alles, was makellos erschien. Vielleicht war es die göttliche Macht, die er hinter allzu viel Perfektion vermutete. Wann immer er auf ein Objekt oder einen Menschen traf, die sich anmaßten, seinem Bild überirdischer Schönheit zu entsprechen, hatte Farfarello das Bedürfnis, sie zu zerstören, zu beflecken und mit der sündigen Menschlichkeit zu verunstalten, die er an sich selbst so verabscheute. Heute schien das Objekt des Anstoßes Schuldigs Teppich zu sein. Der Telepath seufzte lautlos. „Hat dein Besuch einen bestimmten Grund?“ Er fragte, obwohl er wusste, dass es einen 'Grund' bei Farfarello selten gab. Zumindest keinen, den man mit bloßem Auge erkennen konnte. Farfarello war wie ein streunender, einäugiger Kater, der kam und ging, wie es ihm passte, und dabei manchmal irgendetwas anschleppte, von dem er dachte, dass es Schuldig gefallen könnte. Wenn der Telepath Glück hatte, war es noch lebendig. „Du warst aus“, stellte der Ire fest und beäugte misstrauisch Schuldigs Kaffeemaschine. „Hast du gejagt?“ Schuldig lachte auf. „Wohl eher geangelt. Ich habe da einen dicken Fisch am Haken.“ Farfarello blieb stehen und sah zu ihm herüber. In seinem Gesicht, das einst schön gewesen sein mochte, jetzt aber von Narben verunstaltet war, stand ein unleserlicher Ausdruck. Als er wieder zu sprechen begann, hatte seine heisere Stimme einen fast ehrfürchtigen Klang. „Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht. Von nun an wirst du die Menschen lebendig fangen.“ Schuldig lächelte ihn an. „Ich hoffe, du hast nicht vor, ständig mit Bibel-Zitaten um dich zu werfen, ansonsten könnte das etwas schwierig mit uns beiden werden. Ich bin kein sehr gläubiger Mann.“ Farfarello antwortete nicht, aber Schuldig wusste, dass er aufmerksam zuhörte. „Tja weißt du, es trifft sich nämlich recht gut, dass du hergekommen bist. Ich wollte dich ohnehin etwas fragen. Hättest du nicht Lust, mit mir zusammenzuziehen? Nur für eine Weile. Ich brauche ...“ Er kam nicht weiter, da Farfarello sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Er kam jetzt direkt auf Schuldig zu, ging jedoch an ihm vorbei in Richtung der zweiten Tür. „Ich bekomme das Schlafzimmer“, war alles, was er sagte, bevor er die Tür hinter sich zuzog. Schuldig atmete ein weiteres Mal tief durch und leerte den Rest der Bierdose mit einem Zug. Dann stand er auf und folgte Farfarello, um wenigstens noch einen Teil seiner Garderobe in Sicherheit zu bringen.         Aya lag wach und starrte an die Decke. Er wusste, dass er eigentlich schlafen sollte, aber sein gesamter Körper summte vor Energie. Tausende Bilder stolperten und purzelten durch seinen Geist und er wusste, dass er ein geradezu dämliches Grinsen auf dem Gesicht hatte. Aber da er allein auf seinem Bett lag, sah er keinen Grund dafür, es zu verstecken, auch wenn seine Gesichtsmuskeln so langsam gegen diese ungewohnte Beanspruchung zu protestieren begannen. Der Abend mit Tim war wunderbar gewesen und hatte irgendetwas mit ihm angestellt, dass er sich nicht so recht erklären konnte. Oder wollte, denn das hätte bedeutet, dass er sich auch mit weiteren Fragen beschäftigen musste. Und im Moment wollte er sich mit nichts beschäftigen, als mit der Erinnerung an Tims Lachen, das Funkeln seiner Augen, den feinen Schwung seiner Lippen, die Aufmerksamkeit, mit der er Ran überschüttet hatte. Ja, Ran, denn Aya machte sich keine Illusion darüber, dass Tim, hätte er die volle Wahrheit gewusst, vermutlich voller Entsetzen davongelaufen wäre. Seufzend drehte er sich auf den Bauch und umarmte sein Kissen. Sein Blick fiel auf das Heft, das er vor dem Löschen des Lichts noch durchgeblättert hatte. Die Abenteuer von Tim und Struppi. Tim hatte es ihm mitgebracht. „Damit du weißt, wovon der komische Europäer da redet“, hatte er gesagt und gelacht und sich die Haare hinter das Ohr gestrichen. Ran hätte die Geste am liebsten selbst wiederholt. Aber natürlich ging das nicht, immerhin waren sie in der Öffentlichkeit. Nur ein einziges Mal hatten sich ihre Finger kurz gestreift und Aya hatte das Gefühl gehabt, einen Stromstoß zu bekommen. Er schluckte, als er sich vorstellte, wie es wohl wäre, Tim tatsächlich zu berühren, und ein ziehendes Gefühl in seiner Lendengegend verriet ihm, was ohnehin schon klar war. Er schüttelte leise lachend den Kopf und der lange Ohrring stieß gegen seinen Hals. 'Das hättest du dir wohl nicht träumen lassen, Schwersterchen', dachte er, während er die Finger über das warme Metall gleiten ließ. 'Dein großer Bruder steht nicht auf Frauen.' Es war ja nicht so, dass er noch nie mit einem Mädchen aus gewesen wäre. Es war nur einfach nicht … Es hatte sich nicht so angefühlt, wie er gedacht hatte, dass es sich anfühlen müsste. Andererseits hatten ihm die Vergleichsmöglichkeiten gefehlt und so hatte er angenommen, dass es eben so sein müsse. Man fand sich nett, man tat Dinge gemeinsam, man sprach über Dinge, die einen interessierten, hörte dem anderen zu, wie dieser über Dinge sprach, die ihn interessierten. So etwa. Seit er Tim kannte, wusste er, dass es anders war. Wenn er Tims Stimme hörte, hätte dieser über Dosenerbsen referieren können, es wäre Aya egal gewesen, solange er nur weitersprach. Wann immer er Aya ansah, fuhr ihm dieser Blick direkt in den Magen, seine Knie wurden weich und er bekam dieses verdammte Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Er drehte sich wieder auf den Rücken und beobachtete den Streifen Mondlicht, der durch einen Spalt in der Jalousie hereinschien. Was Tim wohl gerade tat? Wahrscheinlich schlief er. Oder lag er ebenso wie Aya noch wach und betrachtete den gleichen Mond? So nah und doch so fern. Er würde aufpassen müssen, dass er den Zauber nicht zerstörte. Aufpassen, dass die Schatten nicht das wenige Licht auslöschten, das sich in sein Leben gestohlen hatte. Er wollte nicht, dass das hier vorbei war. Irgendwann fielen ihm nach einer gefühlten Ewigkeit doch die Augen zu und er begann zu träumen. Und das erste Mal seit Wochen waren seine Träume weniger dunkel als das, was ihn am Morgen erwartete.       „Irgendwas ungewöhnliches?“ Crawford warf Nagi einen fragenden Blick zu. Der verneinte. „Alles ruhig. Eine der Kameras im westlichen Sektor hat einen Wackelkontakt, aber ansonsten keine Schwierigkeiten.“ „Gut, halte mich auf dem Laufenden. Schuldig?“ Der Telepath lehnte in einer Ecke und hatte die Augen geschlossen. „Watanabes Schoßhund hat ganz fürchterliche Kopfschmerzen und einen nervösen Finger am Abzug. Mal ehrlich, der Typ kompensiert doch irgendwas mit der Riesen-Knarre.“ „Lass dich nicht ablenken“, knurrte Crawford und strich seinen hellen Anzug glatt. Er straffte sich und kehrte in den Nebenraum zurück, wo Reiji Takatori es sich in einem rot gepolsterten Sessel bequem gemacht hatte. In der einen Hand hielt er ein Glas, die andere nahm gerade seine Zigarre aus dem Mund. „Das wird doch hier hoffentlich keine abendfüllende Veranstaltung wird, Hirofumi. Ich bin ein viel beschäftigter Mann.“ Sein Sohn, der neben einem Fenster stand, das fast die gesamte Wand einnahm, beugte den Kopf. „Ich denke, du wirst dich gut unterhalten fühlen. Masafumi schließt gerade die letzten Vorbereitungen ab, dann können wir mit der Vorführung beginnen.“ „Masafumi ist auch hier?“, fragte einer der anderen Anwesenden. Er war ein beleibter Mann mit einer Sonnenbrille, die er trotz der fortgeschrittenen Stunde nicht abgenommen hatte. An seinem Arm hing eine blonde Schönheit, die sich gelangweilt an einem Glas Champagner festhielt. „Ja, mein Bruder unterstützt dieses Projekt mit einigen wissenschaftlichen Errungenschaften. Sie werden später noch Gelegenheit haben, diese in Augenschein zu nehmen.“ „Uh, das wird sicher aufregend“, ließ sich die Blonde vernehmen und rekelte sich ein wenig näher an ihren Begleiter heran. Der schubste sie unsanft von sich. „Lass los, Karen. Wenn ich dich brauche, lasse ich dich rufen.“ Er schnippte mit den Fingern und einer der Bodyguards, die an der Wand standen, lockerte den Griff um seine Waffe und machte einen drohenden Schritt auf die Blondine zu. Die funkelte ihn wütend am und raffte dann den Saum ihres langen, geschlitzten Rocks. „Danke, ich finde selber hinaus“, verkündete sie und nahm sich auf dem Weg noch ein Glas Champagner, als hätte sie lediglich einen normalen Empfang verlassen, um sich die Nase zu pudern. Die dicke Metalltür fiel hinter ihr ins Schloss.   Ein knisterndes Geräusch erklang plötzlich aus den Lautsprechern, die neben den Fenstern angebracht waren. „Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Wir können anfangen.“ Masafumis Stimme klang leicht verzerrt, aber es war nicht schwer, die Vorfreude herauszuhören. Hirofumi nickte zufrieden. „Meine Herren, wenn ich Sie nach vorn bitten dürfte?“ Takatori und die anderen Männer nahmen am Fenster Aufstellung. Hinter der dicken Scheibe lag im Halbdunkel das alte Elektrizitätswerk. Backsteingebäude, gusseiserne Fenster und metallene Türen reihten sich im Dunkeln auf. Im Hintergrund konnte man die Masten und Leitungen erkennen, die einst dazu gedient hatten, den hier erzeugten Strom an die Umgebung zu verteilen. Jetzt waren die Gebäude verlassen, durch zerbrochenes Fenster strich der warme Wind und die Masten ragten wie Gerippe gefallener Kreaturen in den dunkeln Nachthimmel empor. Ein halber Mond beleuchtete die Szene und verlieh der Kulisse etwas Unheimliches, Bedrohliches, indem er die Schatten dunkler werden und den Verfall deutlicher hervortreten ließ. Inmitten dieser Szenerie wurde jetzt eine Tür geöffnet und etliche Gestalten betraten einen Innenhof. Einige von ihnen waren bewaffnet und gingen mit sicherem Schritt, während andere nur zögernd in das silbrige Licht traten oder sogar vorwärts gestoßen wurden. Als sie in der Mitte des Platzes angekommen waren, hörte man wieder Masafumis Stimme aus dem Lautsprecher, die offensichtlich auch auf dem Hof zu hören war. „Wie Sie sehen, haben wir eine Anzahl von Freiwilligen für unsere heutige Veranstaltung hier versammeln können. Sie und wir werden Zeuge einer ganz neuen Form der Unterhaltungsbranche werden. Nicht umsonst sagt ein Sprichwort: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Die Kandidaten des heutigen Abends werden, wenn sie das Spiel gewinnen, eine nicht unerhebliche Geldsumme von uns erhalten. Die Aufgabe, die sie dabei haben, ist einfach. Sie müssen nur überleben.“ Bei diesen Worten öffnete sich eine weitere Tür auf der anderen Seite des Hofes. Vier Männer traten heraus. Sie alle waren maskiert und bis an die Zähne bewaffnet. Einer von ihnen trug eine doppelläufige Schrotflinte, ein anderer eine lange, von einer gezackten Klinge geschmückte Lanze. Der nächste hatte einen Bogen auf seinem Rücken und der vierte führte ein Paar monströser Hunde an der Leine. Die Tiere knurrten und geiferten, als könnten sie es nicht erwarten, sich auf ein hilfloses Opfer zu stürzen. Unter den 'Kandidaten' machte sich Unruhe breit.   „Wie Sie sehen, meine Herren, haben wir keine Kosten und Mühen gescheut, Ihnen eine gute Auswahl an Jägern zu liefern.“ Masafumi sprach mit stolz geschwellter Brust. „Ihr Ziel ist es, die Kandidaten einen nach dem anderen ausfindig zu machen und zu eliminieren. Beide Parteien haben dazu drei Stunden Zeit. Nach Ablauf der Zeit erhalten alle Überlebenden ihre Belohnung. Im Gegenzug erhält jeder Jäger seine Bezahlung in Abhängigkeit von der Zahl seiner Opfer. Es gibt also nicht nur einen Wettstreit zwischen den beiden Gruppen, sondern auch unter den rivalisierenden Jägern.“ Einer der Männer im Überwachungsraum trat näher an das Fenster und kniff die Augen zusammen. „Irre ich mich oder hat einer der Hunde einen Rückenkamm?“ Hirofumi lächelte hintergründig. „Die Hunde wurden von meinem Bruder speziell für die Jagd gezüchtet. Sie werden Sie später noch in Aktion bewundern können.“ „Lassen wir die lange Vorrede und fangen endlich an.“ Takatori pochte ungeduldig mit dem Fingerknöchel gegen die Scheibe. „Wir wollen sehen, was du so großspurig angekündigt hast.“ Hirofumi verbeugte sich pflichtschuldig. „Natürlich Vater.“ Er drückte auf einen Knopf an der Wand und sprach in ein Mikrofon. „Lasst die Spiele beginnen.“   Im gleichen Augenblick begannen die Wachen auf dem Hof, in die Luft zu schießen. Die Kandidaten schraken zusammen und stoben in verschiedene Richtungen davon. Gerade, als der letzte von ihnen zwischen den Gebäuden verschwinden wollte, traf ihn ein Schuss in den Rücken. Er brach mit einem heiseren Schrei zusammen und blieb regungslos liegen. Der Jäger mit der Schrotflinte steckte eine Handfeuerwaffe in seinen Gürtel. „Eins“, verkündete er und grinste seine Gegenspieler an. „Das war gegen die Regeln“, beschwerte sich der mit der Lanze. „Nur weil du zu langsam bist“, zischelte der mit dem Bogen. Er wartete nicht weiter ab und setzte sich ebenfalls in Bewegung. Binnen Sekunden war er in den Schatten verschwunden. Die anderen Jäger folgten ihm auf dem Fuße.   „Die weitere Jagd können Sie dann hier verfolgen, meine Herren.“ Hirofumi drückte auf den Knopf einer Fernbedienung und schon erwachten an der Wand mehrere Monitore zum Leben. Die Bilder wechselten, schienen einzelne Personen zu verfolgen. Auf einem stieß der Jäger mit der Lanze gerade seine Waffe in den Bauch eines am Boden liegenden Opfers, dessen Gesicht zu einem lautlosen Schrei geöffnet war. Dunkles Blut besudelte die umliegenden Wände und die Maske des Jägers. „Wir arbeiten noch daran, auch den Ton zu übertragen.“ Hirofumi senkte entschuldigend den Kopf. „Mit den nötigen Mitteln sollte das allerdings kein Problem sein.“ „Da, da sind die Hunde.“ Watanabe, ein unauffälliger Man mit schütterem Haar und gelblichen Augen deutete auf einen der Monitore. „Können Sie das Bild näher heranzoomen?“ Hirofumi drückte einige Knöpfe. Der Bildausschnitt wurde größer und man konnte erkennen, wie die zwei Tiere sich langsam an einen Mann heranschlichen, den sie in der Ecke eines Gebäudes in die Ecke getrieben hatten. Der Mann hatte Augen und Mund weit aufgerissen. Panisch versuchte er, die nackte Wand hinaufzuklettern. Ohne Erfolg. Einer der Hunde war jetzt so nahe, dass er sein Opfer mit einem Sprung erreichen konnte. Man sah, wie sich auf seinem Rücken lange Stacheln aufstellten. Fast glaubte man, ein bedrohliches Rascheln hören zu können, das sich unter das Knurren des Tiers mischte. Der Mann presste sich mit dem Rücken gegen die Wand, als könne er so dem Monster entkommen. Er schrie noch einmal, dann waren die beiden Tiere über ihm und rissen ihn zu Boden. Der Todgeweihte verschwand hinter den massigen Leiber und das letzte, was man von ihm sah, war ein im Todeskampf zuckendes Bein, das wirkungslos versuchte, nach einem der Hunde zu treten. „Wenig eindrucksvoll“, urteilte Watanabe. „Warten Sie ab.“ Hirofumi sagte etwas in ein Funksprechgerät. Kurz darauf erschien der Jäger, dem die Hunde folgten, auf der Bildfläche und rief die Tiere von der zerfleischten Leiche zurück. Der Mann gab einige Handzeichen und die Tiere liefen in verschiedene Richtungen davon. Auf einem weiteren Monitor fiel ein Mann gerade einem Kopfschuss zum Opfer, ein weiterer wurde von dem Bogenschützen an die Wand genagelt. Der Schütze trat zu ihm und riss ihn mit brutaler Gewalt von der Wand. Er hielt ihn mit einer Hand hoch und schlitzte seinen Körper dann der Länge nach mit einem Jagdmesser auf. Blut und Gedärme ergossen sich auf den Asphalt. „Sind ja nicht mehr viele übrig“, bemerkte Takatori und strich sich über den Schnurrbart. Er verfolgte den Weg des anscheinend vielversprechenden Kandidatens, der sich bereits zu dem Wald aus stählernen Kolossen durchgekämpft hatte. Er lief noch einige Meter und begann dann, einen der Strommasten emporzuklettern. Keiner der Jäger war bereits in diesen Bereich angekommen und es schien, als habe der Kletterer gute Chance, sich hier ein sicheres Versteck zu suchen. Da erschien am Rand des Bereichs ein vierfüßiger Schatten. „Jetzt passen Sie auf.“ Hirofumi änderte wieder den Vergrößerungsfaktor, sodass man jetzt auf einem Monitor den Mann auf dem Mast, auf dem anderen den Hund sehen konnte, der mit der Nase am Boden immer näher kam. Wenige Augenblicke später hatte er den Mast erreicht. Glühende Augen richteten sich nach oben, er stellte die Pfoten auf die unterste Sprosse …. und begann zu klettern. Das Entsetzen des Mannes, der jetzt auf der Spitze des Mastes festsaß, war selbst auf dem Schwarz-Weiß-Bild klar zu erkennen. Der Hund hingegen benutzte seine Pfoten, aus denen jetzt große Krallen herausragten, wie Steigeisen. Er kam näher und näher …   Aus dem Nebenraum waren plötzlich panische Schreie zu hören. Ein Brüllen wie von einem Tiger mischte sich darunter gefolgt von dem Geräusch von blanken Krallen auf Metall. Die Anwesenden fuhren auseinander, die Wachen an den Türen entsicherten ihre Waffen. Die Türklinke des Raums wurde heruntergedrückt, die Tür schwang auf … und herein kam Nagi. In seinen Händen sein Laptop, aus dem jetzt gurgelnde Schreie hervordrangen, die plötzlich verstummten. Auf dem Monitor an der Wand kippte ein lebloser Körper zur Seite und verschwand in der Tiefe. Nagi deutete eine Verbeugung an. „Ich habe gehört, dass Sie gerne Ton hätten und habe mir erlaubt, das zu arrangieren.“ Er stellte den Laptop auf den Tisch und fing einen Blick von Crawford auf. Bevor der jedoch etwas sagen konnte, hatte Hirofumi sich schon des Jungen schon angenommen. „Das ist ja ganz erstaunlich. Wie hast du das angestellt? Mein Techniker sagte mir ...“ „Ihr Techniker ist ein Idiot.“ Hirofumis Lippen kräuselten sich belustigt. „So, ist er das. Ich werde es ihm ausrichten. Vielleicht möchtest du ihm ja erklären, wie er seine Arbeit zu machen hat?“ Nagi warf einen Blick in Crawfords Richtung. „Das ist nicht meine Entscheidung. Ich bin Angestellter Ihres Vaters. Was immer er entscheidet, ist für mich bindend.“ „Soso“, mischte sich jetzt eine weitere Stimme in das Gespräch. Takatori trat hinzu und Nagi verbeugte sich erneut und ein wenig tiefer als zu vor. „Du scheinst ja wirklich was auf dem Kasten zu haben, Junge. Siehst gar nicht danach aus. Ich bin ein wenig beeindruckt. Und meine Söhne können, wie es scheint, hier noch ein wenig Hilfe gebrauchen. Ich möchte, dass du dich darum kümmerst.“ „Natürlich Takatori-sama.“ Hirofumi nahm diese Entwicklung mit positiver Überraschung auf. „Dann gefällt dir mein Projekt, Vater?“ „Natürlich. Ich hätte zwar nicht gedacht, dass da der Fall sein könnte, aber ich finde, es hat durchaus Potenzial.“ „Die Gäste müssten stärker in das Spielgeschehen eingreifen können.“ Nagi hatte den Kopf weiterhin gesenkt, aber die Geste hatte ein wenig an Unterwürfigkeit verloren. „Es sollte möglich sein, Wetten auf den möglichen Verlauf abzuschließen und diesen direkt zu beeinflussen. Beispielsweise indem die Wettenden ihrem favorisierten Kandidaten Hilfestellung in Form von Waffen oder anderen Dingen zukommen lassen können.“ „Ja aber, wie sollte das möglich sein?“ Hirofumi blickte skeptisch auf den mageren Jungen, der ihn gerade vorführte, als wäre die ganze Sache seine Idee gewesen. „Die technische Umsetzung sollte sich relativ einfach realisieren lassen, wenn das Gelände erst besser vernetzt ist. Ich habe da schon ein paar Ideen.“ Nagi sah auf und in seinem Gesicht stand nur mühsam verhaltene Zufriedenheit. „Alles natürlich nur mit Ihrer Erlaubnis, Takatori-sama.“ Takatori lachte und hieb Nagi mit seiner Pranke auf die Schulter. „Der Junge weiß, wie man es macht. Also schön, ich stelle die für die nächsten Tage hierher ab. Möbel den Laden ordentlich auf und dann werden wir uns eine weitere Show ansehen. Ich kann es kaum erwarten.“ „Wie Sie wünschen, Takatori-sama.“   'Wie Sie wünschen, Takatori-sama? Ich glaube, dir haben sie was in den Eistee getan. Na warte Bürschchen, wenn ich dich in die Finger kriege.' Nagi stand wie vom Donner gerührt. Die Stimme in seinem Kopf war eindeutig Schuldigs gewesen. Er hatte zwar nicht verstanden, was der andere gesagt hatte, aber wie es aussah, war der Telepath ziemlich wütend.     Kapitel 9: Ein Licht in dunkler Nacht ------------------------------------- Aya wusste nicht, wie er die letzten zwei Tage überstanden hatte. Die unzähligen Stunden im Blumenladen, die Blicke, das Getuschel, Yojis wissendes Grinsen, die Notwendigkeit zu essen und zu schlafen, die ihm momentan so fern vorkamen. Nicht mal der Besuch, den er seiner Schwester abgestattet hatte, hatte ihn von der elenden Warterei ablenken können. Außerdem hatte er dabei die ganze Zeit nur von Tim gesprochen, was ihm dann irgendwann selbst aufgefallen und ziemlich peinlich gewesen war. Aufgemuntert hatten ihn nur die Nachrichten, die Tim ihm geschrieben hatte. Während des Abends, an dem er auf den Sohn seines Arbeitgebers aufgepasst hatte, hatten sie mehrmals hin und her geschrieben. Tim hatte sich darüber beklagt, dass er sich ein ums andere Mal von dem Knirps in GTA abzocken lassen musste, und Ran hatte geantwortet, dass er ihn bemitleidete und ihm versprochen, dass er ihn am nächsten Abend dafür entschädigen würde. Nachdem er die Nachricht abgeschickt hatte, war er knallrot angelaufen, weil ihm plötzlich bewusst wurde, wie zweideutig das klang. Tim hatte nur einen lachenden Smiley zurückgeschickt. Heute Morgen hatte Tim dann geschrieben, dass er eine Wohnung gefunden hatte und somit den Tag damit verbringen würde, sich in seinem neuen Heim einzurichten. Und dass er sich auf heute Abend freute. Nun war der Abend endlich gekommen und Aya hatte das Gefühl, einen ganzen Bienenschwarm verschluckt zu haben.   Um ihn herum bildeten die Menschen dichte Trauben. Überall hingen Laternen in langen Reihen über die Feiernden gespannt und leuchteten mit den farbenfrohen Yukatas um die Wette, die von nicht wenigen Gästen getragen wurden. Das Schlagen der Trommeln, Flötenklänge, vereinzelte Trillerpfeifen und hochstimmiger Gesang mischten sich unter das Stimmengewirr und darüber hinweg strich der Geruch der vielen Feuer und der fast noch zahlreicheren Stände, die essbare Kleinigkeiten an die hungrigen Menschen verkauften. Auf einer erhöhten Bühne begannen gerade Musiker und Sänger mit einem Tanz, der alle Anwesenden dazu einlud, mit einzustimmen. Hände wurden gehoben, die Menge drehte sich im Gleichklang der Trommelschläge um die Empore und fiel bei jedem Refrain in den Text mit ein. An einer anderen Ecke wetteiferten zwei verkleidete Schauspieler um die meisten Lacher der Kinder, die sich um sie versammelt hatten. Gerade kreischten die Kleinen auf und liefen lachend in alle Richtungen, weil einer der Maskierten von der Bühne gesprungen war, um nach ihnen zu haschen. Ältere Damen standen in kleineren Gruppen herum und fächerten sich Luft zu, während die dazugehörigen Männer dem jeweiligen Getränk zusprachen, das sich in ihren Bechern befand. Ganz am Ende der Festmeile schob sich ein beständiger Strom von Gläubigen in den Tempel, um dort ein Gebet, ein Räucherstäbchen oder eine Opfergabe zu hinterlassen. Aya versuchte, Tim irgendwo in dem Gewimmel ausfindig zu machen, aber es war hoffnungslos. Er wollte gerade nach seinem Handy greifen, um ihn anzurufen, als sich zwei Hände von hinten über seine Augen schoben. „Wer bin ich“, erklang eine Stimme nahe an seinem Ohr und er begann zu lächeln. „Tim!“, rief er aus und drehte sich herum. Der andere grinste ihn an. „Guten Abend!“, sagte er auf Japanisch und verbeugte sich. „Ich hoffe, du musstest nicht zu lange warten. Hier ist ja ganz schön was los.“ Ran sah ihn für einen Augenblick fasziniert an. Sie hatten bisher Englisch miteinander gesprochen. Tim jetzt in seiner eigenen Sprache reden zu hören, war fast ein wenig seltsam. Tim schien seine Gedanken erraten zu haben. „Ich muss lernen, besser Japanisch zu sprechen. Du musst mir dabei helfen.“ „Du bist ziemlich gut“, sagte Ran und meinte, was er sagte. „Das sagst du doch nur so“, antwortete Tim und strahlte trotzdem. „Also was jetzt? Zeigst du mir alles?“ Ran nickte und gemeinsam machten sie sich daran, das Festgelände von oben bis unten zu durchstöbern. Tim ließ es sich nicht nehmen, alles zu probieren, was Ran ihm an Essbarem vor die Nase hielt, und als ein paar junge Japanerinnen ihn nötigten, mit ihnen zu tanzen, tat er so, als würde er nichts lieber tun. Ran hingegen winkte dankend ab und amüsierte sich prächtig, während die Frauen, die mehr als einen Kopf kleiner als Tim waren, um den 'Gaijin' herumflatterten und ihm zwitschernde Anweisungen gaben, wie er die Füße zu setzen und die Arme zu heben hatte. Am Ende applaudierten alle und Tim verbeugte sich, als wäre er einer der Schauspieler. Mit gerötetem Gesicht kam er zu Ran hinübergelaufen,. „Rette mich!“, rief er lachend. „Die schaffen mich sonst.“ „Nichts lieber als das.“ Ran lotste Tim an den Rand des Festes, wo auf dem Fluss zahlreiche Boote unterwegs waren. Farbige Papierlaternen und offene Feuerschalen gondelten zwischen den Kähnen umher und auch vom Ufer aus ließen immer mehr Feiernde eine Laterne ins Wasser gleiten, um ihren Ahnen wieder den Weg nach Hause zu weisen. Ran und Tim blieben ein Stück vom Ufer entfernt stehen und betrachteten die unzähligen Lichter. „Das ist wunderschön“, sagte Tim andächtig und seine Augen strahlten, als er sich zu Ran herumdrehte und ihn anlächelte. Ran merkte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er atmete flach und zuckte zusammen, als sich plötzlich Tims Hand in seine schob. 'Okay?' schien Tims Blick zu fragen und Ran nickte unmerklich. Hier in den Schatten würde es niemand sehen und es war schön, Tims warme Haut an seiner zu fühlen. Langsam verwoben sie ihre Finger ineinander und sahen wieder auf die Wasserfläche hinaus, in der sich die tausend Laternen spiegelten.   Nach einer Weile, die Ran wie eine Ewigkeit vorkam, lösten sich ihre Hände wieder voneinander. Die Geräusche des Festes waren zwar noch immer nicht leiser geworden, aber der wandernde Mond zeigte an, dass die Nacht schon ein ganzes Stück vorangeschritten war. Inzwischen waren kaum noch Kinder unterwegs und auch die Alten zogen sich langsam zurück. Nicht mehr lange, dann würden auch die Trommeln und Flöten verstummen und ihre Töne die letzten verbliebenen Seelen in den Himmel begleiten. Ein wenig unsicher blickte Ran zu Boden. „Ich … wollen wir … noch etwas anderes unternehmen?“ Tim schüttelte sacht den Kopf. „Ich glaube, für heute Abend habe ich genug. Du?“ Ran nickte langsam. Natürlich musste das hier irgendwann zu Ende gehen. Sein Herz wurde schwer bei dem Gedanken, dass sie sich jetzt bald trennen mussten. „Ich könnte dich nach Hause bringen.“ Tims Ton war neutral, höflich, aber das Feuer in seinen Augen sprach eine andere Sprache. Ran schluckte langsam. War das wirklich eine gute Idee? Alles an ihm schrie danach, Ja zu sagen, aber trotzdem zögerte er. Tim bemerkte das und lächelte schief. „Okay, ist nicht die beste pick-up line, ich weiß. Ich meine, ich hätte dich ja gefragt, ob du mich nach Hause bringst, aber mein neuer Mitbewohner ist ein wenig … scary.“ Ran atmete tief durch. „Nein, alles in Ordnung. Ich würde gerne … mit dir nach Hause gehen.“ Tim schien ernsthaft erleichtert und doch sprach keiner von ihnen ein Wort, während sie zur U-Bahn gingen mit einem guten Schritt Platz zwischen sich. Sie saßen sich gegenüber und abgesehen von ein paar scheuen Blicken hatten sie keinerlei Kontakt. Ran glaubte, gleich schreien zu müssen. Er war so furchtbar aufgeregt. Was würde passieren, wenn sie bei ihm zu Hause ankamen? Sollte er Tim hineinbitten? Natürlich würde er das. Immerhin bestand sonst die Gefahr, auf einen der anderen Weiß zu stoßen und das wollte er auf jeden Fall verhindern. Und dann? Was kam dann? Würden sie …? Ran konnte nicht darüber nachdenken, ohne zu erröten.   Die Straße, in der er wohnte, war Ran noch nie so lang vorgekommen. Gleichzeitig war er irgendwie überrascht, als sie plötzlich vor seiner Wohnungstür standen. Mit zitternden Fingern steckte er den Schlüssel ins Schloss und öffnete endlich die Tür. Tim trat vor ihm ein und Ran folgte nach, während er gleichzeitig die Tür hinter sich zuzog. Er hörte, wie Tim aus seinen Schuhen schlüpfte und tat es ihm gleich. „Hast du ein Badezimmer?“ Die Frage verwirrte Ran im ersten Augenblick. Im zweiten war er froh darüber, dass es so dunkel war. Das Brennen auf seinen Wangen ließ eigentlich nur einen Schluss zu. „Ja, dort neben der Küche.“ Er hätte sich selbst ohrfeigen können. Das war nun wirklich keine Küche. Lediglich ein Waschbecken und zwei Kochplatten, die in einer Wandnische eingelassen waren. Tim wusste trotzdem, was er meinte, und verschwand hinter der Schiebetür. Ran hatte plötzlich das Gefühl, zu viele Arme und Beine zu besitzen. Er wusste einfach nicht, wohin mit sich. Sein Zimmer bot nicht viele Möglichkeiten dafür. Ein Schrank, ein kleiner Tisch und Stuhl, sein Bett. Sollte er sich aufs Bett setzen? Das war doch irgendwie zu eindeutig, oder? Was, wenn Tim ihn wirklich nur hatte nach Hause bringen wollen? Wenn er gleich wieder gehen würde? Ran konnte das zwar nicht glauben, aber die Möglichkeit bestand. Was sollte er tun?   Das Geräusch der Spülung riss ihn aus seinen Gedanken. Die Badtür öffnete sich wieder und Tim trat heraus. Im Gegenlicht des kleinen Waschraums schienen seine Haare einem Flammenkranz gleich, der um seinen Kopf loderte. Er hatte seinen obersten Hemdkopf geöffnet und Ran schluckte, als er das kleine Dreieck nackter Haut entdeckte. Sein Herz hämmerte in seiner Brust und er hielt den Atem an, als Tim langsam näherkam. „Ich bin total nervös“, sagte Tim auf einmal und lachte. Er strich sich durch die Haare und sah Ran mit leicht gesenktem Kopf an. „Ich hoffe, ich mache mich jetzt nicht gerade total lächerlich. Bei uns zu Hause funktioniert das irgendwie alles ein bisschen anders.“ „Wie?“, fragte Ran und fand, dass seine Stimme irgendwie dünn klang. Tim lachte leise. „Na irgendwie anders halt. Ich würde jetzt zumindest nicht in deinem Schlafzimmer stehen. Aber spätestens vorhin am Wasser wären wir wohl beim Küssen angekommen.“ Ran räusperte sich. „Wir könnten uns vorstellen, dass wir jetzt da sind.“ Sein Herz klopfte bis zum Hals. Tims Mundwinkel wanderten nach oben. „Ja, das wäre eine Idee. Lass es uns versuchen.“ Er trat einen Schritt näher und Ran tat es ihm gleich. Jetzt trennten sie nur noch wenige Zentimeter. Ran konnte Tims Atem spüren, die Wärme die von seinem Körper ausging. Vorsichtig hob er die Hand und strich über Tims Arm. Er fühlte, wie sich die feinen Haare unter seinen Fingern aufstellten. Er hob den Kopf und sah Tim direkt in die Augen. Ein Fehler, wie er bemerkte, als seine Knie unter ihm nachzugeben drohten. 'Der Fluss. Wir sind am Wasser', dachte er verzweifelt. 'Die Laternen überall, die Lichter am Himmel und im Wasser. Seine Hand in meiner …' Er spürte, wie Tim sich vorlehnte, eine zarte Berührung an seinen Lippen. Tims Mund, der sich vorsichtig auf seinen drückte. Nur ganz kurz, als wolle er testen, wie Ran reagierte. 'Jetzt reiß dich endlich zusammen. Du kannst das!' Ran atmete tief durch und erwiderte den Kuss. Tims Lippen waren fest und warm unter seinen. Eine Hand legte sich auf seine Hüfte, zog ihn an sich. Ran kam der Bewegung nach und öffnete leicht den Mund. Seine Lippen strichen über Tims, fragend, zögernd. Tim reagierte darauf und verstärkte den Druck. Auch seine Lippen teilten sich und er fing Rans Unterlippe für einen kurzen Augenblick ein, bevor er sie wieder losließ. Er lächelte und sagte etwas, das Ran nicht verstand. Fragend sah er Tim an. „Ich ... oh keine Ahnung, wie man das auf Japanisch sagt. Mein Herz klopft wie verrückt.“ „Dann sollten wir aufhören zu reden.“ Ran wusste selber nicht, woher er den Mut nahm, so etwas zu sagen, aber im nächsten Augenblick hatte er Tim wieder an sich gezogen und sie versanken in einem weiteren Kuss. Er spürte Tims Hände, die über seinen Rücken strichen und langsam tiefer wanderten. Als sie auf seinem Hintern zu liegen kamen, sog er scharf die Luft ein. Seine Aufregung begann langsam, sich körperlich zu manifestieren und er wusste nicht, wie Tim darauf reagieren würde. Er hatte doch gesagt, es ginge ihm zu schnell. Oder nicht? Ran wusste nicht mehr, was er denken sollte. Tim löste sich von ihm und sah ihn an. „Wäre es okay, wenn ich …?“ Seine Hände strichen über Rans Oberkörper. „Würdest du das ausziehen?“ Ran lächelte. „Klar.“ Er langte nach dem Saum seines T-Shirts und zog es über den Kopf. Achtlos ließ er es zu Boden fallen. „Besser?“ „Ja.“ Tims Finger glitten zu den Knöpfen seines eigenen Hemdes, aber Ran hielt sie fest und begann jetzt selbst, einen nach dem anderen zu öffnen. Als er den letzten Knopf aus dem Knopfloch befreit hatte, fiel das Hemd locker zur Seite und entblößte Tims Oberkörper. Glatte, helle Haut spannte sich über fein definierten Brustmuskeln, ein flacher Bauch, schmale Hüften. Ran wusste, dass er starrte, aber er konnte den Blick nicht abwenden. Tim trat vor und sein Körper schmiegte sich an Rans. Ihre Lippen fanden sich erneut zu einem Kuss. Eine Hand strich über seinen jetzt nackten Rücken, während die andere sich in seinen Nacken legte. Unwillkürlich legte auch er die Arme um Tim und zog ihn an sich. „Bett?“, murmelte Tim, während seine Lippen Rans Ohr streiften. Die Gefühle, die das in Ran auslöste, lähmten seine Stimmbänder und ließen ihn die Frage nur mit einem Nicken beantworten. Langsam, küssend, bewegten sie sich in Richtung Zimmerecke. Als seine Kniekehlen an den Bettrand stießen, löste er den Kuss. Sein Atem ging schneller, er konnte das alles immer noch nicht glauben. „Wir haben es gefunden“, grinste Tim. Er gab Ran einen kleinen Schubs, der diesen auf die Bettdecke beförderte. Noch bevor er sich Gedanken darüber machen konnte, in welcher Position er sich befand, war Tim neben ihm. Er ließ sich rückwärts gleiten und zog Ran mit sich, sodass er halb auf ihm zu liegen kam. Haut an Haut, die Lippen zu einem erneuten Kuss vereint. Finger, die über seinen Rücken wanderten, seine Arme, seine Brust. Eine Zungenspitze, die vorsichtig über seine Lippen strich. Automatisch öffnete er den Mund und hieß sie willkommen. Die Berührung sandte Funken durch seinen Körper. Tim zog ihn näher an sich, vergrub die Hände in seinen Haaren, hielt seinen Kopf fest, während ihre Zungen sich umschlangen. Seine eigene Hand wanderte über Tims Oberkörper, zeichnete die flachen Linien nach. Als er eine der Brustwarzen streifte, atmete Tim tief ein und murmelte etwas, das Ran wieder nicht verstand. Tim trennte sich von ihm und sah ihn mit halb geöffnetem Mund an. „Du machst mich verrückt“, sagte er unter schweren Atemzügen. „Ich wünschte, das hier wäre nicht unser erstes Date.“ „Weil?“ Ran hob fragend eine Augenbraue. Tim schien plötzlich ein wenig verlegen. „Na weil ich nicht … also … das ist sonst nicht so meine Art. Ich wusste ja nicht...“ Er brach ab und sah Ran schief von unten herauf an. Rans Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Und wenn es das nicht wäre?“ Tim grinste. „Dann würde ich dich jetzt bis auf die Haut ausziehen und vernaschen. Oder mich vernaschen lassen. Ich bin da eher ... du verstehst?“ Ran brauchte einen Augenblick, bis er wusste, was Tim meinte. Er dankte welcher Gottheit auch immer, dass er daran gedacht hatte, nicht das Licht anzuschalten. Tim ließ sich nach hinten aufs Bett fallen. „Ich wieder und meine große Klappe. Jetzt hab ich's kaputt gemacht.“ Ran schüttelte den Kopf. „Ist schon okay. Ich … find's gut, dass wir darüber reden. Ich habe nämlich noch nie ...“ Er schwieg. Das Thema war ihm unangenehm. Tim hatte anscheinend schon einige Erfahrung vorzuweisen, während er noch vollkommen im Dunkeln tappte. Eine Hand strich ihm die Haare aus dem Gesicht. Er sah Tim im Mondlicht lächeln. „Das macht nichts. Wir kriegen das hin. Du kannst mir vertrauen.“ Ran erwiderte das Lächeln und ließ zu, dass Tim ihn an sich zog. Er legte seinen Kopf auf dessen Schulter und strich langsam mit dem Zeigefinger über Tims nackte Brust. Einer plötzlichen Eingebung folgend, ließ er ihn über die Brustwarze wandern. Das Ergebnis war ein Ruck, der durch Tims gesamten Körper lief. Ran grinste und strich noch einmal über die gleiche Stelle, die sich unter seiner Berührung verhärtete. Wieder sog Tim scharf die Luft ein. „Wenn du das weiter machst, kann ich aber für nichts garantieren.“ Ran zögerte kurz, dann lehnte er sich vor und streichelte mit der Zunge über den kleinen, harten Knopf. Er schloss die Lippen darum, saugte ein wenig und erntete ein Keuchen. „Ran, bitte. Das halte ich nicht aus.“ Er grinste und beugte sich wieder vor, da kam plötzlich Leben in Tim. Er warf Ran mit einer schnellen Bewegung auf den Rücken und setzte sich auf ihn. Weiche Haare fielen auf Rans Schultern, als Tim sich vorbeugte und seinen Mund mit einem hungrigen Kuss verschloss. Die Bewegung, die seine Hüfte dabei machte, ließ Ran aufkeuchen. An seinem Zustand konnte Tim jetzt auf jeden Fall keinen Zweifel mehr haben. Tims Lippen wanderten über seinen Hals und weiter hinab zum Schlüsselbein. Langsam aber unaufhörlich schob er sich tiefer. Er ließ Rans Brustwarzen einige Aufmerksamkeit zukommen und Ran verstand plötzlich, warum Tim sich so aufgebäumt hatte. Er selbst konnte eine ähnliche Bewegung nur mit größter Mühe unterdrücken. Unwillkürlich hielt er sich die Hand vor den Mund und versuchte, die verräterischen Geräusche zu dämpfen. Tim richtete sich auf und nahm in einer fast zärtlichen Geste die Hand weg und küsste seine Fingerspitzen. „Dafür hast du doch bestimmt eine bessere Verwendung.“ Er nahm Rans Finger und ließ sie über seinen eigenen Oberkörper streichen. Als sie dem Bund seiner Hose gefährlich nahe kamen, wurde Ran unruhig. Tim lächelte und schob die Hand trotzdem weiter. Die unmissverständliche Härte unter Rans Fingern sprach Bände. „Siehst du, was du mit mir machst? Und was gedenkst du jetzt, dagegen zu tun?“ Ran leckte sich über die Lippen. Tim grinste. „Ganz mein Gedanke.“ Er ließ die Hand los und beugte sich wieder vor. Seine Lippen streiften Rans Bauch und bedeckten ihn mit federleichten Küssen, die ihn lachen ließen. Doch schon einen Augenblick später hielt er erschrocken die Luft an. Tims Mund war am Rand des ihn bedeckenden Stoffs angekommen. Er stoppte und hob den Kopf. Ran stemmte sich auf die Ellenbogen und sah Tim an. Dessen Augen funkelten zurück. „Aufhören oder weitermachen?“ Die Frage schwebte durch den Raum und strich mit verführerischem Ton über seine Haut. Was sollte er antworten? Ob Tim wirklich? Würde er? Das war so verrückt. „Also wenn es dich beruhigt, ich steh drauf. Ist nicht so, dass nur du etwas davon hast.“ Tim zwinkerte ihm zu. Ran zögerte immer noch. Da schob sich Tim vor und küsste ihn so lange und ausgiebig, bis ihm die Luft wegblieb und er keuchend um Atem rang. Tim sah ihm direkt in die Augen. „Darf ich? Bitte?“ Jetzt endlich wagte er zu nicken. Tim grinste zufrieden, dann begann er erneut, sich an Rans Körper entlangzuküssen. Das Wissen darum, was dieses Mal folgen sollte, ließ Ran die Zähne zusammenbeißen. Es fühlte sich an, als hätte jemand Lava in seinen Bauch gegossen. Jeder Fingerstrich, jede Berührung von Tims Lippen entzündeten neue Feuer auf ihrem Weg. Als er endlich am Hosenbund ankam, hatte Ran das Gefühl vollkommen in Flammen zu stehen. Sein Atem ging stoßweise und er hörte sich selbst ein eigenartiges, kleines Geräusch machen, das fast wie ein Wimmern klang. Tim grinste an seinem Bauch. „So ungeduldig?“ „Tease!“ Das englische Wort schoss ihm durch den Kopf und, obwohl er es gar nicht kannte, wusste er, dass es die richtige Bedeutung hatte. Tim lachte leise und begann endlich, Rans Hose zu öffnen. Kühle Luft strich über erhitztes Fleisch, das unter dieser Behandlung leicht zuckte. Ran wäre am liebsten im Erdboden versunken, aber er hatte keine Zeit, sich lange Gedanken darüber zu machen. Warmer Atem strich über seine Erektion und eine feuchte Zunge zeichnete die gesamte Länge nach. Er biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzustöhnen, als sich Tims Mund um die Spitze schloss und er leicht zu saugen begann. Schlanke Finger schoben den störenden Stoff weiter beiseite und umfingen den empfindlichen Schaft. In diesem Moment wäre es fast um Ran geschehen gewesen. „Langsam“, keuchte er und griff instinktiv in Tims Haare. Der hob den Kopf und grinste ihn an, bevor er noch einmal quälend langsam seine Zunge über die glänzende Spitze gleiten ließ. „Du schmeckst gut, kleine Blume.“ Ran konnte sich das nicht so recht vorstellen, aber es musste wohl etwas dran sein, denn Tim stürzte sich jetzt mit neuem Enthusiasmus auf Rans Erektion. Er ließ sie ein paarmal ganz in seinen Mund gleiten und benutzte seine Zunge dabei auf eine Weise, dass Ran ganz schwindelig wurde. Denken wurde zur vollkommenen Nebensache und seine Wahrnehmung beschränkte sich auf die Berührungen von Tims Lippen und Zunge. Kundige Finger schlossen sich wieder um den Schaft und begannen, ihn in rhythmischen Bewegungen zu massieren. Dazu verstärkte sich der Sog um die Spitze und ließ Ran Sterne sehen. Sein Atem wurde flacher und flacher, die Hitze in seinem Bauch konzentrierte sich zu einem heißglühenden Ball, der mit so plötzlicher Heftigkeit explodierte, dass Ran nicht einmal mehr Zeit hatte, Tim vorzuwarnen. Seine Finger krallten sich in Tims Mähne, während die Wellen seines Höhepunkts über ihm zusammenschlugen. Er hörte ein heiseres Stöhnen, das wohl von ihm selber stammte, dann zog sich Tim von ihm zurück. Ran brach auf dem Bett zusammen und für einen Augenblick war er nicht mehr als ein zitterndes Bündel mit einem wummernden Herzschlag. Erst ganz langsam begann das Gefühl in seinen restlichen Körper zurückzukehren. Sein Mund war trocken, sein Körper pulsierte. Er versuchte zu schlucken, als sich plötzlich Tims Zunge zwischen seine Lippen schlich und einen eigenartigen Geschmack dort verteilte. Er wurde ein wenig rot, als ihm klar wurde, was das war.   Tim machte keine Anstalten, den Kuss zu unterbrechen und Ran wurde bewusst, dass der andere vermutlich immer noch sehr … nun … erregt war. Er beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Ran unterbrach den Kuss und drückte Tim sanft neben sich auf das Bett. Er begann nun ebenfalls, dessen Hals zu küssen, während er seine Hände tiefer wandern ließ. Als seine Finger den Hosenbund erreichten, merkte er, dass dieser bereits geöffnet war. Vorsichtig ließ er seine Hand hineingleiten. Er spürte krauses Haar. Mehr als bei sich selbst. Und dann fand er, was er gesucht hatte. Auch mehr, als bei sich selbst. Weich und fest schmiegte es sich in seine Hand. Langsam ließ er seine Finger über die samtige Härte gleiten, zeichnete die Linien nach, den breiteren Kopf. Seine Finger fanden ein wenig Flüssigkeit an der Spitze und verteilten sie mit dem Daumen in kleinen Kreisen. Tim zitterte unter ihm. „Wenn du versuchst, mich wahnsinnig zu machen, bist du auf einem guten Weg.“ Tim Stimme klang rau und dunkel. „Du musst aber nicht ...“ „Nein“, sagte er schnell. „Nein, ich will. Ich weiß nur nicht so recht ...“ „Tu einfach, was du bei dir auch tun würdest.“ Ran biss sich auf die Lippen. Natürlich wäre das eine Möglichkeit. Vielleicht wäre es sogar schön. Aber gleichzeitig war es nicht genug. Das, was Tim mit ihm angestellt hatte, war so unglaublich und intensiv gewesen, dass er den Gefallen gern erwidern wollte. Aber würde er das schaffen? 'Es ist nicht schwer. Tu's einfach.' Die Worte hallten in seinem Kopf wieder und er spürte ein Prickeln in seinem Nacken. Ohne lange zu überlegen, begann er sich über die Brust und den Bauch weiter nach unten zu küssen. Kurz vor dem Ziel warf er noch einen letzten Blick auf Tim. Der hatte sich sein Kopfkissen als Stütze genommen und beobachtete ihn aufmerksam, verfolgte jede seiner Bewegungen. 'Ja, du machst das gut. Weiter. Weiter.' Das war alles, was es brauchte, um ihn die letzten Zentimeter überwinden zu lassen. Ohne seinen Blick abzuwenden, senkte er langsam den Kopf und öffnete den Mund.       Schuldig lag regungslos da. Ein feiner Schweißfilm bedeckte seinen Körper und sein Herz hatte sich immer noch nicht ganz aus dem hämmernden Rhythmus befreit, zu dem der Junge ihn gerade getrieben hatte. Allein der Anblick der violetten Augen, die aus dieser Position zu ihm aufsahen, war fast genug, um ihn gleich wieder hart werden zu lassen. Fuck, das war so verdammt schiefgegangen. Wie hatte das passieren können? Der Plan war gewesen, den Kontakt ein wenig zu intensivieren. Und plötzlich hatte er selbst nicht mehr gewusst, wem welche Gedanken gehörten; war hinweggespült worden von der Flutwelle an Gefühlen, mit denen Ran ihn überschüttet hatte. Er schluckte. Dass es so werden würde, hatte er nicht gedacht. Und dass der andere so verdammt gut sein würde, auch nicht. Woher hatte er das alles gewusst? War es möglich, dass … „Ist alles in Ordnung?“ Ran hatte sich aufgerichtet und betrachtete ihn besorgt. „Ja .. uff … mehr als in Ordnung. Ich hoffe, du verstehst, dass ich nicht so ganz glauben kann, dass das dein erstes Mal war.“ Ein Schatten huschte über Rans Gesicht. Natürlich, das hatte ihn verletzt. Mit einer Hand zog Schuldig ihn an sich. „Hey, ich wollte nur sagen, dass es toll war. Fantastisch. Ich … es tut mir leid, okay? Ich war darauf nur nicht gefasst. Erstes Date und so, du verstehst?“ Er lachte und hob Rans Kinn mit der Hand an. „Das war einfach der verdammt beste Blowjob, den ich je hatte.“ Die Wangen seines Gegenübers verdunkelten sich. „Ich habe das aber wirklich noch nie gemacht.“ „Umso besser für mich.“ Er zog den anderen in einen Kuss, legte den Arm um seine Hüfte und drückte ihn an sich. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Am besten weit weg von diesem amethystäugigen Wunderkind, das so weitreichende Wirkung auf ihn hatte. Er hatte ja darauf spekuliert, aber dass es so intensiv werden würde, hatte er nicht erwartet. Rans Gedanken neben ihm hatten immer noch Schluckauf. „Hey, ruh dich ein bisschen aus . Ich bleibe noch, bis du eingeschlafen bist.“ Der Junge hob den Kopf und blinzelte ihn an. Er langte über Schuldigs Brust nach dem Nachtisch und ein kleines Licht erhellte für einen Augenblick den Raum. „Die nächste Bahn fährt eh erst in vier Stunden.“ Oh verdammt, daran hatte er nicht gedacht. Er saß hier fest. Aber eigentlich … eigentlich war er auch viel zu müde, um sich darüber noch weiter Gedanken zu machen. Er würde sich jetzt an Tim kuscheln und … Schuldig riss die Augen auf. Das war verdammt gefährliches Terrain, auf dem er sich hier bewegte. Er würde aufpassen müssen, sich nicht völlig in dem anderen zu verlieren. Langsam und vorsichtig zog er die Verbindung zurück, von der er gar nicht mitbekommen hatte, dass er sie errichtet hatte. Gedankenübertragung. Davon hatte er bisher nur gelesen. Natürlich konnte er hören, was jemand anderes dachte. In den letzten Tagen noch besser als je zuvor. Aber seine eigenen Wünsche und Befehle auszusenden, war noch eine ganz andere Hausnummer. Bisher war ihm kein Telepath begegnet, der das konnte. Es gab theoretische Abhandlungen darüber, die er in den letzten Tagen studiert hatte. Gerüchten zufolge sollte es in den Reihen von Eszett sogar den einen oder anderen gegeben haben. Schuldig jedoch hatte bisher nicht dazu gehört. Wie es aussah, hatte sich das jetzt geändert. Sein Gesicht verzog sich zu einem selbstzufriedenen Grinsen. 'Das würde zumindest das Geschick unseres Wunderknaben erklären. Er wusste, was er machen musste, weil ich es ihm gesagt habe. Wahrscheinlich hat er das nicht mal gemerkt.Oh süßer, süßer Ran. Wir beide werden wirklich noch eine ganze Menge Spaß miteinander haben.'   Schuldig ließ sich zurück in das Kissen sinken und streichelte gedankenverloren über den Rücken des Jungen, der inzwischen in einen leichten Schlaf gesunken war. Sein Mund stand ein wenig offen und seine Züge waren vollkommen entspannt. Einem plötzlichen Gefühl folgend, strich Schuldig eine dunkelrote Haarsträhne aus dem schlafenden Gesicht. Ran seufzte leise und kuschelte sich näher an ihn. Schuldig betrachtet ihn und wusste, dass er einen Fehler machte. Das Klügste wäre es gewesen, jetzt sofort die Wohnung zu verlassen und dann gleich Morgen früh zu Crawford zu gehen, um ihm von seinem Fund zu erzählen. Stattdessen blieb er liegen und betrachtete den Schlafenden, der langsam in das Land der Träume abdriftete. 'Wäre doch schade, diese Gelegenheit zu verpassen', versuchte er sich zu beruhigen. 'Außerdem wohnen die anderen Weiß gleich nebenan. Ich sollte versuchen, noch etwas mehr herauszufinden, bevor ich Crawford damit belästige. Nur noch ein kleines bisschen mehr, dann seid ihr dran.' Er atmete tief durch, schloss die Augen und öffnete seinen Geist. Das hier würde der reinste Spaziergang werden. Überhaupt kein Grund zur Beunruhigung.       Kapitel 10: "Wir sind ein Team" ------------------------------- Das Bett neben Aya war leer, als er erwachte. Er rollte sich auf die andere Seite und drückte seine Nase in das Kissen. Ganz schwach konnte er noch Tims Geruch darin erahnen. Bei der Erinnerung, wie der andere Rotschopf sich in der frühen Morgendämmerung von ihm verabschiedet hatte, musste Aya schon wieder grinsen. Diese Nacht war vollkommen verrückt gewesen. Er hätte nie gedacht, dass es so sein würde. Fast kam es ihm vor, als hätte das Zusammensein mit Tim etwas in ihm aufgeweckt, dass sich schon eine ganze Weile im Winterschlaf befunden hatte. Lachen, Sorglosigkeit … Liebe? Es fühlte sich an wie ein Feuer, das seinen Körper und seinen Geist entfacht hatte und sich jetzt unaufhörlich nach innen fraß. Ein Blick auf den Wecker neben seinem Bett ließ ihn aufseufzen. „Meine Pünktlichkeit hat es jedenfalls schon erfolgreich verbrannt.“ Er strampelte die Decke beiseite, die Tim anscheinend irgendwann über ihnen ausgebreitet hatte und machte sich auf den Weg ins Badezimmer.   Gerade, als er ein frisches T-Shirt anziehen wollte, klopfte es an der Wohnungstür. Aya verharrte für einen Moment regungslos. Wer konnte das sein? Möglichkeiten schossen ihm durch den Kopf. Tim, der etwas vergessen hatte? Ein schöner Gedanke, aber wenig wahrscheinlich. Außer ihm wussten nur eine Handvoll Menschen, dass Aya hier lebte. Die naheliegendste Vermutung war daher, dass es einer seiner Kollegen war. Aber welcher? Yoji hatte eigentlich schon vor einer ganzen Weile aufgehört, sich irgendwie mit ihm anfreunden zu wollen. Außerdem schlief er um diese Zeit vermutlich noch. Ken hatte ein paar Mal geklopft; meist um sich irgendetwas Essbares auszuborgen, wenn er mal wieder vergessen hatte einzukaufen. Die dritte Möglichkeit, die noch blieb, gefiel ihm am wenigsten. Und doch wusste er irgendwie, dass es Omi sein würde, der da vor seiner Tür stand. Aya atmete tief durch, zog das Shirt nach unten und ging nach vorn. Als er öffnete, sah er sich einem blonden Haarschopf und großen, blauen Augen gegenüber. „Guten Morgen, Aya-kun. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt?“ Aya schüttelte den Kopf. Er hatte nicht vor, es Omi allzu einfach zu machen. Das, was er im Keller des Koneko entdeckt hatte, stand zwischen ihnen und das wussten sie beide. Omi setzte ein Lächeln auf. „Ich war gestern Abend schon mal hier, aber du warst nicht da. Warst du aus?“ Ayas Augen wurden schmal. Er hatte nicht vor, sich hier verhören zu lassen. Aber das Spiel konnte man auch zu zweit spielen. „Fragst du Yoji so was auch, wenn er abends nicht zu Hause war?“ Der Junge zögerte sichtlich. „Nun, ähm, nein, weil ...“ „Dann solltest du mich so was vielleicht auch nicht fragen.“ Omi blinzelte ein paar Mal, bevor die Puzzleteile in seinem Kopf hörbar an den richtigen Platz rückten. Er wurde erst blass und dann rot. „Ich … ah haha ... ja, da hast du recht.“ Er sah zur Seite und anschließend zu Boden. „Sag, Aya-kun, wäre es möglich, dass wir dieses Gespräch vielleicht nach drinnen verlagern? Ich denke, wir haben da noch etwas anderes zu besprechen.“ Aya fixierte ihn noch einen Augenblick mit kalten Augen, bevor er beiseite trat, um Omi hineinzulassen. Der Junge schlüpfte an ihm vorbei, wobei er, wie Aya mit gewisser Befriedigung bemerkte, versuchte, möglichst viel Abstand zwischen ihnen zu lassen. Die Fronten waren geklärt und keine der beiden Seiten nahm noch an, dass das hier ein reiner Höflichkeitsbesuch werden würde. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck schloss Aya die Tür und folgte ihm nach drinnen.   Omi stand mitten im Raum. Eine Tatsache, die ihm sichtlich unangenehm war, aber das Zimmer bot keinerlei Rückendeckung. Ein wenig unsicher sah er Aya entgegen. „Nun, Aya-kun, ich glaube, es gibt da etwas, über das wir beide reden sollten.“ Aya lehnte sich an die Wand neben der Tür, tat aber nichts, um das Gespräch am Laufen zu halten. Wenn Omi beichten wollte, dann sollte er das ruhig ohne seine Hilfe tun. Der Blonde nestelte am Saum seines übergroßen T-Shirts herum.“ Tja, weißt du, ich habe gesehen, dass du an meinem Computer warst.“ „Ich dachte, der Computer gehört Weiß.“ Das Eis in Ayas Stimme hätte ausgereicht, um einige Gläser Limonade auf Tiefsttemperatur zu bringen. „Äh ja, natürlich.“ Der Einwurf hatte Omi sichtlich aus dem Konzept gebracht.“ Nur weißt du, ich habe da gerade an diesem Projekt gearbeitet. Du erinnerst dich? Die Sache, mit der Manx vor ein paar Tagen zu uns kam.“ Aya blickte ihn nur wortlos an. „Wie sich herausstellte, hat sich jemand an den geheimen Datenbanken von Kritiker zu schaffen gemacht. Ich habe keine Ahnung, wie derjenige an der Firewall vorbeigekommen ist. Oder überhaupt auf die Idee kam, dort zu suchen. Fakt ist jedoch, dass er Zugriff auf einige Bereiche mit geheimen Informationen hatte. Informationen, die nur sehr, sehr ausgewähltem Klientel zugänglich sind. Ich habe mich persönlich um ihren Schutz gekümmert, aber anscheinend ...“ Omi zögerte, bevor er weitersprach. „Die Daten, die abgerufen worden sind, waren die, die du auf dem Computer gesehen hast.“   Aya brauchte einige Minuten, um das Gesagte zu verarbeiten. Sollte das heißen, Kritiker hatte nicht nur eine Akte über ihn, sondern hatte auch noch zugelassen, dass irgendjemand darin herumschnüffelte? Und was noch viel schlimmer war, sie hatten eine Akte über seine Schwester, mit der das Gleiche passiert war. Aya fühlte kalte Wut in sich aufsteigen. „Es scheint, als hättest du deinen Job dann wohl nicht besonders gut gemacht.“ Die Worte trafen Omi wie ein Faustschlag. Seine Augen begannen zu schimmern. „Ich habe wirklich mein Bestes versucht. Ehrlich, Aya-kun. Wer auch immer das war, hat richtig schwere Geschütze aufgefahren, um an die Sachen ranzukommen. Und ich glaube nicht, dass er hinter Weiß her ist. Wer immer das war, wollte nur diese Daten. Ich …“ Omi raufte sich die Haare. „Ich möchte dich nur bitten, vorsichtig zu sein, Aya-kun. Irgendwer da draußen hat es auf dich abgesehen und ich habe keine Ahnung, was dahinter stecken könnte.“   Ayas Gedanken rasten und gleichzeitig hatte er das Gefühl, in Zeitlupe zu denken. Es hatte ihn damals Wochen gekostet, Takatori ausfindig zu machen und als Drahtzieher hinter dem Mord an seinen Eltern zu identifizieren. Er hatte sich auf den Handel mit Kritiker eingelassen, weil er gedacht hatte, seinem Ziel so endlich einen Schritt näherzukommen und gleichzeitig eine bessere Versorgung für seine Schwester zu garantieren, selbst wenn ihm dabei etwas zustoßen sollte. Stattdessen hatte er sie dadurch anscheinend noch mehr in Gefahr gebracht. Aber wie sollte er gegen einen Feind kämpfen, den er nicht einmal sehen konnte? „Aya-kun … ich … du sollst wissen, dass wir alles Menschenmögliche tun werden, um ...“ „Hast du nicht schon genug getan, Omi?“ Die Unterlippe des Jungen begann zu zittern. Aya wusste, dass es grausam war, was er gerade tat, aber er konnte es nicht aufhalten. Er redete einfach weiter und weiter. „Du hast zugelassen, dass jemand meine Akte und die meiner Schwester bekommt. Wie würdest du dich fühlen, wenn es dir so ergangen wäre? Wenn jemand dein Leben genommen und irgendwohin verschleppt hätte. Wie würde es dir gehen, wenn es Kens Akte gewesen wäre?“ Aya mochte nicht viel Menschenkenntnis besitzen, aber dass die beiden jüngsten Mitglieder von Weiß sich gut verstanden, war mit bloßem Auge erkennbar. Aber er war noch nicht fertig; er sah sich dabei zu, wie er weitersprach. „Was wäre gewesen, wenn es eine Akte über diese Ouka gewesen wäre? Was, wenn man sie mit hineingezogen hätte? Wie würdest du dich fühlen?“ „Aber ... aber Ouka hat doch nichts mit der Sache zu tun.“ „Meine Schwester auch nicht. Aber wenn ihr etwas passiert, an wessen Händen klebt dann ihr Blut?“ Omi war inzwischen weiß wie die Wand, seine Augen groß und rund wie die eines waidwunden Rehs. Aya wusste, dass er kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Er hatte das nicht verdient. Aber seine Schwester hatte das auch nicht verdient. Ihm wurde übel bei dem Gedanken daran, dass ihr etwas zustoßen konnte. Und wenn er daran dachte, was er Omi gerade alles an den Kopf geworfen hatte. Am liebsten hätte er alles wieder zurückgenommen, aber das ging nicht. Aya wandte sich ab. „Ich nehme mir heute frei. Ich brauche … ein wenig frische Luft. Du kannst die Tür hinter dir zuziehen, wenn du gehst.“ Abrupt wandte er sich ab, griff nach seinem Schlüssel und Telefon und ging mit großen Schritten zur Tür. Er hörte, wie Omi hinter ihm seinen Namen rief, aber er drehte sich nicht um. Er wusste, dass es eine Flucht war, aber er fühlte sich nicht in der Lage, sich dem noch weiter zustellen. Er musste hier weg.   Die Straße glitt unter seinen Füßen hinweg, ohne dass er sie wirklich wahrnahm. Er sah nicht, wohin er ging oder was um ihn herum passierte. Es war fast wie damals, als er zum ersten Mal vor den Scherben seines Lebens gestanden hatte. Orientierungslos, planlos, heimatlos. An einer Straßenecke hielt er an. Das war Quatsch, was er da dachte. Er hatte viel mehr als damals. Er hatte ein Ziel, eine Aufgabe, eigentlich sogar zwei; drei wenn man das Aufrechterhalten der Fassade im Blumenladen mit dazu nahm. Er hatte Kollegen, auf die er sich verlassen konnte, er hatte seine Schwester, die er beschützen musste, und er hatte Tim. Tim, der ihm so viel Wärme und Leben gab in einer Welt, die nur noch aus Blumen und Tod zu bestehen schien. Seine Zuflucht, sein Rückzugsort, seine Aussicht auf Exil. Nein, er würde nicht aufgeben und schon gar nicht hier und jetzt. Er war viel zu weit gekommen dafür. Ja, es stimmte, dass Omi einen Fehler gemacht hatte. Aber Fehler kamen vor. Er selbst hatte sich auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert bei der Show, die er vorhin abgezogen hatte. Das würde er irgendwie wieder gutmachen müssen. Leider hatte er keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Er war noch nie gut in so was gewesen. Wenn er sich mit Aya gestritten hatte, war immer sie es gewesen, die irgendwann eingelenkt hatte, aber darauf konnte er dieses Mal wohl nicht hoffen. Er musste einen Weg finden, das wieder hinzubiegen. Und er wusste auch schon, wen er dabei um Hilfe bitten würde. Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck griff er nach seinem Handy.       „Wo ist der kleine Mistkäfer?“ Crawford sah von seinem Schreibtisch auf. „Verrätst du mir, von wem du sprichst?“ Schuldig wedelte ungeduldig mit der Hand. „Nagi. Er ist nicht an seinem Platz und ich habe schon überall nach ihm gesucht. Er ist wie vom Erdboden verschwunden.“ Crawford hob nur eine Augenbraue. Er hätte es nie zugegeben, aber es amüsierte ihn maßlos, dass Schuldig sich jetzt in der gleichen Lage befand, in die er sich mindestens dreimal die Woche gebracht sah. Nur dass dann in der Regel er es war, der Schuldig suchte. „Hattet ihr eine Verabredung?“ „Ja!“ Schuldig ließ sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs fallen und sank dort in sich zusammen. Der Telepath sah leicht übernächtigt aus. Aber trotz der Augenringe und der Unzufriedenheit, die er in Wellen auszustrahlen schien, war da irgendetwas an ihm, das Crawford aufhorchen ließ. Irgendetwas verschwieg Schuldig ihm und das nicht erst seit heute. Vielleicht war ja jetzt der Zeitpunkt gekommen, an dem er es endlich erfahren würde. Natürlich wusste er, wo Nagi war, aber das würde er Schuldig nur im Austausch für andere Informationen verraten. Blaue Augen funkelten ihn über den Schreibtisch hinweg an. „Das habe ich gehört.“ „So, hast du das. Das ist interessant. Normalerweise dachte ich, dass du meine Gedanken nicht so einfach lesen kannst. Immerhin habe ich ein wenig Übung darin, solche Angriffe abzuwehren.“ „Pff.“ Schuldig blies sich eine der langen, roten Strähnen aus dem Gesicht. Er sah nach oben, zog eine Grimasse und fing an, in seiner Tasche herumzugraben. Er zog ein gelbes Tuch daraus hervor und wand es sich um den Kopf, sodass es die Haarflut zumindest ein wenig bändigte. Es ließ ihn aussehen wie eine sehr deutsche Hippie-Kopie von Karate-Kid. „So, wo waren wir?“ Crawford seufzte innerlich. „Dabei, dass du mir erzählen wolltest, warum du meine Gedanken lesen kannst.“ „Weil ich ein Telepath bin?“ Das Grinsen, das Schuldigs Gesicht zierte, schrie danach, von einer Faust ausradiert zu werden, aber Crawford riss sich zusammen. Er würde als Sieger aus dieser Begegnung hervorgehen. Es wäre nicht das erste Mal. „Was macht eigentlich diese Fujimiya-Sache?“ Bämm! Volltreffer. Schuldigs Gesichtszüge entglitten ihm für einen winzigen Augenblick, aber Crawford hatte es trotzdem gesehen. Von daher wehte also der Wind. Er lehnte sich zurück und schob seine Brille auf dem Nasenrücken zurecht. „Ich höre?“   Schuldig schien plötzlich ein wenig nervös. Ein Zustand, den man an dem Telepathen nicht oft beobachten konnte. Normalerweise war er gut darin, sein Umfeld glauben zu lassen, dass er alles unter Kontrolle hatte. Aber Crawford kannte ihn gut – und lange – genug, um zu wissen, wann das Ganze nur Theater war. Und die Vorstellung, die er jetzt gab, war erbärmlich schlecht. „Schuldig, du verschwendest Zeit. Deine und meine. Also würdest du jetzt endlich mit der Sprache herausrücken?“ „Er ist ein Tracker.“ Crawford musste zugeben, dass ihn das überraschte. Er hatte einige Vermutungen gehabt, um was es sich bei Schuldigs gesteigertem Interesse an dem Jungen handelte. Im schlimmsten Fall wäre dieses Interesse rein persönlicher Natur gewesen. Etwas, das Crawford auch nicht verwundert hätte. Schuldig war kein Kind von Traurigkeit. Allerdings spürte er genau, dass das noch nicht alles war. Er räusperte sich. „Er kann also übersinnliche Fähigkeiten aufspüren. Ist das der Grund, warum er dich damals bemerkt hat?“ „Ja, ich nehme es an. Aber ...“ 'Nun spuck's schon endlich aus und lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.' Crawford hatte die Worte nicht laut ausgesprochen, aber sie waren offensichtlich trotzdem angekommen. Schuldig rutschte auf seinem Stuhl hin und her. „Er ist auch … ein Enhancer. Er verstärkt meine telepathischen Kräfte. Anhaltend. Je intensiver der Kontakt war, desto größer ist die Wirkung.“ Schuldig sah ihn nicht an und Crawford wusste genau, was das bedeutete. Er fragte trotzdem. „Wie intensiv war der Kontakt?“ Aufblitzendes Blau durchbohrte ihn förmlich. „Intensiv. Reicht dir das als Antwort?“ „Du hast mit ihm geschlafen?“ „Nein! Mein Gott, Brad, manchmal bist du so ein Arschloch.“ „Aber du hast es in Erwägung gezogen.“ Crawford beschloss, Schuldigs kleinen Patzer zu übersehen. Sie beide hatten eine professionelle Beziehung, aus der sie alles Persönliche heraushielten. Es war nicht gut, Schuldig zu nahe an sich heranzulassen. Nicht, wenn man mit ihm zusammenarbeiten wollte. Eine Erfahrung, die andere vor ihm schon gemacht hatten. Schuldig hatte einen gewissen Ruf unter den Rosenkreuz-Absolventen. Er hatte bereits zwei Teams gesprengt, bevor Crawford ihn endlich unter Kontrolle bekommen hatte. Etwas, das ihm selbst nicht wenig Ansehen gebracht hatte. Das war aber nicht der einzige Grund, warum er Schuldig in seinem Team gewollt hatte. Der Telepath war unheimlich talentiert und Brad Crawford gab sich nicht mit zweiter Wahl zufrieden. Und jetzt sollte er auch noch jemanden gefunden haben, der seine Fähigkeiten weiter steigerte? Das war … vielversprechend. „Hast du herausfinden können, ob die Wirkung permanent ist?“ Professionelles Interesse, das war alles. „Bisher hält sie an.“ Schuldigs Augen funkelten. „Es ist … berauschend. Und das ist noch nicht alles. Ich ...“ Er schwieg und grinste. Dann schloss er die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Keine Minute später öffnete sich die Tür und die Sekretärin, die im Büro nebenan arbeitete, kam herein. In den Händen trug sie zwei Tassen frischen Kaffee. Sie stellte sie auf den Tisch, verbeugte sich und ging dann wieder hinaus. Der leere Gesichtsausdruck, den sie dabei hatte, ließ tief blicken. „Kaffee?“ Schuldig schob ihm eine Tasse über den Tisch, während er selbst die zweite mit einer unrühmlichen Menge Zucker versah. Was das anging, waren er und Nagi sich ähnlicher, als dem Telepathen bewusst war. „Du beherrschst jetzt also auch Suggestion?“ „Mhm-mhm. Exaktemundo.“ Crawford lehnte sich zurück und ließ seinen Blick für einen Augenblick unfokussiert durch den Raum schweifen. Falls das stimmte, ergaben sich ungeahnte Möglichkeiten. Möglichkeiten, auf die er immer gewartet, aber nie zu hoffen gewagt hatte. Das war wirklich höchst interessant. „Kannst du ein Treffen arrangieren?“ Er wollte sich selbst von der Wirkung des Jungen überzeugen. Wenn das stimmte, was Schuldig gesagt hatte, würde sich das auch auf seine Präkognition auswirken. „Ich arbeite daran. Eben deswegen suche ich Nagi. Ich habe Fujimiya eine hübsche, kleine Geschichte aufgetischt und Nagi ist ein essenzieller Teil davon. Deswegen brauche ich ihn ja so dringend, aber er ist wie vom Erdboden verschluckt.“ „Er arbeitet an Hirofumis Projekt. Takatori hat ihn für den Rest der Woche dorthin abgestellt.“ „Scheiße! Ich wusste, dass uns das einen Strich durch die Rechnung macht.“ Crawford musste unwillkürlich schmunzeln. Manchmal konnte Schuldig sich nicht zurückhalten und fiel wieder in seine Muttersprache zurück. Besonders, wenn er wütend war. Oder sehr gute Laune hatte. Im Moment war offensichtlich das Erstere der Fall. „Ich werde mich darum kümmern, dass er sich mit dir in Verbindung setzt. Es war richtig, zu mir zu kommen.“ Crawford sah den Telepathen so intensiv an, dass dieser den Kopf hob und den Blick erwiderte. „Schwarz ist ein Team, Schuldig. Ich gebe mein Bestes, aber das kann ich nur, wenn wir einander vertrauen. Ich dachte, das hättest du inzwischen verstanden.“ Ein schiefes Grinsen antwortete ihm. „Ich werd's versuchen, mir zu merken.“ „Tu das“ Crawford griff nach einer Akte, als ihm noch etwas einfiel. „Was ist eigentlich mit den anderen Drei? Irgendetwas Besonderes?“ Schuldig machte eine wegwerfende Geste. „Killer. Gute, wenn du mich fragst, aber austauschbar. Irgendwer hat sich da sein ganz persönliches SWAT-Team zusammengestellt und hetzt es jetzt ohne Rücksicht auf Verluste auf diejenigen, die ihm ein Dorn im Auge sind.“ „Irgendwelche Vermutungen, um wen es sich handelt?“ „Er nennt sich selbst Perser und tritt nie persönlich in Erscheinung. Seine Aufträge bekommt Weiß durch seine beiden Stellvertreterinnen Manx und Birman.“ „Weiß?“ Crawfords Mundwinkel umspielte ein spöttisches Lächeln. „Ja, verrückt nicht wahr? Und dann diese Katzen-Codenamen. Fujimiya nennen sie Abyssinian. Als wenn ihm das in irgendeiner Weise gerecht werden würde.“ Der Gesichtsausdruck, den Schuldig bei dieser Aussage hatte, gefiel Crawford nicht. Da war noch etwas, das der Telepath ihm verschwieg, aber er wusste, dass er es nicht zu weit treiben durfte. Wenn man sein bestes Rennpferd zu hart rannahm, begann es irgendwann zu lahmen. Für den Augenblick hatte er genug gehört. „Na schön, dann halte mich weiter auf dem Laufenden. Und sieh zu, dass du dir Fujimiya warmhältst. Ich kümmere mich um Nagi.“ „Wird gemacht Boss.“ In diesem Moment gab Schuldigs Handy einen Ton von sich. Er las die angekommene Nachricht und begann zu grinsen. „Na bitte, wenn man vom Teufel spricht. Unser kleines Wunderkind pocht Hilfe suchend an mein Tor. Also, was sagst du? Wolle mer'n reinlasse?“ „Verschone mich mit deinem Dialekt und hau schon ab.“ Schuldig legte grüßend zwei Finger an die Schläfe und war im nächsten Augenblick verschwunden. Crawford lehnte sich zurück und atmete tief durch. Es gab Zeiten, in denen wünschte er sich eine Vision mehr als in anderen. Dies war einer dieser Zeitpunkte, doch die Zukunft schwieg und es blieb ihm wohl nur übrig abzuwarten, was sie für ihn bereithielt.   Kapitel 11: Erster Kontakt -------------------------- Die Adresse, die Tim ihm geschickt hatte, stellte sich als ein ein wenig heruntergekommenes Gebäude mit abblätterndem Anstrich heraus. Es gab keinen Fahrstuhl, sodass sich Aya die hölzernen Treppen zu Fuß hinauf bewegen musste. Auch hier hätte den Wänden ein neuer Anstrich durchaus gutgetan. Die Stufen knarrten unter seinen Füßen. Im dritten Stock blieb er vor einer massiven Metalltür stehen und starrte auf den Klingelknopf. Noch vor wenigen Minuten war es ihm richtig vorgekommen, hierherzukommen, aber jetzt zögerte er. Er hatte lange überlegt, was er Tim sagen sollte. Die Wahrheit kam natürlich nicht infrage, doch gleichzeitig durfte es auch nicht zu weit von der Realität entfernt sein. Das Ergebnis dieser Überlegung war eine leicht wirre Geschichte, die Tim hoffentlich nicht hinterfragen würde. Aber wäre es nicht eigentlich viel richtiger gewesen, das Ganze für sich zu behalten? Allein eine Lösung zu finden?   'Nun, dafür ist es jetzt wohl etwas zu spät', dachte er bei sich und drückte mit zusammengebissenen Zähnen auf den Knopf neben dem Türrahmen. Es war kein Laut zu hören und für einen Augenblick fragte Aya sich, ob die Klingel wohl kaputt war, als plötzlich der Schlüssel in der Tür gedreht wurde und sie nach innen aufschwang. Von der anderen Seite grinste ihm Tim entgegen. „Hey, da bist du ja. Komm rein.“ „Entschuldige bitte, dass ich störe." Aya entledigte sich seiner Schuhe und stand im nächsten Augenblick in einem geräumigen Zimmer, das im Gegensatz zum schäbigen Treppenhaus modern und geschmackvoll eingerichtet war. Es gab eine Couchlandschaft, eine hohe Vitrine, ein Sideboard und einen Esstisch mit vier Stühlen. In einer Ecke des Raums war eine Küche durch einen kleinen Tresen abgetrennt, daneben führte eine Tür anscheinend in einen weiteren Raum. An den hellen Wänden hingen moderne Bilder, die kein bestimmtes Motiv zeigten, sondern eher durch ihre Farbgebung zur Raumgestaltung beitrugen. Neben dem Fenster stand ein Kleiderständer, an dem Aya einige der Sachen wiedererkannte, die er bereits an Tim gesehen hatte. Auf einem der Sessel lag sein Rucksack. „Willkommen in meinem bescheidenen Reich“, grinste Tim und breitete die Arme aus. „Naja, so in etwa zumindest. Mein Mitbewohner ist gerade nicht da. Er schläft im Raum nebenan; da ist auch das Badezimmer. Ist ein bisschen umständlich, aber dafür ist es bezahlbar und ich habe nachts eine Doppelcouch ganz für mich allein. Obwohl ich nicht ganz so viel Platz mit der richtigen Begleitung vorziehen würde.“ Er grinste wieder und zwinkerte Aya zu. Der atmete tief ein und spürte die Hitze, die seinen Hals empor kroch. So ganz hatte er sich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass er jetzt mit einem Mann ... Tim betrachtete ihn mit einem hungrigen Blick und im nächsten Moment lagen seine Lippen auf Rans. „Entschuldige“, murmelte er in den Kuss. „Aber du bist absolut unwiderstehlich, wenn du rot wirst. Ich habe keine Ahnung, wie ich da meine Finger von dir lassen soll.“   Ran schloss ergeben die Augen und genoss die Berührung, die Hände, die über seinen Körper wanderten, die Liebkosung der warmen Lippen. Er tauchte ein in das Gefühl der festen Muskeln unter seinen Fingern, den Geruch von Tims Haaren, die Ran an der Nase kitzelten, die weiche Textur seines T-Shirts und der glatten Haut, die er erspürte, als er den Stoff ein wenig nach oben schob. Es war wie Feuer, wie kleine Stromstöße, die ihn am ganzen Körper elektrisierten, ein Kribbeln, das vom Kopf bis in die Zehenspitzen reichte und seinen Atem schneller werden ließ. Es bedurfte seiner ganzen Beherrschung, sich irgendwann aus dem Kuss zu lösen und Tim ein Stück weit von sich zu schieben. Blaues Feuer bohrte sich in seine Augen und ließ seine Knie weich werden. Wie konnte man nur so verrückt nach jemandem sein? Tims Zeigefinger strich sanft über seine Wange. „Ich bin unmöglich“, sagte er leise. „Deine Nachricht klang dringend und ich falle hier so über dich her. Komm, setz dich und erzähl mir, was los ist. Möchtest du etwas trinken?“ Ran schüttelte den Kopf und ließ sich von Tim zum Sofa führen. Er war dankbar dafür, dass der andere am gegenüberliegenden Ende Platz nahm und ihn von dort aus aufmerksam musterte. Trotzdem musste er erst seine Gedanken ein wenig sortieren, bevor er anfangen konnte zu sprechen. „Ich … hab Scheiße gebaut.“ „Woah, was ist denn jetzt kaputt? Seit wann flucht meine kleine Blume so?“ Bei der Frage machte Tim ein so aufgesetzt empörtes Gesicht, dass Ran lachen musste. Der Bann, der ihn eben noch gefangen gehalten hatte, war gebrochen. „Ich habe heute Morgen einen Anruf von meinen Eltern bekommen. Meine Schwester ist von einem Auto angefahren worden und liegt im Krankenhaus. Sie hat einiges abgekriegt und ich mache mir natürlich Sorgen um sie.“ „Verständlich. Ich hoffe, es geht ihr bald besser. Aber warum hast du dann Mist gebaut?“ Ran atmete tief durch. „Weil ich deswegen so durch den Wind war, dass ich einen meiner Kollegen total runtergemacht habe. Und anstatt mich zu entschuldigen, bin ich einfach abgehauen. Jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll. Er war echt fertig.“ „Hast du ihm eine reingehauen oder sein Auto angezündet?“ Die Frage klang todernst. „Nein, natürlich nicht.“ Ran schüttelte irritiert den Kopf. „Er hat auch gar keins. Ist erst 16. Ich … war echt gemein. Er hat fast angefangen zu heulen.“ Tim lächelte und in seinem Blick lag eine Wärme, von der Ran nicht das Gefühl hatte, dass er sie verdient hatte. Immerhin hatte er Omi echt verletzt. „Warum gehst du nicht einfach zu ihm und erklärst ihm, warum du dich so aufgeführt hast? Wenn er kein totales Arschloch ist, wird er es verstehen. Und wenn nicht, kann es dir auch egal sein.“ „Ja aber ...“ Ran rang mit den Worten. „Das reicht doch irgendwie nicht. Ich habe das Gefühl, ich müsste irgendetwas tun. Ihm … keine Ahnung. Eine Art Friedensangebot machen.“ Tims Lächeln wurde breiter und frecher. „Ah, ich verstehe. Du willst den Drachen füttern.“ Ran blinzelte verblüfft. „Was?“ Tim grinste jetzt über das ganze Gesicht. „Das hat meine Mama immer gesagt, wenn ich was ausgefressen hatte und anschließend mit einer Schachtel ihrer Lieblingspralinen angeschlichen kam, um mich zu entschuldigen. 'Du willst wohl den Drachen füttern?' hat sie immer gesagt und mir mit ihren spitzen, roten Fingernägeln in die Brust gestochen. Dann mussten wir beide lachen und es war alles wieder okay.“ Ran runzelte die Stirn. „Und du meinst, ich sollte Omi Schokolade mitbringen?“ „Ja, oder was anderes, was er mag. Er ist 16, sagst du? Dann besorg ihm ne Zeitschrift über Computerspiele. Oder einen Porno. Je nach Vorliebe.“ Ran hätte sich beinahe an seiner eigenen Spucke verschluckt. „Einen … was?“ „Porno. Nix extremes, aber was mit ein bisschen nackter Haut, ein paar Brüsten und so. Glaube mir, so was hat jeder Junge in dem Alter irgendwo versteckt. Aber ranzukommen ist gar nicht so einfach, weil das ja bedeutet, dass man das Ding irgendwann auf den Ladentisch legen und bezahlen muss. Die Hölle, wenn du mich fragst. Ich bin die ersten Male fast gestorben vor Angst, dass der Kassierer mich anspricht oder mich gar nach meinem Ausweis fragt.“ Tim verstummte plötzlich und sah ihn etwas verschämt an. „Du musst mich für einen totalen Lüstling halten. Ich weiß auch nicht, warum ich da momentan ständig dran denken muss. Obwohl das natürlich was mit dir zu tun haben könnte.“ Er grinste und ließ seinen Blick ziemlich schamlos über Rans Körper wandern. Dabei stieß er ein Geräusch aus, das irgendwo zwischen einem Schnurren und einem Knurren lag. Ran lachte auf. „Was jetzt? Willst du mich auffressen?“ „Nein, dann hätte ich ja nichts mehr von dir. Aber ich überlege mir gerade, mein Sofa umzudekorieren. Ein neuer Bezug, ein paar bunte Kissen und vielleicht einen halbnackten, rothaarigen Samurai, der mir, wenn mir danach ist, zu Diensten sein muss.“ „Samurai?“ Ran hob fragend eine Augenbraue. Tim leckte sich über die Lippen und fing an, sich wie eine Raubkatze an ihn heranzupirschen. Er glitt auf seinen Schoß und ließ seinen Unterleib dabei wie zufällig über Rans Schritt gleiten. Die Bewegung ließ heißes Blut in seine Lenden schießen. „Na klar oder ist das da unter mir etwa kein Schwert?“ Tim wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Für einen kurzen Augenblick sandten diese Worte einen kalten Schauer über Rans Rücken. Bilder seines Katanas, besudelt mit dem Blut seiner Gegner, blitzten durch seinen Geist. Er schnappte hörbar nach Luft. Tim schien davon nichts bemerkt zu haben. Seine Lippen streiften Rans Hals. „Mhmmm“, machte er. Die Vibration des Tons übertrug sich auf Rans ganzen Körper und riefen eine Gänsehaut hervor. Ganz automatisch griff er nach Tims Hüfte und ließ seine Finger daran entlang gleiten. Heißer Atem strich über sein Ohr. „Ich stelle mir gerade vor, wie es wäre, wenn wir beide nicht so viel Stoff am Leib hätten. Haut an Haut, mit nichts zwischen uns als unserer eigenen Zurückhaltung. Ich fürchte nur, damit wäre es bei mir dann nicht mehr weit her.“ Tim biss in sein Ohrläppchen und begann, daran herumzuknabbern. „Ich will dich in mir spüren. Bald.“ Ran fühlte sein eigenes Stöhnen mehr, als dass er es hörte. Ein heißes, fast schmerzhaftes Ziehen raste durch seinen Unterleib und er presste seine Stirn an Tims Schulter, um irgendwie die Beherrschung nicht zu verlieren. Die Vorstellung, das mit Tim zu tun, war mehr, als er ertragen konnte. „Hey, langsam, kleine Blume.“ Sanft massierten Finger seinen Nacken und glitten nach oben in seinen Haaransatz. „Vorher müssen wir erst noch mal einkaufen gehen. Ich habe nämlich nicht daran gedacht, Gleitmittel oder Kondome einzupacken. Hast du irgendwelche Wünsche? Mit Geruch? Geschmack? Karamell oder vielleicht Erdbeer?“ Ran öffnete die Augen wieder und wollte Tim gerade antworten, als ihm die Worte buchstäblich im Hals stecken blieben. Hinter Tim stand ein Mann, der ihn aus einem einzelnen, bernsteinfarbenen Auge musterte. Das andere, oder was davon übrig war, wurde von einer ledernen Augenklappe verdeckt.   Ayas Reflexe übernahmen automatisch die Kontrolle. Er stieß Tim beiseite, sodass dieser neben ihm auf dem Sofa landete und kam aus der gleichen Bewegung heraus auf die Füße. Sein Gegner machte einen Satz rückwärts und duckte sich zum Sprung. Der Fremde, dessen bloße Arme ebenso von Narben verunstaltet waren wie sein Gesicht, bleckte die Zähne und Aya erwartete fast, ein Fauchen zu hören. Eine beinahe körperlich spürbare Bedrohung ging von dem Eindringling aus und auch, wenn er momentan mit leeren Händen vom ihm stand, war sich Aya sicher, dass er mindestens eine wenn nicht sogar mehrere Klingen irgendwo an seinem Körper versteckt hatte. Unauffällig schob er sich ein Stück nach links, sodass er jetzt zwischen Tim und dem unheimlichen Fremden stand. Er lockerte die Beinmuskeln und ging leicht in die Knie, um einem Angriff möglichst flexibel begegnen zu können. Sein Gegenüber quittierte das mit einem heiseren Lachen. Das Geräusch sorgte dafür, dass sich die Haare in Ayas Nacken aufstellten. „Sieh an, was die Katze hereingeschleppt hat“, sagte der Fremde in einem leicht akzentuierten Englisch. Seine Stimme klang wie Sand, der über glatten Marmor scheuerte. „Jei!“ Tim hatte sich wieder aufgerappelt und trat neben Aya. Der konnte sich mit Mühe beherrschen, ihn nicht mit dem ausgestreckten Arm zurückzuhalten. „Ähm, Ran, das ist Jei, mein ... Mitbewohner. Jei, das ist mein Freund Ran.“ Er benutzte das englische Wort 'boyfriend', was Aya irgendwie aus dem Konzept brachte. Er hatte sich noch nicht wirklich Gedanken darüber gemacht, was das zwischen ihnen war, aber für Tim schien das vollkommen normal zu sein. Es war jedoch auch unverkennbar, dass Tim nervös war. Sein Blick war unstet und die Atemlosigkeit in seiner Stimme kam nicht allein von den Aktivitäten, in die sie beide gerade noch verwickelt gewesen waren. Er hatte einen Heidenrespekt vor dem weißhaarigen Mann. Unwillkürlich rückte Aya ein Stück näher an ihn heran. Tim warf ihm einen dankbaren Blick zu, schüttelte aber unmerklich den Kopf. Das hier war nicht die Zeit und der Ort, um einen Kampf zu provozieren. „Die Milch ist alle.“ Die Stimme des Fremden hätte genauso gut verkünden können, dass er sie gleich aufschlitzen würde. „Ich besorge neue“, versicherte Tim schnell und schob Aya in Richtung Tür. „Komm, wir gehen. Der Laden um die Ecke ist gar nicht weit.“ Aya öffnete den Mund, um zu protestieren, da klopfte es plötzlich an der Tür. Alle Anwesenden verharrten regungslos und starrten in Richtung des grauen Metallvierecks, von wo jetzt erneut ein ungeduldiges Klopfen kam. „Wer ist das?“ Die Sand-Stimme klang misstrauisch. „Noch mehr, Freunde von dir?“ Aus seinem Mund klang das Wort eher wie Opfer. „Ich ... ich weiß es nicht“, stotterte Tim, beeilte sich aber, die Tür zu öffnen. Als sie nach innen aufschwang, gab sie den Blick auf einen schmächtigen, japanischen Jungen frei. „Nagi!“ Tim schien jetzt endgültig mit den Nerven am Ende zu sein. Er starrte den Jungen vor sich an, als wäre er so eben einem Raumschiff entstiegen. „Was tust du hier?“ „Du wolltest mich sprechen. Cr...“ Die Augen des Jungen weiteten sich, als er die Szene erfasste, die sich im Raum abspielte. Er öffnete den Mund um weiterzusprechen, aber Tim kam ihm zuvor. „Ich glaube, wir sollten gehen. Jei hat uns gerade gebeten, neue Milch zu holen. Kommst du Ran? Dann können wir alles weitere draußen besprechen.“ „Jei?“ Der Junge hatte die Augenbrauen gehoben und sah Tim an, als wäre der nicht ganz bei Trost. Tim lachte gequält und schob ihn nach draußen. Aya warf noch einen letzten, prüfenden Blick auf Tims Mitbewohner, der ebenso abschätzend zurückschaute. In Tims Interesse war klar, dass Aya hier den Kürzeren ziehen musste, aber das passte ihm gar nicht. Der Mann gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht. Er atmete tief durch und versuchte sich selbst zu beruhigen. 'Du bist nur ein Blumenhändler', betete er sich selbst vor. 'Du wirst dich jetzt einfach umdrehen und gehen und alles wird friedlich ablaufen' Die Art, wie dieser Jei den Mund zu einem spöttischen Grinsen verzog, als Aya sich zum Gehen wandte, führte zwar fast dazu, dass er sich noch einmal umdrehte, um ihm noch eine zu verpassen, aber er riss sich zusammen und folgte Tim und dem Jungen nach draußen.   Er fand die beiden auf der Straße vor dem Gebäude wieder. Tim grinste ein wenig schief. „Tja, äh, wie ich schon sagte. Mein Mitbewohner ist ein wenig eigenartig.“ Er hatte wieder ins Japanische gewechselt, vielleicht damit der Junge ihn besser verstand. Der musterte Aya unter seinem Pony heraus vorsichtig, so als wolle er abschätzen, ob Aya ebenso durchgeknallt war wie dieser Jei. Aya zwang sich, seinen Körper zu entspannen und wieder aus der Kampfhaltung herauszukommen, in der er sich in den letzten Minuten befunden hatte. Dann legte er ein Lächeln auf sein Gesicht. „War ja ganz schön dicke Luft da drinnen“, versuchte er einen Scherz. Nagi nickte nur, bevor er sich an Tim wandte. „Crawford hat gesagt, dass du mich gesucht hast.“ „Dein Vater hat mich empfangen, als wir eigentlich zum Unterricht verabredet waren. Du erinnerst dich, dass ich dir Deutsch beibringen soll?“ Der Junge warf einen Blick auf Aya. „Natürlich erinnere ich mich. Wie sollte ich auch nicht? Aber ich hatte heute Morgen eine andere Verabredung.“ Tim lachte auf. „Hast dich wohl wieder mit deinen neuen Freunden rumgetrieben. Tja, was will man machen. Kinder!“ Er grinste Aya verschwörerisch an, während sich der Blick des Jungen in seinen Rücken bohrte. Anscheinend war Tim gerade dabei, sich es sich mit seinem Arbeitgeber zu verscherzen. Das durfte Aya nicht zulassen. „Ich sollte gehen“, sagte er daher und deutete eine Verbeugung an. „Ich bedanke mich für deinen weisen Rat und werde mich daran halten. Du kommst mit diesem Jei klar?“ Tim blinzelte ein paar Mal, bevor er ein schiefes Lächeln aufsetzte. „Was ich? Ja, natürlich. Wenn ich die Milch besorgt habe, ist alles wieder in Butter. Ich … sehen wir uns bald wieder? Heute Abend?“ Aya schüttelte den Kopf. „Ich muss zunächst diese Sache mit Omi klären. Ich ruf dich an, wenn ich's überstanden habe.“ Der Ausdruck in Tims Gesicht, hätte Aya fast wieder einknicken lassen, aber er brauchte jetzt erst mal einen freien Kopf, um seine Angelegenheiten zu regeln. Außerdem wollte er Aya besuchen. Er hatte das Gefühl, es ihr schuldig zu sein, wenn er sie schon als Ausrede benutzte. Und dann war da immer noch dieser Unbekannte, der jetzt wusste, wo sie zu finden war. Vielleicht konnte er Birman erreichen und sie bitten, seine Schwester in ein anderes Krankenhaus zu verlegen. Irgendwohin, wo sie niemand finden konnte. Wenn sie in Sicherheit war, würde er sich wieder mit Tim treffen können, ohne sich ständig darüber Gedanken zu machen, ob sie in Gefahr schwebte. Aya lächelte Tim noch einmal an, dann drehte er sich entschlossen um und lief den Weg zurück, den er vor kurzem erst gekommen war.       Der rote Haarschopf, war kaum um die Ecke verschwunden, als Schuldig schon zu Nagi herumfuhr. Seine Augen sprühten Funken. „Sag mal, hast du sie noch alle? Warum tauchst du hier so einfach auf?“ Nagi zuckte mit den Schultern. „Crawford hat gesagt, du suchst mich. Und da du nicht an dein Handy gegangen bist ...“ „Ach Scheiße! Das habe ich auf lautlos gestellt.“ Nagi sah noch einmal in Richtung Straßenecke. „War das Fujimiya?“ Schuldig rollte mit den Augen. „Nein, der Kaiser von China. Natürlich war er das.“ „Und was wollte er hier?“ „Geht dich nichts an.“ „Und was tut Jei hier?“ Der Spott in Nagis Stimme war unüberhörbar. „Na der wohnt hier. Vorübergehend.“ „Und was habt ihr gemacht, als ich ankam.“ „Nicht, was du denkst!“ Schuldig raufte sich die Haare und fing an, ein Stück den Fußweg entlangzugehen. Er schien mit sich selbst zu reden. Nagi wartete ruhig ab. Eigentlich hatte er nicht herkommen wollen. Die Arbeit an Hirofumis Projekt war eine ziemliche Herausforderung, aber Nagi war sich sicher, dass er das hinbekam. Zumal er ein Team von drei weiteren Arbeitern hatte, das er nach Belieben herumscheuchen konnte. Aber er hatte auch eine Verpflichtung Schwarz gegenüber und wenn Crawford ihn anwies, sich bei Schuldig zu melden, dann tat er das.   Schließlich gab der Telepath seine Selbstgespräche auf und kam zu Nagi zurück. „Na wenn du jetzt schon mal hier bist, können wir auch anfangen zu üben.“ Nagi zögerte noch. Da war noch etwas, auf das er Schuldig nicht angesprochen hatte. Die Sache mit den Stimmen in seinem Kopf. Oder besser gesagt: Schuldigs Stimme. Ein Grinsen antwortete seinem Gedankengang. „Komm schon Naggels, ich erkläre dir alles drinnen. Wenn Farfarello nicht vor lauter Aufregung die Wohnung in Schutt und Asche gelegt hat, versteht sich.“ Schuldig legte einen Arm um Nagi und der konnte nicht umhin zu denken, dass sich das irgendwie gut anfühlte. Er war noch nie bei Schuldig zu Hause gewesen und ein wenig wurmte es ihn, dass dieser dahergelaufene Weiß vor ihm hier gewesen war, aber immerhin hatte der jetzt das Feld geräumt und er, Nagi, war noch hier. „Ich glaube, ich habe sogar noch Eiscreme im Kühlschrank.“ „Matcha?“ „Uh, nein, Vanille. Aber ich kann dir gerne einen Teebeutel darüber ausleeren, wenn du nicht ohne das Zeug kannst.“ Nagi lachte und ließ sich von Schuldig nach drinnen geleiten.   Während er darauf wartete, dass Schuldig irgendwie die Dose mit dem Eis aus dem völlig vereisten Gefrierfach bekam, wanderte Nagis Blick zu Farfarello. Er amüsierte sich gerade damit, ein neues Muster in Schuldigs Couchtisch zu schnitzen. Es sah verdächtig nach einem Katzenkopf aus. „Ihr wohnt jetzt also zusammen?“, versuchte er ein Gespräch anzufangen. Farfarello sah nicht von seiner Arbeit auf. „Ja.“ „Warum?“ Jetzt unterbrach Farfarello sein Tun doch und hob den Blick. „Weil er mich braucht.“ Die Antwort überraschte Nagi etwas. „Er braucht dich? Wofür.“ Farfarello zuckte mit den Schultern und machte sich wieder daran, das Holz zu bearbeiten. Nagi runzelte die Stirn. Anscheinend ging hier irgendetwas vor, dass er nicht verstand. Und das ihm keiner erklärte. Nagi konnte das nicht leiden.   Endlich kam Schuldig mit dem Eis. Und einem Teebeutel. „Nur für alle Fälle“, grinste er und schob Nagi die randvoll gefüllte Schüssel über den Tisch. Nagi ignorierte sie. „Was willst du von Fujimiya? Sex?“ Schuldig riss gespielt erstaunt die Augen auf. „Weiß Crawford, dass du von solchen Dingen weißt?“ „Verarsch mich nicht, Schuldig.“ „Und mit dem Mund küsst du deine Mutter?“ „Meine Mutter ist tot.“ Der Telepath ließ sich in einen Sessel sinken und seufzte übertrieben laut. „Na gut, ich erkläre es dir. Ich will an Fujimiya ran, weil er meine und Crawfords Fähigkeiten steigern wird. Exorbitant steigern. So sehr, dass wir ...“, er zögerte kurz, „dass wir in Zukunft vielleicht unabhängig arbeiten können.“ Nagi brauchte einen Moment um zu verstehen, was Schuldig meinte. Unabhängig so wie in 'losgelöst von Eszett'. Aber das würden die niemals zulassen. Schuldigs blaue Augen glühten förmlich von innen heraus. „Manchmal lohnt es sich dafür zu kämpfen, was einem wichtig ist. Nur, weil wir eine längere Leine haben, sind wir trotzdem jemandes Hunde. Aber Hunde, die man zu oft tritt, fangen irgendwann an zu beißen.“ Nagi erschauerte. Das, von dem Schuldig da sprach, war eindeutig Verrat. Meuterei. Wenn jemand das herausbekam, würden sie nicht mehr lange zu leben haben. Keiner von ihnen. „Deswegen wird es keiner herausfinden.“ Schuldigs Lächeln war ebenso freundlich wie verschlagen. „Niemand weiß von Fujimiyas Fähigkeiten und das soll auch so bleiben. Deswegen ist es wichtig, dass ich ihn unter Kontrolle behalte. Und dazu brauche ich dich, Nagi. Du bist ein wichtiger Teil meiner Tarnidentität. Oder glaubst du vielleicht, Fujimiya würde uns aus lauter Herzensgüte helfen? Wir haben immerhin seine Eltern auf dem Gewissen.“ Nagi erinnerte sich gut. Es war sein erster Außeneinsatz gewesen. Kurz vor der geplanten Explosion hatte Schuldig ihm auf einmal den Zünder in die Hand gedrückt und ihm erlaubt, die Bombe, deren Baupläne er ausgearbeitet hatte, selbst zu zünden. „Ehre, wem Ehre gebührt“, hatte er gesagt und Nagi hatte sich nie besser gefühlt. Ganz im Gegensatz zu jetzt, wo sich sein Magen in einen schmerzenden Klumpen verwandelt zu haben schien. Mechanisch griff er nach der Schüssel mit Eiscreme und begann zu löffeln. „Du bist der Sohn meines Arbeitgebers, gespielt von Crawford. Farfarello gibt meinen bösen Mitbewohner und ich bin der harmlose, deutsche Student, der hier nur eine gute Zeit verbringen will. Fujimiya wird von all dem nichts merken. Wir nehmen uns von ihm, was wir brauchen und verschwinden dann aus seinem Leben.“ Nagis Löffel schwebte über der Eiscreme. „Du meinst, er verschwindet dann aus unserem?“ Schuldig hob beide Hände mit den Handflächen nach oben. „Wenn dir das lieber ist, dann auch so. Ist vielleicht ohnehin besser, wenn wir uns seiner am Ende entledigen. Nicht, dass Eszett ihn doch noch in die Finger bekommt.“ „Das werde ich erledigen.“ Farfarello hatte seine Schnitzerei beendet und betrachtete sie mit einem schmalen Lächeln. „Ich habe schon lange keinen würdigen Gegner mehr gehabt. Es wird Spaß machen, mit dem Kätzchen zu spielen.“ Er hob die Hand mit dem Messer und ließ sie auf die Tischplatte niedersausen. Die Klinge blieb zitternd im linken Auge der Katze stecken. Nagi begann zu lächeln. „Also bringst du mir jetzt wirklich Deutsch bei?“ „Natürlich.“ Schuldig holte ein gelbes Tuch aus seiner Tasche und band sich damit die Haare zurück. „Also los, sprich mir nach: Ich möchte diesen Teppich nicht kaufen.“ „Was heißt das?“ „Das ist unwichtig. Hauptsache, Fujimiya denkt, dass es etwas zu bedeuten hat. Alles nur ein bisschen Augenwischerei, bis wir haben, was wir brauchen. Also bitte, konzentrier dich jetzt und iss dein Eis. Wir wollen doch nicht, dass es schmilzt.“ Nagi nickte langsam. „Nein, das wollen wir natürlich nicht.“ Gehorsam wiederholte er, was Schuldig ihm vorsagte. Den Gedanken, dass es ihm lieber gewesen wäre, wenn Schuldig sich wirklich Mühe bei der Sache gegeben hätte, vergrub er ganz tief in seinem Unterbewusstsein. Man musste nehmen, was man kriegen konnte. Kapitel 12: Gemeinsam gegen die Welt ------------------------------------ „Du hast Glück, dass Ken gerade unterwegs ist, um was zu essen zu holen. Wäre er an meiner Stelle gewesen, würdest du jetzt vermutlich mit gebrochenem Kiefer auf dem Boden liegen.“ Er schob das Tor wieder nach unten, sodass sie beide im Halbdunkel des Blumenladens standen. Irgendwo lief leise Musik, in der Luft lag der Rauch einer Zigarette. Normalerweise rauchte Yoji nicht hier drinnen, aber Aya war wohl kaum in der Position, ihn deswegen zu rügen. Sein Magen fühlte sich an, als hätte er einen Stein verschluckt. „Omi ist unten. Wenn ich du wäre, würde ich mich beeilen. Ken müsste bald zurück sein und dann könnte das hässlich werden.“ Aya nickte langsam und wandte sich in Richtung Kellertür. Kurz bevor er sie öffnete, sah er noch einmal zurück. Yoji hatte sich rückwärts gegen den Tresen gelehnt und wieder die Zigarette zwischen den Lippen, die Beine übergeschlagen, als würde er lediglich ganz entspannt auf sein Abendessen warten. Aber Aya erkannte die kleinen Zeichen. Die Tatsache, dass er seine Sonnenbrille auf der Nase nach oben geschoben hatte, die Art und Weise, wie seine langen Finger mit dem Feuerzeug spielten; es auf- und zuschnappen ließen, um die Nervosität abzubauen. Irgendwie beruhigte es Aya, dass er nicht der Einzige war, dem das hier zu schaffen machte. „Nun geh endlich. Ich weiß nicht, wie lange ich den Berserker aufhalten kann, wenn er erfährt, dass du und Omi sich in einem Raum aufhalten. Wenn er wieder da ist, hat dir der Chibi hoffentlich verziehen, sonst garantiere ich für nichts.“ „Ist gut, ich gehe ja schon.“ Aya griff nach der Klinke der Tür und öffnete die Tür, die nach unten führte. Kühlere Luft schlug ihm entgegen und je tiefer er kam, desto kälter wurde es. Es fühlte sich fast an, als würde er in eine andere Welt hinabsteigen. Eine Welt hinter der Welt. Die Welt von Weiß, geformt aus Blut und Tod, aber auch aus vier Leuten, die das Schicksal unwiderruflich zusammengebracht hatte, um sich der Dunkelheit entgegenzustellen. Und er hatte einen Keil in diese Einheit getrieben. Es wurde Zeit, dass er das wieder geradebog.   Der Computerbildschirm war das Einzige, das den kleinen Raum beleuchtete. Er warf einen bläulichen Schein auf den Schreibtisch und den Stuhl davor, während der Rest des Raums im Dunkeln versank. Aya gab sich Mühe, hörbar aufzutreten, um Omi nicht zu erschrecken. Obwohl das vermutlich nicht notwendig war. Der Junge war immerhin ein trainierter Assassine. Sich an ihn heranzuschleichen, war fast ein Ding der Unmöglichkeit. „Ich habe doch gesagt, ich will nichts essen.“ Omi Stimme klang brüchig, heiser. Als hätte er geschrien und seinen Hals dabei überanstrengt. „Omi, ich bin's.“ Der Schreibtischstuhl fuhr herum und Omi sah ihn aus großen, entgeisterten Augen an. „Aya-kun.“ Bei seinem Anblick war Ayas Kopf plötzlich wie leergefegt. Er hatte sich stundenlang überlegt, was er sagen wollte. Sich die Worte zurechtgelegt, damit er sie im richtigen Moment parat hatte. Doch all die Notizen, die er im Geiste geschrieben hatte, waren plötzlich leer und wurden vom Wind davon geweht. „Ich … was ich gesagt habe ...“ es wollte ihm einfach nicht über die Lippen kommen. Omi begann zu lächeln. „Ist schon gut. Du hattest recht. Ich habe wirklich versagt. Wenn sich jemand entschuldigen muss, dann bin ich das. Ich ...“ Omi kam nicht weiter, denn Aya hatte die Tüte fallen lassen und war vor ihm auf die Knie gesunken. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn. Er packte Omi und schüttelte ihn ein paar Mal hin und her. „Hör auf das zu sagen. Du hast nichts falsch gemacht. Niemand hätte wissen können, dass so etwas passiert. Du bist nicht für alles Unglück dieser Welt verantwortlich.“ Omis Lächeln wurde traurig. „Es ist nett von dir, das zu sagen, aber ...“ „Omi!“ Aya wusste, dass er ihn anbellte, aber das war einfacher, als weiterhin untätig danebenzustehen. „Omi, hör mir zu. Es war falsch, was ich dir an den Kopf geworfen habe. Ich habe … ich bin einfach total in Panik geraten, als ich das von meiner Schwester gehört habe. Ich konnte nicht mehr klar denken. Und meine Wut darüber, nichts tun zu können, habe ich an dir ausgelassen. Es war falsch und es tut mir leid. Hast du das verstanden? Es war nicht deine Schuld!“ Omis Unterlippe begann zu zittern und im nächsten Moment begannen die ersten Tränen seine Wangen hinabzulaufen. Aya schloss die Augen. „Sorry ich ... ich bin nicht gut in sowas. Ich bin eben ein Arsch. Ein herzloser, kaltschnäuziger, rücksichtsloser Bastard von einem Arsch. Der größte Arsch von allen. Quasi Mega-Arsch aus Arschlochistan.“ In Omis Schluchzer mischte sich ein glucksendes Lachen und er erbebte noch einmal, nur dieses Mal vor Lachen. Das Ergebnis war ein gewaltiger Schluckauf, der ihn beutelte, während er Aya unter Tränen schief angrinste. „Ein Riesenarsch“, bestätigte er. „Aber mit einer Sache lagst du trotzdem richtig. Ich hätte dir das Ganze nicht so lange verschweigen sollen. In meiner Blindheit habe ich mich nur darauf konzentriert, das Problem mit den Datenbanken zu lösen. Ich hätte früher darüber nachdenken sollen, was für Konsequenzen das hat und wie wir das verhindern können.“ „Ich hatte gedacht, wir könnten vielleicht Birman fragen, ob sie meine Schwester verlegen lässt.“ „Schon geschehen.“ Omi drehte sich halb herum und langte nach einem kleinen Notizblock. Er riss das oberste Blatt ab und reichte es Aya. „Das ist die neue Adresse des Krankenhauses, in das sie gebracht worden ist. Und das hier ist die einzige Aufzeichnung darüber.“ Er runzelte die Stirn und riss auch noch die nächsten drei Blätter ab und drückte sie Aya in die Hand. „Nur für den Fall, dass der Stift durchgedrückt hat.“ Jetzt musste auch Aya lächeln. „Du bist schon ein bisschen paranoid, oder?“ „Ich gucke viel fern“, antwortete Omi leichthin. „Da lernt man so einiges.“   Von oben war das Rasseln des Tores zu hören und Omi wischte sich eilig über das Gesicht. „Das muss Ken mit dem Essen sein. Ich sollte vielleicht mit ihm sprechen, bevor ihr aufeinander trefft.“ Er stand auf und stieß mit dem Fuß gegen die Tüte, die Aya fallengelassen hatte. Im Eifer des Gefechts hatte er sie vollkommen vergessen. „Ich habe … dir was mitgebracht.“ Es kam ihm jetzt noch viel lächerlicher vor als noch vor ein paar Minuten. Omi bückte sich und hob die Tüte auf. Als er hineinsah, fing sein Gesicht an zu strahlen. „Oh Aya-kun, der ist ja niedlich?“ Er zog den kleinen Plüschhund hervor, den Aya gekauft hatte. Er war weiß und braun und wenn man auf einen Knopf auf seinem Bauch drückte, fing er an zu bellen. Aya hatte ihn in einem Kaufhaus entdeckt. Ein kleiner Junge hatte seine Mutter angefleht, ihm so ein Tier zu kaufen. Die Frau hatte zuerst nein gesagt, aber als das Kind gar nicht aufgehört hatte, zu betteln, hatte sie schließlich gelächelt, ihm über den Kopf gestreichelt und hatte erlaubt, dass er sich einen Hund aussuchte. Nachdem sie verschwunden war, hatte Aya eines der Tiere in die Hand genommen und es hatte ihn irgendwie an Omi erinnert. Noch bevor er es wirklich realisiert hatte, war er damit zur Kasse marschiert und hatte es gekauft. Eine selten dämliche Idee, wie er bis vor wenigen Augenblicken noch gedacht hatte. Aber anscheinend gefiel es Omi. „Ich … dachte, du magst ihn vielleicht.“ Ein Schulterzucken. Er kam sich komisch vor in dieser Rolle, die er gerade innehatte. Der große, fürsorgliche Bruder. Das war vielleicht Ken und eventuell sogar Yoji in seiner eigenen, recht verqueren Art. Aber er, Aya, er war doch eher derjenige, der lediglich die verprügelte, die es gewagt hatten, sich an Kleineren zu vergreifen. Aber, so dachte er plötzlich, vielleicht war das eben auch eine Art von Fürsorge. Eine, die Omi ebenso brauchte wie die anderen. Immerhin war Weiß die einzige Familie, die er hatte.   Ein Schrei erklang von oben, gefolgt von Yojis Stimme. „Ken, nein! Lass die beiden das in Ruhe alleine klären.“ „Klären? Ich kläre das auf meine Weise. Indem ich ihn umbringe. Lass mich endlich los, Yoji, ich will ihm seinen verdammten Dickschädel einschlagen.“ Omi kicherte plötzlich. „Vielleicht wartest du hier, bis sich Ken beruhigt hat. Sonst müssen wir morgen schon wieder neue Ware bestellen.“ Aya öffnete den Mund, um zu sagen, dass er bestimmt keine Angst vor Ken hatte, aber er erkannte, dass es Omi darum ging, seine Familie zu beschützen. Alle von ihnen. Auch Aya. Er nickte langsam. „Ist gut, ich warte hier. Sag mir Bescheid, wenn der Hurrikan vorbeigezogen ist.“ Omi nickte heftig. „Ist gut, Aya-kun. Es wird nicht lange dauern.“ Mit neuem Elena sprang er die Treppe hinauf, den Plüschhund unter dem Arm. Aya ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken und drehte langsam den Zettel mit der Adresse in den Händen. Seine Schwester war wieder in Sicherheit. Es gab niemanden, den er betrafen, den er zur Rechenschaft ziehen konnte. Das Ganze verlief sich einfach im Sand. 'Ist vielleicht auch besser so', dachte er ein wenig bitter. Denn das nächste, schwarze Biest, das die Nacht durchstreifte, würde sicherlich nicht lange auf sich warten lassen. Und dann würde er da sein und es mit dem Schwert in der Hand erwarten.           Das kleine, rosa Plüschkaninchen flog in hohem Bogen durch die Luft und landete hart auf der Erde. Ein zerfledderter Turnschuh drückte es in den Staub. Das Lachen des Jungen, dem er gehörte, war dreckig. „Hey, Nanami. Ist das deins?“ Er drehte seinen Fuß hin und her. Das Mädchen mit den langen, blauen Haaren stand vollkommen regungslos da. Einzig ihre Lippen bewegten sich. Ihre tränennassen Augen waren starr auf das Kaninchen gerichtet. „Lass sie, bevor wir Ärger bekommen.“ Ein weiterer Junge zog seinen Kumpel am Arm. „Die hat sie doch nicht alle.“ „Ja, eben, deswegen wird sie uns auch nicht verraten. Nicht wahr, Nanami? Du wirst nicht zu deinem Papa rennen und alles ausplaudern, wie das letzte Mal. Denn wenn du das tust, dann holen wir uns deinen kleinen Freund hier und schneiden ihm die Ohren ab.“ Mehr Gelächter wurde laut, als sich die Gruppe der fünf Jungs sich um das Mädchen zusammenrottete. Ängstlich machte sie einen Schritt rückwärts und dann noch einen, bis sie mit dem Rücken zur Wand stand. Der Anführer der Band schwenkte das lädierte Stofftier hin und her. „Sieh nur, was passiert ist. Das böse Kaninchen hat sich schmutzig gemacht. Sollen wir es baden? Vielleicht werfen wir es in den Fluss.“ „Gib ihn mir wieder.“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern. „Was hast du gesagt? Ich kann dich nicht hören.“ „Sie hat gesagt, du sollst ihr das Kaninchen geben.“ Die Jungen fuhren herum. Ein Mann und eine Frau standen am Eingang der Sackgasse, in die sie ihr Opfer gelockt hatten. Die Aufseher konnten diese Ecke des Geländes nicht einsehen. Woher zum Teufel kamen jetzt diese beiden Weißkittel? „Los, lass uns abhauen.“ Der Zweite der Gruppe, ein langer Junge mit zu kurzen Hosen, war anscheinend schlauer als sein Anführer, der immer noch mit dem Kaninchen in der Hand dastand. Der Mann mit dem Raubvogelgesicht wandte sich an seine Begleiterin. „Chizuru, wenn du so freundlich wärst, die Namen der anwesenden jungen Herren aufzunehmen? Ich hätte sie gerne auf meiner Liste.“ Die Angesprochene rückte ihre Brille zurecht. „Natürlich, Masafumi.“ Ihre roten Lippen verzogen sich zu einem geschäftsmäßigen Lächeln. „Also, Jungs, wie heißt ihr?“ „Wir haben nichts gemacht!“ „Das waren wir nicht.“ „Die ist selber schuld. Schleppt immer ihr blödes Kaninchen herum. Wie ein Baby. Dabei hat sie schon Titten.“ Es war in der Gruppe nicht auszumachen, von dem der Kommentar kam, aber die Frau in dem weißen Kittel hatte anscheinend genug gehört. Sie klickte den Kugelschreiber ein, mit dem sie gerade noch hatte die Namen notieren wollen. „Ich verstehe. Und da dachten wir, wir hätten hier ein paar richtige Männer gefunden, um einen Job zu erledigen. Aber anscheinend sind es doch nur ein paar dumme Jungs, die sich einen Spaß mit Herrn Hibinos Tochter erlauben. Er wird nicht erfreut sein, das zu hören.“ Unruhe machte sich unter den Jungen bereit. „Sie will uns beim Heimleiter verpfeifen. Kenta, mach was.“ Der Anführer sah sich gezwungen zu handeln, wenn er seine Position nicht infrage gestellt haben wollte. Er richtete sich auf und streckte die Brust raus. „Kenta. Kenta Suguro.“ Die Frau klickte die Mine ihres Stift wieder heraus und lächelte wieder. „Das klingt doch schon mal gut. Wer möchte der nächste sein?“   Während sich Chizuru um die Jungen kümmerte, wandte sich Masafumi dem Mädchen zu. Er beugte sich zu ihr herab. „Na, meine Kleine. Möchtest du dein Kaninchen wiederhaben?“ Das Mädchen nickte und er reichte ihr das Stofftier, das sie sofort an ihre Brust drückte. Ihre graublauen Augen sahen furchtsam zu Boden. „Werden Sie das meinem Papa sagen?“ „Was soll ich ihm sagen?“ „Dass ich … dass ich wieder unartig war. Er hat gesagt, ich darf nicht nach draußen. Ich darf nur drinnen sein bei ihm.“ Ihr Stimme war immer leiser geworden und war jetzt fast unhörbar. „Mein Papa mag es nicht, wenn jemand mich ansieht.“ Masafumi lächelte. „Dann werden wir es deinem Papa nicht verraten. In Ordnung?“ Sie sah zu ihm und zum ersten Mal trat in die Augen des Mädchens etwas, das er so nicht erwartet hatte. Dankbarkeit. Es veränderte ihren gesamten Gesichtsausdruck und aus dem unglücklichen, kleinen Vogel wurde ein strahlender, junger Schwan. Er war so erstaunt, dass er für einen Augenblick völlig fasziniert innehielt und sie ansah. Als sie sich bewusst wurde, dass er das tat, senkte sie schnell wieder den Blick und drückte ihr Kaninchen fester an sich. „Mein Papa wird sehr, sehr böse sein.“ Die Schönheit und Reinheit, die er so eben noch gesehen hatte, war verflogen wie ein Nebelstreif im Wind. Bedauern mischte sich mit Zorn. Zorn über so eine Verschwendung von Unschuld und Jugend. Er musste einen Weg finden, sie zu bewahren. „Chizuru?“ Er richtete sich auf und winkte sie zu sich. „Das Mädchen. Setz sie auch mit auf die Liste.“ „Aber …“, sie sah ihn mit großem Erstaunen an. „Herr Hibino wird nicht erlauben, dass wir seine eigene Tochter...“ Masafumi schnitt ihr mit einer herrischen Geste das Wort ab. „Wenn er sie nicht freigibt, dann werden wir der Polizei wohl erzählen müssen, dass er regelmäßig seine Schützlinge an zwielichtige Organisationen verkauft. Die Belege dafür werden sich zu diesem Zeitpunkt auf seinem Bankkonto befinden. Sag ihm das.“ Chizuru senkte ergeben den Kopf. „Natürlich. Aber, wenn ich fragen darf ... warum sie? Bisher wolltest du doch immer nur männliche Kandidaten.“ Masafumi lächelte sie an. „Sie ist nicht für die Versuche gedacht. Sie wird mein ganz persönlicher, kleiner Engel werden.“ Er drehte sich noch einmal zu dem Mädchen herum, das jetzt leise und eindringlich mit ihrem Kaninchen sprach. „Sie ist etwas ganz Besonders, doch ihr stumpfsinniger Vater hat sie fast verkümmern lassen. Er erkennt ihren Wert nicht. Ich werde sie retten, Chizuru. Ich werde sie retten und sie wird nie wieder Angst haben müssen. Nie wieder.“ In Chizurus Augen lag Wärme, als sie zu ihm trat und seine Hand nahm. „Du bist so ein guter Mensch, Masafumi. Ich wünschte nur, die Welt würde dich so sehen, wie ich dich sehen kann.“ Er lachte leise. „Das werden Sie. Eines Tages werden sie aufwachen und die Welt, die sie kennen, wird nicht mehr da sein. Wir werden sie neu formen und die zurücklassen, die sich nicht anpassen wollen. Dann wird es nur noch uns geben. Aber nun lass uns uns zunächst einmal den Dingen zuwenden, die heute auf unserem Terminkalender stehen. Wenn du so freundlich wärst?“   Chizuru strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und sah ihre Notizen durch, während sie Masafumi zum Auto folgte. „Nummer Drei macht immer noch Schwierigkeiten. Seine Fähigkeiten sind stabil, aber er befindet in einem Zustand permanenter Häutung. Wir versuchen ihn, mit Schmerzmitteln zu stabilisieren, aber er kann kaum laufen. Außerdem ist er inzwischen auf beiden Augen fast blind. Wir sollten uns nach einem Ersatz umsehen.“ „Mhm, das klingt vernünftig. Lass ihn kaltstellen und für eine Sektion vorbereiten. Ich möchte katalogisieren, inwieweit auch die inneren Organe betroffen sind. Noch etwas?“ „Karen hat angerufen. Sie hat die Blumen bekommen, die du ihr geschickt hast.“ Er lächelte. „Schöne Blumen für eine schöne Frau. Ich würde dir auch welche schenken, aber ich weiß, dass du andere Dinge zu schätzen weißt. Deswegen habe ich auch noch eine kleine Überraschung für dich.“ Er reichte ihr einen Zettel mit einer Adresse. „Das ist ein Sanatorium, das sich auf schwere Fälle von Amnesie spezialisiert hat. Wenn du möchtest, können wir sie uns ansehen. Vielleicht finden wir ja jemanden, der sich für die Erprobung deiner Erfindung eignet.“ Chizuru wurde ein wenig rot und senkte hastig den Blick. „Aber der Neuraltransmitter funktioniert doch noch gar nicht so, wie er soll. Es wird noch einiges an Arbeit kosten, bis wir wirklich in der Lage sein werden, eine menschliche Persönlichkeit in einen anderen Körper zu transferieren. Deine Forschungen sind weitaus vielversprechender.“ Er hob ihr Kinn und sah ihr direkt in die Augen: „Ich weiß. Aber ich möchte nicht, dass deine Forschung hinter meiner zurückstehen muss. Du bist so ein heller Geist. Es wäre eine Schande, ihn nicht in vollster Stärke erstrahlen zu lassen.“ „Oh Masafumi“, hauchte sie und ihre Lippen fanden sich zu einem Kuss, bevor er den Zündschlüssel herumdrehte und den Wagen in Richtung des Sanatoriums in Bewegung setzte.   Zurück blieb ein Mädchen, das den beiden aus großen Augen nachsah. Sie nahm die Pfote ihres Stoffkaninchen und winkte dem Auto, bis es aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Als auch noch die Staubwolke verschwunden war, die es aufgewirbelt hatte, ging sie hinein, um ihren Koffer zu packen. Sie wusste, dass ihr neuer Papa sie bald abholen würde. Es würde nicht mehr lange dauern.     Kapitel 13: Die Gunst der Stunde -------------------------------- „Du hattest eine Vision.“ Crawford hörte auf zu tippen und hob den Blick, um zwei blauen Augen zu begegnen, die ihn aufmerksam musterten. Er seufzte innerlich. Man musste wirklich kein Hellseher sein, um zu wissen, dass ein Schuldig, der bereits seit zwei Stunden in seinem Büro verbracht hatte, für Ärger sorgen würde. Das war, als würde man einen Tiger in einen Käfig stecken und annehmen, dass er sich einfach zusammenrollte und friedlich auf sein Mittagessen wartete. Und hier war er nun. Der Ärger. „Wie kommst du darauf?“ Die Frage brachte ihm ein wenig Zeit, um sich auf das Thema vorzubereiten. Schuldig rümpfte die Nase. „Du hast dann immer so eine Falte zwischen den Augenbrauen. Ganz ehrlich. In fünf Jahren ist Botox dein bester Freund.“ „Vielleicht kommt die Falte auch daher, dass du seit Stunden meinen Arbeitsplatz belagerst. Du bist nicht die spanische Armada, Schuldig. Geh und tu irgendwas Nützliches.“ Der Telepath machte ein beleidigtes Gesicht. „Aber ich tue etwas Sinnvolles. Ich überlege mir meinen nächsten Schritt mit Fujimiya.“ „Dann überleg woanders.“ Schuldig schüttelte den Kopf. „Nein, ich brauche deinen peniblen Geist in meiner Nähe, um mir ein passendes Szenario auszudenken. Wenn ich dabei alleine bin, kommen zwar recht interessante, aber für dich vollkommen unpraktikable Lösungen dabei heraus.“ Crawford verzog den Mund. „Ich will es lieber gar nicht wissen. Meinetwegen kannst du deinen Spaß mit ihm haben, solange du mich aus dem Spiel lässt.“ „Natürlich tue ich das. Immerhin bist du ein verheirateter Mann.“   Wo war die Vision gewesen, die ihn hätte verhindern lassen, dass der Telepath sich so etwas ausdachte? „Ich weiß wirklich nicht, warum du mir unbedingt eine Ehefrau verpassen musstest. Die restliche Geschichte, meinetwegen, aber warum der Ring am Finger?“ „Weil...“, antwortete Schuldig gedehnt, als wäre Crawford ein wenig begriffsstutzig, „du nicht einfach als Ausländer ein japanisches Kind adoptieren kannst. Oder wie hätte ich dich und Nagi sonst erklären sollen?“ „Du hättest den Jungen da raushalten können.“ Schuldig gab ein Geräusch von sich, das tatsächlich an einen gereizten Tiger erinnerte. „Entschuldige bitte, dass ich keine ach-so-praktischen Zukunftsvisionen habe, die es mir ermöglichen, alle meine Schritte schon drei Tage im Voraus zu planen. Als ich damit anfing, wusste ich doch noch nicht, was ich finden würde. Und jetzt habe ich eine komplette Tarnidentität am Hals nebst Farfarello, der mein Schlafzimmer besetzt hält. Und du möchtest nicht wissen, was er mit dem Badezimmer angestellt hat.“ „Nein, das will ich tatsächlich nicht.“ Crawford wandte sich wieder seinem Computer zu. „Ich will einfach nur in Frieden weiterarbeiten.“ „Dann hilf mir!“ Schuldigs Stimme hatte einen leicht weinerlichen Ton angenommen. „Mein Kopf explodiert gleich von all den nutzlosen Ideen. Wie kriege ich dich und Fujimiya zusammen, ohne dass es total verdächtig wirkt und ihr trotzdem mehr Zeit miteinander verbringen könnt als lediglich ein kurzes Händeschütteln? Ich kann ihn ja wohl kaum mit zu euch schleppen zum Abendessen.“ Crawford sah ein, dass der einzige Weg, Schuldig loszuwerden, der war, dessen Problem zu lösen, bevor er sich wieder seinen eigenen zuwenden konnte. Er setzte die Brille ab und begann sie zu putzen. „Warum eigentlich nicht?“ Schuldig blinzelte ihn an wie eine Katze, die gerade festgestellt hatte, dass die Maus, der sie nachgerannt war, sich herumgedreht hatte und sich jetzt anschickte, Jagd auf sie zu machen. „Ein Abendessen ist eine durchaus akzeptable, gesellschaftliche Form, in der sich auch vollkommen Fremde in unmittelbarer Nähe zueinander aufhalten können, ohne dass es verdächtig wirkt.“ Schuldig blinzelte noch einmal. „Du hast recht“, sagte er verblüfft. „Und dabei kann ich mir dich auch viel besser vorstellen als in irgendeinem Club. Obwohl die Sache mit den Lederhosen...“ „Schuldig!“ Crawfords Geduld scharrte mit den sprichwörtlichen Hufen. Allzu weit war der Telepath nicht mehr davon entfernt, in den Lauf einer geladenen Waffe zu blicken. „Okay, okay. Also ein Abendessen. Aber wo? Wohl kaum bei euch zu Hause. Ich meine, eure Bude ist zwar nicht gerade eine typische Junggesellen-WG, aber ihr fehlt definitiv der weibliche Touch, den eine angebliche Ehefrau so mit sich bringen würde. Angefangen von passenden Vorhängen zum Teppich bis hin zu Hygieneartikeln im Badezimmer, von denen kein Mann wissen sollte, dass es sie gibt. Es muss also außer Haus sein. Und wo?“ Crawford schloss für einen Augenblick die Augen. Die Bilder der Vision, die er heute Nacht tatsächlich gehabt hatte, schoben sich vor sein inneres Auge. Er würde Schuldig nichts davon erzählen, aber was er gesehen hatte, hatte ihn beunruhigt. Vielleicht, höchstwahrscheinlich ohne Grund. Die Zukunft stand nicht fest und Dinge, die er sah, konnten sich immer wieder verschieben, verändern, von ihm selbst beeinflusst werden. Manchmal, wenn auch selten, gelang es ihm, die Visionen bewusst heraufzubeschwören. Ereignisse abzurufen und zu betrachten, um sich des Wissens um das, was geschehen würde, zu bedienen, um sich selbst in eine bessere Position zu bringen. Meist jedoch waren es unklare Bilder, interpretationswürdig und im schlimmsten Fall nutzlos, da er sie erst in dem Moment wiedererkannte, in dem sie eintraten. Déjà-vu nannte der Rest der Welt es und tat es als harmloses Phänomen ab. Er jedoch hatte gelernt, diese Bilder zu erkennen, vom Rest seiner Wahrnehmung abzukoppeln und sie als das zu benennen, was sie waren. Zukunftsvisionen. Er konnte nur hoffen, dass die Vision von dieser Nacht lediglich ein Splitter einer Zukunft war, die niemals eintreffen würde. Wenn doch … er mochte es sich nicht ausmalen.   „Craw~ford.“ Schuldigs Stimme erinnerte an ein Kind an einem Kaugummiautomaten, das unbedingt ein Geldstück von seinem Erzeuger ergattern wollte und greinend an dessen Ärmel zog. „Abendessen. Wo?“ „Das 'Fenêtre' in Shinjuku. Ich mache einen Termin.“ Der Telepath verarbeitete die Information, bevor ihm buchstäblich die Augen übergingen. „Dieser schweineteure französische Laden, in dem man mehr vom Teller sieht als vom Essen? Wem hast du denn die goldene Gans geklaut, Mister Ich-hab-mir-die-Hosentaschen-zunähen-lassen?“ Crawford zog es vor, nicht auf diese Frage einzugehen. „Französische Mahlzeiten bestehen aus mehreren Gängen, was uns mehr Zeit gibt. Außerdem wird das Restaurant einen Service-Engpass haben, sodass sich das Essen über mehrere Stunden hinziehen wird.“ Schuldig hob die Augenbrauen. „Ach, wird es das? Und warum?“ „Weil du heute Nacht den Sous-Chef umbringen wirst. Also los, raus jetzt! Ich schicke dir seine Adresse. Und komm nicht auf die Idee, mich heute noch einmal zu nerven. Ich habe hier zu arbeiten.“ Crawford griff nach dem Telefon und begann zu wählen. „Kann ich auch Farfarello schicken? Das rettet vielleicht meine Küche.“ Crawford verdrehte die Augen und nickte ungeduldig, während sich am anderen Ende eine näselnde Stimme nach seinen Wünschen erkundigte. „Ich möchte einen Tisch reservieren“, antwortete er. „Für morgen Abend acht Uhr. Ja, für fünf Personen.“ Er winkte Schuldig, endlich das Büro zu verlassen, und atmete auf, als sich die Tür hinter dem Teleathen schloss. Schuldig war intelligent und wenn er einmal Blut geleckt hatte, konnte man ihn nur noch schwer von seinem Ziel abbringen. Aber wenn man rechtzeitig mit der Katzenminze wedelte, war eben doch nicht alles verloren. „Ja, natürlich. Vielen Dank für Ihre Zeit.“ Er legte auf und seufzte noch einmal. Nun musste er nur noch den Tag mit Takatori durchstehen, dann rückte die Zukunft, die er für sich erträumte, vielleicht endlich einen entscheidenden Schritt näher.         Aya war kurz davor durchzudrehen. Sein Zimmer war übersät mit dem Inhalt seines Kleiderschranks, während er selbst nicht viel mehr als seine Unterwäsche am Leib trug. Zum wiederholten Male raufte er sich die Haare und fragte sich, was er wohl anziehen sollte. 'Du benimmst dich wie ein Mädchen' dachte er grimmig und griff sich eine Hose und ein Hemd. Das würde genügen müssen. Er zog die Sachen über und sah an sich herab. War das wirklich okay? Immerhin hatte die Hose keine Löcher, keine ausgewaschenen Stellen, das Hemd war sauber. Das war doch gut genug, oder? Er stieß einen kleinen Schrei aus und trat gegen das Bett. Das war so dämlich. Und das alles nur, weil Tim ihn angerufen und gebeten hatte, ihn zu einem Abendessen mit seinem Arbeitgeber zu begleiten. „Du musst mitkommen“, hatte er geklagt. „Alleine halte ich das nicht aus. Die wollen in so ein piekfeines Restaurant und ich komme mir vor wie Julia Roberts in 'Pretty Woman'. Am Ende fliegen dann irgendwelche Schnecken durch die Gegend und ich raus. Bitte, Ran, du musst mitkommen.“ Und Aya hatte 'Ja' gesagt. Weil er Tim den Wunsch nicht abschlagen konnte. Und weil Yoji ihm so einen investigativen Blick zugeworfen hatte, dass er das Gespräch lieber schnell hatte beenden wollen. Am Abend hatte er sich heimlich in den Keller des Koneko geschlichen und dort im Internet gesucht, was es mit der Sache mit den Schnecken auf sich hatte. Seit dem schob er, gelinde gesagt, Panik.   Es klopfte an die Wand. „Hey, Aya, alles in Ordnung bei dir?“ Ken. Wer zur Hölle hatte Ken nebenan einquartiert? Er fühlte das Bedürfnis, dafür jemanden mit dem Katana zu durchbohren, in sich aufsteigen. „Ja!“, brüllte er zurück, schloss die Augen und atmete tief durch. Er würde das schaffen. Es war nur ein Abendessen. Ein klopfte wieder. Dieses Mal an seiner Tür. Aya ging nach vorn, um zu öffnen. Es war – natürlich – Ken. „Hey, ich habe dich schreien gehört. Ist wirklich alles in Ordnung?“ Er ließ seinen Blick über Aya schweifen. „Wo willst du denn hin? Ist jemand gestorben?“ Aya runzelte die Stirn. „Wie kommst du darauf?“ „Na weil du komplett in schwarz angezogen bist. Außerdem trägst du sonst nie ein Hemd.“ Ayas Finger zuckten nach dem nicht vorhandenen Griff seines Schwerts. Aber dazu hatte er keine Zeit. Zumal: Wo sollte er die Leiche lassen? Außerdem würde er sich danach ja schon wieder umziehen müssen. Nein, er würde Ken einfach ignorieren. Und ein anderes Hemd kaufen. Sofort. „Ich habe eine Verabredung. Auf Wiedersehen!“ Er knallte Ken die Tür vor der Nase zu und ignorierte dessen Protest von der anderen Seite. Geld, Schlüssel, Telefon. Und dann nichts wie los, denn wenn er zu spät kam, war auch das beste Hemd nichts mehr wert.       „Ich mag das Hemd“, wisperte Tim ihm ins Ohr. „Es bringt deine Augen zur Geltung.“ Aya fühlte die Hitze in seine Wangen steigen. „Hör auf, mit mir zu flirten“, zischte er. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Allein die Tatsache, dass er sich von dem Verkäufer zu einem violetten Hemd hatte überreden lassen, war schon schlimm genug. Dass Tim jetzt noch darauf herumritt, machte es keinen einzigen Deut besser. Was hatte er sich nur dabei gedacht, zu dieser Verabredung mitzukommen? Er fühlte sich wie das fünfte Rad am Wagen, das er wohl auch sein würde, wenn die Familie, für die Tim arbeitete, endlich ankam. „Ich flirte aber gern mit dir, mein stolzer Samurai.“ Tim blinzelte ihm ein paar Mal zu und Aya kam nicht umhin zu bemerken, dass sein Hemd ebenfalls zu seiner Augenfarbe passte. Nur dass Tim trotz der herrschenden Temperaturen darüber noch ein Jackett und eine Krawatte trug. Eine Krawatte! Er sollte wirklich gehen. Ganz schnell. „Hiergeblieben!“ Tim hatte seine Gedanken offensichtlich durchschaut und war in dem Moment vor ihn getreten, in dem er sich zum Gehen wenden wollte. „Du wirst mich noch blamieren. Ich habe Ms. Crawford versprochen, dass ich dich mitbringe. Sie ist schon ganz gespannt, dich endlich kennenzulernen.“ „Du hast ihr von mir erzählt?“ Aya fühlte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich. Als Tim seinen Gesichtsausdruck sah, kam er ins Stottern. „Ähm, es … ist vielleicht möglich, dass ich dich ein- oder zweimal erwähnt habe.“ „Warum?“ „Ich … äh ... ich musste was mit ihr besprechen. Können wir das Thema vielleicht später klären? Du verdirbst mir sonst noch die Überraschung.“ Bei diesen Worten stellten sich Ayas Nackenhaare auf. Er mochte Überraschungen nicht besonders und wenn sie ihn selbst betrafen, erst recht nicht. Tim senkte die Lieder und seine Stimme wurde leiser. „Bitte, Ran. Die Crawfords sind hier wie eine Art Familie für mich. Und, naja, ich bin gerade dabei meinen Eltern meinen Freund vorzustellen. Keine Ahnung, wie das hier bei euch in Japan ist, aber bei uns ist das ein sehr wichtiger Schritt irgendwie.“ Tim sah ihm direkt in die Augen. Rans Magen sackte ein Stockwerk tiefer und sein Herz begann zu klopfen. Er hatte nicht gedacht, nicht gewusst … Das war … „Okay“, flüsterte er schließlich. „Ich bleibe.“ „Danke“, flüsterte Tim zurück und drückte ganz kurz seine Hand, bevor er sich wieder suchend umsah.   „Da, sie kommen!“ Ran straffte sich unwillkürlich und hielt ebenfalls Ausschau. Er erkannte den Mann sofort. Der Amerikaner war fast einen kompletten Kopf größer als die Gruppe japanischer Geschäftsleute, die vor ihm den Gehweg bevölkerten. Er trug einen gut geschnittenen, dunklen Anzug, eine randlose Brille, die schwarzen Haare hingen ihm leicht ins Gesicht und er ging mit dem Selbstbewusstsein eines erfolgreichen Mannes. An seiner Seite versuchte der Junge – Nagi – mit ihm Schritt zu halten. Der Kleine, der neben seinem Ziehvater noch schmächtiger wirkte, steckte in einem blauen Zweiteiler, der Ran vage an eine Schuluniform erinnerte, aber zu keiner Schule passte, die er kannte. Vermutlich eine teure private Anstalt.   Tim runzelte die Stirn und ging dem ungleichen Gespann entgegen. Ran folgte ihm mit leichtem Zögern. „Guten Abend, Mr. Crawford“, rief Tim und schüttelte dem Mann die Hand. „Wo haben Sie Ihre charmante Gattin gelassen? Kommt sie noch nach?“ „Haruka ist krank geworden. Sehr schlimme Kopfschmerzen. Sie lässt sich entschuldigen.“ Der Mann wandte sich Ran zu. „Sie müssen Tims Freund sein. Guten Abend.“ Er streckte die Hand aus und Ran wusste, dass es unhöflich war, sie nicht zu ergreifen. Trotzdem war da etwa an diesem Mann, das ihn zögern ließ. Ein Kribbeln in seinem Nacken, als gäbe es irgendeine Gefahr, die zu beachten, er vergessen hatte. Sein Gegenüber reagierte gelassen. „Oh natürlich, mein Fehler. Ich vergaß, dass Sie Japaner sind.“ Er lachte und wollte die Hand schon zurückziehen, als Ran sich einen Ruck gab. Er begann offensichtlich, Gespenster zu sehen. „Nein, entschuldigen Sie mich. Ich war in Gedanken.“ Er ergriff die Hand des Mannes. Eine Impuls durchzuckte ihn und für einen winzigen Augenblick hatte er den Eindruck, als wenn es Mr. Crawford genauso ging. Die braunen Augen hinter den Brillengläsern weiteten sich für den Bruchteil eines Millimeters und das Schwarz in der Mitte saugte seinen Blick auf. Dahinter lagen Galaxien, Abgründe, ungeahnte Weiten, das Ende der Zeit.   Im nächsten Augenblick war alles vorbei. Ran blinzelte und schüttelte leicht den Kopf. Niemand schien etwas von dem Vorfall bemerkt zu haben. 'Wahrscheinlich hast du dir das nur eingebildet', flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. 'Das kann nicht echt gewesen sein. Deine Nervosität hat dir einen Streich gespielt. Entspann dich und hör vor allem auf, ihn anzustarren. Das ist peinlich.' „Ran? Ist alles in Ordnung?“ Tim blickte ihn besorgt an. „Ja, sicher.“ Er lachte nervös. „Ich habe mich nur gerade an etwas erinnert. Ich … habe vergessen, das Wasser im Laden abzustellen. Wenn Sie mich für einen Augenblick entschuldigen wollen? Ich muss meinem Kollegen eine Nachricht schreiben.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er auf dem Absatz kehrt und holte noch in der Bewegung sein Handy heraus. Ohne wirklich etwas zu schreiben, drückte er auf den Tasten herum und versuchte, seinen Herzschlag und seine Atmung zu beruhigen. Als es ihm fast gelungen war, spürte er eine Hand auf seinem Arm. Blitzschnell ließ er das Gerät wieder in seiner Tasche verschwinden, bevor er sich zu Tim herumdrehte. „Alles erledigt. Wir können gehen“, sagte er und setzte erneut ein Lächeln auf. Tim musterte ihn noch einen Moment, dann begann er plötzlich zu grinsen. „Er sieht gut aus, oder?“ „Was? Wer?“ „Na Mr. Crawford. Komm schon, gib's zu. Das hat dich aus dem Konzept gebracht, als er hier aufgetaucht ist. Du hast wahrscheinlich einen tattrigen Mittfünfziger erwartet, der sich hier in Japan eine hübsche, junge Frau gesucht hat. Und dann kommt da auf einmal diese Sahneschnitte um die Ecke. Da hat's dich aus den Socken gehauen.“ „Das stimmt nicht. Ich hab doch nicht... Also ich ...“, protestierte Ran und spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. „Kein Problem, krieg dich wieder ein. Als ich spitzgekriegt habe, dass ich auf Männer stehe, ging's mir genauso. Plötzlich war die Welt voller sexy Kerle. Boom! Und dann die ganzen peinlichen Szenen in irgenwelchen Umkleidekabinen oder beim Schwimmen. Furchtbar.“ Er brach ab und schob die Unterlippe ein wenig vor. „Obwohl ich ja eigentlich beleidigt sein sollte. Immerhin bist du mein Freund.“   Ran machte ein geknicktes Gesicht, aber Tim grinste schon wieder und hieb ihm mit der Faust spielerisch gegen die Brust. „Hey, war nur ein Scherz. Ich habe auch ungefähr so geguckt wie du, als ich ihn das erste Mal gesehen habe. Aber da ist nichts zu machen, der Mann ist in festen Händen.“ Tim deutete auf seinen rechten Ringfinger. „An die Kette gelegt und vom Markt. Das war's. Zumal seine Gattin wirklich eine sehr nette Frau ist. Aber davon später mehr. Jetzt sollten wir die beiden da drinnen nicht zu lange warten lassen.“ Ran ließ es zu, dass Tim ihn mit in Richtung des Eingangs zog. Die ganze Erklärung schmeckte ihm nicht und das nicht nur, weil er Tim nicht kränken wollte. Aber andererseits hatte er ja noch nicht viel Erfahrung. Vielleicht war es wirklich so, wie Tim gesagt hatte. Dass er Mister Crawford einfach nur attraktiv fand. 'Natürlich ist es nur das, du Dummerchen', flüsterte die Stimme in seinem Kopf. 'Was sollte es sonst sein? Vermutest du, dass er einer von deinen dunklen Bestien ist, die du zur Strecke bringen musst? Mach dich nicht lächerlich. Das hier ist nur ein ganz normales Abendessen. Wenn du ihn erst mal kennengelernt hast, findest du ihn bestimmt sehr nett.' Mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte er Tim durch die dunkle Holztür nach drinnen. Sie betraten einen Gang, der mit dunkelrotem Teppich ausgelegt war. An den Wänden hingen große Schwarz-Weiß-Bilder mit Autogrammen. „Ah, sieh mal. Brigitte Bardot, Catharine Deneuve, der junge Jean-Paul Belmondo …“ Tim ging die Bilder ab. „Ich habe es allerdings nicht so wirklich mit französischen Filmen. Da ist mir gutes, altes Hollywood lieber.“ Er grinste und hielt Ran die Tür auf. Der schüttelte lachend den Kopf und betrat das edle Restaurant. Hier drinnen herrschten dunkle Farben in Mobiliar und Fußboden vor. Die Tische trugen nahezu bodenlange, weiße Tischdecken, endlose Reihen von Weingläsern und blank poliertes Silberbesteck. Für einen Moment fühlte sich Ran an die Zeit erinnert, als er selbst im weißen Hemd mit Weste und Fliege Teller voller Speisen hin und her getragen hatte. Das Restaurant, in dem er gearbeitet hatte, war lange nicht so elegant und teuer gewesen. Trotzdem erkannte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Er entdeckte auf Anhieb mindestens drei Tische, die noch nicht wieder neu eingedeckt waren. Zwar erforderte das die Anzahl der Kunden auch nicht unbedingt, aber es störte den Gesamteindruck des sonst so makellos wirkenden Etablissements.   Es führte sie auch kein Kellner an den Tisch, wie er eigentlich erwartet hatte, und so mussten sie den Weg allein zurücklegen. Staunend betrachtete er im Vorbeigehen die riesigen Fotodrucke einer Großstadt, die in gemalten Fensterrahmen die Wände zierten. Eines der beliebtesten Motive war ein großer, stählerner Turm. Tim bemerkte Rans Blick. „Fenêtre bedeutet Fenster“, erklärte er. „Der Innenarchitekt hat wohl versucht den Eindruck zu erwecken, dass wir uns tatsächlich in Frankreich befinden und beim Essen einen Blick auf Paris werfen können. Das da hinten ist der Eiffelturm, nach dessen Vorbild der Tokyo Tower errichtet wurde.“ Ran nickte abwesend. Natürlich hatte auch er schon von diesem Wahrzeichen gehört. Seine Schwester hatte täglich neue Ideen gehabt, welches Land sie zuerst bereisen wollte und es waren auch einige Hauptstädte Europas darunter gewesen. Er überlegte, ob er das wohl erwähnen sollte, aber er als er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, war die Gelegenheit dazu schon vergangen. Sie waren an dem Tisch angekommen, an dem Mr. Crawford und Nagi bereits Platz genommen hatten. Tim setzte sich ohne Umschweife neben Nagi, sodass Ran mit dem Platz neben Mr. Crawford vorliebnehmen musste. Die Nähe zu dem dunkelhaarigen Mann war ihm nach seinem unrühmlichen Auftritt vorhin ein wenig unangenehm, aber als Tim ihm über den Tisch hinweg zuzwinkerte, erkannte er, dass dieser Platz durchaus Vorteile hatte. So musste er Mr. Crawford wenigstens nicht in die Augen sehen. Er war lediglich Nagis finsterem Blick ausgesetzt, der ihn unverhohlen anstarrte. Er fragte sich wirklich, was Tim alles von ihm erzählt hatte.   Der Kellner erschien, brachte ihnen die Speisekarten und fragte auch gleich nach ihren Getränkewünschen. „Möchte jemand ein Glas Wein mit mir trinken? Tim? Ran?“ Mr. Crawford sah sie fragend an. „Ich passe“, erklärte Tim. „Für mich nur eine Cola.“ „Ich schließe mich an“, sagte Ran, obwohl er Cola nicht besonders mochte. Er wagte allerdings auch nicht, erst noch lange in der Karte nach den Getränken zu suchen. Mit der Auswahl der Speisen würden schon genug Schwierigkeiten auf ihn zukommen. Die Gerichte klangen allesamt eigenartig, hatten aber zum Glück japanische Übersetzungen unter ihren Bezeichnungen, sodass er immerhin sicher sein konnte, keine Schnecken zu bestellen. Die Szene aus dem Film geisterte ihm plötzlich wieder durch den Kopf. „Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Ich kenne einige Japaner, die ausländisches Essen nicht mögen, aber meine Frau ist vollkommen verrückt danach. Es war ihre Idee, hierherzukommen.“ Mr. Crawford hatte sich ein wenig zu ihm hinübergebeugt, wie Ran mit leichtem Entsetzen feststellte. Vielleicht hätte er doch lieber den Platz auf der anderen Seite gehabt. „Hier, das solltest du versuchen.“ Er deutete auf etwas auf der Speisekarte. Sein Arm kam Ran dabei so nahe, dass der die Luft anhielt. „Ich nehme es“, sagte er, ohne weiter hinzusehen und schlug die Speisekarte zu. Tim blinzelte ihn erstaunt an. „Was nimmst du?“ „Lapin aux pommes pavot“, antwortete Mr. Crawford und schlug eine Seite seiner eigenen Karte um. „Kaninchen in einer Apfel-Mohnsoße mit Buttermilch. Schmeckt ausgezeichnet.“ Ran wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Das klang in seinen Ohren nicht im Geringsten schmackhaft. Aber nun konnte er kaum sagen, dass er es nicht essen wollte. Dieses Essen war jetzt schon ein einziges Fiasko. Als der Kellner mit den Getränken kam, gab Mr. Crawford die Bestellung auf, die eine ganze Reihe Begriffe enthielt, die Ran nicht kannte. Er hoffte nur, dass das Essen nicht allzu lange dauern würde. Die Bestellung ließ allerdings nichts Gutes hoffen. „Sehr wohl, der Herr“, antwortete der Kellner und nahm die Speisekarten wieder in Empfang. „Ich muss sie allerdings für heute Abend bereits im Voraus um Entschuldigung bitten. Wir haben leider durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall einen kleinen personellen Engpass. Wir werden uns aber natürlich bemühen, Ihren Wünschen möglichst umgehend zu entsprechen.“ Er verließ schnellen Schrittes den Raum und mit ihm verflüchtigte sich Rans Hoffnung, dass er diese Tortur innerhalb der nächsten Stunde überstanden hatte. Unmerklich sackte er ein wenig in seinem Sitz zusammen.   „Lasst uns einen Toast aussprechen“, sagte Mr. Crawford und erhob sein Glas mit Weißwein. „Auf einen wundervollen Abend unter Freunden.“ Er drehte sich halb zu Ran herum. „Alten und neuen Freunde.“ Für einen Augenblick fing sich das Licht in den durchsichtigen Brillengläsern und die Reflexion zeigte Ran lediglich sein eigenes Gesicht, das Mr. Crawford mit großen Augen anstarrte. Sein Mund wurde trocken und er nahm schnell einen großen Schluck von seiner Cola, um einen Hustenanfall zu verhindern. Sein Sitznachbar wendete sich wieder den anderen beiden zu. „Nun, Tim, was machen Nagis Lektionen? Ich habe gehört, Sie kommen gut voran.“ „Oh ja“, nickte Tim und stieß Nagi auffordernd in die Seite. „Los, sag mal was.“ „Und was?“ Es war offensichtlich, dass sich der Junge ungefähr genauso unwohl fühlte wie Ran. Tim zuckte mit den Schultern. „Na irgendwas halt. Was wir heute geübt haben.“ „Ich heiße Nagi. Du hast schöne Augen. Ich bin allergisch gegen Schalentiere.“ Ran hatte kein Wort verstanden, Nagis Vater dafür wohl allerdings umso besser. Er lächelte. „Das klingt wirklich schon sehr gut. Meine Firma plant, einen Vorstoß auf den deutschen Markt. Es könnte also sein, dass wir uns eine Weile dort aufhalten werden. Daher möchte ich, dass du weiter fleißig lernst, Nagi, denn du wirst mich dorthin begleiten.“ „Wie du möchtest, Vater.“ Nagis ganze Körperhaltung drückte genau das Gegenteil aus. Er hatte anscheinend weder Lust, sich so vorführen zu lassen, noch nach Deutschland zu reisen. Ran konnte zumindest das erste gut nachvollziehen. „Meine Firma ist in der Sicherheitsbranche tätig, musst du wissen“, erklärte Mr. Crawford jetzt. „Personenschutz?“, fragte Ran automatisch und sah, wie ein Kellner mit einem Servierwagen näherkam. Darauf standen vier Teller. Vielleicht ging das mit dem Essen doch schneller, als er gehofft hatte. „Objektschutz. Alarmanlagen, Schließmechanismen und ähnliches mehr.“   Der Kellner war jetzt bei ihnen angelangt und stellte vor jeden einen weißen Porzellanteller, in dessen Mitte ein kleines Häuflein umringt von zwei Klecksen Soße lag. Ein kleines, grünes Blatt thronte auf seiner Spitze. Ran musterte es skeptisch. „Was ist das?“ Mr. Crawford lächelte und beugte sich schon wieder zu ihm herüber. „Das ist ein Amuse-Gueule.“ „Ein was?“ „Eine Vorspeise auf Kosten des Hauses. Sie wird vor dem ersten Gang gereicht“ „Vor dem ersten Gang?“ Ran glaubte, sich verhört zu haben. „Ein klassisches, französisches Diner besteht gewöhnlich aus acht Gängen. Ich habe mir erlaubt, es auf fünf zu kürzen. Sonst sitzen wir ja nach Mitternacht noch hier.“ Ran seufzte innerlich und griff nach seiner Gabel. Ein prüfender Blick über den Tisch hinweg bestätigte ihm, was er schon vermutet hatte. Das Tim das gewusst und ihm bewusst verschwiegen hatte. In den blauen Augen lag eine Bitte um Vergebung. Ran zog die Augenbrauen zusammen, um ihm zu zeigen, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen war, und steckte sich den unschuldigen Gaumenschmaus in den Mund. Er kaute und war erstaunt darüber, wie gut es schmeckte. „Was ist das?“, wollte er wissen und versuchte, den Geschmack zu identifizieren. Es war süß und weich, hatte aber trotzdem eine gewisse, bekannte Konsistenz, von der ihm nicht einfallen wollte, woher er sie kannte. Mr. Crawford nahm sein Besteck, schnitt den Happen in zwei Teile und probierte nachdenklich. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist das überbackener Oktopus mit Backobst.“ Ran kaute weiter und befand, dass er sich anscheinend getäuscht hatte, zumindest was das Essen anging. Vielleicht konnte es doch noch ein ganz netter Abend werden.       Kapitel 14: Taschenspielerei ---------------------------- Time had become fuzzy around the edges. Seconds accumulating to minutes running before their due point of time in the current of events. Words, gestures and sounds blurring with their future counterparts. It was becoming more and more difficult to...   Crawford schüttelte leicht seinen Kopf. Seine Konzentrationsfähigkeit neigte sich langsam dem Ende entgegen. Er machte nicht mehr die Fehler, die er am Anfang gemacht hatte. Einmal hatte er auf eine Frage geantwortet, die Schuldig noch gar nicht gestellt hatte, und ein anderes Mal Nagi das Salz gereicht, bevor dieser danach verlangt hatte. Danach war er vorsichtiger geworden, hatte sich weniger am Gespräch beteiligt, das Schuldig ihm ohne Probleme aus der Hand genommen hatte. Trotzdem war der Anstieg seiner Präkognition zunehmend schwerer zu kontrollieren. Er hatte keine Bedenken, dass er es in einigen Tagen perfektioniert haben würde, doch solange Fujimiya so dicht neben ihm saß, war seine Fähigkeit, es zu begrenzen, limitiert. Er warf einen Blick zur Seite. Der Junge saß mit geröteten Wangen und glänzenden Augen neben ihm und hing förmlich an Schuldigs Lippen. Allerdings war das Bild auf der anderen Seite des Tisches in etwa das Gleiche. Er versuchte sich einzureden, dass Schuldig lediglich seine Rolle sehr, sehr gut spielte, aber wenn er an die Vision von vor zwei Tagen dachte, war er sich da nicht mehr ganz so sicher. Er würde das Ganze im Auge behalten müssen. „Möchtest du noch etwas Wein?“ Er richtete die Frage an Ran, obwohl er wusste, wie die Antwort ausfallen würde. „Nein, danke, Mr. Crawford. Ich glaube, ich hatte wirklich genug.“ Die zwei halben Gläser, die der Junge getrunken hatte, waren wohl tatsächlich schon mehr, als er eigentlich vertrug. Crawford erinnerte sich an die Diskussion, die darüber entstanden war und in der er irgendwann gestanden hatte, dass er noch nicht alt genug war, um zu trinken. Schuldig hatte das nicht gelten lassen und darauf bestanden, dass er es trotzdem probierte. Und nun hatte der rothaarige Japaner den ersten Schwips seines Lebens. Crawford sah auf und bemerkte Nagis Blick. Auch er hatte sein Limit ganz offensichtlich erreicht. Er war bereits den ganzen Abend sehr schweigsam gewesen, aber jetzt mischte sich Müdigkeit in die ohnehin schon schlechte Laune, die lediglich während des Desserts ein wenig besser geworden war. Es wurde Zeit, diesen Abend zu beenden.   Mit einer gewählten Geste tupfte er sich den Mund ab und legte die Serviette zur Seite. Danach blickte er auf die Uhr. Es war bereits halb eins. „Ich glaube, wir sollten uns langsam auf den Heimweg machen. Haruka wird schon auf uns warten und Nagi gehört ins Bett.“ Schuldig nickte. „Das ist sicherlich eine gute Idee. Der Kleine schläft ja schon fast auf dem Tisch ein.“ „Das ist gar nicht wahr“, protestierte Nagi und unterdrückte im nächsten Moment nur mühsam ein Gähnen, das ihn selbst Lügen strafte. Crawford stand auf, um die Rechnung zu begleichen. Als er zurückkam, hatten sich die anderen drei bereits erhoben. Gemeinsam gingen sie zum Ausgang. „Ich muss mich noch einmal bei Ihnen für die Einladung bedanken, Mr. Crawford. Sie waren sehr großzügig.“ Schuldig so reden zu hören, war zunächst seltsam gewesen, aber inzwischen hatte er sich fast daran gewöhnt. Er ergriff die ausgestreckte Hand und schüttelte sie. Danach wendete er sich Fujimiya zu. „Es war mir auch eine Ehre, Sie kennenzulernen, Ran. Vielleicht haben wir mal wieder das Vergnügen.“ Er streckte seine Hand aus und wie beim ersten Mal fühlte er beim direkten Hautkontakt ein leichtes Ziehen in seinem Hinterkopf. Entschlossen, noch ein wenig mehr aus der Begegnung herauszukitzeln, hielt er die Hand weiter fest und sah dem jungen Japaner tief in die Augen. „Dass Sie mir ja auf Tim aufpassen. Er hat manchmal noch ein wenig eigenartige Vorstellung davon, wie es hier in Japan zugeht. Ich hoffe, dass Sie weiterhin so einen guten Einfluss auf ihn haben werden wie bisher.“ Innerlich lachte er über die Zweideutigkeit der Aussage. Immerhin hatte Fujimiya keine Ahnung davon, zu was sie ihn gerade benutzten. Er fragte sich, wie weit die Verstärkung seiner Fähigkeit wohl gehen könnte, wenn man es forcieren würde. Andererseits war ihm nicht daran gelegen, seine Visionen so weit zu steigern, dass sie ihm am Ende vollkommen den Blick auf das Hier und Jetzt verstellten. Die Fähigkeit die Zukunft zu kennen war wertvoll, aber gleichzeitig ein zweischneidiges Schwert, durchaus in der Lage, denjenigen zu köpfen, der sich ihrer zu leichtfertig bediente. Es gab genug Geschichten, die versuchten, die Menschheit vor diesem Fehler zu warnen. Ob es nun die klassische Antike mit dem König von Theben war, der seinen Sohn Ödipus verstieß und dadurch die Umstände provozierte, die dazu führten, dass sich die Prophezeiung, sein Sohn würde ihn einst töten, tatsächlich erfüllte, oder das Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren, in dem der habgierige König dem Glückskind seine Tochter verwehren wollte und am Ende genau dadurch für dessen Vermählung sorgte, während er selbst bis in alle Ewigkeit auf einem Ruderboot als Fährmann dienen musste. Wann immer die Menschen danach getrachtet hatten, die Zukunft mit brachialer Gewalt zu ändern, waren sie gescheitert. Es erforderte viel Sorgfalt und ein großes Geschick, um sich dieser Gabe zu bedienen. Ein Geschick, das ihm in jahrelanger Kleinstarbeit eingetrichtert worden war. Doch seine Ausbilder in Rosenkreuz hätten sich sicherlich nie träumen lassen, dass sich seine Fähigkeiten eines Tages noch derart steigern würden. Er lächelte bei dem Gedanken. „Ich werde es versuchen“, antwortete Fujimiya leicht verspätet und zog mit ein wenig unsicherem Blick seine Hand zurück. Er umfasste sie mit der anderen und massierte sie leicht. Anscheinend hatte der Prozess auch für ihn spürbare Auswirkungen. „Dann wünsche ich euch beiden noch viel Spaß. Komm, Nagi, wir gehen nach Hause.“   Er und Nagi liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, bevor Crawford beschloss, das brütende Schweigen des Jungen mit ein wenig Aufmerksamkeit zu bedenken. „Was ist los? Hat es dir nicht gefallen?“ „Das Essen war furchtbar.“ Eine Ausrede, die Crawford sofort durchschaute. „Das ist es nicht, was dich beschäftigt. Also los, raus mit der Sprache. Du kannst ganz offen reden.“ Je eher er das hinter sich brachte, desto besser. Nagi musste wissen, wo sein Platz war. „Es ist Schuldig. Er ist so … anders, wenn er mit diesem Typ zusammen ist. Fast so, als wäre er ein anderer Mensch.“ Crawford nickte leicht. Das war ihm bereits selber aufgefallen. Trotzdem war das nichts, mit dem Nagi sich beschäftigen sollte. Der Junge hatte nicht genug Weitblick und war zu schwach, um es mit Schuldig aufzunehmen. „Ich bin mir sicher, dass du dich da täuschst. Er spielt lediglich eine Rolle. Du kannst es ihm kaum vorwerfen, dass er seinen Job richtig macht.“ „Ja aber, wir haben doch jetzt, was wir wollen. Warum räumen wir Fujimiya nicht einfach aus dem Weg?“ Crawford blieb stehen und fasste Nagi scharf ins Auge. „Diese Entscheidung obliegt nicht dir, haben wir uns da verstanden? Wir wissen noch nicht, ob der Effekt permanent ist. Und wir werden unser Ziel nicht deiner persönlichen Befindlichkeit unterordnen. Nimm dir ein Beispiel an deinen Landsleuten, Nagi, und schluck es runter.“ Der Junge sah ihn für einen Moment mit wildem Blick an, bevor er den Kopf senkte. „Ich bitte um Verzeihung. Ich werde es mir merken.“         Aya hatte das Gefühl, den Handabdruck von Mr. Crawford immer noch auf seiner Haut zu spüren, als habe er sie sich verbrannt. Aber natürlich war das Unsinn. Ihm war vermutlich einfach die Art, wie die Westler miteinander umgingen, zu fremd. Er warf einen Seitenblick auf Tim, der neben ihm ging, die Hände in die Hosentaschen gesteckt, sodass sie sein Jackett nach oben schoben. Die bunten Lichter des Vergnügungsviertels liefen über seine helle Haut und zauberten ein wildes Farbenspiel auf seine Gestalt. Er bemerkte Rans Blick und sah ihn an. „Und jetzt? Was machen wir noch mit dem angefangenen Abend?“ Ran antwortete nicht sofort. Das Viertel, durch das sie sich bewegten, war laut und bunt. Es versprach alle möglichen Vergnügungen und er konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken plötzlich zu ihrem ersten Date zurückwanderten. Würde Tim ihn heute wieder nach Hause bringen wollen? Würden sie womöglich …? Ihm wurde warm. Tim lachte. „Also wenn ich Gedanken lesen könnte, würde ich sagen, dass du gerade an etwas Unanständiges denkst. Kann das sein, mein kleiner Samurai?“ Die Hitze kroch in Rans Gesicht. Er fühlte immer noch den Wein in seinen Adern kreisen und konnte plötzlich verstehen, was es mit der Redensart 'sich Mut antrinken' auf sich hatte. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, den ersten Schritt zu machen. Sich Tim von sich aus zu nähern und ihn zu küssen und ... mehr. Lust wallte ihn ihm auf und zog sich wie eine gespannte Bogensehne durch seinen Körper. Er atmete schnell ein paar Mal durch, bevor sie sich körperlich manifestieren konnte. „Okay, dann sind wir ja schon zwei.“ Tim grinste und wurde dann plötzlich ernst. „Weißt du, ich glaube, jetzt wäre vielleicht der richtige Moment, um dir von der Überraschung zu erzählen. Ich hoffe, du verstehst das nicht falsch.“ Die Worte ließen Ran schaudern. Was hatte Tim vor? Der nestelte jetzt an seine Hosentasche herum und zog schließlich eine kleine, weiße Plastikkarte hervor. Nervös drehte er sie zwischen den Fingern hin und her. „Tja, ich habe dir doch von Ms. Crawford erzählt. Weißt du, wie sie ihren Mann kennengelernt hat?“ Ran schüttelte den Kopf. „Ihre Familie, nun, sie besitzt mehrere Hotels. Mr. Crawfords Firma wurde damit beauftragt, die Hotels neu auszustatten und dabei sind sie sich wohl irgendwie nähergekommen. Und, naja, als ich hörte, um was für Hotels es sich handelt, da habe ich … also ich habe sie gefragt, ob ...“ Er brach ab und sah Ran von unten herauf an. Der brauchte einen Moment, bis er verstand. Die Karte gehörte zu einem Stundenhotel. „Bist du böse? Ich musste mich einfach mit jemandem darüber unterhalten, wie das hier so läuft. Sie war wirklich sehr nett und verständnisvoll und hat gemeint, das hier wäre ein tolles Zimmer.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Ich komme mir echt schäbig vor. Das Abendessen, das Hotel. Ich hätte selbst nie das Geld dafür. Aber ich möchte … ich möchte dir einfach etwas bieten. Weil ich … ich ...“ Er brach ab und sah Ran in die Augen. „Du bedeutest mir einfach sehr viel. Ich wollte, dass unser erstes Mal was besonderes wird. Aber wenn du nicht möchtest, dann ...“ Rans Magen machte während der gesamten Rede eigenartige Luftsprünge. Er war aufgeregt und angespannt und gleichzeitig hatte er das Gefühl, schweben zu müssen. Er brauchte einen Anker, damit er nicht wegflog. Er hob die Hand, um Tims Redestrom zu unterbrechen. „Es ist okay“, sagte er und lächelte leicht. „Ich fühle mich geehrt, dass du so einen Aufwand betrieben hast. Ich würde … gerne mit dir dorthin gehen.“ Da, er hatte es gesagt. Er hatte es wirklich gesagt. War er denn von allen guten Geistern verlassen? Sein Herz hämmerte wie ein wild gewordenes Uhrwerk gegen seine Brust und ihm liefen heiße und kalte Schauer über den Rücken. Doch gleichzeitig war da auch eine beruhigende Wärme, die sich in ihm ausbreitete. Das hier war nicht nur Sex, obwohl das schon aufregend genug war. Das war mehr. Er warf einen Blick auf die Karte. „Weißt du, wo wir hinmüssen?“ Auf Tims Gesicht prangte ein breites Grinsen. „Na klar. Wenn Sie mir bitte folgen würden? Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer für die heutige Nacht.“     Als das Hotel in Sichtweite kam, wurde Ran noch einmal nervös. Was würde das Hotelpersonal denken, wenn sie eincheckten? Würde man wissen, was sie dort wollten? Natürlich würde man das. Der Gedanke ließ seinen Magen schon wieder Purzelbäume machen. Wie sich herausstellte, waren die Bedenken allerdings unbegründet. Da sie bereits einen Zimmerschlüssel besaßen, schleuste Tim ihn einfach an dem kleinen Fenster vorbei, hinter dem sich wohl der Portier befand, von dem man allerdings nicht viel mehr als einen schmalen Streifen und seine Hände sah. Anscheinend wurde hier großen Wert auf Diskretion gelegt. Schweigend gingen sie nebeneinander durch einen Gang aus schwarzem Marmor, von dem rechts und links Türen abgingen. Kleine Kästchen an der Wand zeigten durch ein rotes Licht an, wann ein Zimmer besetzt war. Es waren nicht wenige und Ran wurde ein wenig rot bei dem Gedanken, was sich wohl gerade hinter den Türen abspielte. Und noch mehr, als sie an ihrem eigenen Zimmer ankamen. „Wir sind da“, erklärte Tim und schob die Karte in den Türöffner. Ein kleines, grünes Licht leuchtete auf und die Tür schwang nach innen auf. Ran holte noch einmal tief Luft und betrat den Raum. Hinter ihm schloss Tim leise die Tür.   Im nächsten Augenblick hatte er ihn schon herumgedreht und seine Lippen lagen auf Rans. Vollkommen überrumpelt erwiderte Ran den Kuss, bevor er irgendwann lachend nach Luft schnappte. „Wollen wir uns das Zimmer nicht erst einmal ansehen?“ Tim atmete schnell. „Ich hatte Angst, dass du wieder gehst, wenn es dir nicht gefällt.“ Ran schlang die Arme um ihn und küsste ihn noch einmal sanft auf die Lippen. „Ich bin doch wegen dir hier.“ Das genügte offensichtlich, um Tim von seinem Anfall von Unsicherheit zu heilen. Sein Grinsen kehrte wieder zurück und er zog Ran hinter sich her durch den Raum, der neben einem großen, bequem aussehenden Bett und einem in der Wand eingelassenen Fernseher noch eine Couch und einen kleinen Tisch beherbergte. Auf einer Konsole neben dem Bett standen allerlei Utensilien, die sich Ran lieber nicht so genau ansah. Er konnte sich schon denken, was in den verschiedenen Packungen und Tütchen war. Das Kribbeln in seinem Magen nahm zu. „Bingo!“, rief Tim, als er eine kleine Tür öffnete, die in ein ebenfalls sehr geräumiges Badezimmer führte, das eine im Boden eingelassene Badewanne hatte. Auf dem Wasser, das von unten in verschiedenen Farben beleuchtet wurde, schwammen einzelne Blütenblätter. Auch der Boden des Badezimmers und das Bett waren mit weißen und roten Blütenblättern bedeckt. In der Luft lag ein leichter Rosenduft. Tim zog Ran an sich. „Du. Ich. Badewanne.“ Er küsste Ran und griff nach den Knöpfen seines Hemdes. Langsam begann er, sie zu öffnen. Seine Fingerspitzen glitten dabei leicht über Rans Haut. Der erschauderte und ließ zu, dass Tim ihn an den Türrahmen drückte. Lage um Lage fiel seine Kleidung unter Tims Berührungen, sodass er plötzlich, bevor er es wirklich mitbekommen hatte, nackt vor dem anderen stand. Seine Erektion drückte sich an den Stoff von Tims Hose, während warme Hände an seinen Seiten entlangglitten „Das er scheint mir irgendwie nicht ganz fair“, gab er zu bedenken und atmete kurz darauf heftig ein, als Tims Hand zwischen seine Beine wanderte. „Keine Sorge, ich bin schneller ausgezogen, als du 'Abrakadabra' sagen kannst. Es sei denn, du möchtest mir dabei zusehen.“   Tim zog sich von ihm zurück und ließ seine Finger über den eigenen Oberkörper gleiten. Er begann, den Knoten der Krawatte zu lösen und zog den gemusterten Stoff mit geradezu quälender Langsamkeit aus dem Kragen seines Hemdes. Ran konnte den Blick nicht abwenden, als er danach begann, das Hemd aufzuknöpfen und sich so langsam zum Bund der Hose vorarbeitete. Trotzdem erschien ihm die Distanz zwischen ihnen verkehrt. „Nein, ich will dich bei mir haben“, sagte er und zog Tim wieder an sich. Er half, auch ihn von den störenden Stoffschichten zu befreien, bis sie schließlich nur noch Haut an Haut in der Tür standen. „Wenn wir noch lange hier herumstehen, wird das Wasser kalt“, grinste Tim und bevor Ran reagieren konnte, hatte er ihn genommen und rückwärts in die Wanne befördert. Das Wasser spritzte und eine Flutwelle schwemmte die Rosenblätter davon. Ran gab einen erschrockenen Laut von sich und schüttelte sich das Wasser aus den Haaren. „Bist du verrückt?“ Er wollte noch anfügen, dass sie sich eigentlich erst hätten waschen sollen, bevor sie die Wanne betraten, aber er kam nicht mehr dazu, denn Tim glitt zu ihm ins Wasser und küsste ihn solange, bis ihm die Luft ausging. „Verrückt? Natürlich. Verrückt nach dir.“   Ran legte den Kopf in den Nacken und gewährte Tims forschenden Lippen Zugang zu seinem Hals. Sie wanderten ihn hinauf, bis sie an der Stelle direkt unter seinem Ohr ankamen. Eine vorwitzige Zunge wagte sich hinaus und strich über seine Ohrmuschel, während heißer Atem überlaut darin widerhallte. Er war so abgelenkt von den zarten Berührungen, dass er gar nicht merkte, wie Tims Hände unaufhaltsam abwärts wanderten. Erst, als sie sich über seinen Bauch in tiefere Regionen schoben, keuchte er überrascht auf. Das fühlte sich zu gut an. Starke Finger, die sich um seine Erektion legten, daran entlang glitten und ihn mit sanfter Härte umfingen. Er drehte sich leicht in die Bewegung und merkte erst, als sich Tim gegen seinen Rücken presste, dass der plötzlich hinter ihm stand. Eine unmissverständliche Silhouette drückte sich gegen seinen Hintern. Ohne lange zu überlegen, bewegte er sich dagegen und erntete ein erregtes Grollen. „Da könnte man fast schwach werden“, wisperte Tim in sein Ohr und fuhr fort, sich an ihm zu reiben. Das Wasser ließ daraus eine sanft gleitende Bewegung werden. Ran schloss die Augen und konzentrierte sich auf das, was er fühlte. Die Finger, die seine Erektion umfassten, das warme Wasser, der feste Körper in seinem Rücken, eine Hand, die an seiner Seite entlang wanderte, Lippen, die seine Schulter liebkosten. „Leg deine Hände auf den Rand.“ Ran tat, wie ihm geheißen wurde, und das warme Gefühl in seinem Rücken verschwand, wurde abgelöst von gleitenden Fingern, die stetig tiefer wanderten. Tiefer und tiefer, bis sie schließlich in das Tal eintauchten und ihn dort sanft zu massieren begannen. Er spürte den Druck auf den ringförmigen Muskel und öffnete erstaunt die Augen. „Sch...“, machte Tim an seinem Ohr. „Keine Angst. Ich will dir nur etwas zeigen. Entspann dich und genieß es.“ Die kreisenden Bewegungen wurden kräftiger und er spürte heiße Wellen durch seinen Unterleib laufen. Unwillkürlich lehnte er sich gegen den Widerstand und atmete scharf ein, als er gebrochen wurde. Das Eindringen war ungewohnt und er war sich nicht sicher, ob es ihm gefiel, aber Tims Hand, die weiter die pulsierende Härte an seiner Vorderseite umfing, lenkte ihn so weit ab, dass er es geschehen lassen konnte. Langsam ging das Vordringen in kreisende Bewegungen über, die den Muskel weiter dehnten und den Druck zu einem durchaus aufregenden Gefühl werden ließen. Das warme Wasser tat sein Übriges dazu, dass er sich weiter entspannte, sich sogar noch ein wenig mehr dem forschenden Finger entgegenstreckte, der immer weiter eindrang. Er hörte sein Atmen von den Wänden des Bades widerhallen, das Plätschern des Wassers und Tims Stimme an seinem Ohr. „Du bist wunderschön“, flüsterte er und fasste fester zu, während sein Finger... Ran keuchte auf, als Tim plötzlich einen Punkt in seinem Inneren berührte, der ihm die Knie weichwerden ließ. Er stützte sich schwer auf den Wannenrand und versuchte, wieder zu atmen. Doch Tim kannte keine Gnade und strich wieder und wieder über den Punkt, der Rans Blut zum Kochen brachte. „Siehst du, so wird es nachher sein, wenn ich an deiner Stelle bin und du ...“ Tim sprach nicht weiter. Stattdessen machte er mit dem Becken eine eindeutige Bewegung, die seine Erektion an Rans Hüfte drückte. Die Vorstellung, die das in Rans Kopf entstehen ließ, ließ ihn leise stöhnen.   Tim lächelte gegen seine Schulter und zog seine Hände zurück. Er drehte Ran herum und küsste ihn. Sanft, zärtlich, so als wären die letzten Minuten nicht passiert. Mit den Fingern strich er ihm eine nasse Strähne aus dem Gesicht, „Lass uns ein wenig Tempo rausnehmen. Immerhin haben wir die ganze Nacht.“ Ran nickte nur. Seine Gedanken hatten sich noch nicht wieder so weit geordnet, dass er zu einer Antwort fähig war. Die Härte zwischen seinen Beinen pulsierte und er hätte am liebsten zugegriffen um zu Ende zu bringen, was Tim angefangen hatte. Der aber nahm seine Hände und legte sie sich um den Hals. Seine Finger strichen über Rans Rücken, ihre Lippen fanden sich zu einem Kuss. Unter Streicheln und Küssen ebbte Rans Erregung langsam wieder ab. Sein Atem ging immer noch schnell, aber die drängende Hitze war zu einem wärmenden Feuer heruntergebrannt. Er hatte keine Ahnung, wie Tim das geschafft hatte, aber die Anspannung, die er erst jetzt, da sie nicht mehr da war, wirklich registrierte, war verflogen. Langsam ließ auch er seine Hände über Tims Körper wandern, erkundete Hügel und Täler, strich mit seinen Fingern über die nasse Haut, kostete seine Lippen, seinen Hals, den er ihm bereitwillig darbot. Sein Mund wanderte tiefer, fanden das Schlüsselbein und schließlich eine Brustwarze. Spielerisch strich er mit der Zunge darüber und bekam die Reaktion, die er erwartet hatte. Er lächelte und intensivierte seine Bemühungen. Tims Finger bohrten sich in seine Seite, sein Atem wurde schneller. Ran führte das Spiel noch ein wenig weiter, bezog auch die andere Brustwarze mit ein, bis Tim sich schließlich unter seinen Händen zu winden begann. Erst dann tauchte er wieder aus der Versenkung aus und raubte sich einen atemlosen Kuss. „Ich würde vorschlagen, wir verlegen das Ganze ins Bett“, murmelte Tim gegen seine Lippen. Ran grinste ihn an und nickte. Sie fanden weiche, weiße Handtücher auf einem Regal und ließen sich Zeit damit, sich gegenseitig abzutrocknen. Ran ließ seinen Blick über Tims Körper streifen. Die fein definierten Muskeln, die schlanken Beine, das kantige Becken und zwischen seinen Beinen ein … Rans Gedanken stockten bei dem, was da eingebettet zwischen feinen, hellen Haaren aufrecht stand und nur darauf wartete, von ihm ergriffen zu werden. Er leckte sich über die Lippen und musste an ihr erstes Zusammentreffen denken. Tim bemerkte seinen Blick. Seine blauen Augen funkelten belustigt. „Tu dir keinen Zwang an.“ Langsam ließ Ran sich auf einem der dicken Handtücher auf die Knie sinken und streckte die Hand nach Tims Hüfte aus. Kurz darauf schlossen sich seine Lippen um den warmen Schaft und er begann, leicht daran zu saugen. Tims Hand legte sich auf seinen Kopf, ohne jedoch einen Rhythmus vorzugeben. Ran fuhr mit der Zunge über die weiche Haut, spürte das Pulsieren und Beben unter seinen Lippen. Vorsichtig strichen seine Finger an Tims Beinen empor, erkundeten die flache Rundung seines Hinterns und wanderten schließlich zur Vorderseite zurück, um dort die Hoden in seine Liebkosungen mit einzubeziehen. Als er von dort aus weiter vordrang und begann, die Region dahinter mit sanftem Druck zu massieren, erzitterte Tim unter ihm. „Bett. Sofort“, keuchte er und zog Ran auf die Füße und in einen gierigen Kuss.   Sie fielen mehr auf die weiche Matratze als irgendetwas anderes. Noch bevor Ran sich fragen konnte, wie es jetzt weiterging, hatte Tim ihn auf den Rücken befördert und nach einem der Päckchen gegriffen, die neben dem Bett bereitlagen. Er öffnete es und ließ den Inhalt auf seine Hand tropfen. Es roch nach einer würzigen, leicht holzigen Duftnote, die in Rans Nase kitzelte. Er sah zu, wie Tim hinter sich griff und dort anscheinend wiederholte, was er zuvor schon mit Ran gemacht hatte. Sein Atem ging schnell und als er die Augen öffnete, um Ran anzusehen, stand blaues Feuer darin. Er griff nach einem zweiten Päckchen und ließ sich über Ran gleiten. „Du erlaubst doch, dass ich die Führung übernehme?“, fragte er und öffnete die zweite Packung. Ran nickte nur und atmete scharf ein, als das kühle Gel über seine Erektion floss, nur um gleich darauf von warmen Fingern verteilt zu werden. Das glitschige Gefühl war eigenartig und erregend zugleich.   Es war jedoch nichts im Vergleich zu dem, was folgen sollte. Tim beugte sich zu ihm herab, ihre Münder prallten hart auf einander und Tims Haare fielen wie ein Vorhang um ihre Gesichter. Ran spürte eine Hand zwischen seinen Beinen und dann traf die Spitze seiner Erektion auf einen Widerstand. Tim löste den Kuss und richtete sich leicht auf. Er hatte die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, während er sich langsam nach hinten sinken ließ. Ran verkrampfte sich unwillkürlich. Er hatte plötzlich Angst, seinem Freund wehzutun, ihn dabei zu verletzen, aber eine kleine Stimme in seinem Kopf erinnerte ihn daran, was er vorhin erfahren hatte. Die Lust, die das Eindringen von Tims Finger ihm verschafft hatte. Der Gedanke daran, das er jetzt das Gleiche und mehr in Tim auslösen würde, sandte einen Funkenregen in seine Lenden. Er griff nach Tims Hüfte und spürte mit ihm die gleitende Bewegung, mit der er sich auf Ran niedersenkte. Eine heiße, pochende Enge umschloss ihn und entlockte seiner Kehle ein heiseres Keuchen. Erst, als er bis zur vollen Länge versunken war, öffnete Tim wieder die Augen. Sein Blick bohrte sich in Rans und jagte einen heißen Schauer über dessen Rücken. Langsam begann er sich zu bewegen. Das Gefühl war unbeschreiblich; heiß und eng, ein Reiben und Gleiten, das Beben und Zittern des fremden und doch so vertrauten Körpers über sich. Tim lehnte sich noch ein wenig weiter zurück, legte den Kopf in den Nacken, hob und senkte sich in einem stetig steigenden Tempo. Ran ließ die Hände über Tims Oberkörper gleiten, den Bauch, die Schenkel und griff schließlich nach der Erektion, die sich ihm entgegenstreckte. Seine Bemühungen wurden mit einem Stöhnen belohnt, die Enge um ihn zog sich für einen Moment fast schmerzhaft intensiv zusammen. Tim sagte irgendetwas, das Ran nicht verstand, und ließ sich wieder nach vorne fallen. Seine Lippen verschlossen Rans mit einem leidenschaftlichen Kuss. Ihre Münder verschmolzen, ihre Zungen tanzten umeinander, während ihre Körper sich im wechselnden Gleichklang gegeneinander bewegten. Plötzlich stoppte Tim die Bewegung und sah ihm in die Augen. Er lächelte und küsste Ran mit federleichten Lippen. „Möchtest du mal nach oben?“ Ran zögerte, aber er sah in Tims Blick, dass dieser sich genau das wünschte. Von ihm … genommen zu werden. Sich dem Rhythmus zu ergeben, den Ran vorgab. Fast unmerklich nickte er und noch bevor er sich fragen konnte, wie das jetzt vonstatten gehen sollte, hatte sich Tim von ihm heruntergerollt und lag mit aufforderndem Blick und gespreizten Beinen neben ihm. Ran biss sich auf die Lippe und erhob sich. Der Anblick war zu einladend, um ihm nicht Folge zu leisten. Er positionierte sich erneut, sah noch einmal zu Tim hinauf und drang dann langsam in ihn ein. Es ging leichter als beim ersten Mal und so wagte er sich weiter und weiter. Tim kam ihm zur Hilfe, indem er die Hüfte leicht anhob. Der Anblick, wie er sich in dem schönen Körper versenkte, ließ seinen Mund trocken werden. Tim schlang die Beine um ihn und zog ihn tiefer. Er beugte sich vor und sie küssten sich wieder. Die weichen, wellenartigen Bewegungen ihrer vereinten Körper wurden langsam aber stetig schneller, steigerten sich mehr und mehr zu einem härteren Staccato und Ran musste sich schließlich auf dem Bett abstützen, während er immer wieder und wieder tief in Tims Körper stieß. Der hatte die Augen wieder geschlossen, seine Hand war zwischen sie geglitten und massierte sich selbst dort im gleichen Takt, in dem Ran in ihn eindrang. Langsam, aber sicher wurden seine Bewegungen abgehackter, die Laute aus seinem Mund, die irgendwo zwischen Worten und Stöhnen lagen, wurden höher und langgezogener. Ran wusste plötzlich, dass er kurz davor war, zu kommen. Er verdoppelte seine Anstrengungen, stieß härter zu als zuvor und wurde schließlich mit einem Anblick belohnt, der ihm den Atem nahm. Tim, der sich unter ihm aufbäumte, Rans Namen auf seinen Lippen, die freie Hand in die weißen Laken gekrallt. Die heiße Enge um Ran herum zog sich zusammen und er hörte sich selbst heiser aufkeuchen. Er stieß noch ein paar Mal zu, bevor auch sein Orgasmus in seinem Inneren explodierte wie ein riesiges Feuerwerk. Welle um Welle pumpte es durch seinen Körper und aus ihm heraus, eine Explosion aus tausend Farben, die die restliche Welt in Dunkelheit tauchte. Er kniff die Augen zusammen, unfähig die Bewegung zu unterbrechen, mit der er wieder und wieder vordrang, bis er schließlich in die Knie brach. Zitternd, mit tauben Sinnen und einem Kribbeln, das seinen gesamten Körper erfasst hatte, zog er sich aus Tim zurück und ließ sich neben ihn fallen. Für einen Moment war er nicht fähig, sich zu rühren. Er lag da und lauschte dem galoppierenden Hämmern seines Herzens, dem Rasseln des Atems in seiner Brust und den wohligen Lauten, die Tim neben ihm von sich gab. Eine Bewegung. Eine Hand strich über sein Gesicht, wischte die Strähnen, die an seiner schweißnassen Stirn klebten, beiseite und trockene Lippen platzierten einen Kuss auf seinen. Er öffnete die Augen und sah in Tims Gesicht. In dessen Blick lag eine Wärme, die Rans Herz zusammenzog. Er legte die Hand in Tims Nacken und zog ihn noch einmal in einen Kuss, in den er alles legte, was ihm nicht über die Lippen kommen wollte. Und er fühlte genau, dass es Tim ebenso erging. Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten sie sich wieder voneinander. Ran spürte bleierne Müdigkeit, die von ihm Besitz ergreifen und ihn mit lockenden Armen in die schwarze Tiefe ziehen wollte. Schläfrig blinzelte er ein paar Mal und unterdrückte ein Gähnen. Tim grinste. „Du hast ganz recht. Schlafenszeit, kleine Blume. Ich muss nur nochmal kurz ins Bad. Wir haben in der Aufregung irgendwie das Kondom vergessen.“ Er zwinkerte Ran zu und war verschwunden, bevor der Sinn der Worte ganz zu ihm vordringen und er rot werden konnte. Als Tim zurückkam, hatte er sich schon wieder soweit gefangen, dass er die Decke zurückgeschlagen und es sich darunter gemütlich gemacht hatte. Er hob den Stoff an, um Tim hineinzulassen und zog ihn dann an sich. Tim platzierte einen Kuss auf seiner Nasenspitze. „Das war fantastisch. Du warst fantastisch.“ Noch bevor Ran antworten konnte, hatte Tim den Arm über seine Brust gelegt und den Kopf unter sein Kinn geschoben. Ganz automatisch legte Ran ebenfalls den Arm um ihn und schloss die Augen. Es musste mittlerweile schon irgendwas nach zwei Uhr nachts sein. Ohne sich noch lange Gedanken zu machen, ließ er es schließlich zu, dass die Müdigkeit die Oberhand gewann und driftete unaufhaltsam hinüber in die Welt des Schlafes und der Träume.     Kapitel 15: Traum und Wirklichkeit ---------------------------------- Eine Schulter stieß ihn zur Seite, eine Hand entglitt seiner. Er stolperte vorwärts, rief etwas, aber seine Stimme wurde überlagert von einem dumpfen Donnerschlag. Schreie von irgendwo her. Der Boden bebte. Es krachte und Glas regnete auf ihn herab. Ein heißer Blitz auf seiner Wange. Etwas Schweres traf ihn an der Brust und warf ihn zu Boden. Er versuchte zu atmen. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei, aber es kam kein Ton über seine Lippen. Staub wurde aufgewirbelt. Hüllte ihn ein. Drang ungehindert in Mund und Nase vor. Atmen, er musste atmen! Es ging nicht! Er konnte nicht … Er fasste sich an den Hals, versuchte sich zu drehen. Schmerz flutete durch seinen Brustkorb. Atmen! Er musste … atmen! Er …   Schweißgebadet schreckte Schuldig hoch und griff sich an die Brust. Gierig sog er die dringend benötigte Luft in seine Lunge, während sein Herz wie wild gegen seine Rippen hämmerte. Er schluckte, atmete, tastete um sich. Etwas Weiches zwischen seinen Fingern. „Was?“ Er hob es auf. Weich und papierdünn. Ein schwacher Geruch nach Blumen. Ein Rosenblatt. Langsam begann die Welt, wieder feste Formen anzunehmen. Er saß im Bett. Das Hotel. Ran. Sie waren zusammen eingeschlafen. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und versuchte so die letzten Reste des Alptraums zu vertreiben. Aber das Gefühl der tödlichen Gefahr griff mit grauen Nebelfingern nach ihm, wollte ihn nicht gehen lassen. Er fröstelte und eine Gänsehaut kroch seine Arme hinauf. Neben sich konnte er im schwachen Licht der Notbeleuchtung eine schlafende Silhouette ausmachen. Anscheinend hatte Ran nichts von all dem bemerkt. Gut.   Vorsichtig wickelte Schuldig sich aus der Bettdecke und tappte im Dunkeln in Richtung Badezimmer. Er schloss die Tür, bevor er es wagte, das Licht anzumachen. Fast erwartete er, in grelles Scheinwerferlicht getaucht zu werden, aber es erwachte nur eine stimmungsvolle Wandbeleuchtung zum Leben. Er blinzelte kurz gegen die matte Helligkeit und ging dann zum Waschbecken, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu schütten. Nach dem dritten Mal hatte er endlich nicht mehr das Gefühl, von einem klebrigen Pelz bedeckt zu sein. Er hob den Kopf und sah in den Spiegel. Im schwachen Licht wirkten seine Züge fremd, fast so als würde er eine andere Person ansehen. Er fühlte die Wassertropfen seinen Hals hinabrinnen, aber er konnte sich nicht von dem Anblick losreißen. „Wer bist du?“, flüsterte er. Der Spiegel antwortete nicht. Er sah ihn nur weiter an und Schuldig bildete sich ein, ein spöttisches Funkeln in den Augen seines Spiegelbilds zu sehen. 'Wer soll ich schon sein? Ich bin du.' „Nein, bist du nicht. Ich weiß, wer ich bin.“ 'Tatsächlich? Und wer bist du?' Schuldig öffnete den Mund, um die Frage zu beantworten, doch er konnte es nicht sagen. Da waren Stimmen in seinem Kopf. Stimmen, die nicht ihm gehörten. Stimmen von Fremden, weit entfernt und gleichzeitig so nah, als würden sie direkt neben ihm stehen. Männer und Frauen, Kinder und Greise, alt, jung, hoch, tief, schrill und volltönend, tausende Stimmen die sich in seinem Kopf zu einem Sturm zusammenbrauten, der seine eigene verschluckte und ihn stumm zurückließ. Erschrocken prallte er vom Spiegel zurück. Er hielt sich die Ohren zu, doch die Stimmen waren in seinem Kopf. In seinem Geist. Sie wurden lauter und lauter und lauter. Er fiel auf die Knie, den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet … und erwachte.   Er lag immer noch im Bett, in seinem Arm ein warmer Körper. Er schloss die Augen und fühlte Feuchtigkeit in seinen Augenwinkeln. Hatte er etwa geweint? Ran bewegte sich neben ihm, drehte den Kopf in seine Richtung. „Hey, alles in Ordnung?“ Er nickte schnell in der Gewissheit, dass Ran die Bewegung zu deuten wissen würde. Im Schutz der Dunkelheit wischte er sich über die Augen. Ran durfte nichts hiervon mitkriegen. Er würde anfangen, Fragen zu stellen. Er würde … ja, was würde er denken? Vor Schuldig inneren Augen tauchte ein Gesicht auf. Ein weinender Junge kniete auf der Erde. Seine Gestalt war bedeckt von grauem Staub und seine Tränen hinterließen schmutzige Schlieren auf seinem Gesicht. Eine Maske vollkommener Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Er kannte dieses Gesicht. Es hatte ihn angesehen und er hatte gelacht. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Der erste Traum … das war kein Traum gewesen, sondern eine Erinnerung. Rans Erinnerung an den Tag, an dem seine Eltern gestorben waren. Getötet durch die Bombe, die er und Nagi platziert hatten. Er hatte sich die Erinnerungen angesehen. Die Bilder, die den Hass auf Takatori jeden Tag aufs Neues anfachten. Erst hatte er sich noch einmal daran ergötzt und dann hatte er das getan, was die Natur normalerweise mit solchen Erinnerungen tat. Er hatte sie verblassen lassen. Hatte dafür gesorgt, dass die Rachepläne langsam und schleichend in den Hintergrund traten. Stattdessen hatte er dem wütenden Jungen ein anderes Ziel gegeben, auf das er seine überbordenden Emotionen richten konnte. Und aus dem Funken war ein Feuer geworden, das jetzt drohte, ihn zu verbrennen. Er wusste es, er hatte es gespürt. Wann immer sie zusammen waren, hatte er sich angewöhnt, Rans Gedanken zu lesen und ihnen ab und an einen Stups in die richtige Richtung zu geben. Inzwischen konnte er das gefahrlos tun, denn Ran assoziierte mit den körperlichen Auswirkungen, die er spürte, wenn jemand in seiner Nähe ein psychisches Talent benutzte, inzwischen keine Bedrohung mehr. Durch die gedankliche Verbindung wusste er auch, was er sagen oder tun musste, um eine gewünschte Reaktion hervorzurufen. Aber die ständige Vernetzung war nicht ohne Folgen geblieben. Er hatte die Grenzen zwischen sich und dem anderen verwischen lassen, war unvorsichtig geworden. Und es hatte ihn verändert. Die Belustigung, die er anfangs noch dabei empfunden hatte, Ran an der Nase herumzuführen, war verschwunden. Stattdessen war da etwas, das da nie hätte sein dürfen. Die Tatsache, dass er wusste, dass es eigentlich nicht ihm gehörte, machte es nicht weniger real. Dass er wusste, dass es vorbeigehen würde, machte es nicht weniger real. Er fühlte es. Jetzt. Es machte ihm Angst. Und es machte ihm Angst, dass er es wieder verlieren könnte.   'Scheiße! So was gibt’s doch eigentlich nur in schlechten Filmen. Oder auch in guten? Gibt's nicht sogar ein Wort dafür?Helsinki-irgendwas. Scheiße! Ich bin am Arsch, wenn Crawford das rauskriegt. Der erwürgt mich mit seiner Dienstagskrawatte.Und dann diese Erinnerung … Irgendetwas stimmt damit nicht. Ich hätte diesen Teil der Geschichte eigentlich kennen müssen, aber es ist, als wäre da, wo er hingehört, ein großes Loch. Als hätte jemand daran herumgepfuscht. Aber wer? Und warum?'   Ein kräftiger Arm legte sich um ihn und zog ihn näher an sich heran. Ein Gesicht drückte sich an seinen Hals und er spürte warmen Atem auf seiner Haut. Er schloss gequält die Augen. Er durfte dem nicht nachgeben. Das einzig Richtige war, jetzt sofort zu verschwinden. Die Brücke hinter sich endgültig abzubrechen, solange er noch konnte. Das Netz aus Lügen, das er aufgebaut hatte, hatte ihn selbst gefangen und jetzt zappelte er hilflos wie eine Fliege in den klebrigen Fäden. Allein, es gab keine gefräßige Spinne, die ihn aussaugen würde. Wenn er es geschickt anstellte, konnte er vielleicht beides behalten. Nur solange, bis es sich abgenutzt hatte. Was konnte schon passieren? Solange er seine Arbeit weiter erledigte, konnte es ihm keiner zum Vorwurf machen. Und lag es nicht im Grunde in Takatoris Interesse, wenn er ihm einen schwertschwingenden Attentäter vom Hals hielt? Und was gut für Takatori war, war auch gut für Eszett. Er durfte sich nur von niemandem in die Karten gucken lassen. Musste vorsichtig sein, damit niemand etwas merkte. Und irgendwann, wenn die anfängliche Leidenschaft abgekühlt war, dann würde er es beenden. Mit einer Kugel in den Kopf. Und niemand würde wissen, dass er einen Fehler begannen hatte. Den Fehler, sich in sein Opfer zu verlieben.         Als Ran erwachte, fühlte er sich großartig. Für einen Augenblick genoss er einfach das Gefühl, im Bett zu liegen und lebendig zu sein. Er wusste, dass er gleich aufstehen musste. Vermutlich hatte er sogar verschlafen. Ken würde ihm die Hölle heiß machen. Omi hatte heute ein erstes Treffen als Vorbereitung für das kommende Schuljahr und Yoji musste seinen Wagen in die Werkstatt bringen. Insofern waren sie beide heute Vormittag alleine im Laden. Er musste jetzt wirklich aufstehen. 'Bye-bye Traumland, willkommen Realität.' Mit einem Seufzen wollte er die Bettdecke zurückschlagen, als sich ein Arm um seine Taille wand und ihn festhielt. „Geh nicht“, murmelte es irgendwo undeutlich unter der Bettdecke. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht. „Ich muss. Ich muss zur Arbeit.“ „Ruf an, dass du krank bist.“ „Das kann ich nicht.“ Er begann, Tims Finger von seinem Körper zu lösen. „Ich mach es auch wieder gut.“ Die tückischen Gliedmaßen entwanden sich seinem Griff und begannen, in tiefere Regionen vorzudringen, die darauf mit regem Interesse reagierten. „Tim, ich … ah .. ich kann … nicht.“ Ein kupferroter Haarschopf schälte sich aus der weißen Bettwäsche und attackierte seinen Hals mit Lippen und Zähnen, während die flinken Finger endlich ihr Ziel fanden. Ran stöhnte auf und wusste nicht, in welche Richtung er sich zuerst lehnen sollte. Der Hand entgegen, die sein Glied umfasste, oder der Erektion, die sich gegen seinen Hintern drückte. „Komm schon, Ran, ruf an! Sag, dass du später kommst. Wenn du jetzt gehst, wirst du den ganzen Tag an Sex denken müssen.“ „Wenn ich bleibe auch!“ Er versuchte, vorwurfsvoll zu klingen. Ein Grinsen an seinem Hals. „Ja, aber der Druck ist dann nicht mehr so groß. Komm, was sind schon zwei Stunden? Oder drei. Ich lege auch noch ein Frühstück drauf.“ Als er nicht sofort reagierte, begann Tim, sich von seiner Schulter aus weiter nach unten zu küssen. Seine Lippen wanderten über den Rücken, die Taille, an der Hüfte weiter nach vorn, über seinen Bauch und … Rans Hand krallte sich in Tims Haare. Er atmete heftig ein und unterdrückte ein Stöhnen. „Okay!“, keuchte er und versuchte, sich auf das korrekte Formulieren der Worte zu konzentrieren. „Okay, ich bleibe. Aber ich muss anrufen.“ Tim tauchte aus der Versenkung aus und grinste wie die berühmte Katze aus 'Alice im Wunderland'. „Du hast zwei Minuten. Ich würde schnell sprechen, wenn ich du wäre.“ „Monster!“ Ran fiel fast aus dem Bett und sah sich hektisch nach seinen Sachen um. Wo zum Teufel war seine Hose? Tim lag bäuchlings auf dem Bett und machte Tick-Tack-Geräusche. Ran warf ihm einen wütenden Blick zu und entdeckte endlich das Knäuel aus seinen Kleidern, das sie gestern irgendwo vor dem Bad hatten liegen lassen. Er zerrte sein Handy aus der hinteren Hosentasche. „Die Hälfte der Zeit ist um“, informierte Tim ihn und steckte sich den Zeigefinger in den Mund. Er fing an, damit höchst unanständige Dinge anzustellen und Ran hatte wirklich Schwierigkeiten, die richtigen Zahlen in die Tastatur zu tippen. Endlich ertönte das Freizeichen. Es klingelte. Und klingelte. Tim grinste und deutete auf sein Handgelenk. Ran verdrehte die Augen und ihm kurzerhand den Rücken zu. Endlich hob jemand ab. „Sie sprechen mit dem Koneko no sumu ie. Die Kätzchen sind leider nicht im Haus. Sie erreichen uns Montag bis Samstag ...“ Ran war kurz davor, in das Telefon zu beißen. Die Ansage des Anrufbeantworters war ewig lang und wenn er die Geräusche in seinem Rücken richtig deutete, machte sich Tim bereits bereit zum Sprung. Er tat das Einzige, was ihm noch einfiel und flüchtete ins Badezimmer. Als er die Tür hinter sich abschloss, hörte er ein vorwurfsvolles „Hey!“ von der anderen Seite, aber jetzt hatte die Maschine am ende der Leitung endlich ihre Ansage beendet und der Signalton ertönte. „Hier ist Ran ... AYA! Ich komme heute später. Rechnet nicht vor Mittag mit mir.“ Er drückte die rote Taste eine Sekunde, bevor es an der Badezimmertür bummerte. Er starrte fassungslos auf das Telefon und fühlte ein vollkommen surreales Kichern seine Kehle hinaufsteigen. Hatte er sich gerade echt versprochen? War er schon so weit, dass er seine verschiedenen „Leben“ nicht mehr auseinander halten konnte? Waren zwei Doppelleben vielleicht eines zu viel? Es klopfte wieder an der Tür. „Ich muss Sie hiermit darüber informieren, dass Sie vertragsbrüchig geworden sind. Die Strafe dafür beträgt Sex von nicht weniger als zwei Stunden Dauer. Haben Sie irgendetwas zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?“ Er lehnte sich rücklings gegen die Tür und grinste. „So lange halte ich bestimmt nicht durch“, gab er zu bedenken. „Tja, dann wird dir wohl nichts anderes übrigbleiben, als auch mal deinen Hintern hinzuhalten. Na komm schon raus. Komm zu mir auf die dunkle Seite. Ich habe auch Sushi.“ Ran öffnete die Tür einen Spalt breit. „Sushi?“, fragte er glucksend. „Ja, oder was immer du sonst zum Frühstück möchtest. Ich habe die Speisekarte gefunden.“ Tim wedelte mit einem bunten Papierstück vor seiner Nase herum. „Guck mal, French Toast.“ Er drücke die Tür vollständig auf und schmiss die Karte achtlos zur Seite. „Oder aber ich vernasche einfach dich zum Frühstück.“ Er presste Ran gegen die geflieste Wand und fuhr mit der Zunge an seinem Kinn entlang. „Mhm, salzig. Du schmeckst gut.“ Ran lachte und versuchte, sich von der kalten Wand zu lösen.“ Also was denn nun? Sex oder Frühstück?“ „Ich könnte das Sushi auf dir verteilen. Habe ich mal auf einem Bild gesehen. Body Sushi oder so. Das sah heiß aus.“ In diesem Moment machte Rans Magen ein eindeutiges Geräusch. Tim ließ von ihm ab und grinste. „Okay, das heißt dann wohl erst Frühstück.“   Sie wählten einige Dinge von der Karte und bestellten per Telefon. Tim hatte dabei nichts als seine nackten Haut am Leib und Ran wurde nicht müde, ihm dabei zuzusehen, wie er durch das Zimmer tigerte, während er wem auch immer am anderen Ende des Telefons zu erklären versuchte, was er essen wollte. Als er die Bestellung endlich aufgegeben hatte, schmiss er das Telefon aufs Bett und sich selbst hinterher. „Das war ja eine schwere Geburt. Es hat niemand gesagt, dass ich hier für mein Essen arbeiten muss.“ Ran beugte sich über ihn und küsste ihn. „Aber dein Japanisch ist inzwischen schon sehr gut geworden.“ Tim hatte die Augen geschlossen und lächelte. „Danke. Ich übe ja auch täglich. Mein Französisch ist trotzdem besser.“ Er wackelte mit den Augenbrauen. „Du sprichst Französisch?“ Tim öffnete ein Auge und sah Ran belustigt an. „Das meinte ich zwar nicht, aber ja. Ein wenig. Es reicht, um sich dort durchzuschlagen. Allerdings nicht, um Camus oder Sartre zu lesen. Allenfalls noch für 'Tim und Struppi' in der Original-Fassung.“ Er drehte sich wieder auf den Bauch. „Wie hat dir der Comic eigentlich gefallen?“ Ran überlegte, wie er jetzt taktvoll anbringen konnte, dass die Geschichte zwar spannend, aber ziemlich klischeebelastet war und dass ihm die Darstellung der Japaner darin nicht besonders gefallen hatte, als bereits Tim verständnisvoll nickte. „Ich sehe es schon an deinem Gesicht, dass es nicht dein Fall war. Einiges davon kann man heutzutage bestimmt nicht mehr als politisch korrekt bezeichnen. Aber als Kind fand ich es toll. All die fernen Länder, die Tim bereisen konnte. Ein Junge, der genauso hieß wie ich! Kannst du dir das vorstellen? Ich habe mir damals geschworen, ich würde all das auch irgendwann zu sehen bekommen. Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass mir nochmal ein Land so gut gefallen wird wie Japan.“ Er legte seine Hand in Rans Nacken und zog ihn an sich. Ihre Lippen berührten sich erst vorsichtig, dann ausgiebiger. Eine Zungenspitze streichelte Rans Unterlippe und er gewährte ihr gerne Einlass. Gerade, als er seine Hand ausstrecken wollte, um Tim zu berühren, klopfte es an der Tür. Tim stöhnte und ließ den Kopf ins Kissen sinken. „Ich schwöre, dieses Hotel sieht mich nie wieder! Wie soll man denn hier irgendwann mal zum Zug kommen?“ Schimpfend und grummelnd erhob er sich, wickelte sich in einen Teil der Bettwäsche und wankte zur Tür. Er öffnete die darin eingelassene Klappe und nahm ein Tablett entgegen. „Hey, hilf mir mal!“ Er reichte Ran den ersten Teil des Frühstücks weiter und nahm den zweiten in Empfang. Mit einem knappen Dank ließ er die Klappe wieder zufallen, bevor er sich mit seiner Fracht zum Bett begab. Ran sah zwischen all den Schüsseln und Tellern hin und her und legte die Stirn in Falten. „Das hast du alles bestellt? Wer soll denn das essen?“ Tim betrachtete die Zusammenstellung und zuckte die Achseln. „Also dreimal Eier habe ich bestimmt nicht bestellt. Aber andererseits … ein gescheiter Nachschub an Protein ist vielleicht nicht das Schlechteste.“ Er zwinkerte Ran zu und griff nach einem Paar Stäbchen. Er legte die Hände zusammen und verbeugte sich leicht. „Itadakimasu!“ Er grinste und schnappte sich ein Stück Omelette. Ran schüttelte lächelnd den Kopf, bevor er ebenfalls zugriff. Hier saß er jetzt also, vollkommen nackt, auf dem Bett in einem Stundenhotel und ließ sich von seinem Freund mit Sushi und anderen Dingen füttern. Es war auf eine wunderbare Weise verrückt. Wie eine Blase, eine Flucht vor der Realität, die irgendwo da draußen wartete. Für einen Moment musste er daran denken, was seine Schwester wohl zu all dem hier sagen würde. Oder seine Eltern. „Wenn du noch ein bisschen lauter denkst, können wir ein Tonband mitlaufen lassen.“ Tims Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen. „Ich musste nur gerade an meine Familie denken. Was sie wohl sagen würden, wenn sie uns hier so sehen würden.“ Tim grinste. „Natürlich würden sie wissen wollen, wer der unheimlich gut aussehende, junge Mann da in deinem Bett ist und wie du ihn dir geangelt hast.“ Ran zog die Augenbrauen hoch. „Eingebildet bist du wohl gar nicht?“ „Und wie!“ Tim streckte ihm die Zunge raus, bevor er wieder ernst wurde. Blaue Augen musterten ihn prüfend. „Vermisst du sie?“ Die Frage ließ Ran vorsichtig werden. Er bewegte sich jetzt wieder auf das dünne Eis der Lügengeschichte, die er Tim erzählt hatte. Am besten blieb er wohl weitestgehend bei der Wahrheit. „Meine Eltern nicht wirklich. Wir hat... haben, wie gesagt, kein so gutes Verhältnis. Mein Vater ist ein sehr traditioneller Mann. Er arbeitet viel und wir bekommen ihn eigentlich kaum zu Gesicht. Meine Mutter führt den Haushalt. Sie ist eine gute Köchin, unterstützt meinen Vater, wo sie nur kann, aber ...“ Er stockte. Es kam ihm falsch vor, schlecht über die Toten zu reden. Andererseits war es irgendwie erleichternd, Tim diese Dinge anzuvertrauen. Ran hatte noch nie viele Freunde gehabt und wenn, hatten sie nicht über so etwas gesprochen. „Meine Eltern verstehen mich nicht. Sie sehen mich und meine Schwester in zehn Jahren dort, wo sie jetzt sind. Dabei haben wir ganz andere Ziele und Träume. Meine Schwester möchte im Ausland eine Ausbildung zur Begleithundetrainerin machen, aber meine Eltern sind der Meinung, das das für ein Mädchen rausgeworfenes Geld ist. Deswegen...“ „Deswegen bist du nach Tokio gekommen, um hier zu arbeiten? Um deiner Schwester die Ausbildung zu finanzieren?“ In Tims Gesicht stand Verblüffung gepaart mit echter Bewunderung. „Du musst die Kleine ja wirklich gern haben. Hast du nie daran gedacht, selbst eine Ausbildung zu machen? Einen Beruf zu ergreifen, der dir Spaß macht?“ Ran zuckte die Schultern. Natürlich hatte er manchmal darüber nachgedacht, was er mit seinem Leben anstellen sollte. Aber dann war da Aya gewesen mit ihrem großen Traum und es war ihm richtig erschienen, sie darin zu unterstützen, statt selbst irgendwelchen Phantastereien nachzuhängen. Auch wenn er es nie so sehr gezeigt hatte, war er doch immer unheimlich stolz auf seine Schwester gewesen. Sie hatte für ihn die Welt bedeutet und jetzt ...   Seine Gedanken wollten sich gerade an diesem Thema festbeißen, als plötzlich etwas gegen sein Knie stieß. Er sah auf und blickte in Tims Gesicht, der sich vor ihn hingekniet hatte und versuchte, mit dem Hintern zu wedeln. Er grinste. „Wuff-wuff!“ Ein kleines Lächeln trat auf Rans Gesicht vor allem, da Tim jetzt anfing, sein Knie abzulecken. An dieser Stelle war er kitzlig. „Was soll das werden?“, lachte er und versuchte, Tims Kopf wegzuschieben. Der dachte jedoch gar nicht daran, sich vertreiben zu lassen und wanderte mit seiner Zunge langsam höher. „Na das siehst du doch. Ich bin ein ungehorsames Hündchen und du musst mir Manieren beibringen.“ Ran gluckste und schlug spielerisch nach Tims Händen, die jetzt die Zunge unterstützten. „Böser Hund!“ Tim knurrte und zeigte die Zähne. „Bööööser Hund!“ Er katapultierte sich plötzlich nach vorn und drückte Ran auf das Bett. Seine Zunge fuhr über Rans Hals. „Mhm, schmeckt immer noch gut. Ein bisschen nach Tamagoyaki.“ „Hör auf!“ Ran versuchte, Tim von sich runterzuschieben, erreichte jedoch nur, dass der jetzt die andere Halsseite attackierte. Lachend wehrte sich Ran zuerst nur halbherzig, bis er dann doch irgendwann genug hatte. Mit einer schnellen Drehung brachte er Tim unter sich und hielt seine Arme fest, während er ihn mit seinem Körpergewicht auf die Matratze pinnte. Sie atmeten beide schwer und Ran konnte förmlich fühlen, wie die Stimmung kippte und aus der harmlosen Balgerei plötzlich etwas anderes, leidenschaftlicheres wurde. Er lehnte sich vor und küsste Tim lange und tief. Irgendwo in seinem Inneren wusste er, dass das hier nur eine kleine Zuflucht war. Dass er nicht ewig würde hierbleiben können. Dass all das, von dem er vorhin erzählt hatte – die echte Version davon – ihn irgendwann einholen würde. Dass er noch eine Aufgabe hatte, bevor er seine Vergangenheit hinter sich lassen konnte. Er löste sich aus dem Kuss und sah auf Tim herab, der mit geschwollenen Lippen und zerwühlten Haaren zu ihm aufsah, und ihm wurde bewusst, dass er hier etwas sehr Kostbares hatte. Er mochte momentan ganz unten sein, sein Leben ein mühsam zusammengekitteter Scherbenhaufen. Aber er hatte etwas, für das es sich zu kämpfen lohnte. Und etwas, das ihn hinter all dem Kampf erwartete. 'Du verdienst das', flüsterte es in seinem Kopf. 'Du verdienst das hier und noch mehr. Bleib bei ihm, lass ihn nicht allein. Er … liebt dich. Und du liebst ihn auch, oder nicht? Zeige es ihm. Zeig ihm wie viel er dir bedeutet.' In diesem Moment hörte er auf zu denken. Sein Körper übernahm die Kontrolle und stürzte sich mit neu erwachtem Verlangen auf den zweiten, willigen, der sich unter ihm wand, bereit ihn aufzunehmen, ihn zu halten und ihn nicht allein zu lassen. Niemals.         Kapitel 16: Auftakt zum Spiel ----------------------------- „Hallo, Schuldig.“ Er verhinderte im letzten Moment ein Zusammenzucken und ließ betont langsam die Schlüssel auf das Sideboard gleiten. Verdammt, war er wirklich so in Gedanken gewesen, dass er die bekannte Präsenz in seiner Wohnung nicht wahrgenommen hatte, bevor er angesprochen wurde? Er musste sich zusammenreißen. Die Stimmen, die er seit Neuestem fast ständig hörte, halfen dabei nicht unbedingt weiter. Er atmete tief durch, setzte ein Grinsen auf und drehte sich herum. „Nagi!“, strahlte er den ungebetenen Gast an und gab den großzügigen Gastgeber. „Was bringt dich in meine bescheidene Hütte? Es wird doch wohl nicht die Sehnsucht sein? Möchtest du etwas trinken?“ Er wartete keine Antwort ab, ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Dass der Inhalt nur aus einer halben Flasche Ginger Ale und einem undefinierbaren Etwas bestand, das schon bessere Tage gesehen hatte, ließ den Ausflug zu einem kurzen Trip werden. Er schloss die Tür wieder, nur um dahinter erneut mit Nagis vorwurfsvollen Blick konfrontiert zu werden. Er grinste wieder und ließ sich in einen Sessel fallen. „Hat Farfarello dich reingelassen? Wo ist er?“ „Im Schlafzimmer.“ Nagis Stimme war flach, aber Schuldig konnte die Emotionen spüren, die hinter seiner Stirn brodelten. Der Junge war wirklich angepisst. „Und was kann ich nun für dich tun?“ „Du sollst mich zu Hirofumis Arena bringen. Wir müssen noch die letzten Anpassungen für die Präsentation heute Abend machen.“ Er presste die Lippen zusammen, konnte dann aber doch nicht widerstehen und schoss noch hinterher: „Ich warte bereits seit drei Stunden auf dich.“ Schuldigs Augenbrauen hoben sich. „Drei Stunden? In der Zeit wärst du locker mit der U-Bahn dort gewesen. Und warum hat Crawford dich nicht einfach hingebracht.“ „Er hat gesagt, du sollst das übernehmen.“ Schuldig rollte mit den Augen. „Und warum hat unser liebes Orakel dir dann nicht gesagt, dass ich nicht zu Hause bin? Er weiß doch sonst immer alles.“ Nagi wurde eine Spur blasser, sein Mund schmaler. „Er ist … krank.“ Schuldig lachte auf. „Zu viel Wein?“ „Zu viel Fujimiya.“ Die Worte waren ganz klar an ihn gerichtet und nicht etwa eine Beschreibung von Crawfords Zustand. Schuldig beschloss, nicht darauf einzugehen. Wenn er anfing, sich zu rechtfertigen, war alles zu spät. „Also hat es funktioniert?“ Nagi sah ihn noch einen Augenblick lang stumm an, bevor er nickte. „Er hat gesagt, dass die Fähigkeit, die Zukunft zu sehen, momentan ein wenig außer Kontrolle sei. Er braucht noch ein paar Tage, bevor er wieder komplett einsatzfähig ist. Solange sollst du ihn vertreten. In allen Belangen.“ Schuldigs Aufmerksamkeit fokussierte sich vollkommen auf das Gesagte. „Was soll das heißen? Wie lange wird er außer Gefecht sein?“ Nagi zuckte mit den Schultern. „Das hat er nicht gesagt. Er hat nur gesagt, dass du dich um alles kümmern sollst.“ „Etwa auch um den Empfang? Bitte nicht. Das kann er mir nicht antun!“ Schuldig konnte nicht mehr stillsitzen. Er sprang aus dem Sessel und begann, im Zimmer umherzulaufen. Takatori hatte für übermorgen eine Pressekonferenz mit anschließendem gesellschaftlichem Tammtamm für alle möglichen Größen aus Politik und Wirtschaft anberaumt. Er wollte dabei sein Programm für die nächsten zwei Jahre vorstellen und gleichzeitig neue Verbündete suchen. Wer immer ihm politischen Einfluss, Geld oder anderweitige Macht zusichern konnte, war eingeladen. Ein Alptraum was die Organisation anging, aber Schuldig machte etwas ganz anderes Sorgen. Wenn Crawford ausfiel, würde er das Gesicht an Takatoris Seite sein, wenn sich alle Kameras auf ihn richteten. Und das würde bedeuten, dass Ran mit großer Wahrscheinlichkeit rauskriegen würde, dass er für Takatori arbeitete. Immerhin würden die Bilder der Konferenz rauf und runter durch alle Nachrichten laufen. Das musste er unbedingt verhindern. Aber jetzt musste er erst mal den angefressenen Teenager auf seinem Sofa befrieden. „Na komm schon, Naggels. Lass uns aufbrechen. Ich bin mir sicher, dass du schon darauf brennst, mit all deinen technischen Spielereien zu glänzen.“ Nagi antwortete nicht. Er erhob sich nur steif und ging in Richtung Tür. „Wir sollen Farfarello heute Abend mitnehmen“, sagte er, während er in seine Schuhe schlüpfte. „Hat Crawford das gesagt?“ Im Grunde war die Frage unnötig, aber Schuldig wollte die Konversation am Laufen halten. „Ja, hat er.“ Nagi trat beiseite, um Schuldig an seine Schuhe zu lassen. Dabei hielt er den Blick gesenkt und versuchte krampfhaft, an nichts zu denken. Es gelang ihm nicht besonders gut. „Ist ganz schön gemein, oder?“ Schuldig ließ sich Zeit mit den Schnürsenkeln. „Du wirst hierher geschickt, musst stundenlang warten. Ich hoffe, Farfarello hat dich wenigstens in Ruhe gelassen? Er kann manchmal ganz schön gruselig sein.“ „Ich habe keine Angst vor ihm.“ Der Satz kam ein bisschen zu schnell, um glaubhaft zu wirken. „Nicht? Also mir macht er manchmal Angst. Ich werde einfach nicht schlau aus ihm. Manchmal tut er Dinge, ohne darüber nachzudenken. Einfach so, weil sie ihm einfallen. Er benimmt sich wie ein dummes Kind. Das ist wirklich lästig.“   Schuldig beobachtete die Wirkung, die seine Worte auf Nagis Gedanken hatten. Vergifteter Honig. Zu süß, zu unwiderstehlich, als dass der Junge ihm nicht in die Falle gehen würde. Er wusste um dessen Ehrgeiz, sich als wertvolles Mitglied von Schwarz zu erweisen. Nagi hatte ein ausgeprägtes Konkurrenzdenken. Und er war eifersüchtig auf Ran. Das war Schuldig in dem Moment klar geworden, als er dessen Namen ausgesprochen hatte. Dabei war in seinem Kopf ein regelrechtes Gewitter losgebrochen. Er sah ihn als Eindringling, als Gefahr für seine Position sowohl in Schuldigs, wie inzwischen auch in Crawfords Prioritätenliste. Und was half besser, sich seine Stellung zu sichern, als jemanden noch unter sich in die Nahrungskette zu bringen? Dass Nagi für diese Rolle nun ausgerechnet Farfarello ausgewählt hatte, ließ Schuldig innerlich auflachen. Der Junge musste wirklich noch viel lernen, wenn er mit den großen Fischen schwimmen wollte. „Komm, wir nehmen meinen Wagen. Kannst du eigentlich Auto fahren?“ Nagi schüttelte den Kopf. „Möchtest du es lernen?“ Schuldig klimperte mit den Autoschlüsseln. Nagis Augen klebten daran wie unschuldige Insekten an einem Fliegenfänger. „Du würdest es mir beibringen?“ „Klar, warum nicht? Und wir machen auch weiter mit dem Deutschunterricht, wenn Crawford wieder auf dem Damm ist. Dieses Mal richtig, nicht nur irgendwelchen Kram, um Fujimiya zu beeindrucken. Das war unfair von mir. Mir war nicht klar, dass dir wirklich etwas daran liegt. Es tut mir leid.“ Nagi sagte nichts, aber Schuldig hörte, wie er den Köder schluckte. 'Hook, line and sinker' würde Crawford jetzt sagen und ihn mit diesem speziellen Blick ansehen, den sie beide teilten, wenn etwas genau nach Plan verlief. Er musste sein Grinsen wirklich mühsam zurückhalten. „Na komm, wir wollen Hirofumi doch nicht weiter warten lassen. Wenn die Vorstellung heute Abend gut läuft, lässt dich Takatori vielleicht auch mit zu dem Empfang kommen.“ „Im Ernst?“ Nagis Augen wurden groß und rund und Schuldig fürchtete fast, es jetzt übertrieben zu haben, aber anscheinend kannte Nagis pubertärer Größenwahn gerade keine Grenzen. „Dann los jetzt“, drängte er plötzlich und öffnete die Tür, um Schuldig nach draußen zu expedieren. „Wir sind bereits spät dran und ich muss noch einige Testroutinen durchlaufen lassen. Ich hoffe nur, diese Schwachmaten haben die Servosteuerungen der Vorratsbehälter auf die richtigen Frequenzen programmiert. Ansonsten schwöre ich, dass ich einen von ihnen an Masafumis Hunde verfüttere.“ Er eilte bereits die Treppe hinunter, während Schuldig nun endlich sein breites Grinsen nicht mehr zu verstecken brauchte. Manchmal war es einfach zu praktisch, ein Telepath zu sein.       „Er hat gelächelt.“ „Echt? Du lügst! Lass mich sehen!“ „Hey, nicht drängeln. Da, sieh doch selbst.“ „Wo denn? Lasst mich auch mal gucken.“ „Mach doch mal jemand ein Foto. Wer weiß, wie lange das anhält.“   Ken schüttelte den Kopf über die Traube von Mädchen, die sich am Fenster des Koneko die Nase plattdrückten. Das Objekt ihrer Begierde stand drinnen am Tresen, band einen neuen Strauß zusammen und war sich seiner Umgebung und der vielen Augen, die ihn beobachteten, augenscheinlich überhaupt nicht bewusst. Ken spürte einen Stich der Eifersucht. Nicht etwa auf die Mädchen, aber auf Aya, der tatsächlich, seit er irgendwann kurz vor dem Mittagessen endlich im Laden aufgetaucht war, bester Laune zu sein schien. Er hatte nicht einmal gezuckt, als Ken ihn heruntergeputzt hatte, sondern sich lediglich seine Schürze umgebunden, um dann zur Tagesordnung überzugehen. Ken war nicht dumm. Er hatte die Nachricht auf dem Anrufbeantworter gehört, die so gar nicht nach dem Aya geklungen hatte, den er kannte. Zudem wusste er ja, dass Aya nicht zu Hause gewesen war. Es hätte nicht noch Yojis Kommentars bedurft, dass der Rotschopf wohl eine angenehme Nacht gehabt hatte, um Zwei und Zwei zusammenzuzählen. Allerdings umgab Aya etwas, das man bei Yoji, der durchaus gerne mal durchblicken ließ, wenn er die Nacht nicht allein verbracht hatte, nicht beobachten konnte. So eine Aura von ...   „Bestimmt ist er verliebt.“ „Aaaa~ahhhhh. Das ist sooo süß!“ „Wer sie wohl ist?“ „Bestimmt ist sie wunderschön. Und groß. Er steht bestimmt auf große Frauen.“ „Das sagst du doch nur, weil du so groß bist.“ „Stimmt gar nicht!“ „Wohl!“   Die Mädchen schienen kurz davor, in einen ernsthaften Streit auszubrechen und Ken überlegte, ob er wohl mit dem Schlauch, mit dem er die Pflanzen goß, dazwischen gehen musste, als die Ladentür aufging und Aya den Kopf hinausstreckte. Sofort stoben die Mädchen auseinander und taten mit geröteten Wangen und niedergeschlagenen Wimpern so, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Ken rollte nur mit den Augen. „Hey, Ken, haben wir noch was von dem rosa Schleierkraut? Yoji meint, du hättest das gestern verräumt. Ich kann es aber nirgends finden.“ „Das hat Omi für die Hochzeitsgestecke aufgebraucht. Ich bin noch nicht dazu gekommen, neues zu bestellen. Setz es doch einfach auf die Liste.“ Aya nickte, schickte den verhalten kichernden Mädchen noch einen irritierten Blick und verschwand im Laden. Sofort versammelten sich die Verehrerinnen wieder am Fenster.   „Und ich sage euch, er ist verliebt. Normalerweise hätte er den armen Ken dafür total angeschnauzt.“ „Ja, die beiden sind wirklich wie Feuer und Wasser.“ „Du meinst Feuer und Eis.“ Sie brachen in albernes Gekicher aus. Ken blinzelte ein paar Mal. „Euch ist schon klar, dass ich euch hören kann, oder?“ Etliche Augenpaare richteten sich auf ihn. Er schluckte hörbar, als ihm bewusst wurde, dass er einen Fehler gemacht hatte. Im nächsten Moment flüchtete er ins Innere des Ladens, bevor die Meute sich auf ihn stürzen und ihm womöglich irgendwelche Informationen abpressen konnte. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen die Ladentür und schloss sicherheitshalber ab. Von draußen konnte man die erregten Stimmen der Mädchen hören. „Hey, Ken, was soll das? Wir haben noch geöffnet.“ Aya bekam anscheinend doch noch ein wenig von dem mit, was um ihn herum passierte. „Mach das mal deinem Fanclub da draußen klar. Die sind kurz davor den Laden zu stürmen.“ „Nur kein Neid, Ken.“ Yoji sah von den Orchideen auf, die er gerade mit einer Wasserspritze bestäubte. „Ich bin mir sicher, dass sie sich gerne von dir trösten lassen, wenn sie bei Aya abgeblitzt sind.“ „Ach ja?“ Ken ballte die Fäuste und presste die Kiefer aufeinander. Ayas gute Laune war eine Sache, aber Yojis Sticheleien über sein nicht existentes Liebesleben wollte er nicht auch noch auf sich sitzen lassen. Zweite Wahl, ha! Das musste er sich nicht bieten lassen. „Weißt du was, Mister Lady's man? Wenn du so toll Bescheid weißt, dann kümmer du dich doch um die restlichen Töpfe da draußen. Und um die Mädchen gleich mit. Ich nehme mir den restlichen Tag frei.“ Er zerrte seine Schürze herunter und wollte zur Tür hinausstürmen, als Aya ihn aufhielt. „Omi hat vorhin angerufen. Er sagte, wir bekommen heute noch Katzenbesuch.“ Das nahm Ken den Wind aus den Segeln. Natürlich hätte er trotzdem verschwinden können, aber eigentlich wusste er gar nicht so wirklich, wo er hinwollte. Die Luft draußen war schwül und zum Schneiden dick. Man klebte, sobald man nur zwei Schritte gemacht hatte. Irgendwelche sportlichen Betätigungen wie Joggen fielen also flach. Die anhaltende Hitze fing langsam wirklich an, seine Kondition aufzufressen. Und das, wo anscheinend eine Mission anstand. Das war gar nicht gut.   Ein bisschen widerwillig trat er von der Tür zurück und sah sich im Laden um. Es war nichts zu tun. Nichts, was nicht pure Beschäftigungstherapie war. Hier den ganzen Nachmittag rumzuhängen, stand definitiv ganz unten auf seiner Liste. Er brauchte Bewegung. „Ich geh trainieren“, legte er fest und stapfte in Richtung der hinteren Ladentür. „Was dagegen, wenn ich mitkomme?“ Violette Augen sahen ihn fragend an. Ken zuckte mit den Schultern. „Mir egal. Ist genug Platz für zwei.“ Aya nickte und begann, sich die Schürze abzubinden. „Hey, ihr könnt doch nicht beide abhauen“, empörte sich Yoji. „Was, wenn jetzt hier tausend Kunden auftauchen?“ Aya hob eine Augenbraue. „Also momentan sieht mir das nur nach einer Horde Schulmädchen aus. Bist du etwa nicht Manns genug, es mit ihnen aufzunehmen?“ Yoji blies die Backen auf und wollte gerade in eine Schimpftirade ausbrechen, als Aya sich bereits umgedreht hatte und aus dem Laden verschwunden war. Ken unterdrückte ein Grinsen und schlüpfte schnell hinter ihm her. Diese Suppe konnte Yoji getrost alleine auslöffeln.     Der Trainingsraum war im Grunde nicht viel mehr als ein weiterer Kellerraum, der mit ein paar Matten, einer Hantelbank und einigen Haken in der Decke ausgestattet worden war. In einer Ecke stand eine Trainingspuppe und daneben hing eine schon ziemlich lädierte Zielscheibe an der kahlen Ziegelwand. In der Luft lag ein Geruch nach Schweiß, muffigem Zelt und feuchtem Stein. Ken rümpfte die Nase. „Heimelig.“ Er wandte sich an Aya. „Wo willst du anfangen?“ „Ringe.“ Aya machte sich an der Kiste zu schaffen, die die verschiedenen Einsätze für die Deckenhaken enthielten. Er entnahm die langen Taue mit den Holzringen und holte die Trittleiter, um sie einzuhängen. Ken beschloss, sich zunächst an die Hantelbank zu setzen, nachdem er sich ein bisschen aufgewärmt hatte.   Während er die Gewichte nach oben drückte, seine eigene Kraft spürte, die gleichmäßige Bewegung der Muskeln, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, beruhigte sich sein erhitztes Gemüt langsam wieder. Mit einem letzten, kräftigen Stoß legte er die Stange zurück und kam aus dem Liegen hoch, um noch ein paar Gramm draufzupacken, als sein Blick auf Aya fiel. Der hatte sein Oberteil ausgezogen und machte zwischen den tiefhängenden Ringen Liegestütze. Die Übung war schwieriger als am Boden, weil man ständig die Bewegung des freischwebenden Untergrunds ausgleichen musste, aber Ayas Bewegungen waren kraftvoll und präzise. Auch er schien gerade mit seiner Trainingseinheit fertig zu sein, denn er ließ sich auf die Knie sinken und erhob sich, um die Ringe höherzuziehen. Ken nickte anerkennend. „Nicht übel. Was hältst du im Anschluss von einer Runde Sparring?“ „Mit oder ohne Waffen?“ Sie hatten hier unten sowohl ein hölzernes Trainigsschwert für Aya, wie auch eine Ausfertigung von Kens Bugnuks, mit festen, kürzeren Krallen aus Holz, die zwar keine Schnittwunden, dafür aber sehr hässliche, blaue Flecken hinterlassen konnten. Nicht unähnlich dem Fleck, der an Ayas linker Seite prangte. Kens Blick blieb daran hängen und seine Augen wurden zunehmend größer, als ihm klarwurde, woher die Verfärbung wohl stammte. Aya sah ihn an und dann an sich herab. Sein Atem stockte kurz, bevor er wortlos nach seinem T-Shirt griff und es über den Kopf streifte. Ken räusperte sich. „Und, wie ist das so?“ Er sah, dass Aya bereits ein 'Das geht dich nichts an' auf den Lippen hatte und fuhr schnell fort: „Ich meine, verliebt sein. Ist es so, wie sie immer alle behaupten?“ Aya zögerte sichtlich, bevor er antwortete. „Keine Ahnung.“ „Also bist du es?“ Aya seufzte. „Warum fragst du das?“ Ken fuhr sich mit der Hand durch den verschwitzten Nacken. „Tja, ich weiß auch nicht. Die Mädchen draußen haben vorhin davon gesprochen und seitdem kriege ich den Gedanken nicht mehr aus dem Kopf. Ich meine, wir sind ja nicht wirklich die netten Typen aus dem Blumenladen. Das kann doch irgendwie nicht klappen, oder? Obwohl ich's mir schön vorstelle. Jemanden zu haben, mit dem man ...“ Seine Stimme verlief sich im Nichts. Er wusste auch nicht, wie es wohl sein würde, mit einem Mädchen zusammenzusein. Heirat, Haus, Kinder, das alles war für ihn einfach nicht vorgesehen. Er war jetzt ein Mitglied von Weiß, dem Strohalm, den Kritiker ihm hingehalten und an den er sich in Todesangst geklammert hatte. Aber hieß das jetzt wirklich, dass er nicht mehr vom Leben verlangen konnte? Dass er nur noch dafür da war, kriminelle Elemente aus dem Weg zu räumen, bis es ihn eines Tages selber erwischte? „Vielleicht solltest du über so was lieber mit Yoji sprechen. Er kennt sich da besser aus.“ Ken lachte bitter auf. „Yoji? Eher würde ich mir die Zunge abbeißen. Der würde die Gelegenheit doch nur dafür nutzen, mich bis in alle Ewigkeit aufzuziehen. Außerdem glaube ich kaum, dass er eine seiner Eroberungen wirklich liebt. Dafür ist er noch zu sehr ...“ Er brach ab. Es stand ihm nicht zu, über Yojis Vergangenheit zu reden oder zu urteilen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz bei Weiß. Sie sprachen nicht darüber, was vor ihrem Eintritt geschehen war. Natürlich wussten sie es, aber man redete eben nicht darüber. Nicht über Ayas Schwester und den Anschlag auf seine Eltern, nicht über Yojis ermordete Partnerin Asuka, nicht über das Komplott, das Ken aus den Höhen der J-League katapultiert hatte; zunächst wegen angeblichen Wettbetrugs und schließlich mit einem Anschlag auf sein Leben, als er versucht hatte, diejenigen zu finden, die für all das verantwortlich waren. Bei Omi schließlich gab es nicht viel zu wissen. Ihm fehlte jede Erinnerung an das, was vor Weiß geschehen war. Manchmal beneidete Ken ihn darum.   Er schüttelte den Kopf. Solche Gedanken konnte er jetzt nicht gebrauchen. Er warf einen Blick auf Aya, der ihn abwartend ansah. „Vergiss das dumme Geschwätz. Die Hitze scheint mir langsam zu Kopf zu steigen. Lass uns lieber mal sehen, ob wir noch nicht eingerostet sind. Die letzte Mission ist immerhin schon eine Weile her.“ „Mit oder ohne Waffen?“, wiederholte Aya seine Frage. „Such du aus ...“, er grinste, bevor er ein „Ran.“ hinterherschob. Ayas Augen wurden schmal. Er schnaubte und zog die Ringe nach oben, ging zu der Kiste und holte etwas heraus. Im nächsten Augenblick flog Ken eine seiner Trainingswaffen entgegen. Er fing sie ebenso wie die zweite und sein Grinsen wurde breiter, als Aya nach dem Bokuto griff. „Du glaubst doch wohl nicht, dass ich jetzt Angst bekomme, oder?“ Ayas Mundwinkel zuckten. „Nein, dazu braucht es schon eine Horde kleiner Schulmädchen, damit der große Siberian sich fürchtet.“ „Du Hund!“, grollte Ken und streifte die Bugnuks über. „Dann lass mich dir mal zeigen, wo der Tiger seine Krallen hat.“ Aya ging leicht in die Knie und hob das Schwert. „Mit dem größten Vergnügen.“       Nagis Finger klapperten auf der Tastatur des Laptops, während seine Augen über den Bildschirm huschten. Die meisten seiner Installationen auf dem „Spielfeld“ waren funktionsfähig und mussten nur noch bestückt werden, aber im nördlichen Sektor gab es Probleme mit der Funkverbindung. Die großen Kühlwassertanks dort verhinderten die korrekte Übertragung. Er würde noch weitere Transponder platzieren müssen oder eine Aufrüstung der Kandidaten in dieser Zone würde nicht funktionieren. Er runzelte die Stirn und betätigte den Sendeknopf an seinem Headset. „Ich will noch zwei weitere Sender auf den Gebäuden E5 und 7. Halbe Stunde.“ Der Techniker bestätigte und Nagi sah zu, wie sich sein Signal auf dem Bildschirm in die entsprechende Richtung bewegte. Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. Immerhin das klappte inzwischen reibungslos. Anfangs hatten sich die Männer noch dagegen gewehrt, sich von einem „Jungen“ herumscheuchen zu lassen, aber nachdem Hirofumi ihnen unmissverständlich klargemacht hatte, dass sich jeder, der sich Nagis Anweisungen widersetzte, auf dem Grund des Flusses wiederfinden würde, waren die Proteste verstummt. Er tippte noch ein paar Zahlen ein und wechselte dann die Ansicht zur Video-Überwachung. Auch hier hatte er das Netz enger gezogen, die Kameras verbessert und mit Mikrofonen ausgestattet. Alles, was dort unten passierte, konnte jetzt live in Ton und Bild auf die Bildschirme im Vorführraum gelegt werden. Bewegungsmelder sorgten dafür, dass den Gästen auch kein Spektakel entging. Es war perfekt.   Nagi lehnte sich zurück und faltete die Arme hinter dem Kopf zusammen. Ja, es war wirklich perfekt. Hirofumi hatte bereits mehrmals ausgedrückt, wie zufrieden er mit Nagis Arbeit war. In dieser Beziehung war er so ganz anders als sein Vater. Ein Geräusch ließ Nagi auffahren. Draußen vor der Tür waren Stimmen und Schritte zu hören. Jemand hatte den Vorraum betreten. Er lauschte. Einer von ihnen war offensichtlich Masafumi, aber wer war bei ihm? „Siehst du, meine Kleine, hier wird heute Abend die große Vorstellung stattfinden. Viele wichtige Männer werden kommen und sich die Arbeit deines Papas angucken. Was meinst du? Wird es ihnen gefallen?“ „Natürlich, Papa“, antwortete eine helle Stimme. „Guck mal, Herr Kaninchen. Lauter Fernseher. Du magst Fernsehen, oder?“ Nagi hörte weitere Schritte und spannte sich unwillkürlich an. „Dürfen Herr Kaninchen und ich auch zusehen? Oh bitte?“ „Das dürft ihr, wenn du den Kopfschmuck aufsetzt, den ich dir geschenkt habe. Du weißt, was passiert, wenn du ihn nicht trägst.“ „Ja, aber … ich bekomme Kopfweh davon. Er ist so schwer und so hässlich. Ich mag ihn nicht. Er passt nicht zu dem Kleid, dass die hübsche Frau mitgebracht hat.“ „Er sorgt dafür, dass du keine Angst hast, mein Engelchen. Und wenn du Angst hast, dann werde ich auch ganz traurig. Ich möchte, dass du glücklich und strahlend bist.“ Die helle Stimme wurde ein wenig leiser. „Natürlich Papa. Ich werde ihn aufsetzen.“ Die Schritte kamen noch näher. „Was ist da drin?“ Noch bevor Nagi reagieren konnte, wurde die Klinke heruntergedrückt und die Tür aufgestoßen. Im Türrahmen stand ein Mädchen mit langen, blauen Haaren. Sie sah ihn erschrocken an. Im Arm hielt sie ein rosafarbenes Plüschkaninchen. „Papa, hier ist jemand.“ Masafumi trat hinter ihr durch die Tür. „Ah, Nagi, kommst du gut voran?“ Er legte den Arm um die Schultern des Mädchens. „Du musst dich nicht fürchten, Nanami. Nagi arbeitet für mich. Er ist ein netter Junge.“ Zweifel standen im Gesicht des Mädchens, das sich an Masafumi drückte und Nagi aus großen, blauen Augen musterte. Er hätte gerne etwas gesagt, dass sie beruhigte, aber ihm fiel absolut nichts ein. Also drehte er sich wieder zu seinem Bildschirm herum. „Die Vorbereitungen sind fast abgeschlossen. Ich werde gleich jemand losschicken, der die Kammern befüllt. Sollen wir alle ausrüsten oder nur die Versorgungsboxen?“ Masafumi überlegte kurz. „Nimm auch ein paar von den Waffen dazu. Ich glaube zwar nicht, dass die heutigen Kandidaten damit etwas anfangen können, aber wäre es nicht lustig, sie in der Illusion zu belassen, dass es so ist?“ Nagi sah kurz auf und las in Masafumis spitzen Zügen echte Verachtung. Wer auch immer sich heute Abend auf dem Spielfeld wiederfand, hatte offensichtlich seinen Ärger erregt. Normalerweise kümmerte sich Hirofumi um die Beschaffung der Jagdbeute, indem er Freiwillige auf der Straße anwarb. Er fand, dass die den besseren Kampf lieferten. Nagi war das vollkommen gleichgültig. Es würde sowieso keiner von ihnen überleben. „Gut, ich werde ein paar kleinere Schusswaffen einlagern lassen. Nichts allzu kompliziertes.“ Er überlegte kurz und fügte hinzu: „Halbe Munition?“ Masafumis Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. „Das ist eine gute Idee. Du überraschst mich immer wieder. Mach es so, Nagi. Nanami wird sich sicherlich freuen, ein paar von ihren alten Spielkameraden wiederzusehen. Meinst du, sie kann die Übertragung hier bei dir mitverfolgen? Es wäre unangebracht, wenn sie bei den Gästen meines Vaters sitzen würde.“ Nagis Magen machte einen überraschten Hüpfer. „J-ja natürlich. Ich werde ihr alles zeigen.“ Masafumi sagte noch etwas, aber Nagis Aufmerksamkeit war bereits wieder zu den Vorbereitungen für den heutigen Abend gewandert. Seine Finger flogen über die Tastatur. Es musste perfekt werden. Es musste einfach.         Kapitel 17: Bestien ------------------- Das Schwert krachte gegen Kens Unterarm. Er blockte den Schlag, ignorierte den Schmerz und hieb mit der anderen Kralle nach Ayas ungeschützter Seite. Der wich aus, Ken stolperte vorwärts, ließ sich fallen und trat aus der Bewegung heraus nach Ayas Beinen. Seine Ferse traf die Kniekehle und Aya ging mit einem Ächzen zu Boden. Sofort war Ken hinter ihm und hielt die hölzernen Krallen an seine Kehle. Er keuchte und schwitzte. Die salzige Flüssigkeit rann in seine Augen, sein Herz hämmerte wie wild gegen seinen Brustkorb. „Du hast verloren“, brachte er hervor und schluckte. Seine Kehle fühlte sich an wie ausgedörrt. Aya, der ebenfalls schwer atmete, ließ das Schwert sinken und entspannte den Körper. „Okay, damit steht es fünf zu drei. Für mich.“ Ken trat einen Schritt zurück und ließ Aya aufstehen. Er fuhr sich mit dem Arm über das Gesicht, erreichte damit aber nur, dass der Schweiß gleichmäßig verteilt wurde. Er nahm kurzerhand sein T-Shirt zur Hilfe, das nur noch aus dunklen Flecken zu bestehen schien. „Na los, raff dich auf, alter Mann. Ich hab noch was auszugleichen.“ Aya lachte. „Alter Mann? Ich bin grad mal anderthalb Jahre älter als du.“ „Siehst du?“, grinste Ken. „Sag ich ja. Alter Mann! Also was ist jetzt mit meiner Revanche?“ „Wenn du noch nicht genug davon hast, dich von mir verprügeln zu lassen.“ Aya hob das Schwert. „Nur zu.“   Ken wollte sich in die Ausgangsposition begeben, als die Tür aufging und Omi den Kopf hineinsteckte. „Ach hier seid ihr. Yoji macht gerade oben zu. Birman ist da.“ Er wollte schon wieder gehen, als er noch einmal in den Raum zurückkam. Er atmete kurz durch und setzte dann hinzu: „Vor einer Mission solltet ihr euch nicht so verausgaben. Ich erwarte, dass ihr heute Abend fit seid. Aya, kühl das Knie und Ken, hol dir eine Bandage für deinen Knöchel. Wer versagt, bekommt ne Reise in ner großen Holzkiste geschenkt.“ Damit drehte er sich um und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Ken ließ ein Zischen hören. „Also so gern ich Omi ja hab, aber Bombay ist ein echter Sklaventreiber.“ Aya strich mit dem Daumen über die Schneide des Bokuto. Es hatte Risse bekommen und an mehreren Stellen wies das Holz Kratzspuren von Kens Krallen auf. Noch ein paar Schläge und es würde vollkommen zersplittern. „Aber er hat Recht“, sagte er. „Wir haben es wirklich übertrieben. Wie geht’s deinem Arm?“ „Gut“, antwortete Ken und zog den Handschuh aus. Die Haut, die darunter zum Vorschein kam, begann sich bereits blau zu färben. Ayas letzten Hieb hatte auch der Handschuh nicht vollkommen abfangen können. „Tu was von der Salbe drauf, die ich in den Verbandskasten getan habe. Ich sage den anderen, dass du gleich kommst.“ Ken wollte aufbegehren, aber als er seinen Arm mit der anderen Hand umfasste, sog er scharf die Luft ein. „Okay, ich geh mich dann mal einschmieren. Ich bring dir ein Eispack mit.“ Aya nickte und nahm sich im Rausgehen ein Handtuch von einem Regal neben der Tür. Er trocknete sich die Haare und legte sich den Stoff dann über die Schultern, während er zum Missionsraum ging, wo Omi und Birman bereits auf ihn warteten. Er grüßte Birman mit einem knappen Nicken, das die junge Frau mit einem Lächeln beantwortete. Yoji kam kurz nach ihm und ließ sich in einen der betagten Sessel fallen. Er griff nach seinen Zigaretten und legte sie betont sorgfältig auf den Tisch. Sein Blick bohrte sich in Ayas. 'Ich hatte nicht mal Zeit, eine zu rauchen, weil ihr euch verpisst habt.' 'Rauchen ist ungesund', schoss Aya zurück. Yoji hielt seinem Blick einen Augenblick lang stand, dann wandte er sich Birman zu. „Entschuldige, dass ich dir heute nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenken kann. Ich wurde schmählich im Laden allein gelassen und jetzt bin ich vollkommen überarbeitet.“ Birman schenkte auch ihm ein Lächeln. „Ich bin mir sicher, du wirst dich erholen, Yoji.“ „Oh, ich hätte da schon eine Idee. Du und ich. Eine Woche Hokkaido? Wie sieht's aus?“ Birman strich sich die halblangen, dunklen Haare hinter das Ohr und ihr Lächeln wurde noch eine Spur süßer. „Ich habe eine bessere Idee. Du machst deinen Job und ich jage dir keine Kugel in den Kopf.“ Yoji grinste breit und seufzte. „Ich wusste es. Sie liebt mich. Bestellt schon mal die Blumen, Jungs.“ „Für was? Deine Beerdigung?“ Ken stolperte die Treppe hinunter und warf Aya ein Kühlpack zu. Der fing es auf und presste es wie angewiesen auf sein Knie, das tatsächlich leicht angeschwollen war. Eine dumme Verletzung, die ihn beim Laufen behindern konnte. Er war wirklich zu leichtsinnig gewesen.   „Also schön, wenn dann alle anwesend sind?“ Birman wedelte mit der Videokassette in ihrer Hand. „Hier ist euer neuer Auftrag.“ Sie startete die Aufnahme und der Bildschirm an der Wand erwachte zu flackerndem Leben. Die Silhouette eines Mannes wurde sichtbar. Sein Gesicht lag im Schatten und man konnte wenig mehr als die Umrisse vor dem hellen Hintergrund ausmachen. Der Stimme nach, die jetzt zu sprechen begann, tippte Aya auf einen Mann mittleren Alters. „Weiß, wir haben eine neue Aufgabe für euch. Euer Ziel ist Isamu Hibino. Hibino ist Leiter eines örtlichen Waisenhauses. Er steht im Verdacht, immer wieder Kinder an Menschenhändler weitergereicht zu haben. Einige der früheren Insassen des Heims sind jetzt wieder aufgetaucht.“ Auf dem Bildschirm erschienen Fotos von Jungen im Alter von etwa 14 bis 17 Jahren. Ihre Körper wiesen Verletzungen in einem Bereich auf, der vier Personen im Raum aufkeuchen ließ. Persers Stimme fuhr ungerührt fort: „Allen Opfern wurden die Testikel entfernt. Dabei wurde mit chirurgischer Präzision vorgegangen. Einige der Opfer wiesen auch Verletzungen im Rückenbereich auf, die darauf hinweisen, dass hier Knochenmark entnommen wurde. Zu welchem Zweck ist bisher noch unklar. Fest steht jedoch, dass Hibino mit den Tätern zusammengearbeitet und somit den Tod dieser Unschuldigen mitverschuldet hat. Männer von Weiß, zieht diese Bestie zur Rechenschaft.“   Der Bildschirm erlosch und Ken schaltete das Licht wieder an. Wenn Aya sich in der kalten Beleuchtung des Kellers nicht täuschte, war er ein wenig grün um die Nase. „Wer zur Hölle macht so was?“, ereiferte sich auch Yoji. „Das ist doch krank.“ „Vielleicht nicht.“ Alle Anwesenden drehten sich zu Omi um. Ihr Jüngster hatte die Stirn in Falten gelegt und schien scharf nachzudenken. „Wir hatten im letzten Halbjahr Genetik in der Schule. Es gibt da eine ganze Menge Entwicklung im Bereich der Stammzellenforschung. Und die werden am effektivsten aus Rückenmark gewonnen.“ „Ähm, Omi, ich weiß nicht, ob du's mitgekriegt hast, aber die haben diesen Jungs die Eier abgeschnitten.“ Ken war anscheinend immer noch vollkommen fassungslos. „Nein, das stimmt nicht.“ Omi griff nach einem Foto und hob es hoch. Ein dreikehliges Stöhnen antwortete ihm. „Seht ihr? Sie haben nur das Innere entfernt. Es ging also nicht um das Abnehmen, sondern um das Entnehmen. In den so gewonnenen Drüsen werden die Keimzellen gebildet. Quasi die Vorstufe von Stammzellen.“ Er legte den Zeigefinger an die Nase. „Birman, wurden auch Mädchen entführt?“ „Nicht, dass wir wüssten.“ „Mhm, das macht noch mehr Sinn. Aus den Eierstöcken ließen sich lediglich weibliche Keimzellen gewinnen. Um männliche zu bekommen, benötigt man ... nun ja.“ Er warf noch einen Blick auf das Foto und verzog das Gesicht.   Birman sah von einem zum anderen. „Ich nehme an, dass ihr alle dabei seid?“ Yoji rührte sich als Erster. „Normalerweise würde ich ja ablehnen. Um irgendeinen alten Sack, der sich an kleinen Jungs vergreift, um die Ecke zu bringen, braucht man keine vier Leute. Aber das hier geht mir definitiv gegen die Ehre. Ich bin also dabei.“ „Ich auch!“, schloss sich Ken an. „Ich komme auch mit.“ Omi starrte immer noch auf das Foto. „Ich möchte mich da umsehen und schauen, ob wir Hinweise auf die Hintermänner finden. Das ist doch in Persers Sinne, oder Birman?“ Die Sekretärin nickte. „Ich denke, das geht in Ordnung. Ich kläre das aber noch mit ihm ab.“ Ihr Blick richtete sich auf Aya. „Was ist mit dir?“ Aya dachte an sein Knie. Wenn er es überlastete oder gar unglücklich fiel, konnte er sich schwere Verletzungen zuziehen. Vielleicht sogar bleibende Schäden riskieren. Am klügsten wäre es, das Bein mindestens zwei Tage zu schonen, bis die Schwellung wieder abgeklungen war. Er warf einen Blick auf Omi. Der Junge taxierte ihn vollkommen ausdruckslos. „Ich bin dabei“, sagte er und verlagerte das Kühlpack. „Gut“, lächelte Birman. „Dann sind alle entlassen. Alle bis auf Aya.“   Er gefror in der Bewegung, mit der er schon hatte zur Treppe gehen wollen. Er hatte es gewusst. Die anderen liefen an ihm vorbei. Ken machte ein finsteres Gesicht, Yoji klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und Omi warf ihm einen entschuldigenden Blick zu, bevor er hinter den anderen herhastete. Aya seufzte innerlich und drehte sich zu Birman um. Sie sah ihn freundlich an. „Wenn du dich bitte setzen könntest?“ „Und wenn ich lieber stehe?“ Birman geriet nicht außer Fassung. „Das hier muss kein unangenehmes Gespräch werden. Ich möchte nur ein wenig mit dir plaudern.“ Aya sah ein, dass er sich in keine gute Position brachte, wenn er sich stur stellte. So setzte er sich widerwillig auf das Sofa, während Birman sich auf den Platz gleiten ließ, den Yoji gerade noch innegehabt hatte. Aya fragte sich, ob er wohl noch warm war. Und ob er Yoji das nachher erzählen sollte. Der Playboy würde garantiert ziemlich dumm aus der Wäsche gucken.   Birman strich ihr kurzes Kleid glatt. Ihre Finger glitten über die durchgehende Knopfleiste und falteten sich schließlich auf ihren Knien übereinander. Braune Augen musterten Aya fragend. „Du weißt, worum es geht?“ „Nein“, log er. Natürlich wusste er, worum es ging, aber er wollte es von ihr hören. „Mir wurde zugetragen, dass du neuerdings eine … Beziehung unterhältst. Ist das korrekt?“ „Zugetragen? Von wem?“ Fragespielchen konnte er auch spielen. „Das ist nicht von Belang.“ Er schüttelte den Kopf. Das war so albern. Er hatte keine Lust, um den heißen Brei herumzureden. „Es ist Omi, hab ich recht? Er erstattet über alles Bericht, oder? Auch darüber, was wir morgens frühstücken und wie lange wir duschen?“ Birman lächelte freundlich. „Nein, aber wenn du selbst einen entsprechenden Bericht einreichen möchtest?“ Aya schwieg. Birman seufzte. „Aya, es geht hier lediglich um Fragen der Sicherheit. Das verstehst du doch.“ Natürlich verstand er. Was gab es da nicht zu verstehen? Er war nicht einmal wütend auf Omi. Er hätte an seiner Stelle genauso gehandelt. Weiß bewegte sich außerhalb des Gesetzes. Im Grunde waren sie nicht viel besser als die Verbrecher, die sie zur Strecke brachten. Zumindest wenn man es von Seiten der Justiz betrachtete. Wenn irgendwas von dem, was hinter der Fassade des Koneko vorging, nach außen drang, waren sie alle geliefert. Und Birman hatte bei seiner „Einstellung“ keinen Hehl daraus gemacht, dass Kritiker sie in dem Fall fallen lassen würde. Bei dem Drahtseilakt, der sich Weiß nannte, gab es kein Netz. Nur seine eigenen Fähigkeiten und die seines Teams. Eine Schwachstelle im Team bedrohte ihr aller Leben. Aber trotzdem … „Hast du einen Freund, Birman? Und Perser? Ist er verheiratet? Frau und Kinder? Was ist mit Manx? Mit all den anderen Mitarbeitern von Kritiker? Dürfen die auch alle kein Leben haben?“ Er war mit jedem Wort lauter geworden und hatte sie am Ende angeschrien. Sie hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. „Diese Informationen stehen dir nicht zu. Du bist ...“ „Eine Waffe!“ Er spuckte ihr die Worte vor die Füße. „Viel mehr seht ihr doch nicht in uns.“ Der verständnisvolle Ausdruck, der jetzt auf ihre Zügen trat, gefiel ihm nicht. „Denkst du das wirklich? Das wir uns nicht um euch kümmern? Dass ihr uns egal seid?“ Er antwortete nicht. Seine Augen begannen zu stechen und er wollte das nicht. Er wollte wütend auf sie sein. „Warst du mal wieder bei deiner Schwester? Gefällt dir das neue Krankenhaus?“ „Aya hat nichts damit zu tun.“ Wut. Auch auf sich selbst, weil er Aya vernachlässigt hatte. „Ach nein? Ich dachte, sie wäre das Wichtigste auf der Welt für dich. Der Grund, warum du hier bist. Hast du das vergessen?“ Ja, das hatte er. Er hatte sich ein rosarotes Wolkenluftschloss gebaut und die Tür fest hinter sich zugemacht, damit nichts von diesem Leben dorthin hinüberschwappte. Aber die Flut stand vor den Toren und drohte, sie einstürzen zu lassen. Er schluckte schwer.   Eine warme Hand legte sich auf seine. Er sah auf und Birman lächelte ihn an. „Wir verlangen nicht, dass du ihn aufgibst. Diese Entscheidung liegt allein bei dir. Aber ich rate dir, sehr vorsichtig zu sein. Du bist ein gefährlicher Mann, Aya. Leute in deiner Umgebung könnten verletzt werden.“ Sie tätschelte noch einmal seine Hand und erhob sich dann. Als sie nach ihrer Tasche griff, öffnete er den Mund. „Birman?“ „Ja?“ „Warum bekommt Yoji solche Vorträge nicht von dir?“ Sie grinste. „Wer sagt, dass er die nicht bekommt?“ Sie winkte ihm noch einmal zu und ließ ihn dann allein. Er sank gegen die Rückenlehne des Sofas und verzog das Gesicht zu einer angeekelten Grimasse. Er war vollkommen durchgeschwitzt, ihm war kalt und er stank. Es wurde höchste Zeit, dass er unter eine Dusche kam. Er würde sich waschen, etwas essen, Tim eine Nachricht schicken, ob sie sich morgen treffen konnten, und dann würde er sein Katana nehmen und ein dunkles Biest zur Strecke bringen. Das mochte nicht das ideale Leben sein, das er sich mal vorgestellt hatte, aber es war sein Leben und das würde ihm niemand wegnehmen.         „Bombay an Abyssinian. Hast du Sichtkontakt?“ Aya zuckte zusammen und griff sich ans Ohr, um die Lautstärke des Kommunikators runterzuregeln. „Abbyssinian?“ „Ja, ich sehe ihn. Er ist in seinem Büro. Allein.“ Diese Mission war ein Witz. Es hatte lediglich am Eingang des eingezäunten Geländes eine Sicherheitskamera gegeben, die Yoji ohne Probleme mithilfe seiner Waffe heruntergeholt hatte. Eine Drahtschere hatte kurzen Prozess mit dem Zaun gemacht und jetzt hockte Aya im Schatten eines rechteckigen Gebäudes, dessen dunkle Fenster auf einen asphaltierten Platz hinuntersahen. Es gab einen windschiefen Basketballkorb, der kein Netz mehr hatte, und im trüben Zwielicht waren die Gerippe von zwei Fußballtoren erkennbar. Eine rostige Schaukel bewegte sich leicht im aufkommenden Wind. Er brachte kühlere Luft und plötzlich begann es zu regnen. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Von einem Augenblick auf den anderen waren der Platz und die Gebäude hinter einem grauen Vorhang aus Wasser verschwunden. Selbst das Licht im Büro des Heimleiters erschien nur noch als trübes Flackern in der Nacht. „Kommt schon, Leute. Zugriff jetzt. Wenn ich hier noch eine Minute länger stehe, bin ich durchgeweicht bis auf die Haut.“ „Reiß dich zusammen, Siberian.“   Es knackte im Lautsprecher und Aya wusste, dass Ken sein Headset abgeschaltet hatte. Er biss die Zähne zusammen und fasste den Haltegriff seiner Schwerttasche fester. Mit huschenden Schritten überquerte er den Hof und drückte sich neben dem Eingang des Bürogebäudes an die Wand. Auf der anderen Seite der Treppe, die in das Gebäude hineinführte, bewegte sich etwas. „Aya, bist du das?“ Ken. Natürlich. „Was soll das? Warum hast du deinen Kommunikator abgeschaltet?“ Aya war erstaunt, wie ärgerlich er klang. Wasser begann, in den Kragen seines Mantels zu laufen. Das Material sog sich langsam mit Wasser voll. „Weil das hier total albern ist. Los, lass uns reingehen und das Schwein umbringen und dann nichts wie ab nach Hause. Ich hol mir hier doch nicht den Tod.“ Kens Umrisse schälten sich aus dem Regen. Er war ebenso wie Aya total durchnässt, seine Haare klebten an seiner Stirn und das orangefarbene Hemd, das er um die Hüfte geknotet hatte, hing wie ein nasser Lappen herunter. Er schüttelte den Kopf wie ein Hund, bevor er nach der Türklinke griff. Sie ließ sich ohne Widerstand herunterdrücken und die Tür schwang nach innen auf. Ken grinste. „Bitte nach Ihnen.“ Aya schnaubte und schlüpfte durch die dunkle Öffnung. Ken folgte ihm und schloss die Tür wieder. Vor ihnen lag ein unbeleuchteter Gang, an dessen Ende ein wenig Licht unter einer Tür hervor schien. Das Büro des Heimleiters. Aya nahm die längliche Tasche von seinem Rücken, öffnete den Reißverschluss und holte das Katana heraus. Er legte die Tasche auf den Boden und nickte Ken zu. In der knappen Beleuchtung konnte man gerade noch ihre Umrisse erkennen. Ohne einen Laut zu verursachen, schlichen sie bis zur Tür. Ken zählte an den Fingern einen Countdown von drei, dann stürmten sie beide gleichzeitig hinein. Drinnen erwartete sie das totale Chaos. Überall lagen Papiere herum, Schranktüren standen offen, die Schubladen einer Kommode waren herausgezogen und auf dem Boden verteilt worden. Inmitten dieser Unordnung stand ein Mann. Er war etwa Anfang 50, untersetzt, schütteres Haar und eine Brille mit runden Gläsern, die sein Gesicht noch feister wirken ließ. In seiner Hand hielt er eine Pistole. „Siberian, Vorsicht!“ Ken ging sofort in Kampfhaltung und auch Aya fasste sein Katana fester. Der Mann starrte sie aus großen Augen an. „W-wer seid ihr? Was wollt ihr hier?“ In diesem Moment erwachte Ayas Kommunikator wieder zum Leben. „Abyssinian? Ist Siberian bei dir? Er hat sein ...“ Aya legte die Hand an sein Ohr. Dabei ließ er den Mann nicht aus den Augen. „Ja, er ist bei mir. Haben die Zielperson gestellt.“ „Z-Zielperson?“ Der Man sah zwischen ihnen hin und her. An die Waffe in seiner Hand dachte er offensichtlich gar nicht. Er war kein Kämpfer. Eher der Typ Mitläufer, zu schwach, um den Mächtigen die Stirn zu bieten. Also zog er den Schwanz ein und hielt den Kopf unten, um nur ja nicht aufzufallen. Aya begann sich zu fragen, wie ausgerechnet er ins Visier von Kritiker gekommen war. „Isamu Hibino?“ Der Mann nickte. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Er war weiß wie die Wand. „Wir sind gekommen, um der Gerechtigkeit genüge zu tun. Du hast diejenigen ausgeliefert, die dir zum Schutz unterstellt waren. Jetzt wird dich das gleiche Schicksal ereilen wie sie.“ „A-aber … er hat doch gesagt, mir würde nichts geschehen. Er hat Nanami mitgenommen. Meine süße, kleine Nanami. Er hat gesagt, wenn ich sie ihm gebe, wird mir nichts passieren.“ „Komm, schon, Aya. Lass uns diesen winselnden Hund erledigen und dann nichts wie nach Hause.“ Ken ließ seine Krallen aufschnappen und der Mann ließ vor Schreck seine Waffe fallen. Er schlug die Arme vors Gesicht und begann zu wimmern. „Ich habe doch alles getan, was er wollte. Warum schickt er euch dann?“ Aya hob die Hand als Zeichen an Ken, dass der noch warten sollte. „Wer glaubst du, schickt uns?“ „Masafumi. Masafumi Takatori.“ Aya hatte das Gefühl, geschlagen worden zu sein. „Taka...tori?“ „Ja! Er war es doch, der mich zu diesen schrecklichen Dingen überredet hat. Er hat mir Geld versprochen. Hat gemeint, es würde endlich wieder Ruhe einkehren, wenn er sich um ein paar der Störenfriede hier kümmern würde. Aber er kam immer und immer wieder. Und jetzt hat er meine kleine Nanami mitgenommen. Meinen Augenstern.“ Ayas Hand schloss sich fester um den Griff seines Schwerts. Takatori. Er hatte geschworen, diesen Mann zu vernichten. Ihn, seine Familie, alle, die er je gekannt oder geliebt hatte. Und dieser Mann, der jetzt auf die Knie fiel mit Tränen in den Augen, er hatte mit einem Takatori Geschäfte gemacht. Aya löste mit dem Daumen das Katana aus der Scheide. „Meine süße, kleine Nanami. Sie war mein Ein und Alles und er hat sie einfach mitgenommen. Ohne sie ist mein Leben so traurig und leer.“ Hibino begann nun wirklich zu weinen. Die Tränen quollen hinter der Brille hervor, die prompt beschlug, und der Rotz lief ihm aus der Nase. Er widerte Aya an. Ein erbärmlicher, kleiner Mann. Ayas Blick fiel auf den Schreibtisch. Dort stand ein Foto eines jungen Mädchens. Sie musste etwa im Alter seiner Schwester sein. Ein wenig scheu sah sie in die Kamera und drückte ihr Plüschtier an sich. „Nanami, oh, warum hat er dich mir genommen?“ Die Waffe lag immer noch vor Ayas Füßen. Er sah von ihr zu dem schluchzenden Hibino und verstand. Langsam ließ er das Katana wieder sinken. Dieser Wurm verdiente es nicht, durch seine Hand zu sterben. Er verdiente es, zu leben und sich seiner Schuld immer und immer wieder bewusst zu werden, wann immer er an die Tochter dachte, die er durch seine eigenen Taten verloren hatte. Solange bis er es endlich schaffte, seinem erbärmlichen Dasein selbst ein Ende zu setzen. „Sie hatte so wunderbar duftendes Haar, so weiche Haut. So schöne, weiche Haut. So weich ...“ Aya gefror das Blut in den Adern. Sein Magen krampfte sich zusammen. Mit einem Schrei riss er das Katana aus der Scheide und hieb zu. Blut spritze und Hibino kippte wie ein gefällter Baum nach vorn. Aya atmete durch den Mund, versuchte die Übelkeit zu bekämpfen, die seine Kehle hinaufkroch. Er würde sich nicht übergeben. Nicht übergeben …   „Aya?“ Ken zögerte sichtlich, ihn anzufassen. Seine Hand schwebte auf halben Weg zwischen ihm und Ayas Arm. Vorsichtig zog er sie wieder zurück. „Alles in Ordnung?“ Atmen. Nicht übergeben. „Ja. Verschwinden wir.“ „Aber Omi wollte doch ...“ „Wir werden hier nichts finden. Hibino hat uns alles gesagt, was wir wissen müssen.“ Er sah noch einmal auf die Leiche, die Gesicht voran in einer größer werdenden Blutlache lag. Takatori.           „Hey, Nagi. Der Big Boss wird langsam ungeduldig. Sieh zu, dass du das in den Griff kriegst.“ Nagi lag ein 'Fick dich, Schuldig!' auf den Lippen, aber er beherrschte sich und würdigte den Deutschen in der Tür keines Blickes. Seine Finger flogen über die Tastatur seines Laptops. Das war jetzt schon der dritte, fehlgeschlagene Reboot. Er bekam einfach kein Bild rein. Ihm war danach, irgendetwas zu werfen. „Geht es jetzt los?“ Die Stimme des Mädchens neben ihm war nicht im Geringsten beeindruckt. Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie saß auf einem Klapptstuhl und hatte ein entzückendes, hellblaues Rüschenkleid an. Ihre Haare waren zu einer festlichen Frisur hochgesteckt und das Einzige, was das Bild nachhaltig trübte, war das Metallgestell, das mit breiten, schwarzen Riemen an ihrem Kopf befestigt war. Es erinnerte Nagi an eine dieser überdimensionierten Zahnspangen, die man manchmal im Fernsehen sah. An der Seite des Gestells saß ein kleiner Kasten mit einer grünen Blinkleuchte. „Nein, ich … es gibt technische Schwierigkeiten.“ „Oh. In Ordnung. Dann warte ich noch.“ Sie baumelte mit den Beinen und sah sich im Raum um. Es war wirklich erstaunlich, wie sehr sie sich von dem Mädchen unterschied, das er heute Morgen getroffen hatte. Sein Blick streifte Farfarello, der wie ein böser Geist in einer Ecke des Raumes hockte und dort was auch immer tat. Solange er Nagi nicht störte, war es ihm egal. Er drückte ein paar weitere Tasten. „Es funktioniert nicht. Etwas an der Hardware scheint dem Regen zum Opfer gefallen zu sein. Ich muss einen Techniker da rausschicken.“ Er betätigte den Sendeknopf am Mikrofon seines Headsets. „Ich will jemand am Sendeturm im östlichen Bereich. Von dort kommt nur noch Ton, aber kein Bild. Ajino oder Shiba sollen das machen.“ Es knackte und rauschte, dann endlich eine Antwort. „Ajino ist schon nach Hause gegangen und Shiba muss die Stromversorgung überwachen. Wenn ich ihn abziehe, stehen wir vielleicht gleich alle im Dunkeln.“ Nagi knirschte mit den Zähnen. „Dann schickt einen anderen. Egal. Irgendwer muss da raus.“ „Aber … das Spiel hat doch schon angefangen.“ „Das ist mir verdammt nochmal egal. Kriegt diesen Turm zum Laufen!“ Er hätte heulen können. Hier ging gerade alles den Bach runter. Takatori würde ihm die Hölle heiß machen. Irgendeiner von ihnen auf jeden Fall. Oder alle drei. Alles nur wegen des verdammten Wetters. Die Tür öffnete sich erneut und Schuldig kam herein. „Da draußen ist echt dicke Luft. Erst die Enttäuschung, dass die Hälfte der Kandidaten heute aus Kindern besteht, dann sind nur drei Jäger unterwegs und jetzt gibt es nicht mal Bild zum Ton? Das ist unterirdisches Entertainment.“ „Und was soll ich deiner Meinung nach dagegen tun?“, fauchte Nagi und wies anklagend auf den Bildschirm. „Von hier aus bin ich machtlos. Wir müssen warten, bis der Techniker ...“ Es knackte in seinem Headset. „Naoe-san, Akagawa hier. Ich bin auf dem Weg zum Turm.“ Nagi hätte sich am liebsten mit der Hand gegen die Stirn geklatscht. Akagawa war nicht nur langsam, sondern auch noch fett. Er würde niemals bis zum Sendemast hinaufklettern können. War er denn wirklich nur von Idioten umgeben? Es knackte wieder im Headset. „Äh, ich glaube, da gibt es ein Missverständnis. Ich bin keiner von .. Hey! Hey, nein! Ruf die Köter zurück. Nein!“ Das nächste, was Nagi hörte, war ein lautes Knurren, einen Schrei und ein Geräusch, das ihm den Magen umdrehte. Dann brach die Verbindung ab. Schuldig hob die Augenbrauen. „Da waren's nur noch zwei. Und jetzt? Wenn nicht gleich was passiert, können wir den Abend abblasen. Takatori wird das nicht gefallen. Überhaupt nicht gefallen.“ Nagis Gedanken rasten. Er brauchte diesen Turm. Jetzt. Kurzentschlossen sprang er auf und schmiss das Headset zur Seite. „Ich gehe selber.“ „Was?“ Schuldig schüttelte den Kopf. „Kommt gar nicht in Frage. Die fressen dich bei lebendigem Leib. Und das meine ich wörtlich.“ „Ich begleite ihn.“ Farfarello hatte sich erhoben und musterte die Reflexion der Deckenbeleuchtung auf der Klinge seines Jagdmessers. „Ich wollte mir das Spiel ohnehin lieber aus der Nähe ansehen.“ Schuldig sah zwischen ihnen hin und her. Er schien zu überlegen. „Also schön“, meinte er schließlich. „Aber wenn Nagi was passiert, sorge ich dafür, dass du in ein Kloster eintrittst und dort für den Rest deines Lebens Rosenkränze polierst. Freiwillig.“ Farfarello grinste. „Ich bin mir sicher, Er würde davon nicht begeistert sein.“ Nagi beschloss, die beiden zu ignorieren, und öffnete die Tür zum Nebenraum. Dort saß Takatori mit einigen Geschäftspartnern zusammen und verpestete wie üblich die Luft mit seiner schrecklichen Zigarre. In seiner Hand lag ein schwerer Whiskeyschwenker. Als er Nagi kommen sah, hob er ihn wie ein Szepter. „Bekommen wir nun endlich ein Bild?“ Im Hintergrund erklang ein gurgelnder Todesschrei. „Ich kümmere mich persönlich darum, Takatori-sama“, antwortete Nagi mit einer viel zu knappen Verbeugung und eilte weiter nach draußen. Für solcherlei Höflichkeiten hatte er jetzt keine Zeit.   Vor dem Gebäude empfingen Nagi Sturzbäche aus Wasser, die unbeeindruckt von seinem gerechten Zorn weiter vom Himmel rauschten. Er griff nach einem Werkzeugkoffer und sah sich nach Farfarello um. Der Ire kam gemächlich hinter ihm her geschlendert. „Zu faul zum Laufen“, knurrte Nagi, duckte sich und sprang hinaus in den Regen. Er kam etwa zehn Meter weit, bevor er vollkommen durchnässt war. Der sintflutartige Niederschlag machte das Atmen schwer und behinderte die Sicht. Es war, als würde man durch eine überdimensionale Dusche laufen. Auf dem Boden und in seinen Schuhen staute sich das Wasser. Sie schwappten bei jedem Schritt und gaben ihm das unangenehme Gefühl, durch einen klebrigen Sumpf zu laufen. Er versuchte, sich an den Gebäuden zu orientieren, aber was auf der Karte auf seinem Computer noch so einfach ausgesehen hatte, wurde hier unten zu einer völlig neuen Herausforderung. Das Gebiet war das reinste Labyrinth. An einer Ecke blieb er unentschlossen stehen. „Wir müssen hier lang.“ Farfarello ging an ihm vorbei in die linke Gasse. „Woher weißt du das?“ Der Ire, der schon fast wieder vom Regen verschluckt worden war, drehte sich um und sein eines Auge glühte im Dunkeln. „Das nennt sich Instinkt.“ Ärgerlich fasste Nagi die Tasche fester und folgte Farfarello in die angegebene Richtung. Es dauerte nicht lange, bis in der Ferne endlich der Sendeturm auftauchte. Er stand auf dem Dach eines Gebäudes und war nur durch eine schmale Feuerleiter zu erreichen, die an der Außenseite emporführte. Unter dem Einstieg der Leiter lag ein unförmiges Etwas. Und über dem Etwas … „Scheiße!“, rutschte es Nagi heraus und der Hund, der sich gerade noch an Akagawas Überresten gütlich getan hatte, hob knurrend den Kopf. Von seinem Kiefer tropfte das Blut.   „Ah, ich wusste doch, das noch mehr kommen würden. Gut.“ Ein Schatten sprang von einem der nahen Dächer herunter. Nagi erkannte den Führer der Hunde wieder. Er atmete auf. „Wir sind hier, um den Sendeturm zu reparieren. Also pfeif die Köter zurück.“ Der Mann mit der Maske reagierte nicht. Nagi sah den zweiten Hund hinter ihm auftauchen. Der Rückenkamm des Tiers war drohend aufgerichtet und seine langen Krallen klickten auf dem Untergrund. Zumindest bildete sich Nagi ein, das Geräusch im Rauschen des Regens zu hören. „Takatori schickt uns. Du wirst mächtig Ärger bekommen.“ „Ach, werde ich das?“ Nagi konnte das Grinsen unter der Maske hören. „Aber ich halte mich doch nur an die Regeln. Hier unten ist das Spielfeld und wer sich auf dem Spielfeld befindet, ist ein Spieler. Und für jeden Spieler, den ich erwische, bekomme ich Geld. So einfach ist das.“ „Wir sind aber keine ...“ Nagi kam nicht weiter, denn Farfarello war zwischen ihn und den Jäger getreten. Er hatte die Faust um den Griff seines Messers geschlossen und den Kopf leicht schiefgelegt. „Er hat gesagt, du sollst die Hunde zurückrufen.“ Der Hundeführer trat einen Schritt vor. „Und wenn ich es nicht tue?“ Hinter ihm schlich ein vierfüßiger Schatten immer näher. „Dann töte ich dich.“ Der Jäger lachte auf. „Dann werden sie dich zerreißen. Ich bin der Einzige, der sie unter Kontrolle hat. Hier drin ...“, er tippte gegen seinen Kopf, „ist ein Implantat, auf das die Viecher reagieren. Wer das nicht hat, hat schlechte Karten.“ Farfarello schien über die Bedeutung der Worte nachzudenken. „Tja, wenn das so ist.“ Mit einer fast nachlässig aussehenden Bewegung schleuderte er das Messer. Es blieb in der Stirn der Maske stecken und spaltete sie in zwei Hälften. Mit einem Röcheln brach der Jäger in die Knie. Die beiden Hunde jaulten gequält auf. Nagi auch. „Bist du verrückt?“, quietschte er und verwünschte seine Stimme und den bekloppten Irren, der mit ihm hier rausgekommen war, gleich mit. „Er hat doch gesagt, dass nur er die Hunde kontrollieren kann.“ Farfarello sah über die Schulter zu ihm zurück. „Er hat gesagt, der Chip kontrolliert die Hunde. Der Chip ist in seinem Kopf. Es war die einfachste Möglichkeit, heranzukommen.“ Nagi starrte Farfarello fassungslos an. Das konnte er nicht ernst meinen. „So funktioniert das nicht, du schwachsinniger … Katholik!“ Es war das Schlimmste, was ihm eingefallen war. Immerhin hatte er schon gehört, wie Schuldig Farfarello so bezeichnet hatte und der daraufhin durchgedreht war. Farfarellos Mund verzog sich zu einem schmalen Lächeln. „Du musst noch viel lernen.“ „Und du musst diese Viecher aufhalten!“ Hinter Farfarello waren die beiden Hunde inzwischen so nahe gekommen, dass Nagi die schrecklichen Einzelheiten erkennen konnte. Das Fell der riesigen Tiere erschien räudig und an einigen Stellen sah er stattdessen Schuppen auf der Haut schimmern. Die rasselnden Rückenstacheln waren hoch aufgerichtet und die Pranken mit den langen Krallen scharrten den Untergrund auf. Am schlimmsten jedoch war das Gesicht. Was einst edel erscheinende Rassetiere gewesen sein mochten, wirkte jetzt wie einem Alptraum entstiegen. Die Kiefer waren vollkommen deformiert von der schieren Anzahl an messerscharfen Reißzähnen, die widernatürlich hineingepresst worden waren. Nagi hatte nicht viel Ahnung von Tieren, aber das hier sah ihm nicht sehr praktisch aus. Es war nicht möglich, die Schnauze zu schließen, sodass beständig Geifer heraustropfte. Infolge dessen waren die Lefzen entzündet und voller Geschwüre. Das Zahnfleisch eiterte und die Nase des einen Hundes war von einer schwärenden Wunde halb zerfressen worden. Sie mussten große Schmerzen haben. 'Was dann auch ihre Laune erklären würde', dachte Nagi bei sich und wunderte sich über sich selbst. Er hatte immer gedacht, seine letzten Gedanken auf dieser Welt würden irgendwas mit Computern oder der Weltherrschaft zu tun haben und nicht mit wild gewordenen Haustieren. „Sie wollen dich.“ Farfarellos Worte waren nicht eben angetan, ihn zu beruhigen. „Warum mich?“ „Raubtiere, die jagen, suchen sich immer das schwächste Opfer aus.“ Nagi wollte etwas darauf antworten, aber er kam nicht mehr dazu. Einer der Hunde schnellte vor und wollte an Farfarello vorbei auf ihn zuspringen. Ein schwerer Stiefel traf das Tier in die Seite und schleuderte es gegen eine Wand. Es jaulte auf, kam aber sofort wieder auf die Füße. Es schüttelte sich und ein tiefes Grollen entstieg seiner Brust. Ungläubig sah Nagi zu, wie sich der Schwanz des Tiers veränderte. Er wurde länger und spitzer, bog sich nach oben und … „Ein Stachel!“, keuchte Nagi. „Der hat einen Stachel. Vorsicht!“ Ohne zu zögern setzte das Tier seine neu gewonnene Waffe ein. Die Spitze seines Schwanzes raste auf Farfarello zu, der im letzten Moment zurücksprang, bevor er durchbohrt wurde. Der Hund setzte ihm nach, schnappte mit dem zähnestarrenden Kiefer nach ihm und drängte ihn so weiter zurück. Das Messer, dass der Ire plötzlich in Händen hielt, erschien Nagi lächerlich klein. Der zweite Hund griff nun ebenfalls in das Geschehen ein. Er näherte sich Farfarello von der anderen Seite, umrundete ihn mit aufgestellten Rückenstacheln und … Nagi erkannte den Fehler in dem Moment, in dem sich der erste Hund wieder zu ihm herumdrehte. Die Tiere hatten sich zielsicher zwischen ihn und Farfarello gesetzt. Während einer von ihnen den einäugigen Mann im Schach hielt, kam der andere langsam wieder auf Nagi zu. Er war ihm schutzlos ausgeliefert. 'Nein, ich will nicht sterben. Ich will nicht. Schuldig, Crawford, irgendwer! Ich will noch nicht sterben.' Er merkte, wie seine Atmung schneller wurde und sein Herz wie wild klopfte. Er schwitzte. Begann zu hyperventilieren. Sein Kopf fühlte sich plötzlich ganz leicht an. Er konnte nicht mehr denken. Die raue Wand drückte sich in seinen Rücken. Irgendwo mussten doch hier Waffen sein. Er hatte doch... Die Behälter! Aber er konnte sie von hier aus nicht öffnen. Eine Sicherheitsmaßnahme, damit die Kandidaten sich nicht selbst bedienten. Er musste … irgendwie... Der Hund vor ihm duckte sich zum Sprung.   „Nagi? Nagi-kun?“ Eine helle Stimme durchbrach den Regen und die Watte in seinem Kopf. Er kannte diese Stimme. „Nagi-kun, bist du hier?“ Schritte näherten sich auf dem Asphalt. Schritte von Absatzschuhen. Der Kopf des Hundes vor ihm ruckte herum. Er stellte die Ohren auf. Seine roten Augen fixierten das neue Ziel, das am Rande des Hinterhofs aufgetaucht war. Es war ein Mädchen in einem blauen Kleid. Nagi wollte schreien. Wollte ihr zurufen, dass sie verschwinden sollte, aber die Angst hatte seine Stimmbänder gelähmt. Er brachte nicht mehr als ein heiseres Krächzen zustande. Hilflos musste er zusehen, wie der Hund von ihm abließ und stattdessen auf Nanami zupirschte. Sie drehte sich zu ihm herum und lächelte. „Ach da bist du. Dieser unhöfliche Mann mit den orangen Haaren hat gesagt, ich solle nicht herkommen, aber ich wollte dir helfen. Du warst so nett zu mir.“ „Lauf!“, flüsterte Nagi, immer noch nicht wieder Herr seiner Stimme. „Lauf weg. Bring dich in Sicherheit.“ Sie hörte ihn nicht. Der Hund kam näher. Im strömenden Regen bewegte er sich auf das Mädchen zu, dessen Kleid und Haare ebenfalls vom Wasser völlig durchweicht waren. Sie sah dem Tier entgegen und blinzelte überrascht. „Oh, wer bist du denn? Ist das dein Hund, Nagi-kun?“ Es war wie ein Unfall. Er wollte den Blick abwenden, aber seine Augen klebten an dem Raubtier, dass sich immer weiter an Nanami heranschob. Sie lächelte und ging in die Hocke. Ihre Züge waren vollkommen entspannt, zeigten keinerlei Furcht. 'Natürlich. Der Transmitter. Das Gerät an ihrem Kopf blockiert ihre Ängste. Sie weiß nicht, in was für einer Gefahr sie schwebt.' Der Hund war jetzt in Sprungreichweite, zögerte aber immer noch, das eigenartige Mädchen anzugreifen. Seine kaputte Nase schnüffelte in ihre Richtung. „Oh, der ist aber niedlich. Na komm her, du Kleiner.“ Sie streckte die Hand aus. Der Hund zuckte zurück, seine Lefzen hoben sich, die Rückenstacheln stellten sich auf und rasselten drohend. Nanami zeigte keinerlei Reaktion. „Na los, komm her“, lockte sie weiter. Sie lächelte. Nagi schloss endlich die Augen. Er konnte es nicht mitansehen. „Ja, siehst du, so ist es fein. Na, du bist ja ein Lieber. Oh, nicht so wild. Du schubst mich ja um.“ Nagi riss die Augen wieder auf. Was er sah, ließ ihn für einen Moment vergessen, wie man atmet. Der Höllenhund schmiegte seine monströse Schnauze an Nanamis Hand und ließ sich von ihr hinter den zerfetzten Ohren kraulen. Sie lachte glockenhell, als er versuchte, sich auf den Rücken zu legen, aber immer wieder umfiel, weil die Stacheln es verhinderten. Er gab gurrende Laute von sich, wälzte sich herum. Seine Pranken schlugen spielerisch durch die Luft. Eine der Krallen erwischte den Kopfschmuck, blieb daran hängen und zog ihn ihr vom Kopf.   In diesem Moment begann Nanami zu schreien.     Kapitel 18: Zerreißprobe ------------------------ Schuldig verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Es fiel ihm schwer, einfach stillzustehen und den Sturm um ihn herum zu ertragen. Einen Sturm, den nur er wahrnahm.   'Dafür werden sie bezahlen! 'Wie kann er es wagen?' 'Ich habe schon so viel investiert. 'Es war nicht meine Schuld. 'Mein Werk mit Füßen getreten. 'Ich darf jetzt nicht scheitern.' 'Unfähige Nichtsnutze!' 'Die Arbeit von Monaten einfach vernichtet.' 'Ich wusste es vorher!' 'Wer wird mir den Schaden ersetzen?' 'Sie hätte sterben können.' 'Es ist immer das Gleiche.' 'Ich sollte sie alle umbringen.' 'Dieser dämliche Hund hat alles vermasselt.' 'Ich hasse es.' 'Warum sagt er denn nichts?'   Schuldig atmete hörbar aus. Er beneidete Farfarello, der in einer Ecke des Raums an der Wand lehnte und die Szene nur beobachtete, obwohl er einer der Gründe war, warum sie hier hatten aufmarschieren müssen. Der andere Grund, saß nass und frierend auf einem der Sessel zusammengesunken und versuchte, sein Zittern zu unterdrücken. Ihm gegenüber stand mit stoischem Gesichtsausdruck und verschränkten Armen Hirofumi Takatori, während sein Bruder Masafumi sich offensichtlich nur schwerlich zurückhalten konnte, sich erneut auf Nagi zu stürzen und ihn kräftig durchzuschütteln.   Ein Monstrum, das winselnd und blutend im strömenden Regen lag, in seiner Seite eine kindskopfgroße Wunde, die die panzerbrechende Munition gerissen hatte. Er beugte sich zu dem sterbenden Tier herunter, das Gesicht vor Wut verzerrt. „Du dämlicher Köter!“, schrie er und trat dem Tier gegen die Schnauze. Es jaulte auf und versuchte nach ihm zu schnappen, aber seine Bewegungen waren langsam und kraftlos. „Was fällt dir ein, die Hand zu beißen, die dich füttert. Du wertloses Stück Abfall." Er fuhr zu einer der Wachen herum und riss ihr den Revolver aus der Hand. Mit einem lauten Schrei eröffnete er dass Feuer und leerte das ganze Magazin in den zuckenden Körper des Tieres, bis es schließlich regungslos liegenblieb. Angewidert warf er die Waffe zur Seite und fuhr zu Nagi herum, der mit weit aufgerissenen Augen am Rand des Platzes kauerte. Mit langen Schritten ging er auf ihn zu und packte den Jungen am Kragen. Beginnende Kopfschmerzen und Schwindel ließen Schuldig schlucken. Seine Gabe geriet zusehends außer Kontrolle. Die in der Luft liegende Aggressivität suchte einen Auslass und er fühlte förmlich, wie sie in ihn hinein sickerte wie das Wasser aus Nagis Kleidung in den Bezug der teuren Polster.   'Wenn Crawford hier wäre, wäre ich schon längst auf dem Heimweg.'   Reiji Takatori. Der Magnat stand mit der rauchenden Zigarre in der Hand auf die Rückenlehne eines Sofas gestützt da, als wäre es ein Rednerpult. Sein Gesicht erinnerte Schuldig an das einer wütenden Bulldogge. „Schuldig!“, bellte er und verunstaltete den Namen dabei wieder einmal auf unangenehme Weise. „Wie lange soll diese Farce noch dauern? Das Projekt ist gescheitert. Wie immer, wenn meine untalentierten Söhne etwas in die Hand nehmen. Und siehe da, wenn sie zusammenarbeiten, ist der Schaden, den sie anrichten können, sogar noch größer!“ „Vater!“ Hirofumi war zunächst weiß und dann rot geworden. „Ich beschwöre dich, uns noch ein wenig mehr ...“ Takatori schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. „Genug! Ihr habt meine Zeit schon viel zu lange verschwendet. Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich von euren Kindereien aufhalten zu lassen.“ Etwas an Takatoris Gedanken alarmierte Schuldig. Er konnte zwar nicht die Zukunft voraussehen, aber er ahnte, dass, wenn er Takatori jetzt gehen ließ, dieser in seiner Wut den Vorfall an Eszett weitermelden würde. Man würde anfangen, Fragen zu stellen. Und wenn sie im Moment etwas nicht gebrauchen konnten, dann war das ein Untersuchungsteam, das seine Nase in Schwarz' Angelegenheiten steckte. Er musste das unbedingt verhindern. „Mister Takatori“, begann er und versuchte dabei den diplomatischen Ton zu treffen, den Crawford immer anschlug. „Ich glaube, dass es ein Fehler wäre, das Spiel schon aufzugeben. Die Reaktion Ihrer Gäste war äußerst positiv. Und würde es nicht zeigen, dass Sie in der Lage sind, auch schwierige Situationen zu meistern? Es würde Ihr Ansehen erhöhen.“ Takatori blieb stehen und paffte an seiner Zigarre. Schuldig konnte hören, wie er darüber nachdachte.   „Aber wie soll das gehen? Diese Idioten haben den besten Jäger ausgeschaltet. Er war mein Meisterstück!“ Masafumi. Natürlich. Er war der mit am schwersten zu kontrollierende Faktor in dieser Jongleursnummer. Im Gegensatz zu seinem Bruder, der das Ganze eher von einer kühlen, kalkulatorischen Seite betrachtete, nahm er den Verlust persönlich. Und er machte Schwarz dafür verantwortlich. „Er hat uns angegriffen“, fuhr jetzt Nagi auf. „Wenn er nicht ...“ „Halt den Mund, Nagi!“ Schuldigs Stimme war scharf und schneidend, aber der Junge hörte nicht zu. „Farfarello war derjenige, der ihn getötet hat. Ich hatte nichts damit zu tun.“ „Du hast zugelassen, dass Nanami dir folgt“, fauchte Masafumi. „Nur deinetwegen liegt sie jetzt mit schweren Bisswunden auf der Krankenstation. Sie ringt mit dem Tod!“ „Schuldig war derjenige, der sie aufs Spielfeld gehen ließ!“, rief Nagi und Schuldig wusste, dass er handeln musste. Der Junge würde die Stimmung zum Kippen bringen. Takatoris Gedanken begannen bereits, einen gefährlichen Unterton anzunehmen.   Mit einem schnellen Schritt war er bei ihm. Der unerwartete Faustschlag trieb die Luft aus Nagis Lungen und ließ ihn zusammenklappen. Schuldig fing ihn auf und gab Farfarello ein Zeichen. „Schaff ihn raus“, knurrte er und schubste den immer noch um Atem ringenden Jungen in seine Arme. „Wartet am Wagen.“ Farfarello nickte und zerrte den nur noch schwach protestierenden Nagi nach draußen. Schuldig atmete auf, als sich die Tür hinter ihnen schloss. Jetzt musste er nur noch mit den drei Takatoris fertig werden. Er setzte ein gewinnendes Lächeln auf und breitete die Hände aus. „Also wenn die Herren erlauben, hätte ich einen Vorschlag zu machen.“       Ärgerlich befreite sich Nagi aus Farfarellos Griff. „Lass mich“, knurrte er. „Ich kann laufen.“ Seine nächsten Schritte straften ihn Lügen. Er lehnte sich gegen die Wand und versuchte, seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er war müde, durchgefroren, nass bis auf die Haut. Farfarello betrachtete ihn teilnahmslos. „Das ist alles nur deine Schuld“, wiederholte Nagi seine Anschuldigung, aber er hätte genauso gut mit der Wand reden können. „Warum hast du nicht ...“ „Den Jäger dich umbringen lassen?“ Farfarello zuckte mit den Schultern. „Ich wusste nicht, dass das eine Option ist.“ „Nein, aber du hättest ihn irgendwie unschädlich machen können.“ „Es war effektiv ihn anzugreifen, als er es noch nicht erwartete.“ Nagi schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, mit Farfarello ein Gespräch führen zu wollen. Irgendwo in seinem Oberstübchen waren definitiv nicht nur ein paar Schrauben locker. „Du hättest sie retten können“, flüsterte er fast unhörbar. Das Bild, wie der riesige Hund seine Zähne in Nanamis Arm schlug, ließ ihn erneut schlucken. Sie hatte Glück gehabt, dass er ihr nicht sofort an die Kehle gegangen war. Aber da war so viel Blut gewesen ... Als er aufsah, hatte Farfarello anscheinend bereits jegliches Interesse an ihm verloren. Sein Blick klebte an der Tür, hinter der Schuldig mit den drei Takatoris zusammensaß. „Er hat Angst“, sagte er plötzlich ohne jeglichen Zusammenhang. Nagi stöhnte innerlich. Er würde nicht fragen, er würde nicht fragen, er würde … „Wer?“ „Schuldig.“ Die Antwort überraschte Nagi. Sollte das jetzt Farfarellos Art sein, den Telepathen in Schutz zu nehmen? „Angst? Schuldig?“ Er schnaubte. „Das glaube ich nicht.“ Farfarello antwortete nicht. Er fixierte weiter die Tür. Es erinnerte Nagi an einen Jagdhund, der vor einem Kaninchenbau ausharrte und darauf wartete, dass seine Beute herauskam.   Nagi richtete sich auf. In diesem Moment ruckte Farfarellos Kopf in seine Richtung. In seinem gelblichen Auge glomm etwas wie Gier. Nagi machte langsam einen Schritt rückwärts. Woher hatte Farfarello plötzlich das Messer? Das Bild des Monsterhundes schob sich vor Nagis inneres Auge. Nur keine Angst zeigen. „Sch-Schuldig hat gesagt, wir sollen am Auto warten.“ Keine Reaktion. Nur dieses irre Starren. „Ich … werde jetzt dorthin gehen.“ Langsam drehte er sich um. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, aber er zwang sich, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nicht laufen, nicht umdrehen, keine Angst zeigen. Panisch horchte er darauf, ob der Ire ihm folgte, aber er konnte nichts hören. Keine Schritte, kein Atmen, nichts. Nur die Geräusche, die sein eigener Körper machte und die ihm in der Stille des dunklen Ganges unnatürlich laut erschienen. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er blieb stehen und wappnete sich. Jeden Moment würde Farfarello ihn angreifen. Er spürte förmlich das Messer zwischen seinen Rippen. Zögernd drehte er den Kopf und sah über die Schulter zurück. Der Gang hinter ihm war leer. Nagi riss die Augen auf und sah sich nach allen Seiten um. Das war nicht möglich. Gerade hatte er doch noch hier gestanden. Aber der Platz vor der Tür war und blieb verwaist. Ein kalter Schauer lief über Nagis Rücken. Er legte die Arme um seinen Oberkörper und ging langsam rückwärts. Als er an ein Kreuzung kam, ließ er alle Vorsicht fahren, fuhr herum und stürzte die metallene Treppe hinab. Seine Schritte hallten wie Gongschläge durch das Treppenhaus. Weg. Er musste hier weg. So schnell wie möglich.           Aya fuhr noch ein letztes Mal mit dem Lappen über das Katana, bevor er ihn zur Seite legte und die Klinge im Gegenlicht betrachtete. Das Instrument, mit dem er Hibinos Leben beendet hatte, wies so gut wie keine Spuren mehr auf. Er ließ es in die Saya gleiten und stellte es wieder an seinem Platz im Wandschrank. Er faltete den Lappen, verstaute ihn zusammen mit den restlichen Putzutensilien wieder in der kleinen Kiste und legte sie in das oberste Bord des Schranks. Er schloss die Tür und verharrte davor, die Hände noch auf das hell gestrichene Holz gelegt. Normalerweise hätte an diesem Punkt des Rituals seine innere Ruhe wieder hergestellt und alle Spuren der Nacht getilgt sein sollen wie das braunrote Wasser, das den Abfluss hinabgeflossen war, als er sich und seine Kleidung gereinigt hatte. Aber er war nicht ruhig. Seine Finger krallten sich in die glatte Oberfläche, als würde ihm das irgendwie den verlorenen Halt wiedergeben können. Abrupt wandte er sich von dem Möbelstück ab und sah sich in seinem Zimmer um. Ihm war, als würde ihm die Luft zum Atmen fehlen. Ins Bett brauchte er sich gar nicht erst zu legen und das Buch, das auf seinem Nachtisch lag, würde ihm keine Ablenkung bieten. Ihm war nach ... er brauchte … er wusste nicht, was er brauchte. Der Raum schien sich um ihn zu drehen. Sein ganzes Leben drehte sich im Kreis. Ohne lange zu überlegen, stürmte er in Richtung Tür, schlüpfte in seine Schuhe und anschließend nach draußen. Dort hatte der Regen inzwischen ebenso plötzlich wieder aufgehört, wie er begonnen hatte. Die Luft war schwer von Feuchtigkeit und auch hier erschien ihm jedes Luftholen, als würde er versuchen, unter Wasser zu atmen. Er stützte sich schwer auf das Geländer der Galerie vor seiner Wohnung und sah auf die Straße hinunter. Sie war menschenleer, nichts bewegte sich. Als wäre die Welt gestorben. Sein Blick wanderte nach oben.   Kurz darauf stand er vor der Tür, die aufs Dach führte. Ein Schloss hing daran. Natürlich. Er wollte schon wieder umdrehen, als ihm auffiel, dass etwas damit nicht stimmte. Er griff zu und hielt es plötzlich in der Hand. „Es ist nicht abgeschlossen“, murmelte er und runzelte die Stirn. Wer konnte um diese Stunde dort oben sein? „Vermutlich niemand. Aber ...“ Im nächsten Moment schob er die Tür auf und setzte den Fuß auf die erste Stufe der kurzen Treppe, die ihn zum Dach brachte. Über ihm erstreckte sich ein sternenloser Himmel. Er war sich nicht sicher, ob es die Wolken waren, die ihm die Sicht nahmen, oder der Schein der riesigen Stadt, die sich um ihn herum erstreckte. In seiner unmittelbaren Nähe allerdings herrschte fast vollkommene Dunkelheit; ein schwarzes Viereck, an dessen Rand ein Fluss aus diesigem Licht träge dahinfloss.   Zögernd betrat er das unbekannte Areal. Unter seinen Füßen knirschten kleine Steine. Er trat instinktiv vorsichtiger auf, während er zwischen den Aufbauten und Leitungen hindurch zum Dachrand ging. Die breite Brüstung verhinderte, dass er die Straße direkt vor dem Haus sehen konnte. Stattdessen eröffnete sich ihm der Blick auf die hohen Häuser, die unzähligen Lichter, die selbst in der Nacht nicht erloschen. Hinter wie vielen von ihnen war wohl eine wache Seele verborgen? Ob es jemanden gab, der ebenso wie er nicht schlafen konnte? Er atmete ein und erstarrte. Dieser Geruch, das war … Er wirbelte herum. In der Dunkelheit vor ihm glühte ein orangeroter Punkt auf. Langsam schälte sich eine Gestalt aus dem Schatten. Eine Gestalt, die er kannte. Yojis Blick streifte Aya nur, als er neben ihn an die Brüstung trat. Er starrte in die Tiefe, die Zigarette zwischen den Lippen, als hätte er vergessen, dass sie da war. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht und bedeckten es fast vollständig. Aya bemerkte die Flasche in seiner Hand erst, als er einen tiefen Schluck daraus nahm. Yoji hielt sie ihm hin. „Willst du?“ Aya schüttelte den Kopf. „Ich trinke nicht.“ „Ist auch besser so. Trinken löst keine Probleme. Es macht sie nur etwas leichter zu ertragen. Für den Moment.“ Aya wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er drehte sich herum und sah wieder hinunter, wo irgendwo der nasse Asphalt im gelben Licht der Straßenlaternen glänzen musste.   Es dauerte nicht lange, bis Yoji wieder den Mund öffnete. „Glaubst du, wir kriegen den Auftrag?“ Aya machte ein fragendes Geräusch. „Takatori. Ken hat mir erzählt, was passiert ist. Aus dir war ja mal wieder nichts rauszukriegen.“ Aya überhörte den leichten Vorwurf hinter den Worten. „Ich will ...“ „Nicht darüber reden. Schon klar.“ Yoji winkte ab. „Ich eigentlich auch nicht. Obwohl, wer weiß. Vielleicht würde es helfen.“ Er nahm noch einen Schluck. „Ich vermisse sie“, sagte er leise. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. „Asuka. Manchmal erinnerst du mich an sie. Wenn du herumschnauzt, dass ich meinen faulen Hintern bewegen soll oder so. Sie hat das auch immer gesagt.“ Er wollte noch einen Schluck nehmen, aber der Alkohol war offensichtlich zur Neige gegangen. Er drehte die leere Flasche zwischen den Fingern hin und her. „Manchmal denke ich, dass ich es hätte sein sollen, den es erwischt. Aber dann fällt mir wieder ein, dass sie dann an meiner Stelle sein könnte und das wünsche ich keinem. Ein halbes Leben, gestohlene Zeit. Nicht wirklich am Leben, aber auch noch nicht tot.“   Aya presste die Kiefer aufeinander. Er wollte nichts sagen, aber schließlich brach es doch aus ihm heraus. „Erbärmlich.“ „Mhm?“ Yoji blinzelte ihn an. Es brachte Aya zur Weißglut. „Du! Du bist erbärmlich. Heulst hier rum, anstatt dankbar zu sein, dass du noch am Leben bist. Reiß dich zusammen.“ Yoji sah ihn immer noch an. Der Blick, mit dem er ihn musterte, gefiel Aya nicht. Und das nachsichtige Lächeln, das plötzlich seine Lippen umspielte, auch nicht. „Verstehe“, sagte Yoji schlicht und wollte sich wieder von ihm wegdrehen, aber Aya griff nach seinem Shirt und hielt ihn fest. „Was?“, schnappte er. „Was verstehst du?“ Yoji wich seinem Blick aus. Er drehte den Kopf zur Seite, atmete aus. Aya war kurz davor, ihn zu schütteln. Seine Hand ballte sich zur Faust. „Würde es dir was ausmachen, mich nicht ins Gesicht zu schlagen? Ich habe morgen ein Date.“ Yoji sah ihm jetzt wieder geradeheraus ins Gesicht. Er machte sich von Aya los, dessen Griff kraftlos geworden war, und schob sich trotz der Tatsache, dass es mitten in der Nacht war, eine Sonnenbrille auf die Nase. Er griff nach der Zigarettenschachtel und zündete sich eine an. Aya konnte den Rauch riechen. Er verzog das Gesicht. „Die Dinger stinken erbärmlich.“ Yoji lachte. „Ja, du hast wirklich viel mit ihr gemein. Allerdings hatte sie einen besseren Geschmack, was Männer angeht.“ Er grinste breit. Aya rollte mit den Augen. „Darüber will ich auch nicht mit dir sprechen.“ „Worüber möchtest du denn dann sprechen.“ „Über gar nichts.“ „Ach, und warum kommst du dann auf mein Dach?“ „Dein Dach?“ Jetzt war es an Aya, überrascht zu blinzeln. Yoji zuckte mit den Schultern. „Na klar. Ken und Omi wissen, dass ich immer nach einer Mission hier oben die Nacht verbringe. Ich kann dann ... nicht schlafen.“ Aya schwieg. „Du hast das nicht gewusst, oder?“ Jetzt sprach Yoji das Offensichtliche auch noch aus. „Auch nicht, dass Ken danach immer bis tief in die Nacht vor dem Fernseher hängt und Omi Videospiele spielt, bis ihm die Augen zufallen.“ „Ich dränge mich nicht in das Leben anderer Leute.“ Die Betonung machte klar, dass Aya fand, dass Yoji genau das tat und dass es ihm nicht gefiel. Yoji blies den Rauch in die Luft und sah zum Himmel hinauf, der langsam heller wurde. „Vielleicht tue ich das, weil ich immer noch auf der Suche nach der Hälfte meines Lebens bin, die ich verloren habe.“ Es hätte furchtbar kitschig klingen sollen, aber eigenartigerweise tat es das nicht. Und noch eigenartigerweise fühlte sich Aya gedrängt, etwas dazu zu sagen. „Du wirst … sicherlich wieder jemanden finden.“ Die Worte klangen selbst für ihn abgedroschen und hohl. Er war einfach nicht gut in so was. Yoji antwortete nicht. Er blickte in den Himmel, der jetzt ein dunkles Blau angenommen hatte. Nach einer schier unendlichen Weile, begann Yoji wieder zu sprechen. Seine Stimme klang merkwürdig rau und kratzig. „Und in welcher Hälfte meines Lebens sollte ich so jemanden unterbringen? In der, in der ich offiziell nicht mehr existiere, oder in der, in der ich nachts Leute umbringe?“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Für uns kann es so was wie Glück nicht mehr geben.“   Aya sagte nichts dazu. Was Yoji gerade ausgesprochen hatte, hatte ihm nur allzu deutlich gezeigt, was ihn unbewusst schon den ganzen Abend über umtrieb. Das Wissen darum, dass er die Wahrheit nicht auf ewig vor Tim würde verstecken können. Irgendwann würde es ihn einholen und das Konstrukt aus Halbwahrheiten und Lügen würde zusammenstürzen. Und wer wusste schon, was dabei zu Bruch ging. Er dachte an eine blutbedeckte Klinge und braunrotes Wasser im Abfluss. Birmans Worte geisterten durch seinen Kopf. Leute in deiner Umgebung könnten verletzt werden. Vielleicht war es tatsächlich besser, wenn er es jetzt beendete. Allein der Gedanke ließ seinen Hals eng werden.   Yoji zündete sich eine weitere Zigarette an. Der Himmel begann sich langsam zu lichten und das Dunkelblau wich einem helleren Grau, in das sich schon bald das erste Orange mischen würde. Trotzdem harrte Aya weiter aus, unfähig eine Entscheidung zu treffen. Er hörte, wie Yoji leise lachte. „Weißt du, was das Verrückte ist? Dass ich die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben habe. Ich habe mal gelesen, dass die Hoffnung das größte aller Übel sei, das die Götter den Menschen gegeben haben, weil sie einzig und allein dazu dient, unser Leiden zu verlängern. Und dennoch ...“ Er nahm einen Zug aus seiner Zigarette und schnippte sie dann über den Dachrand. Als er Aya ansah, waren seine Augen von einem eigentümlichen Glanz erfüllt. „Man hat Asukas Leiche nie gefunden. Manchmal frage ich mich, ob sie noch irgendwo da draußen ist.“           Nagi starrte auf die Frau, die in dem Krankenhausbett lag. Sie hatte die Augen geöffnet, aber ihr Blick ging ins Leere. Ihr Körper war mit langen Lederriemen festgeschnallt und um den Kopf trug sie eine ähnliche Apparatur wie Nanami sie gehabt hatte. Das und die Tatsache, dass auch sie blaue Haare hatte, hatten ihn zunächst glauben lassen, dass es das Mädchen war, das dort im Bett lag. Doch er hatte sich geirrt. Es war eine Fremde. Vage enttäuscht wandte er sich ab und verließ den kargen Raum wieder. Draußen im Gang blieb er unentschlossen stehen. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Auf seiner Flucht war er irgendwie in den Teil des ehemaligen Elektrizitätswerks geraten, den Masafumi in eine Art Forschungsstation verwandelt hatte. Er schauerte, als er an den ersten Raum dachte, in den er gekommen war.   Dort war es kalt gewesen. Sein Atem hatte sich in der eisigen Luft in kleine, weiße Wölkchen verwandelt. Auf einem Tisch hatte der Körper des getöteten Hundeführers gelegen. Wer auch immer ihn dorthin gebracht hatte, hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Messer aus seinem Kopf zu entfernen. Die geborstene, blutüberströmte Maske hatte immer noch den größten Teil seines Gesichts bedeckt und Nagi hatte sich abgewandt, bevor er noch mehr grausame Details erkennen konnte. Dabei war sein Blick zu einem Tank in einer Ecke des Raumes gewandert. Hinter der großen Glasscheibe hatte er unscharf einen menschlichen Umriss ausmachen können. Fast ohne sein Zutun war er näher heran gegangen, während alles in ihm danach geschrien hatte, die Beine in die Hand zu nehmen. Was er entdeckt hatte, hatte ihn selbst die Kälte vergessen lassen. In dem Tank war die Leiche eines weiteren Jägers aufbewahrt worden. Seine Gestalt war von Schuppen überzogen gewesen, das Gesicht eigenartig flach. Die Nase hatte nur noch aus zwei schlitzförmigen Löchern bestanden, die Augen waren weiß gewesen und aus dem Mund hatten eigenartig spitze Eckzähne herausgeragt. Es hatte Nagi einige Mühe gekostet, sich von dem widerlichen Anblick loszureißen und nur seine klappernden Zähne hatten ihn daran erinnert, dass es nicht ratsam war, noch länger in der Kühlkammer auszuharren.   Nun stand er wieder auf dem breiten Gang, von dem mehrere, graue Metalltüren abgingen. Es musste sich um Lagerräume handeln. Keine der bisher betretenen Kammern hatte Fenster gehabt und der Boden unter seinen Füßen war nackter Beton. Irgendwo weiter vorn gab es ein Tor, durch das es auf das Spielfeld gehen musste. Aus einer der Türen war er hierher gekommen, aber er fühlte wenig Motivation, denselben Weg wieder zurückzunehmen. Was, wenn Farfarello dort oben doch noch irgendwo auf ihn lauerte? Nein, er musste einen anderen Ausweg finden. Wenn es den denn gab.   Langsam begann er, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dabei lauschte er, ob er von irgendwo verräterische Laute hören konnte, aber außer einem beständigen Brummen, das vermutlich von den Generatoren herrührte, und seinem eigenen Atem war nichts zu hören. Vor einer der Türen blieb er stehen. Sie sahen ohnehin alle gleich aus. Warum also nicht diese hier probieren? Zögernd griff er nach der Klinke und drückte sie herunter. Die Tür schwang nach innen auf und um ein Haar hätte Nagi laut aufgeschrien. Das Gesicht eines weiteren Jägers starrte ihn an. Es war derjenige mit der Lanze. Nagi brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass es lediglich seine Rüstung war, die dort hing. Sie war fein säuberlich auf einem Ständer drapiert worden, sodass es so wirkte, als würde dort ein lebendiger Mensch stehen. Die überlange Lanze lehnte im Hintergrund an der Wand. Mit laut klopfendem Herzen schloss er die Tür wieder. Plötzlich hörte er Stimmen. Sie kamen näher.   Blitzschnell sah er sich um. Es gab hier keine Deckung, wenn man von einigen Fässern mit zweifelhaftem Inhalt ansah, die an einer Wand des Ganges standen. Schnell duckte er sich dahinter und drückte sich gegen das rostige Metall. Was auch immer sich in den Fässern befand, kitzelte in seiner Nase. Er verzog das Gesicht, um nicht niesen zu müssen. Die Stimmen kamen immer näher. Dazwischen erklangen klappernde Schritte.   „Das ist ja schrecklich“, sagte eine weibliche Stimme, die er nicht kannte. „Wird sie Narben behalten?“ Eine zweite, ebenfalls weibliche Stimme antwortete. „Wir gehen nicht davon aus. Die regenerative Komponente, die wir aus den Asterias rubens gewinnen konnten, scheint auch hier wieder gute Ergebnisse zu erzielen. Wir müssen nur noch die Nebenwirkungen unter Kontrolle bekommen, wobei das Überleben zunächst einmal Vorrang hatte.“ „Nebenwirkungen?“ Die erste Stimme klang ebenso fasziniert wie angeekelt. „Was für Nebenwirkungen?“ „Die neu gewachsene Haut verhärtet sich zunächst. Die Ergebnisse des ersten Testobjekts lassen jedoch annehmen, dass es sich nur um eine vorübergehende Komplikation handelt. Äußerlich wird sie wieder ganz die alte werden.“ Die Stimmen waren jetzt so nahe, dass Nagi glaubte, die beiden Frauen jeden Moment um die Ecke kommen zu sehen. Er hatte inzwischen erkannt, dass es sich bei einer von ihnen um Masafumis Assistentin handelte. „Also wird er sie retten können?“ Die zweite Stimme klang besorgt und gleichzeitig schwang dort ein Hauch Bewunderung mit, die sich offensichtlich auf Masafumi bezog. „Ich hoffe es. Bisher haben wir die Änderung im zerebralen Kortex und im Stammhirn leider nicht weitreichend genug verankern können. Wir müssen immer noch auf externe Stimulation zurückgreifen. Wie der Ausfall des Hundeführers gezeigt hat, ist aber auch die operative Anbringung einer solchen Stimulation nicht ohne Risiko.“ Die Assistentin seufzte. „Wir bräuchten einen Katalysator, um die genetischen Änderungen zu fixieren, die für eine dauerhafte Umprogrammierung notwendig sind. Dann könnte auch aus dem weiblichen Testobjekt ein völlig neuer Mensch werden und Nanami könnte endlich ohne Angst leben.“   Nagi biss sich auf die Lippen. Er dachte an Crawford, der ihn so unspektakulär im Stich gelassen hatte, nachdem er ihm klargemacht hatte, dass Nagis Wünsche ganz unten auf seiner Prioritätenliste standen. Er dachte an Schuldig, der ihn nach Lust und Laune aufhob und fallen ließ, als wäre Nagi sein persönliches Spielzeug. Der ihm Versprechungen machte, nur um sie im nächsten Moment wieder über Bord zu werfen. Der ihn belogen und ausgenutzt hatte. Er dachte an Farfarello, der ihn umbringen wollte, nur weil er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Er war in ihren Augen schlichtweg nicht wichtig genug, denn sie hatten etwas, das er nicht hatte. Er war austauschbar, ersetzbar, entbehrlich. Eben nur ein ganz normaler Mensch. 'Auf dieser Welt bekommst du nur dann einen Platz, wenn du etwas hast, was ein anderer haben will.' Nagi schloss die Augen und fasste einen Entschluss.   „Aoi-san?“ Masafumis Assistentin schrak sichtbar zusammen, als er sich hinter den Fässern heraus erhob. Die blonde Frau, die neben ihr stand, sah ihn aus großen Augen an. „Wer ist das?“, flüsterte sie und ihre rot geschminkten Lippen formten einen erstaunten Kreis. Nagi wartete die Antwort nicht ab. Er wappnete sich und straffte den Rücken. „Ich habe gehört, wie Sie über einen Katalysator für genetische Veränderungen sprachen. Ich denke, wir sollten uns unterhalten.“     Kapitel 19: Auf Messers Schneide -------------------------------- Er wartete. Vollkommen regungslos. Beharrlich. Still. Ein Staubpartikel sank vor ihm herab, durchquerte in einem taumelnden Tanz das sonnendurchflutete Rechteck, das durch das Fenster herein fiel, bevor er in den Schatten versank. Sein Blick, der dem glimmenden Funken gefolgt war, wandte sich wieder der Tür zu, die er bereits seit geraumer Zeit beobachtete. Er kannte inzwischen jede Unebenheit, jeden Riss in der weißen Farbe, jeden Fingerabdruck, jeden Kratzer. Es war wie eine Karte zu einem verborgenen Labyrinth, in dessen Zentrum sich die Lösung eines unbekannten Rätsels befand. Er widerstand dem Drang, die Linien mit den Fingern nachzufahren. Viel wichtiger als das, was er sah, war nämlich das, was er hörte. Es waren die Geräusche, die aus dem Badezimmer drangen, das sich hinter der Tür befand. Das Wasserrauschen war seit einiger Zeit verstummt. Seit dem hatte es eine Vielzahl anderer Laute gegeben. Das Reiben eines Handtuchs, das Kratzen einer Zahnbürste, das Fauchen eines Föns, das Klirren von Flaschen und das Klappen von Türen. Er wusste, dass sich die Prozedur im Inneren dem Ende entgegen neigte. Gleich. Gleich würde es soweit sein und er würde bekommen, worauf er gewartet hatte. Das Sonnenlicht brach sich in der spiegelnden Klinge eines Messers.   Schritte näherten sich der Tür, die sich im nächsten Moment öffnete. Schuldig blieb wie angewurzelt stehen. Eine Wolke verschiedener Gerüche umgab ihn wie eine Aura. „Was...? Farfarello!“ Er reagierte nicht auf die Nennung seines Namens. Er war unwichtig. Das, was in diesem Moment zählte, lag im Inneren des anderen verborgen, der ihn aus hellen, blauen Augen ansah. Augen wie der Himmel an einem Sommermorgen. Engelsaugen. „Willst du den ganzen Tag da herumstehen? Komm schon, lass mich vorbei.“ Schuldig versuchte ein ungezwungenes Lächeln auf seine Züge zu zaubern, doch Farfarello sah genau, dass er sich dabei anstrengen musste. Das war neu. Wie so vieles. Etwas hatte sich verändert. Schuldig hatte sich verändert. Farfarellos Auge wurde schmal.   Erst waren es nur Kleinigkeiten gewesen. Ein abgewendeter Blick, ein ein wenig zu bewusstes Ausweichen, ein leichtes Zögern. Es gab wenige Menschen, die sich in seiner Gegenwart ungezwungen bewegten. Er machte ihnen Angst. Bisher hatte Schuldig nicht zu ihnen gehört. Er war etwas besonderes gewesen. An dem Tag, als Farfarello ihn getroffen hatte, hatte er das erkannt. Er hatte ihn geschnitten und er hatte geblutet, aber er hatte keine Angst gehabt. Aber jetzt … jetzt hatte er Angst. „Fürchtest du dich vor mir?“ Die Frage schwebte zwischen ihnen wie ein gezücktes Messer. Schuldig runzelte die Stirn. „Was soll der Blödsinn? Natürlich fürchte ich mich nicht vor dir. Das wäre ja lachhaft.“ Schuldigs Hand griff vor, berührte ihn, schob ihn zur Seite. Scheinbar unbeeindruckt und amüsiert. Aber der Abdruck, den die Finger auf seiner Haut hinterließen, war feucht. Die Geste ein wenig zu hektisch, die Schritte, die sich von ihm entfernten, ein wenig zu schnell. „Du lügst.“ Es war keine Frage dieses Mal.   Schuldig wandte ihm den Rücken zu. Tat so, als wäre er nicht beeindruckt. Aber Farfarello hörte, wie sich sein Atem beschleunigte. Sah, wie die Bewegungen, mit den er sich anzog, ein wenig zu abgehackt waren. Schuldig nestelte an den Knöpfen eines Hemdes herum. Hellgrün wie Frühlingsgras, auf dem die Lämmer weideten. „Ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber ich habe keine Zeit für solchen Unsinn. Die Nacht war lang und morgen wird die Hölle los sein. Takatoris Mega-Event. Also lass mich meinen letzten Tag noch genießen.“ Farfarello legte den Kopf schief. Er schmeckte die Worte, drehte sie hin und her. Etwas darin war falsch. Er versuchte herauszufinden, was es war.   „Etwas macht dir Angst.“ Wiederum keine Frage. Er hörte, wie Schuldig aufstöhnte. „Sag mal, willst du mich eigentlich wahnsinnig machen? Wenn ja, Glückwunsch, du hast es geschafft. Zufrieden jetzt?“   Farfarello schüttelte den Kopf. Er war keinesfalls zufrieden. Da war etwas an Schuldig, das ihn reizte. Etwas, das er nicht greifen, nicht sehen konnte. Etwas, das in seinem Inneren verborgen lag. Etwas, das ihn den Griff seines Messer fester greifen ließ. Das in ihm den Wunsch weckte, es zu verletzen, zu zerstören, zu töten. Ein Gefühl, das ihn normalerweise nur überkam, wenn er denjenigen begegnete, die sich für Gottes auserwählte Kinder hielten. Aber Schuldig war keines von ihnen. Er war ebenso wie Crawford ein Jünger des Teufels, von ihm mit der Macht ausgestattet, die anderen Schäfchen zu verderben und ins Dunkel zu locken. Farfarello hatte es erkannt und sich ihnen angeschlossen. Er wusste, dass es noch mehr von ihnen gab und sie alle sorgten dafür, dass Gottes Schöpfung langsam, aber sicher zurückweichen musste. Dass Blut und Krieg und Chaos in die Welt einzogen und sie mit Verderbtheit und Sünde überzogen, bis nichts mehr von dem übrig blieb, was ER einst erschaffen hatte. Dann würde ER erkennen, was es hieß, sich von seinen Kindern abzuwenden. Sie würden sich gegen ihn wenden und ihn töten und Farfarello würde dabei stehen und lachen. Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. „Na, Anfall vorbei?“ Schuldigs Stimme war leichter als noch vor einem Augenblick. Er musterte Farfarello. „Ich hoffe, du hast die Kaffeemaschine nicht schon wieder in der Mangel gehabt. Ich brauche das Zeug morgens wirklich. Such dir doch bitte irgendwas anderes, um deine Blasphemie auszuleben. Nicht alles, was perfekt erscheint, ist auch vom Allmächtigen geschaffen. Die Mitarbeiter der Firma Saeco würden sich zwar bestimmt freuen zu hören, dass du glaubst, dass sie unter göttlicher Führung arbeiten, aber mal ehrlich ...“ Farfarello zuckte zusammen. Das war es. Das war es, was Schuldig verändert hatte. Er stand unter dem Einfluss einer höheren Macht, die die Kräfte des Teufels in den Hintergrund treten ließ. Die ihn weich und anfällig werden ließ. Die ihn zu einem Opfer machte. „Pass auf, was du da denkst.“ Schuldigs Augen blitzten auf. „Ich bin alles andere als ein Opfer.“   Farfarello grinste. Er hob sein Messer und kam langsam auf Schuldig zu. Mit einer bedächtigen Geste setzte er die Klinge an dessen Kehle. „Aber da ist etwas an dir, das dich schwach werden lässt. Ich würde zu gern wissen, was das ist.“ „Das liegt nur an ...“ Schuldig schluckte und sein Adamsapfel streifte das scharfe Metall. „Meine Gabe. Sie ist momentan ein wenig schwer zu kontrollieren.“ Farfarello schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. „Du hast schon mal besser gelogen, Mastermind.“ Er drückte die Schneide noch ein wenig fester gegen die weiche Haut, unter der das Blut pulsierte. Es wäre leicht gewesen, es jetzt zu beenden. Schuldig versuchte ein Lachen. „Was willst du hören? Soll ich dir jetzt meine Sünden beichten? Das haben wir beide doch schon lange hinter uns.“ Farfarello lehnte sich leicht vor. „Vielleicht nicht deine Sünden, sondern deine Hoffnungen und Träume.“ Ein winziges Zucken verriet ihm, dass er den Finger auf die richtige Stelle gelegt hatte. Die Wunde gefunden hatte, in die er bohren musste. Schuldig schnaubte abfällig und wandte sich von ihm ab. „Träume und Hoffnung? So etwas habe ich nicht. Dieser Selbstbetrug ist etwas für die Schwachen auf dieser Welt.“ „LÜG MICH NICHT AN!“ Mit einem kräftigen Stoß hatte er Schuldig zu Boden geworfen. Er kniete sich über ihn und funkelte ihn mit gebleckten Zähnen an. „Da ist etwas in dir, dass dich verändert. Das dich schwach werden lässt. Das mich dazu bringt, dich töten zu wollen. Also sprich und sprich schnell, wenn dir dein Leben lieb ist. Was. Ist. Es.“ Schuldigs Brust hob und senkte sich. Er schluckte. Da war ein Flackern in seinen Augen. Farfarello sah, dass er überlegte, wie er flüchten konnte. Aber es gab kein Entrinnen. Er hatte ihn an den Boden genagelt und er hatte ein Messer. Schuldig mochte schnell sein, aber so schnell, dass er ihm entkommen konnte, war auch er nicht. „Ich … du würdest es nicht verstehen.“ Nichts als Ausreden. „Versuch es.“ Farfarellos Stimme glich mehr einen Knurren als einer menschlichen Lautäußerung.   Schuldig nickte vorsichtig. „Es ist … es ist Fujimiya. Er hat … sich in mich verliebt und ich ...“ Er schloss die Augen. „Es liegt an der Telepathie. Ich habe mich damit infiziert. Es ist wie ein Geschwür, ein Krebs, der ständig weiter wächst. Es fängt an, mich zu beeinflussen. Ich habe keine Kontrolle darüber.“ Farfarello dachte über das Gehörte nach. Es klang wie etwas, das er glauben konnte. Gott hatte einen Engel geschickt, um den Jünger des Teufels zu bekehren. Das weiße Licht in seinem Inneren hatte den Gefallenen geblendet, hatte ihn geschwächt und angreifbar gemacht. „Was wirst du dagegen tun?“ Er wusste, dass Schuldig wusste, dass mehr hinter der einfachen Frage steckte. Sie beinhaltete das Versprechen, dass, wenn er nichts unternehmen würde, Farfarello das für ihn übernehmen würde. Endgültig. „Ich … ich werde mit ihm Schluss machen. Noch heute.“ Engelsaugen sahen ihn an. „Wenn du mich aufstehen lässt, erledige ich es gleich. Dann wird alles wieder wie früher.“ Farfarello betrachtete Schuldig noch einen Augenblick, bevor er seinen Griff lockerte, sich zurückzog und den anderen aufstehen ließ. Schuldig sah missbilligend an sich herab. „Jetzt bin ich voller Staub.“ Farfarellos linker Mundwinkel hob sich. „Eitelkeit ist eine Todsünde.“ Schuldig zeigte ihm den Mittelfinger und griff nach Handy und Schlüssel. „Ich bin heute Abend zurück. Und lass die Kaffeemaschine in Ruhe.“ Farfarello betrachtete die silberne Klinge seines Messers und lächelte. Vielleicht würde er das tun.         Schuldig war aus seiner Wohnung geflohen. Er hätte gern behauptet, dass es anders war, aber so gut konnte nicht einmal er lügen. Jetzt saß er hinter dem Steuer seines Wagens und starrte blicklos auf die Straße, an deren Rand er geparkt hatte. Sein Weg hatte ihn unbewusst in das Viertel geführt, in dem Ran wohnte. Nun, vielleicht nicht ganz unbewusst. Er wusste, dass er das Problem lösen musste. Farfarellos Gedanken waren in diesen Punkt ziemlich klar gewesen. Wenn Schuldig es nicht beendete, würde er Ran töten. Und Schuldig wusste, dass er das konnte. Ran mochte mit einem Schwert umgehen können, aber egal wie gut er war, er konnte es nicht mit einem Gegner aufnehmen, der keinen Schmerz, keine Ermüdung kannte. Er musste an alte Vampirfilme denken. Ob Farfarello wohl starb, wenn man sein Herz mit einem Pflock durchbohrte? Oder musste man ihm den Kopf abschlagen? Schuldig griff nach seinem Handy. Er hatte Crawford eine Nachricht geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Das Gleiche mit Nagi. Natürlich hätte er anrufen können, aber er verspürte momentan wenig Neigung, mit noch jemandem aus seinem Team zu sprechen. Der Patzer, den er sich Farfarello gegenüber erlaubt hatte, war schlimm genug. Es hatte niemand davon wissen sollen und jetzt? Jetzt lag alles in Scherben. Er seufzte und griff nach dem Türöffner. 'Ist doch keine große Sache. Leute machen ständig mit einander Schluss. Ich sage ihm …' Seine Gedanken verliefen sich im großen Nichts. Er hatte keine Ahnung, was er Ran sagen sollte. Ein einfaches 'Es ist vorbei' würde wohl kaum ausreichen. Aber was sonst? 'Die Arbeit lässt mir keine Zeit für eine Beziehung' oder 'Wir wollen einfach zu verschiedene Dinge im Leben' waren zwar die Wahrheit, würden aber für Ran keinen Sinn ergeben. Er wusste ja nicht, wer Schuldig wirklich war. Vielleicht sollte er einfach gar nichts sagen. Spätestens morgen oder in den Tagen danach würde Ran es sowieso herausfinden. Er könnte es natürlich mit der Wahrheit versuchen, aber dann würde er vermutlich Rans Wohnung nicht mehr lebend verlassen. Er ließ seine Hand wieder in den Schoß sinken und ballte sie zur Faust. Verdammt, es war doch nur ein Gefühl. Ein lächerliches, überflüssiges, kitschiges Gefühl, das nicht einmal ihm selbst gehörte. Er hätte gewusst, wenn es so gewesen wäre. Oder anders gesagt, er wusste, dass er dieses Gefühl bisher nicht gekannt hatte. So etwas wie Liebe hatte es in seinem Leben nicht gegeben und er konnte nicht sagen, dass er es irgendwie vermisst hatte. Er wollte dieses Leben zurück. „Verdammt, Schuldig, reiß dich zusammen. Du wirst es ja wohl noch schaffen, einem dummen, kleinen Jungen das Herz zu brechen. Eine deiner leichtesten Übungen. Also los, geh endlich da raus und zieh es durch.“ Entschlossen öffnete er die Tür und stieg aus dem Wagen. Nur nicht weiter darüber nachdenken. Er würde schon wissen, was er sagen musste, wenn es soweit war.   Als er die Stufen zu Rans Apartment hinaufstieg, kamen ihm noch einmal Zweifel. Was, wenn Ran gar nicht zu Hause war? Musste er vielleicht arbeiten? War er in diesem lächerlichen Blumenladen und tat so, als wäre er ein ganz normaler Bürger? Schuldig schloss die Augen und lauschte. Da. Da war er. Er war tatsächlich zu Hause. Schuldigs Herz begann schneller zu schlagen, sein Hals wurde eng. Er würde es durchziehen müssen. Jetzt. Sonst wäre es zu spät. Sonst würde er... „Tim?“ Er öffnete die Augen und sah, dass er bereits vor der Tür des Apartments stand. Wie er dorthin gekommen war, war ihm ein Rätsel. Ihm gegenüber stand Ran in der Türöffnung. Er trug ein enges, weißes T-Shirt und eine locker sitzende, graue Sweathose. Seine Füße waren nackt und seine Haare leicht feucht. Einige der roten Strähnen fielen ihm in die gerunzelte Stirn. „Was tust du hier?“ Die Frage war nicht unbedingt freundlich und Schuldig öffnete ganz automatisch seinen Geist. Er sah, warum Ran zu Hause war – eine Mission gestern Abend, er hatte den tödlichen Streich geführt – und auch, warum er so wenig erfreut war, ihn zu sehen. Er hatte vor, die Beziehung zu beenden. Die Erkenntnis traf Tim wie ein Hammerschlag. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam kein Laut über seine Lippen. Warum? Warum wollte er das tun? Er glitt tiefer in die Gedanken und sah den Grund. Es schnürte ihm das Herz ab. Ran wollte ihn retten. Er wollte ihn beschützen vor der Welt aus Blut, Tod und Gewalt, von der er dachte, dass sie ihm fremd war. Er wollte verhindern, dass er verletzt wurde. Ohne zu überlegen, trat Tim vor und presste seine Lippen auf Rans Mund. „Ich hatte Sehnsucht nach dir“, murmelte er in den Kuss, den Ran nur zögernd erwiderte. Gott, das war so wunderbar. Seine Hände begannen, fast ohne sein Zutun an Rans Körper entlangzustreichen. Er wurde in die Wohnung gezogen, die Tür schloss sich hinter ihnen. Natürlich. Was sollten sonst die Nachbarn denken. Sein Kuss wurde fordernder. Ran schob ihn von sich. „Du kannst nicht einfach herkommen und ...“ Er brach ab und für einen Augenblick glaubte Tim, einen Anflug von Röte auf seinen Wangen zu sehen. Ran war immer noch wild entschlossen, mit ihm Schluss zu machen. Sein Ehrenkodex oder was auch immer hatte ihn davon überzeugt, dass es nur zu Tims Besten war. Aber er wollte das nicht. Das war ihm in dem Moment klar geworden, als er es in Rans Gedanken gesehen hatte. Wenn sie es einfach so beendeten, würde er derjenige sein, der mit einem gebrochenen Herzen daraus hervorging. Es schmerzte jetzt schon viel zu sehr, obwohl noch keiner von ihnen auch nur ein Wort darüber verloren hatte. Er musste das unbedingt verhindern und er wusste auch schon, wie er das anstellen würde.   „Du hast recht, tut mir leid.“ Er trat einen Schritt zurück und fuhr sich durch die Haare. „Ich hatte gestern einfach einen harten Tag und hatte gehofft...na ja.“ Er zuckte mit den Schultern und sah zu Boden. „Es war dumm von mir.“ Er hörte, er spürte, wie Ran weich wurde. Der Beschützerinstinkt, den er ihm gegenüber hatte, sprang auf das hilfsbedürftige Gebaren an und eine Hand hob sich in seine Richtung. Ein wenig unsicher schwebte sie zwischen ihnen, bis Ran sich einen Ruck gab und ihn am Arm berührte. Tim sah nicht auf, bis Ran einen Schritt auf ihn zutrat und den Kopf neigte. „Willst du mir erzählen, was los war?“ „Ach, es ist albern. Es gab … Stress bei der Arbeit. Nagi hat was Dummes angestellt und mein Chef ist total ausgerastet. Es wurde ziemlich viel geschrien und es kam zu … Handgreiflichkeiten. Ich habe alles getan, was ich konnte, um dem Jungen zu helfen, aber ...“ Zwei Fingerbreit Wahrheit. Natürlich zog Ran die falschen Schlüsse. Es war so einfach. „Das scheint dich ziemlich mitgenommen zu haben.“ Rans Stimme war wie Balsam auf seiner Seele. Das dunkle Timbre, das ihm bis in den Magen fuhr. Die Wärme seines Körpers, die auf seiner Haut prickelte. Er schloss die Augen. Wollte sich nur noch fallen lassen, all die Probleme vergessen. Was ging ihn die Welt da draußen an? Sollte sie sich drehen oder nicht, er wollte nur genau hier sein. Hier und jetzt bei Ran, der ihn an sich zog und der so furchtbar gut roch. Tim vergrub seine Nase an Rans Halsbeuge und atmete tief ein. Seine Lippen streiften das kleine Stück nackte Haut, das er erreichen konnte. Der Griff, der ihn hielt, wurde ein wenig fester. Er spürte, dass Ran es auch wollte. Konnte hören, wie sein Widerstand wankte. 'Nur ein bisschen noch. Nur ein letztes Mal. Was macht ein weiterer Tag schon für einen Unterschied? Eine weitere, kleine Lüge. Es ist bisher gut gegangen und er braucht mich jetzt. Ich kann ihm das nicht antun.'   Tim schickte seine Finger auf Wanderschaft. An Rans Seiten entlang, den Rücken hinauf über die Schulterblättern bis zum Nacken und dann wieder die Wirbelsäule hinab. Auf Hüfthöhe wurde er langsamer. Er hob den Kopf und sah Ran in die Augen. Sein Mund war halb geöffnet. Er leckte sich über die Lippen. 'Küss mich!', dachte er und Ran war mehr als bereit, dem mentalen Befehl nachzukommen, der ihm wahrscheinlich nicht einmal bewusst war. Er verschloss Tims Mund mit seinem eigenen und kam noch ein Stück näher. Tim wich zurück, bis er in dem engen Flurstück die Wand in seinem Rücken spürte. Er drückte sich dagegen und fühlte die beruhigende Schwere, die sich auf ihn legte. Gefangen zwischen dem Hindernis in seinem Rücken und dem festen Körper, der sich an ihn presste, lehnte er sich in die Berührung. Heiße Erregung pumpte durch seine Adern und ließ ihn hart werden. Er spürte Rans Zunge an seinen Lippen und öffnete gehorsam den Mund. Seine Finger klammerten sich an den weichen Stoff der grauen Hose. Er erntete ein Grollen und einen Oberschenkel, der sich zwischen seine Beine schob. Unwillkürlich drängte er sich dagegen und genoss den süßen Druck. Oh, das war gut. Mehr, weiter, härter. Er unterbrach den Kuss und legte den Kopf in den Nacken. Sofort waren Rans Lippen an seinem Hals, hinterließen eine feuchte Spur auf ihrem Weg nach unten. Willig öffnete er die Beine noch ein wenig mehr, gewährte Ran besseren Zugang. Griff nach dessen Hintern, zog ihn enger an sich, rieb sich an ihm. Er spürte die unmissverständliche Härte, die sich gegen seine presste. Spürte den Hunger, das Verlangen, die Gier. Sein Herz klopfte wie wild und er hätte am liebsten … er wollte … „Fick mich!“ Die Worte waren seinem Mund entflohen, bevor er es verhindern konnte. Er hatte Deutsch gesprochen, er wusste es, aber die Botschaft war trotzdem angekommen. Ran sah ihn ein wenig unsicher an. „Ich ...“ Tim ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er griff in Rans Haare und zog ihn wieder in einen wilden Kuss. Mit der anderen Hand versuchte er irgendwie, sein Hemd und alles andere loszuwerden, bis Ran sie schließlich festhielt und nun seinerseits begann, ihn auszuziehen. Tim ließ es geschehen, überließ Ran die Führung. Fühlte Hände, wie sie über seinen Körper strichen, Finger auf seiner nackten Haut, fordernde Lippen auf seinem Mund. Es war wunderbar und doch nicht genug. Er wollte ihn in sich spüren. Ran hingegen schien sich Zeit lassen zu wollen. Er hatte das Hemd von Tims Schultern gestreift und widmete sich jetzt der Aufgabe, seine Hose zu öffnen. Er zog langsam den Reißverschluss nach unten und strich sanft mit nur einer Fingerkuppe über den Stoff darunter. Tim stöhnte auf. Er konnte nicht anders, als sich erneut in die Berührung zu lehnen, bis der Kontakt vollständig hergestellt war. Er brauchte es jetzt sofort. Kein quälendes Vorspiel mehr, keine federleichten Küsse auf seiner Brust, kein vorsichtiges Erkunden seiner nach Aufmerksamkeit schreienden Erektion. „Bitte!“ Seine Stimme war leise, heiser, fast flehend. „Bitte, Ran, jetzt!“ „Aber ...“ Violette Augen musterten ihn einen Augenblick lang zweifelnd. Dann nickte Ran. „Okay, warte hier.“ Die Momente, in denen er allein war, waren furchtbar. Er schloss die Augen und lehnte sich an die Wand. Die geistige Verbindung, die er aufrecht erhielt, verriet ihm, was Ran tat. Er lächelte, als kurz darauf eine kleine Tube in seine Hand gedrückt wurde. „Dafür, dass du mich nicht erwartet hast, bist du aber gut vorbereitet.“ Eine Welle von Verlegenheit wusch über ihn hinweg und wurde im nächsten Augenblick von einer Springflut der Erregung hinfort gespült, als er das Gel auf Rans Erektion verteilte. Er merkte, wie seine Hände zitterten. Seine eigene und Rans Lust verwoben sich in seinem Inneren zu einem glühend heißen, alles überstrahlenden Strang, in dem kein Platz mehr für Zweifel war. Ohne zu zögern, drehte er sich herum und drängte sich an die pulsierende Härte. Jetzt, jetzt war es endlich soweit. Verlangen lief in heißen Kaskade sein Rückgrat hinunter und bildete in seinen Eingeweiden einen feurigen See. Er wollte es jetzt, er brauchte es. Jetzt!   Er zuckte kurz, als Ran in ihn eindrang und atmete gegen den leichten Schmerz an. Es tat weh, aber der Drang, endlich ausgefüllt zu werden, war größer. Ohne Rücksicht schob er sich nach hinten und hörte ein Keuchen. Warme Finger legten sich auf seine Hüfte, stabilisierten ihn, während er mit den Händen an der Wand nach Halt suchte. „Ran, jetzt!“, forderte er erneut und schob mit einer entschiedenen, mentalen Geste Rans Zweifel hinfort. Und endlich, endlich begann sich Ran in ihm zu bewegen. Er gab einen Laut von sich, der irgendwo zwischen einem Schrei und einem Stöhnen lag. 'Ja! Jajaja! Mehr. Weiter. Nimm mich!' Mehr und mehr. Er wimmerte, stöhnte, krallte sich an die Wand, während sein Geist sich in Rans Gedanken bohrte. Bei jedem Stoß, jedem erneuten Eindringen wagte er sich weiter vor, wühlte sich durch Gedanken und Erinnerungen. Tiefer, weiter, härter. Immer mehr und mehr. Finger, die sich um seine Erektion schlossen, Lippen auf seiner Schulter, Schweiß auf seiner Stirn. Er spürte es und gleichzeitig war er es, der sich selbst von hinten nahm. Rein und raus. Heiße Lava, die durch seine Adern strömte, seinen Geist, bis plötzlich …   Nichts mehr. Er fiel. Haltlos, tiefer und tiefer, ein Druck auf seiner Brust. Er konnte nicht atmen, sich nicht bewegen. Er wollte schreien, aber er konnte nicht. Schwärze umgab ihn, vollkommene Dunkelheit. Kaltes, erbarmungsloses, lebloses Nichts. Er starb. Er fühlte, wie das Leben aus ihm wich, wie er aufgab und sich in die eiskalte Umklammerung des Todes begab. Während sein Körper weiter den Gipfel der Lust erklomm, trudelte sein Geist tiefer und tiefer in den Sog der endgültigen Finsternis. Panisch versuchte er, dagegen anzukämpfen, aber das Gewicht war zu schwer, der Druck zu groß, er würde ... 'Ran!' Eine helle Stimme von irgendwo, eine Hand, die sich auf seine Brust legte. Der Druck wurde leichter, der Schmerz ebbte ab. Wärme umfing ihn, es wurde heller. 'Ran!' Noch einmal rief sie ihn. Es dröhnte um ihn herum. Staub, Krachen, rollender Donner. Er blinzelte, konnte nichts sehen, alles war grau und dann … dann riss die Verbindung plötzlich ab.   „Ran!“ Der Klang seiner eigenen Stimme hallte in seinen Ohren wieder. Er war zurück, spürte feuchte Klebrigkeit auf seinem Bauch, sein Herz, das gegen seine Brust hämmerte, den warmen Körper, der sich gegen ihn lehnte mit ebenso fliegendem Atem und zittrigen Gliedern wie er selbst. Ihm wurde für einen Augenblick schwarz vor Augen und die Welt schien sich zu drehen. Besorgnis umfing ihn. „Alles in Ordnung?“ Ran zog sich aus ihm zurück und drehte ihn herum, sodass sie einander in den Armen lagen. Der andere nicht weniger ein wackeliges Wrack als er. Sie nahmen die Wand als Stütze. Lippen streiften seine Stirn. Er legte den Kopf an Rans Schulter. Wollte nicht sprechen, nichts sagen müssen. Die Nachwirkungen der körperlichen und geistigen Vereinigung hatten ihn bis in seine Grundfesten erschüttert und er hatte das Gefühl, wenn er sich jetzt bewegte, würde er einfach auseinanderfallen. Er brauchte einen Augenblick, um sich wieder zu sammeln.   Minutenlang standen sie einfach nur so da, bis das Zittern in seinen Beinen sich etwas gelegt hatte und sein Herz wieder in einem einigermaßen normalen Rhythmus schlug. Erst dann wagte er es, den Kopf zu heben und Ran in die Augen zu sehen. Darin rangen Sorge und Zuneigung gerade um die Vorherrschaft und er spürte, wie sich ein schlechtes Gewissen zu regen begann. Das musste er sofort unterbinden. „Das war großartig“, schaffte er trotz der Trockenheit in seinem Mund hervorzubringen und küsste Ran leicht auf die Wange. „Genau das, was ich gebraucht habe.“ Ein schmales Lächeln antwortete ihm. „Ich … fand es auch sehr schön.“ Die leichte Sorge, die in den Worten mitschwang, vertrieb er mit einem weiteren Kuss. Er schlang die Arme um Rans Hals und küsste ihn so lange und ausgiebig, dass der schließlich protestierend den Kopf abwandte und ihn entschieden in Richtung Bett schob. Dort angekommen fielen sie einfach auf die Matratze. Tim ließ sich an Rans Seite gleiten, ein Bein über seinem Oberschenkel drapiert, den Arm über seinem Brustkorb. „Lass uns ein wenig ausruhen“, murmelte er und schloss die Augen. Er brauchte jetzt wirklich eine Pause. Über alles weitere würde er sich danach Gedanken machen.     Kapitel 20: Schmetterlingseffekt -------------------------------- Ran strich durch die kupferroten Haarsträhnen, die sich über seiner bloßen Brust ringelten. Sie waren weich und rochen frisch gewaschen. Er fühlte den Drang, seine Nase darin zu vergraben und einfach wieder die Augen zu schließen. Aber das war unmöglich, denn seit er erwacht war, drehten sich die Gedanken in seinem Kopf unendlich im Kreis. Was hatte er nur getan? Warum hatte er das zugelassen? Warum hatte er Tim nicht die Wahrheit gesagt? Dass es für sie keine Zukunft geben konnte. Dass sie es beenden mussten, bevor jemand verletzt wurde. Er verzog den Mund. Er wusste, warum nicht. Weil es dafür schon längst zu spät war. Er hatte es in Tims Blick gesehen. Diese wundervollen, hellen Augen, die bis auf den Grund seiner Seele zu schauen schienen. Er konnte nur von Glück sagen, dass es nicht tatsächlich so war. Den Ausdruck, den sie dann angenommen hätten, hätte er nicht ertragen. Wenn sie all das Blut, den Hass, seine dunkle Seite gesehen hätten. Das Monster, das er in Wirklichkeit war. In Tims Augen konnte er sein, wer er gern gewesen wäre. In Tims Augen war er Ran, der unschuldige, junge Mann, der Blumenhändler, derjenige den er liebte und … begehrte. Ein wunderschöner Zerrspiegel der Realität, eingebettet in einen Kokon aus Lügen. Nur dass es in diesem Fall nie einen Schmetterling geben würde.   Ran schloss nun doch wieder die Augen. Das verräterische Stechen darin gefiel ihm nicht. 'Wenn ich nicht so spät dran gewesen wäre, wäre das alles nicht passiert', dachte er bei sich. 'Ich wollte doch Aya besuchen und dann …' Dann hätte er Tim anrufen wollen und ihm sagen, dass sie sich nicht mehr treffen konnten. Er wäre sogar zu feige gewesen, es ihm persönlich zu sagen. Er war wirklich erbärmlich. Aber wie hätte er es tun können, wenn er ihn direkt vor sich hatte? Was, wenn er … Ran hatte keine Ahnung, wie Tim reagiert hätte. Reagieren würde, denn es stand außer Frage, dass er es ihm sagen musste. Aber wann? Und wie? 'Ich könnte jetzt wirklich deine Hilfe gebrauchen, kleine Schwester. Du bist so viel besser im Umgang mit Menschen als ich. Das habe ich immer an dir bewundert. Du bist immer mit allen gut ausgekommen, wolltest allen helfen. Du hättest gewusst, was ich sagen muss, damit ... damit es nicht so wehtut.' Aber Aya war nicht mehr da. Er hatte sie für immer verloren. Und jetzt? Jetzt würde er auch noch Tim verlieren. Es war einfach nicht fair. Er wollte sich zusammenrollen und für immer in diesem Kokon bleiben. Hier war es warm und weich und niemand konnte ihm etwas anhaben. Hier drinnen war die Welt in Ordnung.   Neben ihm begann Tim sich zu regen. Er hob den Kopf und blinzelte Ran an. „Sag bloß, ich bin eingeschlafen.“ „Das sind wir beide“, erwiderte Ran mit einem Lächeln. „War 'ne harte Nacht.“ Tim fragte nicht nach, wie er das meinte. Er streckte sich wie eine Katze und drapierte sich dann wieder auf Rans Brust. „Ich könnte hier ewig liegenbleiben.“ Er rekelte sich und nahm Ran noch ein wenig mehr in Beschlag. Seine Fingerspitzen fuhren langsam über Rans Arm. „Was hältst du davon, wenn wir einfach weglaufen? Irgendwohin, wo uns niemand findet.“ Ran lachte auf. „Und wo sollte das sein?“ Er fragte nicht, wovor sie davonlaufen wollten. „Keine Ahnung. Irgendeine Insel mitten im Pazifik oder so.“ „Genaugenommen befinden wir uns gerade auf einer Insel im Pazifik.“ Tim hob den Kopf und sah ihn mit kraus gezogener Nase an. „Seit wann bist du so ein … wie sagt man Klugscheißer auf Japanisch?“ Ran zog die Augenbrauen hoch. „Hast du mich gerade beleidigt?“ „Darauf kannst du Gift nehmen.“ Tim grinste ihn an. „Möchtest du mich dafür bestrafen?“ Sein Tonfall machte deutlich, das er das anzüglich meinte. Der Gedanke löste ein eigenartiges Kribbeln in Rans Magengrube aus. Tims Grinsen wurde breiter. „Ich wusste, dass du auf so was stehst.“ „Worauf?“, krächzte Ran und fühlte verräterische Wärme über seine Wangen kriechen. „Nun tu nicht so unschuldig.“ Tim richtete sich auf. „Du würdest mich doch am liebsten mal so richtig übers Knie legen.“ Ran schüttelte entschieden den Kopf, obwohl die Bilder, die ihm dazu durch den Kopf schossen, durchaus anregend waren. „Ich könnte dir nie wehtun.“ Tim lächelte. „Ich weiß. Und das liebe ich so an dir.“ Er schob sich weiter nach oben und sah Ran direkt in die Augen. Sein Gesicht schwebte über ihm und für einen Augenblick vergaß Ran alles, worüber er vor wenigen Minuten noch gegrübelt hatte. Er sah sich selbst als winziges Spiegelbild in Tims Augen und da war es wieder, das Gefühl, dass alles in Ordnung war. Das alles gut werden würde. Ohne zu überlegen hob er den Kopf ein wenig und platzierte einen Kuss auf Tims Lippen. Der schloss die Augen und erwiderte den Kuss. Ihre Münder berührten sich ganz leicht, fast zart, vorsichtig, so als wollten sie testen, ob das Gebiet, auf dem sie sich bewegten, auch sicher war. Rans Herz begann schneller zu schlagen. Er wollte sich zurufen, dass das falsch war. Dass er sofort aufhören sollte, aber er hörte sich selbst nicht zu. Im Gegenteil hob er die Hand in Tims Nacken und intensivierte den Kuss. Tim reagierte darauf, indem er sich noch weiter auf Ran schob. Er rutschte über ihn, völlig ungeachtet der Tatsache, dass er immer noch vollkommen nackt war. Als sein Unterleib über Rans Schritt glitt, reagierte dieser sofort. 'Unersättlich', schoss es Ran durch den Kopf, aber er hatte keine Zeit, sich deswegen zu schämen. Tims Zunge glitt über seine Lippen, bevor er spielerisch hineinbiss und die Unterlippe mit den Zähnen nach unten zog. Es fühlte sich aufregend an. „Sieht so aus, als müssten wir noch eine zweite Runde einlegen“, grinste Tim über ihm und rieb seinen Unterleib an Rans Erektion. Auch er war schon wieder bereit.   Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sich Tim ein Stück tiefer und hakte seine Zeigefinger in den Bund von Rans Hose. Langsam aber stetig zog er den Stoff nach unten. Ran kippte die Hüfte an, um ihm behilflich zu sein und nur einen Augenblick später lag er vollkommen nackt auf dem Bett. Tims Blick glitt über seinen gesamten Körper und Ran fühlte einen heißen Schauer über seinen Rücken laufen. In den hellblauen Augen lag ein Feuer, das ihn zu versengen schien. Er streckte die Hand aus. „Komm zu mir.“ Tim lächelte, schüttelte aber den Kopf. „Zuerst will ich noch ...“ Ran sog scharf die Luft ein, als sich Tims Kopf plötzlich in seinen Schoß senkte. Die langen Haare fielen wie ein Vorhang herab und streichelten Rans Oberschenkel. Das feine Gefühl trat jedoch vollkommen in den Hintergrund, als sich feste Lippen um seinen Schaft legten und eine geschickte Zunge die empfindliche Spitze zu liebkosen begann. „Ah … Tim!“ „Mhm?“, machte der und die Vibration des Lauts ließ Ran aufkeuchen. Tims Zunge wanderte in kleinen Kreisen um die seidige Härte und hinterließ einen feuchten Film. Sein Atem strich warm darüber und dann senkte er sich weiter nach unten, nahm Ran vollkommen in sich auf. Das Gefühl der plötzlichen Enge und die Intimität der Berührung waren fast mehr, als Ran ertragen konnte. Er bemühte sich, nicht dem Drang nachzukommen, in die feuchte, warme Höhle zu stoßen. Es kostete ihn seine ganze Beherrschung, besonders als Tim anfing, seinen Kopf in kleinen Bewegungen auf und ab zu bewegen. Ran begann zu zittern, biss sich auf die Lippen, versuchte krampfhaft stillzuliegen. Das Gefühl war unbeschreiblich intensiv. Fast so, als würde er … Er keuchte erleichtert, als sich Tim von ihm zurückzog. Der wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Auf seinem Gesicht lag ein amüsierter Ausdruck. „Ich nehme an, dass das heißt, dass es dir gefallen hat?“ Rans Atem ging schnell, er konnte nur noch nicken. Seine Glieder schienen aus Pudding zu bestehen, obwohl sein ganzer Körper vor Energie summte und vibrierte. Unfähig sich zu erheben, griff er nach Tims Hand und zog ihn auf sich. Ihre Lippen fanden sich zu einem Kuss. Eine halbe Ewigkeit küssten und streichelten sie sich nur, bis Ran das Gefühl hatte, wieder Herr über seinen Körper zu sein. Er ließ seine Hand zwischen Tims Beine gleiten und umfasste ihn mit einem festen Griff. Tim kam der Bewegung entgegen und schloss die Augen. Ran kam nicht umhin, für einen Augenblick sein Gesicht zu betrachten. Die schmalen, ebenmäßigen Züge, die helle Haut mit den fast unsichtbaren Sommersprossen, die ebenso hellen Augenbrauen, die sich jetzt, da Ran seine Administration intensivierte, zu einem verzückten Ausdruck zusammenzogen, die schmalen Lippen, die leicht geöffnet direkt vor ihm glänzten und über die so wunderbare, kleine Laute drangen, die Ran fast die Beherrschung verlieren ließen. Jetzt wusste er, was ihm gefehlt hatte, als er Tim vorhin genommen hatte. Es war die Nähe, die Wärme. Der Akt an sich war aufregend gewesen, aber er hatte Tim dabei nicht ins Gesicht schauen können. Ein Umstand, den er jetzt zu ändern gedachte. Er wollte sehen, wie der andere die Berührungen genoss. Das leise Stöhnen hören, als er begann, das Gleitgel zu verteilen und ihn vorzubereiten. Der Ausdruck in seinen Augen, als er ihn ihn eindrang, die Arme rechts und links von seinem Körper abgestützt. Er wollte ihn küssen und halten, ihm süße Nichtigkeiten ins Ohr flüstern und ihn … lieben. Das Gefühl war so groß, es schien seinen Brustkorb sprengen zu wollen. Er spürte, wie sich sein Höhepunkt ankündigte, wie sich die Empfindungen zu einem glühenden Punkt in seinen Lenden zusammenzogen, um dann in einem Feuerwerk aus tausend Farben zu explodieren. Der Orgasmus rollte über ihn hinweg, zog ihn in die Tiefe und ließ ihn ertrinken in all den losgelösten Emotionen. Er spürte, wie warme Flüssigkeit über seine Wangen rollte. Eilig vergrub er seinen Kopf an Tims Schulter, damit dieser es nicht sah. Hände krallten sich in seinen Rücken und Ran spürte, wie Tim sich um ihn zusammenzog, seinen eigenen Höhepunkt ritt und zuckend zwischen ihren Körpern kam. Er schloss die Augen und merkte, dass sich erneut Tränen darin sammelten. Sie waren eins und doch fühlte es sich wie ein Abschied an. Ein letztes Mal, das sie zusammen sein konnten, bevor … Er wollte nicht darüber nachdenken. Jetzt nicht und niemals. Es durfte einfach nicht vorbei sein. „Hey!“ Tims Stimme war leise und sanft. Er strich die Haare aus Rans Gesicht und sah ihn mit einem so warmen Ausdruck in den Augen an, dass Ran schon wieder einen Kloß in seinem Hals fühlte. Dem Hochgefühl, das ihn eben noch getragen hatte, folgte tiefe Ernüchterung. Er hatte es schon wieder getan. Er hatte sich in Tims Armen verloren, das Band noch enger geknüpft. Mit jeder Berührung, jedem Kuss, jeder Umarmung machte er alles nur noch schlimmer. Woher sollte er jetzt noch die Kraft nehmen, um diesen wundervollen Menschen von sich zu stoßen? Wie sollte er das schaffen? Es machte ihn krank, sich selbst so hilflos zu sehen. Er musste doch stark sein. Für Tim und auch … für Aya. Warum ihm ausgerechnet jetzt seine Schwester in den Sinn kam, wusste er nicht. Vielleicht weil sie ihn auch oft so angesehen hatte. So wie ihn niemand angesehen hatte; nicht einmal seine Mutter. So als wäre er etwas besonderes, etwas wert, als würde er die Welt für den anderen bedeuten. Sie hatte ihn verstanden, wie es sonst niemand getan hatte. Er vermisste es. Er vermisste sie. Tim beobachtete ihn und auf einmal kam sich Ran schäbig vor. Wenn Tim gewusst hätte, dass er in diesem Moment an seine Schwester dachte, hätte er ihn vermutlich für einen Perversen gehalten. Tims Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Lächeln. „Ich wüsste zu gerne, woran du gerade denkst.“ Hitze kroch über Rans Wangen und er schlug die Augen nieder. „Nichts besonderes. Du hast es wirklich drauf, mich vom Denken abzuhalten.“ Tim lachte auf. „Ich nehme an, das sollte ein Kompliment an meine unglaublichen Fähigkeiten im Bett sein?“ Er grinste und setzte einen Kuss auf Rans Nasenspitze. „Das Kompliment gebe ich gerne zurück. Mit dir zu schlafen, ist etwas ganz besonderes.“ Ran öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, als plötzlich ein hohes Piepen ertönte. Er brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass sein Handy klingelte. Sein richtiges Handy und nicht das, was er für die Kommunikation mit Tim benutzte. Das Handy, dessen Nummer nur eine Handvoll Personen kannte.   Er machte sich von Tim los und sah sich hektisch um. In seinem Zimmer herrschte Chaos und er brauchte einen Augenblick, um den Ton zum richtigen Standort zurückzuverfolgen. Endlich fand er das Telefon unter einem Haufen benutzter Kleidung. Auf dem Display erschien keine Nummer. Er drückte den grünen Hörer und hielt es sich ans Ohr. „Ja?“ „Ah, Aya-kun. Ich dachte schon, ich erreiche dich nicht.“ Omis Stimme klang fröhlich wie immer. Trotzdem wusste Aya sofort, dass etwas vorgefallen sein musste. Und mit vorgefallen meinte er nicht eine fehlgeleitete Bestellung im Blumenladen. „Was ist los?“ Mit gerunzelter Stirn sah er zu Tim, der es sich in seinem, Bett gemütlich gemacht hatte und ihn aufmerksam beobachtete. Verdammt, er konnte nicht frei sprechen. „Tja, weißt du, wir haben unerwarteten Katzenbesuch bekommen. Es wäre schön, wenn du dir das einmal ansehen könntest. Jetzt gleich.“ Katzenbesuch? Manx oder Birman waren also im Koneko. Aber eine Mission schon so schnell nach der vergangenen Nacht? Das musste etwas enorm wichtiges sein. Hinter ihm raschelte die Bettwäsche und warme Arme schlangen sich um seine Taille. Er erstarrte. Um keinen Preis durfte Tim etwas von dem Gespräch mitbekommen. „Ist gut, ich komme.“ Er legte auf und drehte sich herum. Blaue Augen musterten ihn wachsam. „Ist etwas passiert?“ Ayas Gedanken rasten. Er musste sich etwas ausdenken. Eine Ausrede, die ihm Zeit verschaffte. Er musste einen klaren Kopf bekommen. „Meine Schwester“, platzte er heraus. „Es gibt ... Komplikationen. Sie muss noch einmal operiert werden und ich … ich muss zu ihr fahren. Meine Eltern haben mich gerade darum gebeten. Ich muss sofort los.“ „Jetzt?“ Tims Augenbrauen wanderten nach oben. „Aber bis zu deinen Eltern sind es … keine Ahnung? Vier, fünf Stunden Fahrt? Du wirst gar nicht mehr rechtzeitig ankommen.“ „Die Operation ist morgen früh.“ Die Worte flossen über seine Lippen wie Gift. „Wenn ich mich jetzt auf den Weg mache, bin ich noch rechtzeitig da.“ Er unterbrach sich und lehnte sich an Tim, damit er ihm nicht mehr in die Augen sehen musste. Sein Mund strich über Tims Schläfe. „Es tut mir leid. Ich mache es wieder gut.“ 'Lüge, Lüge, Lüge! Du wirst ihn nie wiedersehen!'   Er trat zurück, ließ Tim los. Die fehlende Wärme ließ ihn schlucken. Er musste sich beeilen, sonst würde er womöglich ... Abrupt wandte er sich ab. Begann seine Sachen zusammenzusuchen. Als er sich sein T-Shirt überstreifte und nach einer frischen Hose suchte, hörte er Tims Stimme. Sie klang irgendwie dünn. „Du liebst sie sehr, oder?“ Ran zog entschieden den Stoff nach unten. „Sie ist meine Schwester. Ich würde alles für sie tun.“ Er drehte sich nicht um, stopfte einige Sachen in eine Tasche, so als wolle er tatsächlich wegfahren. Es musste überzeugend wirken. Vielleicht sollte er für einige Tage nicht in seiner Wohnung schlafen. Er steckte noch einen zusätzlichen Pullover ein. Nur nicht darüber nachdenken, nur nicht umdrehen. „Ran?“ Er atmete tief durch. Das war so schwer. Und feige. Er hätte sich selbst dafür schlagen können. „Ran?“ Erneut rief Tim ihn und dieses Mal konnte er es nicht ignorieren. Er drehte sich herum und sah Tim ins Gesicht. Der hatte die Hände ineinander verschränkt und lächelte schief. „Ich wünsche dir eine gute Reise.“ Er nickte, versuchte ein neutrales Gesicht zu machen. „Danke. Ich … bin in ein paar Tagen zurück.“ 'Lügner!' Er nahm seine Tasche, trat zu Tim und küsste ihn flüchtig auf die Lippen. „Ich verspreche es dir, okay? Kann ich dich hier allein lassen?“ Das Grinsen kehrte auf Tims Gesicht zurück. „Natürlich nicht. Ich werde alle deine Schubladen durchwühlen, deine Unterwäsche anziehen und mir deine Pornosammlung ansehen. Erwarte also nicht, bei deiner Rückkehr ein sauberes Bett vorzufinden.“ Ein Bild von Tim, der sich zwischen seinen Laken selbst befriedigte, ließ Ran schlucken. Verdammt, der Kerl hatte es wirklich faustdick hinter den Ohren. Er musste hier weg. „Pass auf dich auf“, murmelte er und küsste Tim noch ein letztes Mal, bevor er sich entschieden umdrehte und aus der Wohnung stürzte. Er fühlte sich furchtbar und versuchte krampfhaft, die Maske heraufzubeschwören, die er gleich im Koneko brauchen würde. Es wollte ihm nicht so recht gelingen.         Omi sah mit gerunzelter Stirn auf den Telefonhörer, in dem es gerade geklickt hatte. Aya hatte einfach aufgelegt. Nicht unbedingt ungewöhnlich, aber irgendetwas daran störte ihn. Er fühlte, wie seine Wangen warm wurden, als ihm aufging, dass Aya nicht allein gewesen war. Die Geräusche aus dem Hintergrund hatten vermutlich von seinem Freund hergerührt. Er hatte ihn bei einer Verabredung gestört. „Alles in Ordnung, Omi?“ Manx sah ihn fragend an. Ihre roten Haare fielen heute glatt über ihre Schultern und sie hatte die Jacke ihres Kostüms über einem Schreibtischstuhl drapiert. Das halbdurchsichtige, schwarze Oberteil hätte sicherlich die Blicke einiger Männer auf sich gezogen, wenn welche anwesend gewesen wären. Im Keller befanden sich jedoch momentan nur sie und Omi. „Ja, alles bestens. Yoji müsste bald von der Auslieferung zurück sein und Ken verräumt nur noch die gelieferten Schnittblumen.“ „Und Aya?“ Das Blut pulsierte in Omis Ohren. „Der macht sich auch auf den Weg.“ Manx' Blick ruhte für einen Augenblick auf ihm, dann seufzte sie. „Es war ja abzusehen, dass ihr heute nicht mit meinem Besuch gerechnet habt. Dein Bericht von letzter Nacht ist heute Morgen erst auf meinem Schreibtisch gelandet.“ „Auf deinem? Aber ich dachte, Birman betreut Hibinos Fall.“ Manx sah ihn nicht an. „Nachdem sie deinen Bericht gelesen hatte, hat sie ihn an mich abgegeben.“ Er runzelte die Stirn, ging im Geiste ihre letzten Missionen durch und sah plötzlich einen Zusammenhang. „Es liegt an dem, was Hibino gesagt hat, oder?“ Manx blickte immer noch nicht auf. „Was meinst du?“ „Ich spreche von Takatori. Alle Missionen, die etwas mit ihm zu tun haben, bekommen wir von dir. Die neue gehört auch dazu, nicht wahr?“ Manx seufzte erneut. „Du bist manchmal schlauer, als gut für dich ist.“ Sie sah auf und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ja, es liegt an Takatori. Die Namenslisten, die du aus Hibinos Büro mitgebracht hast, decken sich zum Teil mit denen des neuen Falls. Wir vermuten daher einen Zusammenhang. Irgendjemand plant eine fürchterliche Schweinerei und geht dabei buchstäblich über Leichen.“ „Und ihr denkt, dieser jemand ist Masafumi Takatori.“ Manx zögerte, bevor sie antwortete. „Wir vermuten, dass sowohl er wie auch sein Bruder und sein Vater in die Sache verwickelt sein könnten.“ „Die ganze Familie?“ Omis Augenbrauen wanderten Richtung Haaransatz. „Was für ein Schlamassel.“   Manx sah ihn für einen Augenblick an, dann schob sie ihm die Akte hin. „Am besten siehst du dir das selbst einmal an.“ Dass Manx ihm die Unterlagen gab, bevor er und die anderen die Mission empfangen hatten, war ungewöhnlich. Ein wenig zögernd nahm er daher die Dokumente entgegen und begann zu lesen. Während er die Zeilen überflog, wurde seine Miene immer finsterer. „Dieser ...“ er las noch einmal am Anfang des Textes nach, „ dieser Ajino, er spricht nicht von Takatori. Seine Email ist furchtbar präzise, was Daten und Ortsangaben angeht und er nennt auch einige Namen, aber Takatoris ist nicht darunter. Wie kommt das?“ Manx zuckte mit den Schultern. „Wir wissen es nicht. Diese Verbindung haben wir nur durch deine Nachforschungen anstellen können. Wie gesagt, die Liste der Jungen, die Hibino nach eigener Aussage an Masafumi ausgeliefert hat, decken sich teilweise mit der Liste der Opfer aus der Email. Außerdem ist das Datum der neuen Schlachtorgie gleich dem von Takatoris großer Pressekonferenz. Wir denken, dass es da einen Zusammenhang gibt.“ Omi runzelte die Stirn und fing an, seine Unterlippe zwischen den Fingern zu kneten. „Das ist aber mehr als dürftig, Manx.“ „Zweifelst du etwa an deinen Ordern?“ Die Schärfe in ihrer Stimme ließ ihn aufsehen. Er lächelte entschuldigend. „Nein ich zweifele nicht an Persers Auftrag. Ich gebe nur zu bedenken, dass Weiß eine eindeutige Zielperson braucht. Diese ganze Aktion ist binnen kürzester Zeit aus dem Boden gestampft worden. Aufgrund der Email eines Unbekannten, wenn ich es recht verstanden habe. Oder habt ihr den Mann inzwischen ausfindig machen können?“ Manx schüttelte den Kopf. „Seine Wohnung war leer, lediglich einige Kleider und sein Pass fehlten. Wir vermuten, dass er das Land verlassen will oder es bereits hat.“ „Wir haben also irgendeinen kleinen Computertechniker, der auf einmal mit wahnwitzig wichtigen Informationen an Kritiker herantritt und danach spurlos verschwindet. Woher er die Kontaktadresse hatte, ist auch nicht geklärt. Und er lässt zwar ein paar Namen bekannter Unterweltgrößen fallen, verschweigt dabei aber den vermutlich wirklichen Drahtzieher der ganzen Sache. Ganz ehrlich Manx, wonach hört sich das für dich an?“ Sie presste die Kiefer zusammen und antwortete nicht. Er ballte die Hand zur Faust. „Ich sage dir, wonach sich das anhört. Das klingt nach einer Falle.“ „Mach dich nicht lächerlich. Wer sollte denn Weiß eine Falle stellen?“ Ihre Antwort kam zu schnell, um nicht einstudiert zu sein. „Manx, was ist hier los? Warum besteht Perser auf dieser Mission? Warum lässt er uns so blind ins Verderben laufen?“ Manx antwortete nicht und wich seinem Blick aus. Omi konnte diese Reaktion nicht einordnen. Wusste sie, worum es wirklich ging? Oder wusste sie es nicht, konnte Persers Entscheidung aber ebenfalls nicht gutheißen? Oder war sie mit allem einverstanden, und verschwieg ihm etwas, das ein Risiko für Weiß darstellte?   Von oben drangen Laute an sein Ohr. Er wusste, das in wenigen Augenblick einer der anderen die Treppen hinunter kommen konnte. Er musste sich schnell entscheiden. Mit entschlossenem Gesicht baute er sich vor Manx auf. „Wir werden diese Mission durchführen, aber ich werde entscheiden, welche Informationen ich an die anderen weitergebe. Sollte sich das Ganze tatsächlich als Falle herausstellen, werde ich persönlich zu Perser gehen und ihm klarmachen, was ich davon halte, einen so schlampig vorbereiteten Auftrag zu bekommen. Er hat mich ausgebildet, um das Team zu führen. Dann sollte er mir jetzt auch vertrauen. Das sind meine Bedingungen.“ Manx sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an. „Omi, wenn ich ihm das sage, dann ...“ „Dann was, Manx? Wird er mich dann ersetzen?“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Ich habe keine Erinnerung an das, was vor meiner Zeit bei Weiß war. Weiß ist meine … Familie, wenn man so will. Sie sind das Einzige, was ich zu verlieren habe außer meinem Leben. Und das werfe ich jedes Mal in die Waagschale, wenn es daran geht, eine Mission für Perser zu vollenden. Was also will er mir noch nehmen, was ich nicht ohnehin schon fast verloren habe?“ Es waren Schritte auf der Treppe zu hören. Kens und Yojis Stimmen hallten von den Kellerwänden wieder. Manx atmete tief durch. „Also schön, ich werde es ihm sagen.“ Sie reichte ihm die Videokassette. „Es ist deine Entscheidung.“ Omi nickte und lächelte. „Danke sehr, Manx. Und mach dir keine Sorgen. Wir werden das schon hinkriegen.“     Kapitel 21: Alles auf Sieg -------------------------- Schuldig zog sich das Band aus den Haaren, dass die rote Flut zu einem züchtigen Pferdeschwanz zusammen gehalten hatte, und löste den Knoten seiner Krawatte. Zum Schluss öffnete er noch den obersten Hemdknopf und hatte seit Stunden das erste Mal wieder das Gefühl, einigermaßen frei atmen zu können. Nicht, dass das in dem fensterlosen Kabuff, in dem er mit Nagi hockte, wirklich der Fall gewesen wäre, aber die Illusion genügte ihm fürs Erste. Dieser Tag hatte wirklich einen Eintrag im Guinnessbuch für die schlimmsten Tage in seinem Leben verdient.   Angefangen hatte es damit, dass Farfarello ihn geweckt hatte. Nun, geweckt war nicht wirklich der richtige Ausdruck dafür. Wachgestarrt traf es wohl eher. Er hatte sich redlich bemüht, dem irren Iren aus dem Weg zu gehen, so gut es ging, aber dieser war so penetrant in seiner Nähe geblieben, dass er sich gezwungen gesehen hatte, bereits Stunden vor seinem geplanten Arbeitsbeginn die Wohnung zu verlassen. Er hatte Crawford angerufen, aber nur die Mailbox dranbekommen. Also hatte er eine ziemlich angepisste Nachricht hinterlassen, dass das Orakel ihm gefälligst eine Voraussage bezüglich seiner Rückkehr in den aktiven Dienst zukommen lassen sollte, und dann war er auch schon in Takatoris Büro zitiert worden, weil die Schnepfe am Empfang ihn verpetzt hatte. Diesem Debakel war eine Odyssee an gesellschaftlichem Affentheater gefolgt, an das Schuldig sich weigerte, auch nur einen weiteren Gedanken zu verschwenden. Er war Takatori brav hinterher gedackelt, hatte ihm unangenehme Reporter vom Hals gehalten, unendliche Tiraden an belanglosem Geschwafel und den sicher schwülsten Tag seit Jahrzehnten ertragen und dabei noch versucht, Fotos oder Kameraaufnahmen möglichst aus dem Weg zu gehen. Warum er das getan hatte, war ihm selbst schleierhaft. Es zögerte das Unvermeidliche nur hinaus. 'Wenn das überhaupt möglich ist. Nicht nur, das Ran wild entschlossen ist, mich nicht mehr wiederzusehen, da ist auch noch Farfarello. Er wird Ran umbringen, wenn ich nichts unternehme. Und wenn ich Ran die Wahrheit sage, wird er mich umbringen. Um das zu verhindern, würde es schon ein Wunder erfordern.' Er schloss die Augen und lehnte die Stirn an die Wand. Der kühle Stein scheuerte auf seiner Haut und brachte wenig Linderung für seine sich ankündigenden Kopfschmerzen. Er hätte dringend eine Pause gebraucht, aber die würde er wohl so bald nicht bekommen. Zunächst galt es noch, die nächste Spielrunde über die Bühne zu bringen. Takatori hatte ihn persönlich das Publikum dafür auswählen lassen. Die Abgründe und Perversitäten, durch die er sich dafür hatte wühlen müssen, hatten einen schalen Geschmack hinterlassen, aber am Ende hatte er drei geeignete Kandidaten herausgefiltert. Männer, die diesen besonderen Spaß zu schätzen wussten und gleichzeitig Takatori mit Geld oder Einfluss unterstützen konnten. Einer von ihnen hatte regelrecht mentalen Schluckauf vor lauter Aufregung und seine auf und ab hüpfenden Gedanken ließen den Telepathen mit der Hand in Richtung seiner Waffe zucken. Er hasste den Kerl schon jetzt. Ein affektiertes, schmales Männlein, das ihn an einen überdrehten Zirkusaffen erinnerte, aber Vorsitzender irgendeiner Firmenkette war, die Takatori seinem Imperium einzuverleiben gedachte. Er stand darauf, Frauen mit Abfall zu bewerfen und auf dem Boden herumkriechen zu lassen wie Tiere. „Wie schade, dass Sie keine Frauen unter den Spielern haben“, quäkte seine unerträgliche Stimme gerade durch die einen Spalt offenstehende Tür. „Das Spektakel wäre sicherlich nicht zu verachten. Und wer weiß, was die Jäger wohl mit ihr anstellen würden, bevor sie sie erlegen.“ Nach diesem derben Scherz fielen auch die anderen Anwesenden in dröhnendes Gelächter ein.   Schuldig erhob sich und schloss mit einer entschiedenen Geste die Tür. Sein Blick fiel auf Nagi. „Können wir bald anfangen? Ansonsten sind die ersten Toten die Knilche da drüben.“ Der Junge hob den Blick nicht von seinem Laptop. „Fast fertig. Ich checke eben noch die Kammern, dann kann es losgehen. Hast du Farfarello gebrieft?“ „Wenn du meinst, ob ich ihm gesagt habe, dass er die anderen Jäger in Ruhe lassen und nicht alle Opfer alleine killen soll, dann ja. Ich kann dir aber nicht versprechen, dass er sich daran hält. Du weißt ja, wie er manchmal ist. Wenn er einmal Blut geleckt hat ...“ Nagi murmelte etwas, das sich verdächtig nach Elektrohalsband anhörte und malträtierte weiter die Tasten.   Schuldig kehrte wieder zu seiner Wand zurück und starrte die roten Steine an. Vielleicht verbarg sich ja irgendwo in dem durchbrochnen Muster eine Antwort auf die Frage, die ihn beschäftigte. Immerhin hieß es ja auch, dass man, wenn man 1000 Affen eine Schreibmaschine gab, irgendwann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einen Shakespeare erhalte. Warum also sollte sich die Antwort auf ein unlösbares Rätsel nicht in einem Haufen Ziegelsteine verbergen? Irgendwo in seinem Kopf war die Lösung zum Greifen nahe, aber immer, wenn er dachte, dass er gleich darauf kommen würde, entschlüpfte ihm der Gedanke wieder, wurde übertönt von dem dröhnenden Nichtigkeiten, die den Leuten um ihn herum durch den Kopf gingen.   'Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.' Er schloss die Augen. 'Mit jedem Sandkorn, das verrinnt, steigt die Chance, das Ran die Wahrheit erfährt. Ich hätte ihn doch aufhalten sollen.' Stattdessen hatte er ihn gehen lassen. Er hatte sich auf das Bett fallen lassen, das noch die Wärme ihrer vereinten Körper erahnen ließ, und hatte die Tür angestarrt, die sich hinter Ran geschlossen hatte. Unfähig sich zu rühren, hatte er fast eine Stunde auf dem Bett gehockt, bis er endlich die Kraft gefunden hatte, sich wieder zu erheben. Als er sich hatte anziehen wollen, war sein Blick auf die Schranktür gefallen, die Ran nicht ganz geschlossen hatte. Sich an seine scherzhafte Drohung erinnernd, war er hinzugetreten und hatte die Tür langsam aufgeschoben. Sein Blick war über den Inhalt des Schranks geglitten und schließlich an einem länglichen Paket hängengeblieben, das an der Rückseite des Schranks gelehnt hatte. Er hatte es herausgenommen und kurz darauf Rans Katana in Händen gehalten. Er erinnerte sich noch an den Anblick seines Spiegelbilds in der schimmernden Klinge. 'Ob es so wohl enden wird?Wird er irgendwann mit hasserfülltem Blick und gezogener Waffe vor mir stehen? Und werde ich ihn aufhalten können? Werde ich das wollen?' Er schüttelte den Kopf, wenn er daran dachte, was er anschließend getan hatte. Er hatte das Schwert wieder sorgfältig verpackt, hatte die Wohnung verlassen und war zu dem Krankenhaus gefahren, in dem Rans Schwester lag. Die Adresse hatte er ohne Probleme schon vorher aus Rans Gedanken herausgelesen. Er erinnerte sich nicht mehr genau daran, warum er das getan und was er im Krankenhaus gewollt hatte, aber das war vermutlich ebenfalls die Folge dieses höllischen Tags, der einfach kein Ende nehmen wollte. Hinter ihm öffnete sich die Tür und das Stimmengewirr aus dem nächsten Raum wurde wieder lauter. Als er sich umdrehte, sah er Takatoris Assistentin, deren Stirn einige senkrechte Falten zierten. Ihren Gedanken nach hatte sie sich einige anzügliche Bemerkungen gefallen lassen und hegte jetzt den Wunsch, einige der Männer im Raum nebenan mithilfe scharfer Gegenstände von ihren Reproduktionsorganen zu trennen. Schuldig hätte beinahe über ihre Wortwahl gelacht. Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, als er sie angrinste, und beugte sich dann zu Nagi hinab, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Der Junge nickte und sie richtete sich wieder auf, nur um nach einem weiteren, dieses Mal undeutbaren Blick auf Schuldig, wieder aus dem Zimmer zu stolzieren. Als sie den Nebenraum betrat, wurden die Stimmen der Männer wieder lauter, aber dankbarerweise schloss sie die Tür hinter sich. Schuldigs Aufmerksamkeit heftete sich an Nagi. „Alles klar bei euch?“ Nagi hob die Augen nicht vom Bildschirm. „Es läuft alles nach Plan. Das Spiel kann anfangen.“ Er gab einen entsprechenden Befehl an die Wachen und konzentrierte sich dann völlig auf das, was auf dem Bildschirmen vor ihm vor sich ging. Durch die Tür konnte man Hirofumi noch einmal die Regeln erklären hören.   Schuldig seufzte innerlich, erhob sich aber, um kurz einen Blick auf die heutigen Kandidaten zu werfen. Einige davon waren relativ vielversprechend, wenn man es mit normalen Maßstäben betrachtete. Allerdings hatten auch die Jäger wieder Zuwachs bekommen. Neben dem Mann mit der doppelläufigen Flinte und dem Lanzenträger stand noch ein Mann, auf dessen Rücken eine Art Rucksack saß. In der Hand hielt er eine Vorrichtung, die ebenfalls an ein Gewehr erinnerte, jedoch durch einen Schlauch mit dem Tank auf seinem Rücken verbunden war. Ein Flammenwerfer. Passend dazu zeigte seine Maske das Gesicht eines Drachen. „Ich möchte mal wissen, wo Hirofumi den aufgetrieben hat“, schnaubte Schuldig und ließ sich auf den Stuhl neben Nagi fallen. Vielleicht war es das Beste, wenn er sich etwas ablenkte. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, so was wie Ablehnung von Nagi aufzufangen, aber das Gefühl war so schnell wieder vorbei, wie es gekommen war. Er kniff die Augen zusammen und rieb sich über die brennenden Lider. Vermutlich war er wirklich überarbeitet. „Hast du Farfarello irgendwo auf dem Schirm? Ich will sehen, ob er sich an die Anweisung wegen der Maske gehalten hat. Nochmal kann ich uns bei Takatori bestimmt nicht rausreden.“ Nagi kniff die Lippen zusammen und drückte einige Knöpfe. Auf dem Bildschirm erschien die Übertragung einer anderen Kamera. Sie zeigte den Innenhof, den die Kandidaten des heutigen Spiels gerade betraten, aus einem anderen Blickwinkel. Im Hintergrund konnte man eine Gestalt erkennen, die gegen die Wand gelehnt dastand und anscheinend nicht viel mit der Szenerie, die sich vor ihr ausbreitete, zu tun hatte. Nagi visierte die Person an und erhöhte den Zoom. Im nächsten Augenblick konnte man Farfarello erkennen, der sich von der Wand abstieß und langsam zu den anderen Jägern herüberschlenderte. Vor seinem Gesicht saß eine schmucklose, weiße Maske, an deren Stirn kleine Hörner saßen. Eigenartigerweise sah er dadurch weniger bedrohlich aus als sonst. „Na wenigstens das hat geklappt“, sagte Schuldig und lehnte sich etwas zurück. „Vielleicht kriegen wir das Ganze ja mal glatt über die Bühne.“ Nagi antwortete immer noch nicht. Wenn er dazu aufgelegt gewesen wäre, hätte Schuldig vielleicht versucht herauszufinden, was dem Jungen durch den Kopf ging, aber er spürte wenig Verlangen danach, sich durch die Mauer aus Berechnungen und Informationen über die Arena zu wühlen, die Nagi um seine Gedanken errichtet hatte. Wenn der Kleine seine Gedanken heute für sich behalten wollte, sollte er das in Schuldigs Namen tun. Einer weniger, der ihm auf den Sack ging. „Am besten behältst du ihn ein bisschen im Auge“, bemerkte er noch, bevor er den Kopf in den Nacken legte und erneut die Augen schloss. „Nicht, dass doch noch etwas schiefgeht.“ „Das wird es nicht“, gab Nagi zurück. „Das wird es ganz bestimmt nicht. Ich habe alles genaustens geplant.“         Vor ihnen lag ein Areal aus unübersichtlichen Gassen und halb hohen Gebäuden, über dem sich ein Gewirr aus unterarmdicken Leitungen spannte. Am Horizont konnte Aya die Masten der Umspannungsstation erkennen. Ein Stück weiter zur Rechten wurde ein Teil des ehemaligen Elektrizitätswerks von großen Scheinwerfern hell erleuchtet. Irgendwo in diesem Teil der Anlage mussten sich ihre Zielpersonen befinden. Es handelte sich um drei durchaus bekannte Untergrundgrößen, die anscheinend alle ihre Finger in der zur Belustigung zahlender Kunden veranstalteten Menschenjagd hatten. An sie heranzukommen würde allerdings aufgrund der großen Anzahl an Wachpersonal und Zivilisten nicht ganz einfach sein. Und dann waren da auch noch die Jäger. „Also nochmal: Unser Plan ist es, ungesehen auf die andere Seite zu kommen und dort die drei Ziele zu eliminieren.“ Ken rollte mit den Augen. „Das hast du uns jetzt schon x-mal erklärt, Omi. Ich verstehe trotzdem nicht, warum ich ausgerechnet mit Yoji zusammen durch dieses Labyrinth eiern muss. Der hält mich nur auf.: „Hey, pass auf, was du sagst.“ Yoji schnippte seine Zigarettenkippe in Kens Richtung. Ken wich dem Geschoss auf und machte eine unanständige Geste. „Sorry, Yoji, aber du bist lahm.“ „Nur weil ich nicht durch die Gegend haste wie ein angestochenes Schwein, bin ich noch lange nicht lahm. Ich habe immerhin viel längere Beine als du.“ „Jungs, das ist jetzt wohl kaum der richtige Zeitpunkt. Ich habe jeweils einen Nah- und einen Fernkämpfer in die Teams gepackt. Außerdem einen großen und äh … einen kleinen.“ Omis Nase zeigte einen verdächtigen Rotschimmer, der sich noch verdunkelte, als Ken ihm einen finsteren Blick zuwarf. „Also schön, dann setz dich in Bewegung, alter Mann“, knurrte er, drehte sich um und verfiel sofort in einen leichten Dauerlauf. „Alt?“ Yojis Stimme war einige Tonlagen nach oben geklettert. „Wen nennst du hier alt? Ich werde dir gleich zeigen, wer hier … hey, Ken, warte. Warte!“   Als die beiden im Dunkeln verschwunden waren, atmete Omi hörbar auf. Er drehte sich zu Aya herum und sah ihn aus großen, blauen Augen an. Aya packte sein Katana fester. „Wollen wir?“ Omi holte tief Luft und öffnete den Mund. „Da ist noch etwas, das wir beide vorher klären müssen.“ Aya runzelte die Stirn. Er hatte Kens ganzes Getue um die Teameinteilung nicht verstanden, aber plötzlich dämmerten ihm zwei Dinge. Erstens war diese Aufteilung offensichtlich tatsächlich ungewöhnlich. Und zweitens hatte Omi sie nicht aus den Gründen gewählt, die er ihnen genannt hatte. „Worum geht es?“ Er sah Omi fest in die Augen. In seinem Missionsoutfit und mit der Armbrust in der Hand, wirkte der Teenager ein wenig älter als sonst. Trotzdem konnte Aya nicht umhin zu bemerken, wie unheimlich jung Omi doch noch war. Er war im Grunde noch ein halbes Kind, wenngleich auch der Ausdruck, den sein Gesicht jetzt annahm, diesen Eindruck eindeutig schmälerte. „Es gibt da etwas, das ich allein mit dir besprechen wollte.“ „Du hast Details zur Mission zurückgehalten?“ Omi hatte sie alle genaustens über die örtlichen Gegebenheiten und ihre Zielpersonen in Kenntnis gesetzt. Was also konnte es noch geben? Aya begann, ein eigenartiges Gefühl in der Magengegend zu bekommen. „Bei dieser Mission geht es um mehr als nur das Ausschalten der Zielpersonen. Ich bin ebenfalls hier, um die Verbindung von Masafumi Takatori, sowie seinem Bruder Hirofumi Takatori und ihrem Vater Reiji Takatori mit diesen Verbrechern nachzuweisen. Sollte mir das gelingen, könnte eine der nächsten Missionen diese drei als Ziel haben.“ Aya merkte, dass er die Luft angehalten hatte, als der Name Takatori fiel. Jetzt atmete er langsam wieder aus. Takatori war also auch hier? Vielleicht konnte er … „Ich weiß, was du jetzt denkst, Aya-kun. Du denkst, du könntest den Mörder deiner Eltern schon heute Abend ausschalten. Aber so einfach ist das nicht. Wenn du Takatori ohne Befehl von Perser tötest, bist du nichts weiter als ein gesetzloser Mörder. Das werde ich nicht erlauben.“ „Wer hat gesagt, dass ich dich um Erlaubnis bitten werde?“ Er war erstaunt, wie ruhig seine Stimme noch klang angesichts der Wut, die er in seinem Inneren brodeln fühlte. „Weil ich dein Teamführer bin. Alles, was du tust, wird auch auf mich zurückfallen. Wenn du versagst, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder löse ich das Problem selbst oder ich werde mich mit den Konsequenzen meiner Fehleinschätzung konfrontiert sehen.“ „Anders ausgedrückt: Entweder tötest du mich oder wir sterben beide.“ Aya lachte bitter auf. Omi nickte nur. „Genau so ist es.“ Aya presste die Kiefer aufeinander und dachte nach. Schließlich wandte er sich wieder Omi zu. „Was also schlägst du vor?“ „Ich lasse dir die Wahl, ob du dich bei dieser Mission im Hintergrund hältst und uns die Arbeit überlässt oder ob du denkst, dass du dich zusammenreißen kannst und nichts Dummes anstellst. Es ist deine Entscheidung. Ken und Yoji werden nichts davon erfahren. Das ist eine Sache zwischen dir und mir.“ Ayas Gedanken rasten. Er dachte an die Aufstellung an Sicherheitsvorkehrungen und Wachen, die Omi ihnen aufgezählt hatte. Bei diesem Auftrag kam es auf jeden Handschlag an. „Aber wenn die Mission scheitert ...“ „Weil du uns nicht geholfen hast? Nun, ich denke, in diesem Fall wissen wir beide, was passiert.“ Omis Tonfall hatte sich nicht geändert, obwohl er gerade davon sprach, das gesamte Team in den Tod zu schicken … weil er Aya die Wahl ließ. Wollte er sein persönliches Ziel verfolgen oder würde er sich entschließen, den Befehlen zu folgen und seine Rache noch weiter auf einen unbekannten Zeitpunkt zu verschieben? Wenn es nur ihn betroffen hätte, hätte er gewusst, wie er sich entscheiden sollte. Aber nun hatte Omi nicht nur sein Leben sondern auch noch das des gesamten Teams in Ayas Hände gelegt. Und was würde geschehen, wenn Aya scheiterte und Omi oder wer auch immer ihm den Garaus machte? Wer würde sich dann um seine Schwester kümmern? Die Schwester eines Verräters. Er gab sich einen Ruck. „Also gut, ich werde keine Hand an Takatori legen. Aber sollte sich herausstellen, dass er hieran beteiligt ist, erwarte ich, dass die nächste Mission ihn zum Ziel hat.“ Omi begann zu lächeln. „Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Er schulterte die Armbrust und grinste Aya an. „Aber bis dahin versuchen wir erst mal, Watanabe und die anderen zu erwischen. Lass uns unser Bestes geben.“ Aya fühlte ein kleines Zucken in seinem Mundwinkel. „Gut, geben wir unser Bestes.“       Nagi öffnete einen Kanal, der seine Stimme auf das Spielfeld übertrug. Die Lautsprecher auf dem Innenhof erwachten zu knisterndem Leben. „Das Spiel beginnt in drei … zwei … eins. Go!“ Die Wachen öffneten die Tore, die den Hof verschlossen hatten und trieben die Kandidaten mit anfeuernden Rufen und Luftschüssen in das Gewirr der Häuserschluchten. Auf dem leeren Hof nahmen die Jäger Aufstellung. „Waidmansheil!“, rief der Schütze und ließ sein Gewehr mit einer lässigen Handbewegung durchladen. Mit langen Schritten strebte er dem Ausgang zu. Der mit der Lanze legte zwei Finger an die Stirn, bevor er ebenfalls durch das Tor eilte. Zurück blieben der Flammenteufel und Farfarello. „Komm mir ja nicht in die Quere, sonst röste ich dir den Arsch.“ Mit dieser Warnung drehte sich auch der Jäger mit der Drachenmaske herum und verschwand in den Schatten. Farfarello legte den Kopf schief. Er drehte den Kopf zu einer der Kameras, hob die Hand und zeigte drei Finger.   Im Inneren des Vorführraums sahen sich die Zuschauer an. „Was meint er?“ „Wer ist der Kerl?“ Takatori nahm ärgerlich einen Schluck aus seinem Glas. Der Whiskey brannte in seiner Kehle. Was hatte ihn nur geritten, zu erlauben, dass einer seiner Leibwächter als Jäger eingesetzt wurde? Dieser rothaarige Teufel hatte ihm das eingeflüstert. Er hatte gewusst, dass man ihm nicht trauen konnte. Wenn Crawford hier wäre … Die Tür hinter ihm öffnete sich und besagter Rotschopf betrat den Raum. Sein Gesicht zierte ein joviales Lächeln. „Ich glaube, hier ist eine kleine Erklärung angebracht. Farfarello hat sich erlaubt, eine Ansage zu machen. Die ersten drei Toten werden auf seine Rechnung gehen.“ Die anwesenden Männer begannen zu lachen. „Wie soll das gehen?“, krähte das Affenmännlein. „Er steht ja immer noch im Hof herum.“ Schuldigs Lächeln wurde breiter. „Ach tut er das? Nun, da würde ich noch einmal genau hinsehen.“ Das Männlein drehte sich herum und schaute mit offenem Mund auf den vollkommen verwaisten Hof. „Wo ist er?“, kreischte es im nächsten Moment und deutete auf die Bildschirme. „Der Junge soll es uns zeigen. Ich will sehen, wo der Freak jetzt ist.“ Schuldig fing einen Blick von dem Bodyguard auf, der neben der Tür stand. Natürlich hatte Watanabe es sich nicht nehmen lassen, den Kotzbrocken ebenfalls mitzubringen. Aber während er cool neben der Tür stehen und ein Monument aus Muskeln und dunklem Anzug bilden konnte, musste Schuldig den Animateur mimen. Er beschloss, dem Gorilla später noch Kopfschmerzen zu verpassen. Für den Augenblick beschränkte er sich darauf, die Wünsche des Publikums an Nagi weiterzureichen.   Die Anzeige auf den Bildschirmen änderte sich und als nächstes sah man Farfarello, der ein Messer aus dem Herzen seines ersten Opfers zog. Er sah zu der Kamera empor, die sich auf ihn gerichtet hatte, als wüsste er genau, dass man ihn beobachtete. Der Mann, den er getötet hatte, sank langsam zu Boden, wo er in einer größer werdenden Blutlache liegenblieb. Ein Raunen ging durch den Beobachtungsraum. „Er hat es tatsächlich geschafft. Die anderen Jäger haben noch niemanden erwischt.“ Ein weiterer Mann, dessen Name Schuldig entfallen war, deutete auf die kleineren Bildschirme an der Seite, wo man die übrigem drei Jäger dabei beobachten konnte, wie sie durch die Gassen schlichen. Das Affenmännlein sprang auf. „Also schön, ich lasse mir das nicht bieten. Dieser Jäger macht sich über uns lustig. Ich möchte einem der Kandidaten eine Waffe kaufen.“ Hirofumi, der bis dahin still neben den Bildschirmen gestanden hatte, rückte seinen Brille zurecht und verbeugte sich pflichtschuldig. „Natürlich. Ich lasse ihnen die Auswahl zukommen.“ Er schnipste mit den Fingern und bekam von einer Wache ein Computerpad gereicht, das er an den begierigen Käufer weitergab. Der ließ seine Fingerchen über den Bildschirm gleiten. „Mhm, Verbandszeug, Brandsalbe, Seil, Nachtsichtbrille, Klappmesser … das ist ja alles nur Kleinkram. Wo sind die richtigen Waffen. Ah hier. Ein Revolver. Sehr schön, da wollen wir doch mal sehen, ob dieser lächerliche Teufel kugelsicher ist.“ „Und welchem Spieler möchten Sie die Waffe zukommen lassen?“ Hirofumis Ton war geschäftsmäßig, das Funkeln in seinen Augen jedoch verriet ihn ein wenig. Das Äffchen hatte eines der teuersten Geschenke ausgewählt, das die Kandidaten bekommen konnten. „Keine Ahnung, mir egal. Der, der am nächsten an diesem Freak dran ist.“ Mit einem entschlossenen Daumenabdruck besiegelte das Äffchen den Kauf.   Auf dem Bildschirm sah man jetzt einen der Kandidaten, der mit gehetztem Blick durch die Nacht hastete. Er schrak zusammen, als sich in der Wand, an der er gerade vorbeilief, eine Klappe öffnete und inmitten eines grünen Lichts eine kleine Handfeuerwaffe sichtbar wurde. Ohne lange zu zögern griff er zu und drückte den Revolver an sich. Er sah sich nach allen Seiten um und gefror in der Bewegung. Augenscheinlich hatte er etwas gehört. Mit weit aufgerissenen Augen drückte er sich an die Wand und hielt die Waffe vor sich. Aus der Dunkelheit vor ihm war ein Geräusch zu hören, das an ein leises Lachen erinnerte. Die Haare des Kandidaten hatten sich in seinem Nacken noch nicht komplett aufgerichtet, als ein silberner Blitz durch die Luft sauste und sich neben ihm in die Wand bohrte. Er schrie und hätte beinahe die Waffe fallen lassen, als er der zitternden Klinge gewahr wurde, die nur Millimeter neben seinem Ohr in der Wand steckte. Er fuhr herum, wollte die Waffe wieder heben, aber da war schon eine Gestalt leichtfüßig aus den Schatten auf ihn zugesprungen. Hände legten sich an seinen Kopf, es knackte und der Mann fiel mit gebrochenem Genick zu Boden. Mit einer nachlässigen Geste klaubte Farfarello sein Messer wieder aus der Wand. Er nickte kurz in Richtung Kamera, bevor er wieder in der Dunkelheit verschwand. „Das war unglaublich.“ Der unbekannte Mann klatschte in die Hände und auch die meisten anderen ließen sich zu einem gefälligen Kopfnicken hinreißen. „Takatori-san, diese Überraschung ist ihnen wirklich gelungen.“ Das Äffchen hingegen stürzte ärgerlich ein Glas von Takatoris teurem Alkohol hinunter. „Ich verlange eine Wiedergutmachung. Der Kerl hat die Waffe ja nicht mal benutzt.“ Hirofumi zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Auf die Kampffähigkeiten der Spieler habe ich leider keinen Einfluss. Aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen gerne einen geeigneteren Kandidaten vorführen. Mit ihm sollten Ihre Chancen auf einen Sieg sehr viel höher sein.“ Das Äffchen nickte begierig und Schuldig beschloss, dass seine Aufgabe damit erfüllt war. Die Zuschauer waren begeistert, die Kasse klingelte und sogar Takatori schien vorerst zufrieden. Es lief tatsächlich alles nach Plan.   Mit einem mühsam unterdrückten Seufzen gesellte er sich wieder zu Nagi, der seinen Blick immer noch auf den Bildschirm seines Laptops gerichtet hatte. Schuldig wollte gerade fragen, ob er auch etwas zu trinken wollte, als ihm die Worte im Hals stecken blieben. Der Bildschirm des Laptops zeigte ein vollkommen anderes Areal der Spielarena als das, was auf den großen Bildschirmen zu sehen war. Hier sah man zwei Gestalten nebeneinander durch die dunklen Gassen laufen. Eine von ihnen war ziemlich klein und blond und die andere … die andere war Ran! „Was zum …?“ Schuldig starrte auf den Laptop und konnte es nicht glauben. „Da ist … Weiß! Was zum Geier macht Weiß hier?“ Er sah Nagi verdattert an, der sich mit kühlen Gesichtsausdruck zu ihm umdrehte. In seinen Augen stand jedoch heißer Triumph. „Es könnte sein, dass ihnen jemand eine Einladung geschickt hat. Eine Einladung, die sie nicht ablehnen konnten.“ Schuldig spürte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich. Ihm war, als würde ihm gerade buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen. „Nagi, du kleiner ...“ Nagis unbeteiligtes Gesicht verzog sich zu einem schmalen Lächeln. „Masafumi war sehr interessiert, als ich ihm von Fujimiyas speziellen Fähigkeiten erzählt habe. Farfarello hat den Auftrag, ihn lebend zu fangen. Oder sagen wir mal, in einem einigermaßen lebensfähigem Zustand. Wir werden sehen, wie er diese Anweisung auslegen wird. Du weißt ja, wie er manchmal ist.“   Schuldig wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Oder Nagi erwürgen. Er entschied sich dafür, nichts von all dem zu tun. Stattdessen wirbelte er auf dem Absatz herum und stob aus der Tür. Nagi sah ihm nach und lächelte immer noch. Die Stunde der Rache war gekommen.   Kapitel 22: Der letzte Vorhang ------------------------------ Wenn Yoji jemand gefragt hätte, hätte er es natürlich nie zugegeben, aber dieses Gerenne durch die engen Gassen und Winkel strengte wirklich ganz schön an. Nicht, dass er nicht mithalten konnte, aber er begann sich zu fragen, warum sie nicht einfach am anderen Ende des Geländes eingestiegen waren. Er erinnerte sich dunkel an Omis Schilderungen von Wachen und Überwachungskameras und ähnlichem elektronischem Schnickschnack und dass sie am besten von hinten an das Gebäude heran kamen, aber im Moment hätte er einen Kampf diesem lächerlichen Herumgehetze wirklich vorgezogen. Ein Schrei erschütterte die Nacht. 'Oh, ich und meine große Klappe', dachte er bei sich und kam neben Ken zum Stehen. „Was war das?“ Suchend sahen sie sich um und hörten erneut einen Schrei, gefolgt von einem eigenartigen, fauchenden Geräusch. Der Schrei wurde lauter und höher und brach dann plötzlich ab. Die nachfolgende Stille konnte eigentlich nur eines bedeuten. „Das muss einer der Jäger sein“, wisperte Ken und deutete in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren. „Dort entlang, ungefähr 400 Meter.“ Er wollte schon loslaufen, als Yoji ihn an der Schulter festhielt. „Wir sind hier nicht auf einer Rettungsmission. Unser Ziel ist das Hauptgebäude.“ Ken sah ihn verständnislos an. Sein Blick irrte kurz in die Richtung des Jägers und wieder zurück zu Yoji. „Was soll das heißen? Willst du ihn etwa laufen lassen?“ „Er ist nicht unser ausgewiesenes Ziel.“ Ken machte sich los und schüttelte störrisch den Kopf. „Da mache ich nicht mit. Dieser Abschaum killt unschuldige Menschen, Yoji. Und ich werde ihn zur Strecke bringen mit oder ohne deine Hilfe.“ Mit geballten Fäusten und entschlossener Miene wandte er sich zum Gehen. Yoji seufzte innerlich. Es konnte ja nicht schaden, wenn sie sich das Ganze mal ansahen. In leichtem Laufschritt folgte er Ken. Sie drückten sich an eine Ziegelwand und horchten auf die Geräusche, die um die Ecke drangen. Da war das Scharren von Schritten und wieder das fauchende Geräusch. Yoji hatte das Gefühl, dass er es kannte, aber ihm fiel nicht ein, was es war. Er zog die Nase kraus, als er eines eigenartigen Geruchs gewahr wurde. Es war eine zum Würgen reizende Mischung von verbranntem Haar und Fleisch. Darüber lag eine beißende Note von verschüttetem Treibstoff. Die Erkenntnis, woher der Gestank kam, traf ihn mit der Wucht eines Hammerschlags. „Ken, Vorsicht!“ Er zog seinen Kollegen, der gerade um die Ecke spähen wollte, zurück in die Deckung. Nur eine Sekunde später jagte ein Feuerstoß an ihnen vorbei und hinterließ glühende Ränder an der Hauswand. „Was...?“ Ken krabbelte rückwärts und rappelte sich hektisch auf. An der gegenüberliegenden Wand erschien der Schatten eines buckligen Mannes. Aber Yoji ließ sich davon nicht täuschen. Er wusste jetzt, mit was sie es zu tun hatten. „Flammenwerfer“, presste er zwischen den Zähnen hervor, bevor er sich bereits vor der nächsten Feuergarbe in Sicherheit bringen musste. Ihr Gegner hatte sie entdeckt und ließ ein böses Lachen hören. „Ah, gleich zwei Opfer auf einmal. Wie schön. Es ist lästig, euch räudige Ratten alle einzeln auszuräuchern.“ Ken ließ die Krallen seiner Bugnuks aufschnappen. „Dem zeige ich, wer hier die Ratte ist.“ Mit einem Schrei warf er sich nach vorn. „Ken, nein!“ Yoji handelte instinktiv. Er griff nach seiner Uhr und ließ den silbernen Draht durch die Luft fliegen. Er wickelte sich um die Düse des Flammenwerfers und zog die Waffe gerade noch rechtzeitig in die Höhe, um Kens Ableben zu verhindern. Die Flammensäule, die ihn hatte treffen sollen, schoss stattdessen schräg in die Luft. Im nächsten Moment versenkte Ken seine Krallen in der Brust des Jägers. Es gab ein reißendes Geräusch, als er die Kleidung und die Haltegurte des Flammenwerfers durchtrennte. Der Kanister rutschte zu Boden. Es klirrte und zischte. Der Geruch nach auslaufendem Treibstoff wurde stärker. „In Deckung!“ Ohne abzuwarten, ob Ken ihm folgte, fuhr Yoji herum und sprintete los. Das Zischen wurde lauter, er erreichte die nächste Hausecke, duckte sich dahinter … und die Welt explodierte. Für einen Moment füllten Flammen die gesamte Gasse. Yoji schloss geblendet die Augen und wandte das Gesicht ab. Er spürte die Gluthitze an seiner Haut lecken und fühlte förmlich, wie sich seine sorgfältig gepflegten Haare kräuselten und zu verschmorten Klumpen zusammenzogen. Einen Augenblick später war es vorbei. Schwer atmend lehnte sich Yoji rückwärts gegen die Hauswand. Er konnte es nicht glauben, dass sie so blind in die Falle gelaufen waren. Und Ken! Was war mit Ken? Er hätte beinahe aufgeschrien, als eine Gestalt um die Ecke trat. „Yoji, alles okay?“ Er sah auf und blickte in Kens besorgtes Gesicht. Der rauchte an einigen Stellen und das Hemd um seine Hüfte hatte ein Brandloch. Ansonsten schien er unverletzt. „Wie hast du …?“ „Torwartreflexe und Müllcontainer.“ Ken grinste schief. „Nicht gerade meine erste Wahl, aber bevor ich mich einäschern lasse.“ Yoji erwiderte sein Lächeln, fasste nach Kens ausgestreckter Hand und ließ sich hochhelfen. „Ich schwöre, du bist irgendwann nochmal mein Tod.“ Er suchte in seinen Taschen nach Zigaretten. Als er eine davon zwischen die Lippen steckte, runzelte Ken die Stirn. „Du willst dir jetzt eine anzünden?“ Er wies vielsagend auf die qualmende Leiche, die mitten in der Gasse lag, wo gerade noch der Jäger gestanden hatte. „Na er wird mir wohl kaum noch Feuer geben“, witzelte Yoji und ließ sein Feuerzeug aufschnappen. „Außerdem könnte es meine letzte sein. Also hör auf, dich wie eine nörgelnde Ehefrau zu benehmen, und lass uns weitergehen.“ Ken verzog das Gesicht, setzte sich aber gehorsam in Bewegung. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu dem hell erleuchteten Gebäude am Ende des Straße. Aya sah auf, als ein ganzes Stück von ihnen entfernt eine Flammensäule in die Höhe schoss. Es war in etwa die Richtung, in die Yoji und Ken gegangen waren. Omi sah ihn besorgt an. „Meinst du, es geht ihnen gut?“ „Wenn nicht, können wir es auch nicht ändern. Beeilen wir uns lieber, damit wir zu ihnen stoßen können.“ Der Plan, sich in dem Labyrinth zu trennen, erschien ihm immer weniger geeignet, ihr Ziel zu erreichen. Andererseits wussten sie nicht, was auf dem Gelände vielleicht noch für unliebsame Überraschungen versteckt waren. Wenn sie alle vier gemeinsam scheiterten, wäre niemandem geholfen. Sie eilten weiter durch die Gassen. Das Geräusch ihrer Schritte hallte zwischen den Wänden wieder. Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, wurde Aya nervöser. Das hier lief zu glatt. Sie drangen weiter und weiter auf feindliches Gebiet vor, ohne auch nur einem der Spieler oder gar einem Jäger zu begegnen. Das war nicht normal. An einer Kreuzung blieb er stehen. Omi, der sein Zurückbleiben nicht bemerkt hatte, lief weiter die Straße entlang. Aya sah sich um. Der Nachthimmel über ihnen war inzwischen so dunkel, dass es schwierig wurde, seine Umgebung zu erkennen. Von überall schienen ihn die Schatten anzustarren, die zwischen den Häusern und in den Ecken lauerten. Darin konnte sich nichts oder eine ganze Horde Gegner verbergen. Das gefiel ihm nicht. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Es klang wie das Klirren, wenn Metall auf Metall traf. Augenblicklich zog Aya seine Waffe. Er trat in die nächste Seitenstraße und blickte sich misstrauisch um. Das Geräusch wiederholte sich, aber es kam nicht aus der Gasse. Es kam von oben. Aya überlegte nicht lange. Er griff nach der Feuerleiter, die neben ihm die Wand hinaufführte, und begann, die rostigen Stufen zu erklimmen. Irgendjemand war dort oben und er würde herausfinden, wer das war. Er schwang sich über die Mauerkante und ging sofort in Verteidigungshaltung. Erst dann sah er sich auf dem flachen Areal um. Es war hier oben geringfügig heller als in den Schatten zwischen den Gebäuden und so konnte er ohne Probleme den Körper erkennen, der in der Mitte des Daches lag. Die zusammengesunkene Gestalt regte sich nicht. Mit gezückter Waffe näherte sich Aya dem Mann. Immer noch regte er sich nicht und ein Verdacht drängte sich Aya auf. Ein Verdacht, den er bestätigt sah, als er den Fremden mit dem Fuß herumdrehte. Der Mann war tot. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Seine toten Augen, die immer noch einen Ausdruck von Entsetzen innehatten, starrten in den dunklen Nachthimmel und Aya fühlte das Fragezeichen in seinem Kopf immer größer werden. Wer mochte die Leiche hier oben platziert haben? Er hob den Kopf und sah plötzlich auf dem Dach auf der anderen Straßenseite einen weiteren Körper liegen. Auch wenn er es in der Dunkelheit nicht wirklich erkennen konnte, war sich Aya sicher, dass auch dieser Mann hier oben gestorben war. Oder hatte jemand die Leichen hierher geschafft, um sie zu verstecken? Aber wer würde so etwas machen? Und warum? 'Damit wir sie nicht finden', schoss es ihm durch den Kopf. Wer auch immer diese Männer umgebracht hatte, hatte sie versteckt, damit sie nicht gewarnt wurden. Das hier war eine Falle! Aya wirbelte herum und wollte zum Rand des Daches stürmen, als er in der Bewegung gefror. Die Dachkante war nicht mehr leer. Im trüben Zwielicht konnte er nur wenige Details seines Gegenübers erkennen. Eines davon war eine weiße Maske mit kleinen Hörnern, das andere ein großes Jagdmesser, von dessen Klinge Blut tropfte. Er hatte den Jäger gefunden. Ganz automatisch hob er das Katana und hielt es kampfbereit vor sich. Seine Muskeln spannten sich und seine Augen wurden schmal. Instinktiv versuchte er, Lücken in der Verteidigung seines Gegners zu erkennen, seinen ersten Schritt vorauszuahnen. Der Maskierte sah ihn an, musterte Ayas Schwert und ließ den Blick anschließend zu seinem eigenen Messer gleiten. Er schien einen Augenblick zu überlegen, dann ließ er es achtlos fallen. Seine Hand wanderte zu seinem Gürtel. Aya duckte sich in der Erwartung einer Schusswaffe, aber der Fremde zog etwas hervor, das Aya zunächst für einen nadelartigen Dolch mit einem überlangen Griff und einer eigenartigen, halbmondförmigen Parierstange hielt. Im nächsten Moment ließ der Mann die Klinge ausfahren und hielt plötzlich ein dünnes Schwert in der Hand. Aya konnte einen Laut der Überraschung nicht ganz unterdrücken. Der Fremde sprang vom Rand des Daches, kam zwei Schritte auf ihn zu und hob dann das Rapier waagerecht vor den Körper. Ayas Gedanken rasten. Diese Kampfhaltung war so ungewöhnlich, dass er nicht wusste, was er von dem anderen zu erwarten hatte. Würde er zuerst attackieren oder Ayas Ausfall abwarten? Was sollte er tun? „Ich will nicht mit dir kämpfen“, sagte er, ohne große Hoffnung zu haben, dass dieser Einwand Erfolg haben würde. Er verlagerte sein Gewicht und ging leicht in die Knie. Die Spitze des Katanas war auf den Mann mit der Maske gerichtet. Der antwortete nicht. Stattdessen legte er den Kopf in den Nacken, als würde er etwas hören, dann richtete sich sein Blick wieder auf Aya. Irgendetwas an seinem Ausdruck hatte sich verändert. Aya war sich dessen sicher, obwohl er die Gesichtszüge des anderen nicht erkennen konnte. Da war etwas Animalisches, Wildes, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Es kribbelte in seinem Nacken. Urplötzlich ging der Fremde zum Angriff über. Die Klinge seines Rapiers krachte gegen Ayas Katana, das dieser im letzten Moment zur Seite gerissen hatte, um den Schlag abzublocken. Die Wucht des Angriffs ließ die breitere Klinge in seinen Händen vibrieren und eine dumpfe Betäubung kroch seinen Arm hinauf. Das war eigentlich unmöglich. Der Fremde hatte eine Stich- und keine Hiebwaffe. Trotzdem fuhr er fort, damit auf Aya einzudreschen, als wolle er ihn in den Boden rammen. Aya hatte alle Hände voll zu tun, den heftigen Schlägen auszuweichen. Er hörte das Metall der Waffe unter dieser Behandlung protestierend kreischen und hatte plötzlich die absurde Hoffnung, dass dieses vielleicht einfach irgendwann brechen würde. In diesem Moment drehte der Fremde plötzlich das Handgelenk und stieß durch Ayas vernachlässigte Deckung. Die spitze Klinge bohrte sich in seine Schulter und Aya stieß einen Schmerzensschrei aus. Er hieb in blinder Wut über seine eigene Dummheit nach dem anderen Streiter. Seine Waffe durchschnitt die leere Luft, da dieser sich bereits mit einem gewaltigen und vollkommen unmöglich erscheinenden Rückwärtssprung in Sicherheit gebracht hatte. Die dünne Metallspitze in seinen Händen glitzerte rot. Ayas Hand glitt zu seiner Schulter. Die Verletzung war aufgrund des geringen Durchmessers der eingedrungenen Schneide nicht besonders groß, aber sie schränkte die Beweglichkeit seines Arms ein und machte das beidhändige Fassen des Katanas schwerer. Er biss die Zähne zusammen und nahm wieder Aufstellung. Der Fremde betrachtete ihn und trotz der Maske war Aya sich sicher, ein spöttisches Lächeln auf den ausdruckslosen Zügen erkennen zu können. Das Gefühl, dass hier irgendetwas vorging, verstärkte sich mit jeder verstreichenden Sekunde. Er hatte nur überhaupt keine Idee, was das sein sollte. Somit blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf den Kampf mit dem Maskierten zu konzentrieren, der bereits wieder die Waffe hob und sich für den nächsten Angriff bereit machte. Omi blieb stehen und sah zurück. Die Straße hinter ihm war leer. „Aya-kun?“ Seine Stimme verlor sich zwischen den rauen Backsteinwänden. „Abyssinian?“ Er lauschte noch einen Augenblick, dann machte er kehrt und ging langsam den Weg zurück, den er gerade gekommen war. Seine Augen scannten die Gegend nach Hinweisen. War Aya angegriffen worden? Hatte er etwas gehört? Gesehen? Warum hatte er ihm nicht Bescheid gesagt? Ein unterdrückter Laut ließ ihn herumfahren. Er kam aus einem der Gebäude. Hatte sich hinter einem der Fenster nicht gerade etwas bewegt? Omi griff nach einem Dart mit Betäubungsmittel und schlich näher heran. Er drückte sich an die Wand und spähte um die Ecke. Dort öffnete sich in der Dunkelheit ein noch finstereres Loch aus vollkommener Schwärze. Eine Tür, aber es war unmöglich zu erkennen, was dahinter lag. 'Es könnte eine Falle sein“, dachte er bei sich. Eigentlich hatte er schon die ganze Zeit darauf gewartet, dass sie in einen Hinterhalt liefen. In diesem Moment verfluchte er seine Entscheidung, den anderen nichts davon gesagt zu haben. Vielleicht war er doch kein so guter Anführer. So oder so konnte er das, was er gesehen hatte, aber nicht einfach ignorieren. Wenn jemand dort drinnen war, musste er ihn stellen. Andernfalls würde er riskieren, dass derjenige ihm in den Rücken fiel. Vielleicht war es ja auch nur einer der Spieler, der sich dort versteckt hatte. 'Ja, genauso wird es sein. Wenn es ein Gegner wäre, hätte der mich sicherlich auf der Straße angegriffen und sich nicht hier drinnen verkrochen. Ich werde ihm sagen, dass er nichts von mir zu befürchten hat.' Mit diesem Vorsatz schob sich Omi langsam auf die dunkle Türöffnung zu. Immer noch konnte er im Inneren nicht das Geringste erkennen. Seine Hand legte sich an die Türöffnung. „Hallo?“, rief er leise. Er schmeckte den Staub und das feuchte Aroma der Steine in der Luft. Seit die Sonne untergegangen war, war es merklich kälter geworden und Omi begann zu frösteln. Bedächtig setzte er einen Fuß in die Tür. „Ich komme jetzt rein. Sie brauchen keine Angst zu haben, ich will Ihnen nichts tun?“ Er hörte eine Bewegung in der Dunkelheit und dann ein kurzes Lachen. „Das trifft sich gut“, sagte eine Stimme irgendwo links von ihm. „Allerdings beruht das nicht auf Gegenseitigkeit.“ Jemand griff blitzschnell nach seinem Arm und zog ihn nach vorne, Er stolperte, versuchte die Bewegung abzufangen, seinen unsichtbaren Gegner mit dem Dart zu treffen, aber der war schneller. Seine zweite Hand wurde ebenfalls abgefangen, er wurde herum gewirbelt und gegen einen festen Körper gepresst. Er wand sich, trat nach hinten aus, doch sein Fuß kollidierte nur schmerzhaft mit einer Wand. Der Dart wurde seinen Fingern entwunden und im nächsten Augenblick fühlte er, wie sich die Nadel in seinen Hals bohrte. Er schrie und merkte, wie das Mittel augenblicklich zu wirken begann. Seine Bewegungen wurden kraftlos, sein Bewusstsein schwand. Etwas Weiches strich über sein Gesicht, bevor die Welt um ihn herum finster wurde. „Dort, das muss es sein.“ Ken deutete nach vorne auf ein hohes Gebäude, das größer war als die umliegenden Häuser. In der oberen Etage brannte Licht und auf dem hell erleuchteten Hof davor patrouillierten Wachen mit gezückten Gewehren. Es war unmöglich, dort ungesehen hineinzukommen. „Was machen wir jetzt?“ Yoji überlegte. Wenn sie sich nicht durch ein Heer von Wachposten kämpfen wollten, gab es eigentlich nur eine Möglichkeit. „Die da“, bestimmte er und zeigte auf zwei Wachen. Sie standen ein wenig abseits von den anderen und waren in ein Gespräch vertieft. „Du schleichst dich von rechts heran, ich von links. Und denk dran, keine Krallen. Wir brauchen ihre Uniformen.“ Ken verdrehte die Augen. „Ich bin ja kein Anfänger. Also los, Go, go!“ Minuten später lehnten die beiden Wachposten gefesselt und halbnackt an der Wand eines nahegelegenen Gebäudes und Yoji versuchte, seine langen Beine in die Hose des größeren der beiden zu bringen. Zweifelnd sah er an sich herab. Das Kleidungsstück endete mehrere Zentimeter über seinen Knöcheln. „Na hoffentlich merkt das keiner.“ „Ach Quatsch, die haben besseres zu tun“, meinte Ken und zog sich die Mütze seines Postens tief ins Gesicht. „Hauptsache, wir fallen lange genug nicht auf, um ins Gebäude zu kommen. Wenn wir erst mal drinnen sind, wird sich der Rest finden.“ Yoji nickte, obwohl ihm die Sache immer weniger gefiel und das hatte nicht nur etwas mit der unpassenden Garderobe zu tun. Dort nur zu zweit einzusteigen, war ein ziemlich gewagtes Unterfangen. Sie konnten nicht wissen, was sie im Inneren erwartete. Im einfachsten Fall standen sie nach wenigen Metern vor einer verschlossenen Tür, die sie ohne passenden Sicherheitscode nicht öffnen konnten. Im schlimmsten Fall … Mit einem Seufzen setzte er sich ebenfalls seine Mütze auf und schob die Sonnenbrille auf der Nase nach oben. Sie hatten keine Wahl. Zu groß war das Risiko, dass jemand die bewusstlosen Wachen entdeckte oder sie anderweitig aufflogen. Dieses Mal mussten sie es ohne Omi und Aya schaffen. „Na schön. Gehen wir.“ Die gezackte Klinge bohrte sich in den Brustkorb und schlitzte diesen von unten nach oben auf. Mit einem gurgelnden Schrei ging das Opfer zu Boden. Der Jäger mit der Lanze zog seine Waffe wieder heraus und schulterte sie. „Das macht jetzt acht“, verkündete er und grinste hinter seiner Maske. Die Zuschauer im Beobachtungsraum reagierten höchst unterschiedlich auf die Szene, die sich auf den Bildschirmen abspielte. Während einige in Jubel ausbrachen, fingen andere an zu lamentieren und mit säuerlichem Gesicht die Geldscheine zu zücken, die sie durch die Führung des Lanzenträgers verloren hatten. Hirofumi überwachte das Ganze mit zufriedenem Gesicht. Sein Blick richtete sich auf seinen Vater, der mit rauchender Zigarre in seinem Sessel zurückgelehnt saß und den Erfolg des Projekts genoss. Ein knappes Nicken war alles, was der Sohn vom Vater als Anerkennung bekam, und doch ließ ihn selbst dieses innerlich aufjubeln. Es lief tatsächlich alles nach Plan. Jetzt musste nur noch … Er unterbrach seine Gedanken, als sich die Tür öffnete und eine wohlbekannte Gestalt hereinkam. „Crawford?“ Der Amerikaner deutete eine Verbeugung an, bevor er zu Reiji Takatori trat und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Das Gesicht des Patriarchen verzog sich und er paffte zweimal an seiner Zigarre, bevor er sein Glas entschieden leerte und Anstalten machte, sich zu erheben. Hirofumi trat hinzu. „Gibt es ein Problem, Vater?“ „Eine andere, geschäftliche Verpflichtung. Ich würde gerne noch bleiben, aber ich denke, ihr werdet den Abend auch ohne mich zu Ende bringen können. Wir sehen uns morgen in meinem Büro.“ Hirofumi verbeugte sich pflichtschuldig. „Natürlich Vater. Wie du wünschst.“ Ihm entging der Blick, den Crawford ihm zuwarf. Die leichte Belustigung, als wisse er etwas, das Hirofumi verborgen blieb. Mit einem geschäftsmäßigen Lächeln wandte Crawford sich an Takatori. „Wenn Sie mich entschuldigen wollen? Ich habe hier noch einiges zu erledigen. Der Fahrer erwartet Sie jedoch bereits vor dem Gebäude. Er wird Sie unbeschadet nach Hause bringen.“ Reiji Takatori nahm die Zigarre aus dem Mund und winkte damit grob in Richtung der anderen Anwesenden. „Und sie?“ Crawford neigte leicht den Kopf. „Ich habe Vorkehrungen getroffen, dass sich der Verlust für Sie in Grenzen halten wird. Oder wünschen Sie, dass einer der Herren sie begleitet? Ich gebe jedoch zu bedenken, dass es verdächtig wirken könnte.“ Für einen Augenblick sahen sich die beiden Männer in die Augen, dann begann Takatori zu lachen. „Ah, Crawford, ich muss sagen, dass ich Sie ein kleines bisschen vermisst habe. Dieser rothaarige Teufel ist einfach kein vollwertiger Ersatz.“ „Ich bin froh, Sie zufriedenstellen zu können. Allerdings würde ich jetzt zum Aufbruch raten. Das Zeitfenster beginnt sich zu schließen.“ Takatori nickte und begab sich nach draußen. Crawford sah ihm nach, bis sich die Tür hinter seinem breiten Rücken geschlossen hatte, bevor sein Blick zu der zweiten Tür glitt, hinter der Nagi immer noch die Spielarena überwachte. Er zögerte kurz, bevor er sich herumdrehte und den Raum ebenfalls verließ. Mit einem gewaltigen Klirren prallten die beiden ungleichen Klingen aufeinander. Aya wich einem Tritt aus, der auf seine Kniescheibe zielte, und ließ sich fallen. Er rollte herum und kam aus der Bewegung heraus auf die Füße, nur um im nächsten Augenblick wieder das Katana hochzureißen, um einen weiteren Hieb abzuwehren. Der Schlag trieb ihn zurück an die Kante des Daches. Sein Blick irrte nach unten. Vielleicht konnte er es schaffen, den anderen dort hinunter … Er wich einem erneuten Angriff aus und die Klinge des Rapiers schlug mit ohrenbetäubenden Klang gegen den harten Stein. Doch ebenso wie ihr Führer schien die Waffe aus unzerbrechlichem Material gemacht zu sein. Egal, wie viele Treffer Aya landete, die Kräfte seines Gegenübers schienen grenzenlos, während seine eigenen langsam zu erlahmen begannen. Er schwitzte, sein Atem ging stoßweise, er blutete aus mehreren, kleineren Schnitten. Und doch hatte er das Gefühl, dass sein Gegner immer noch nicht wirklich ernst machte. Für ihn schien das Ganze nicht mehr als ein Spiel zu sein. Eine Bewegung aus den Augenwinkeln ließ ihn zusammenfahren. Er hatte nicht aufgepasst und die dünne Klinge sauste in atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zu. Dieses Mal würde er den Schlag nicht abfangen können. Er würde … „Stop!“ Der Klang der Stimme ließ den Maskierten herumfahren. Er stieß einen knurrenden Laut aus und sprang zurück. So wurde Ayas Blick frei auf... „Tim?“ Ayas Augen wurden groß. Dort am Rande des Daches stand tatsächlich Tim. Er trug Teile eines Anzugs, seine Haare hingen offen um seine Schultern und seine rechte Hand hielt eine Eisenstange. Er atmete schwer, als wäre er gerannt. „Look what the cat dragged in“, ließ sich der Jäger vernehmen und plötzlich durchzuckte Aya eine Erkenntnis. Er kannte diese Stimme. Er kannte diesen Satz. Er hatte ihn schon einmal gehört. „Jei, lass ihn zufrieden.“ Tim kam einen Schritt auf sie zu und hob dabei seine improvisierte Waffe. Der Mann mit dem Rapier lachte und griff nach seiner Maske. Mit einem klappernden Geräusch landete sie auf dem Boden, bevor ein schwerer Stiefel sie zermalmte. „Sieht so aus, als wäre das Versteckspiel vorbei“, grinste Tims Mitbewohner und sein eines Auge glühte in der Dunkelheit unheilvoll auf. „Bist du gekommen um zuzusehen, wie ich deinem Liebchen das Licht ausblase?“ „Du wirst ihn in Ruhe lassen, verstanden?“ In Tims Augen loderte blaues Feuer. Sein Blick richtete sich auf Aya. „Es tut mir leid, dass das passieren musste.“ Aya verstand nicht. „Wo kommst du her? Was tust du hier?“ Irgendwo am Rande seines Geistes registrierte er, dass sein Kartenhaus gerade zusammengebrochen war. Tim war hier. Auf einer Mission! Er hatte Aya gesehen, wie er ... wie er … Das Wissen darum lähmte ihn, machte ihn unfähig, sich zu erheben, unfähig weiterzukämpfen. „Du musst hier sofort weg. Es ist zu gefährlich!“ "Ja, genau Tim. Hör auf ihn und verschwinde von hier. Lass mich noch ein bisschen mit dem Kätzchen spielen. " Tim schüttelte entschieden den Kopf. "Vergiss es, Jei. Wenn du Ran haben willst, musst du zuerst an mir vorbei." Der Einäugige schmunzelte. "Ach, muss ich das? Nun, genau genommen nicht, aber wenn du darauf bestehst ..." Der Angriff erfolgte ohne weitere Vorwarnung. Das Rapier landete funkensprühend auf dem Eisenrohr, glitt daran entlang und hätte beinahe Tims Finger gekappt, wenn dieser nicht rechtzeitig losgelassen hätte. Mit einem Fußtritt beförderte Jei es außer Reichweite. Sein vernarbtes Gesicht zierte ein überlegenes Grinsen. Er sprang vor und Tim stolperte rückwärts. Von dem eben noch gezeigten Kampfgeist war nichts mehr übrig. Erschrocken richteten sich seine Augen auf die heransausende Waffe. „Tim! Nein!“ Aya reagierte, so schnell ihn seine Füße tragen wollten. Er flog förmlich auf den Angreifer zu, hob das Katana, um den Schlag abzufangen, aber die Schneide verfehlte das Rapier um Haaresbreite. Die Klinge sauste einem tödlichen Blitz gleich weiter nach vorne. Aya wollte den Arm heben, den Schlag mit bloßen Händen aufhalten,Tim aus dem Weg stoßen, irgendetwas, aber es war zu spät. Das scharfe Metall raste unaufhaltsam auf Tims Oberkörper zu und drang mit einem lächerlich dünn klingenden Laut darin ein. Bis zum Heft rammte Jei seine Waffe in den wehrlosen Körper, bevor er ihm einen Stoß versetzte, der Tim nach hinten taumeln ließ. Er prallte gegen die niedrige Mauer, die das Dach begrenzte. Für einen Augenblick schien er schwerelos über dem Rand zu schweben, dann kippte er wie in Zeitlupe in die Tiefe. Nagi starrte auf den Bildschirm und konnte es nicht glauben. Farfarello hatte Fujimiya gestellt, aber er hatte auch … er hatte auch ... Nagis Gehirn weigerte sich, die Information zu verarbeiten. Stattdessen setzte es alle Signale auf Flucht. Er musste hier weg. Bevor Takatori etwas merkte. Bevor irgendjemand etwas merkte. Aber wo sollte er hin? Er konnte unmöglich zu Crawford nach Hause. Aber wo sonst hin? Da gab es eigentlich nur eine Möglichkeit. Er hatte sich das Grab geschaufelt, nun musste er wohl oder übel hineinsteigen. Ohne weiter darüber nachzudenken, setzte er das Headset ab, erhob sich und ging zur Tür. Der johlenden Meute, die gerade live den nächsten Mord ihres Favoriten verfolgten, schenkte er keinen Blick. Wenn man niemanden ansah, wurde man auch nicht beobachtet. Einfach den Kopf einziehen und hoffen, dass man niemandem auffiel. Und dann nur weg von hier. Er öffnete die Sicherheitsschleuse, die hinunter zum Spielbereich führte, ging, so schnell es eben noch unauffällig war, an den zwei Wachen vorbei, die hier gerade ihre Runde machten, und setzte dann seinen Weg in Richtung von Masafumis Labor fort. Wenn er Glück hatte, würde er vor Farfarello dort eintreffen. Ken senkte den Blick, als die Tür vor ihm sich öffnete und ein Junge an ihm vorbei in den Gang trat. Er sah sich zum Glück nicht um, sondern lief einfach weiter, und so konnte Ken unbemerkt verhindern, dass die Tür sich vor ihnen wieder schloss. Yoji, dessen Finger noch in dem elektronischen Türschloss steckten, zuckte nur mit den Schultern. Endlich war das letzte Hindernis, das sie an der Ausführung ihres Auftrags hinderte, beseitigt. Ken nahm die Mütze ab und ließ die Krallen aufschnappen. Es war Showtime! „NEIN!“ Aya konnte es nicht glauben. Wollte es nicht glauben. Ohne weiter auf seinen Gegner zu achten, stürzte er zum Rand des Daches und sprang in die Tiefe. Er landete hart auf dem Asphalt, ein scharfer Schmerz durchzuckte sein Bein und er hörte förmlich, wie sein Knöchel unter dem zu großen Anprall brach. Aber er scherte sich nicht darum, rollte sich ab, kam auf die Füße und stürzte zu der Stelle, wo Tim am Boden lag. Das Blut hatte seine linke Seite inzwischen fast vollkommen durchtränkt. Aya kniete sich neben ihn, griff nach der Einstichstelle und presste seine Hände drauf, um irgendwie den Blutstrom zu stoppen. Tims Augen öffneten sich flatternd. „Ran?“ Seine Stimme war leise, sein Atem rasselnd. Ein dünner Blutfaden floss aus seinem Mundwinkel. „Ja! Ja, ich bin da. Halte aus, es wird alles gut.“ Aya wusste nicht, wie schlimm es stand. Tims einer Arm schien in einem eigenartigen Winkel abzustehen und die Wunde … die Wunde war viel zu nahe am Herzen. Zu dicht und zu tief. Er schluckte, spürte heiße Flüssigkeit über sein Gesicht laufen. Etwas brannte in seiner Kehle. „Halte aus, es wird alles gut. Ich hole Hilfe.“ Trotz seiner Versprechungen bewegte er sich nicht. Er kniete da, die Hände auf die Stelle gedrückt, aus der Tims Leben langsam aber unaufhörlich hinausfloss. Tims sah Aya genau in die Augen und lächelte. „Lügner.“ Das Wort wurde gefolgt von einem Hustenanfall und mehr Blut, das aus Tims Mund lief. Wahrscheinlich hatte er sich beim Sturz auch noch weitere, innere Verletzungen zugezogen. Aya fühlte, wie die Verzweiflung seine Brust zusammenzudrücken drohte. Er nahm die Hände von der Wunde und griff nach Tims Hand. Seine blutbeschmierten Finger verflochten sich mit Tims blassen. Er presste sie an seinen Mund. Sie waren eiskalt. „Tim, ich bin da, hörst du? Ich lasse dich nicht sterben.“ Tim lachte wieder. „Ich glaube, das hast nicht du zu entscheiden. Ich hätte wissen müssen, dass es irgendwann so kommt. Sie hätten es nicht zugelassen, dass wir ...“ Wieder begann er zu husten und der Blutstrom aus seinem Mund wurde breiter. Aya wusste, was das bedeutete. Mit einem Aufschrei riss er Tim an sich. „Du darfst nicht sterben, hörst du! Du darfst nicht!“ Er vergrub seine Nase in Tims Haaren, küsste seine Stirn.Wie im Traum wiegte er ihn hin und her, flüsterte sinnlose Worte, als könne er es so wieder gut machen. Als könnte das irgendetwas an dem ändern, von dem er bereits wusste, dass es die Wahrheit war. Tief in seinem Inneren wusste er, dass Tim von ihm gegangen war. Aber seine Hände weigerten sich, den Körper loszulassen, dessen Brust sich nicht mehr hob und senkte. Verzweifelt versuchte er, noch das letzte bisschen Leben in ihm festzuhalten. Noch einen letzten Moment, einen letzten Atemzug, einen letzten Blick in diese wunderschönen, hellblauen Augen. Augen, die sich für immer geschlossen hatten. Sein Herz zog sich zusammen und es war, als bräche etwas in ihm entzwei. Etwas, von dem er nicht gewusst hatte, das es da war. Etwas, das jetzt für immer verloren war. Es zersprang mit einem Geräusch wie brechendes Glas und versank in Splitter geschlagen in der Dunkelheit. Die Verbindung war fort. Für immer. „Wie rührend.“ Die heisere Stimme schien von irgendwo weit herzukommen. Durch den Tränenschleier sah Aya, wie Jei langsam näherkam. Das Rapier aus seinen Händen war verschwunden. Stattdessen hielt er die Eisenstange in der Hand. Aya fühlte heiße Wut in sich aufwallen. Wie konnte er es wagen? Wie konnte er das in seinen dreckigen Fingern halten, was Tim als Letztes berührt hatte. Wie konnte er es wagen? „Du Mörder!“, schrie er und ballte die Fäuste. Vorsichtig legte er Tims Leiche ab und sprang in den Stand. Seine Hände suchten sein Katana, aber vergeblich. Er hatte die Waffe bei dem Sprung achtlos fallen lassen. Ein fataler Fehler, wie er jetzt feststellen musste, als die Eisenstange auf ihn zu jagte. Er blockte den Schlag mit dem Unterarm und schrie auf, als der Knochen darin brach. Ein weiterer Schlag traf seine Rippen und lähmte seine Atmung. Ein Tritt ließ ihn in die Knie brechen. Er schnappte nach Luft, wollte sich wieder erheben, wollte Rache üben, aber er konnte nicht. Ein Schatten raste auf ihn zu, ein scharfer Schmerz an seiner Schläfe und dann versank die Welt endlich in gnädiger Dunkelheit. Crawford betrat die kleine Seitengasse und sah sich um. Ihm war, als kenne er jeden Stein, jede Unebenheit des Bodens. Den Körper, der zusammengekrümmt auf dem Pflaster lag, beachtete er nicht weiter. Er hörte hinter sich schon die Männer, die Masafumi geschickt hatte, um ihn zu holen. Er war sicher, sie würden Verwendung für ihn finden. Sein Weg jedoch führte ihn weiter hinein in die kleine Straße, an deren Ende in einer Ecke eine wohlbekannte Gestalt am Boden lag. Die kupferroten Haare bildeten einen eigenartigen Kontrast zu der dunkelrot verfärbten Brust, die an den Rändern bereits dunkel zu werden begann. Über ihm setzte der Regen ein. Er hatte keinen Schirm dabei. Er hätte einen haben können, denn genau dieses Bild hatte ihm die Vision gezeigt, die er schon vor einigen Tagen gehabt hatte. Vor jenem Abendessen, das das Ausmaß seiner Gabe in so beträchtlichem Umfang verändert hatte. Die letzten Tage hatte er damit verbracht, Szenarien durchzuspielen, Zukunftsstränge zu verfolgen, nur um wieder und wieder bei ein und demselben Ergebnis zu landen: Schuldig von einer scharfen Klinge durchbohrt hier in dieser Gasse. Es hatte gedauert, bis er die feinen Unterschiede der Visionen erkannt hatte. Die Nuancen gegeneinander abgeglichen hatte. Die Form der Verletzung, Abweichungen an Schuldigs Aufmachung, der Kleidung, die er trug, ja sogar das Fehlen oder Vorhandensein des fürchterlichen, gelben Bandanas, das er in der einen Vision um den Kopf gewunden hatte, in der anderen nicht. Irgendwann hatte er es verstanden und gewusst, worin der Unterschied bestand. Jetzt musste sich nur noch zeigen, ob auch der Rest seiner Vision zur Wahrheit werden würde. In seinem Kopf meinte er den Telepathen leise lachen zu hören. Kapitel 23: Ein neuer Gegner ---------------------------- Yoji wusste nicht, wie sich der Tod für die anderen anfühlte. Für Omi war es wahrscheinlich nicht mehr, als der Finger, der einen Abzug betätigte. Die Hand, die einen Pfeil in den Bogen spannte oder einen Dart in das bewegliche Ziel schleuderte. Für Aya war es der Griff nach der gleißenden Klinge, ein tödlicher Tanz, ein finaler Schlag und spritzendes Blut. Für Ken war es vielleicht das Gefühl, wenn das lebendige Fleisch unter seinen Krallen nachgab und sich die Klingen in den warmen Körper bohrten. Der Geruch von Blut und anderen Körperflüssigkeiten, die in Kaskaden zu Boden strömten. Der letzte Schrei seiner Opfer, der in seinen Ohren widerhallte, bevor sie in sich zusammensanken wie zerbrochene Puppen.   Für ihn war der Tod leise.   Omi hatte nur zum Teil recht gehabt, als er ihn einen Fernkämpfer nannte. Mit dem dünnen Draht, der in der Uhr an seinem Handgelenk verborgen war, war er durchaus in der Lage, jemanden aus der Distanz zu töten. Es machte die Aufgabe leichter, das Morden fast zu einem Job wie jeden anderen. Aber manchmal ... manchmal machten es die Umstände notwendig, dass er seinem Opfer ganz nahe war. Dann spürte er das Zucken, das verzweifelte Kämpfen um Luft, hörte das atemlose Röcheln, wenn sich die Schlinge um den verletzlichen Hals immer enger zog, das singende Geräusch des Drahtes in seinen Händen. Es war eine langsame, fast grausame Art zu töten. Eine intime Art. Eine silberne Verbindung zwischen ihm und dem Sterbenden, die erst wieder riss, wenn es vorbei war. Kein flüchtiger Kontakt, kein heroisches Henkersbeil, das sich als gerechte Strafe herabsenkte. Er hasste es und er genoss es in gleichen Zügen und manchmal fragte er sich, ob er auf seine Art nicht verrückter war als sie alle zusammen.   Sein Blick irrte durch den Raum, der mit toten Körpern übersät war. Mittendrin stand Ken, die blutbedeckten Krallen im Anschlag, den wilden Blick auf den letzten, noch stehenden Gegner gerichtet. Nun, vielleicht war er doch nicht der Verrückteste. „Ken, lass ihn laufen.“ „Aber ...“ Ken sah kurz zu ihm herüber und fixierte dann wieder den Mann, der in eine Ecke gedrängt stand. Er hatte abwehrend die Hände ausgestreckt, auf seiner Weste waren Blutspritzer, die Augen hinter seiner Brille weit aufgerissen. „Bitte, ich biete euch, was ihr wollt. Wollt Ihr Geld? Ihr könnt alles mitnehmen.“ Seine zitternden Finger wiesen auf den Haufen Scheine und Münzen, die zwischen ihn und Ken auf dem Boden verstreut lagen. Es war eine beträchtliche Summe. Kens Gesicht verzog sich verächtlich. „Uns kann man nicht kaufen.“ Er wandte sich an Yoji. „Wenn ich ihn laufen lasse, wird er Alarm schlagen. Besser, ich erledige ihn auch.“ „Er ist nicht unser Ziel.“ Yoji wusste, wen sie vor sich hatten. Es handelte sich um Hirofumi Takatori, Sohn von Reiji Takatori. Der Mann war lange nicht so bekannt wie sein Vater, aber eines ihrer Opfer hatte sich in seiner Todesangst an ihn gewandt und seinen Namen genannt. Es hatte sich angehört, als wäre er der eigentliche Drahtzieher hinter dieser Veranstaltung. Die Order, die sie von Perser erhalten hatten, waren offensichtlich falsch. Aber er war nicht in der Position, das zu entscheiden. Yoji wünschte sich, Omi wäre jetzt hier. Der Junge hätte gewusst, was zu tun war.   Sie zuckten alle drei zusammen, als aus den Lautsprechern plötzlich Gewehrschüsse drangen. Der riesige Bildschirm an der Wand zeigte in Großaufnahme, wie einer der Jäger einen Spieler niedermähte. Knochensplitter und eine zähe, rotgraue Masse tropften von einer Wand. „Kann man das nicht irgendwie abschalten?“ Yoji hatte für heute genug Leichen gesehen. Hirofumi deutete zögernd auf eine Tür an der Seite des Raums. „D-dort drin. Die Steuerung ist dort drin.“ Yoji öffnete die Tür und trat in einen kleinen Nebenraum. Auf einem Tisch stand ein Laptop; der Stuhl davor schief, ein Headset achtlos beiseite geworfen und zu Boden gerutscht. Er beugte sich zu dem kleinen Bildschirm herab und versuchte, aus den verschiedenen Anzeigen schlau zu werden, als es im Nebenraum laut wurde. „Hey!“, rief Ken und Hirofumi lachte. „Stirb!“ Ein Schuss krachte durch den Raum. Im nächsten Moment erklang das Geräusch, wenn Kens Krallen ihr Ziel fanden. Hirofumis Triumphgeheul ging in ein röchelndes Gurgeln über. Yoji stürzte zur Tür und konnte gerade noch sehen, wie er mit blutüberströmter Brust zu Boden sank. Über ihm stand Ken und hielt sich den linken Arm. Auch sein Ärmel färbte sich langsam rot. „Nur ein Streifschuss“, sagte er und schien kurz davor, dem Sterbenden noch einen Tritt zu versetzen. „Ich wusste, dass man ihm nicht trauen kann.“ Auf dem Bildschirm im Hintergrund schrie schon wieder ein Mann. Ken sah aus, als würde er sich gleich vollkommen vergessen. „Kannst du das endlich abschalten?“   Yoji nickte und ging zurück zu dem Laptop. Er fuhr mit dem Mauszeiger über die verschiedenen Regler und Anzeigen auf der Suche nach dem passenden Schalter, um die Übertragung abzubrechen, als er plötzlich ein kleines Fenster am Bildschirmrand bemerkte. Es war im Grunde unauffällig, denn es zeigte nur eine leere Gasse, während auf den anderen Screens Wachen, Spieler und Jäger zu sehen waren. Aber wo die anderen Kameras ihr Motiv wechselten – Yoji vermutete, dass sie an Bewegungsmelder gekoppelt waren – zeigte diese nur eine einzige Einstellung. Ihre beobachtende Linse war direkt auf einen dunklen Hauseingang gerichtet. Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn. „Yoji! Stell das endlich ab!“ Ken erschien in der Türöffnung. Seine Nerven dünn, das Adrenalin in seinen Adern noch nicht vollständig abgebaut. Ein gefährlicher Zustand, aber Yoji konnte jetzt keine Rücksicht darauf nehmen. Sein Instinkt sagte ihm, dass er etwas Wichtigem auf der Spur war. „Sei still und setzt dich da hin. Ich muss das hier überprüfen.“ Ken klappte den Mund auf und wieder zu, bevor er sich mit einem Schnauben auf den Stuhl fallen ließ. Dass er seine Füße nicht auf den Tisch legte, war eine echte Überraschung. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ebenfalls auf den Bildschirm. „Und was gibt es da so interessantes zu sehen?“ „Das weiß ich noch nicht.“ Yoji vergrößerte den Bildausschnitt und sah, dass die Übertragung der Kamera aufgezeichnet worden waren. Er stoppte die Aufnahme und ließ den Kontrollknopf des Abspielbalkens zum Anfang zurückwandern. Anschließend drückte er auf 'Abspielen'.   Es dauerte einen Moment, bis sich etwas tat. Auf dem oberen Bildschirmrand tauchte eine Gestalt auf, die langsam näher kam. Yoji atmete scharf ein, als er sah, um wen es sich handelte. Auch Ken beugte sich nach vorn. „Omi? Hey, das ist Omi!“ Yoji erwiderte nichts, sondern beobachtete weiter die Aufnahme. Omi blieb jetzt stehen und drehte sich in Richtung des Hauses um, auf das die Kamera gerichtet war. Er schien etwas gehört zu haben und jetzt … „Nein, geh da nicht rein!“ Ken war völlig aus dem Häuschen. Yoji legte die Hand auf seine Schultern. „Das ist eine Aufzeichnung, Ken.“ Er deutete auf die Uhrzeit am oberen Bildschirmrand. „Das Ganze ist schon mehr als eine Stunde her.“ Ken schüttelte seine Hand ab. „Und warum gucken wir uns das dann jetzt an? Wir sollten hier verschwinden.“ „Ja, gleich.“ Yoji spürte Kens steigende Unruhe. Er selbst wollte auch nichts anderes, als endlich hier wegzukommen, aber er hatte das dringende Gefühl, dass sie sich das ansehen sollten. Irgendetwas daran war eigenartig. Warum hatte jemand das aufgenommen? Was war noch auf dem Video zu sehen? Omi war jetzt im Inneren des Gebäudes verschwunden. Die Minuten verstrichen, aber es geschah rein gar nichts. Yojis Finger wanderten schon zu dem Regler, der die Abspielgeschwindigkeit hinaufsetzte, als sich plötzlich etwas in der Türöffnung bewegte. Jemand verließ das Gebäude und es war nicht Omi. Yoji riss die Augen auf. Statt die Aufnahme schneller abzuspielen, stoppte er das Video und stierte völlig fassungslos auf das Gesicht, das jetzt auf dem Bildschirm zu sehen war. Neben ihm keuchte Ken auf. „Das ist doch ...“ „Ich weiß.“ Yojis Miene verdunkelte sich. „Los, nimm den Laptop mit. Wer weiß, was wir noch alles darauf finden. Danach suchen wir Omi.“ Er sah noch einmal auf die Gestalt auf dem Bildschirm. „Und Aya. Er muss wissen, was hier los ist.“       Um Nagi herum herrschte hektische Betriebsamkeit. Überall liefen Leute herum, Befehle schallten durch den Raum. Jeder schien ein Ziel zu haben, außer ihm. Einige der Wachen hatten Fujimiya geborgen und in den Laborbereich gebracht. Masafumis Adleraugen glühten auf, als er ihn zu Gesicht bekam. „Ah, da ist er ja. Ich bin schon sehr gespannt, ob er hält, was du versprochen hast.“ Nagi zog den Kopf ein und senkte den Blick. Das hier hätte die Stunde seines Triumphs sein sollen, aber es fühlte sich nicht so an. Chizuru schob ihre Brille auf der Nase nach oben. „Soll ich ihn sedieren?“ Masafumi schüttelte den Kopf. „Nein, das könnte die Proben verfälschen. Ich will sofort alles von ihm haben. Blut, Haut, Gewebe, Knochenmark. Aber keine Betäubung. Wir sollten eine Entnahme der Keimzellen in Betracht ziehen.“ Seine Assistentin nickte. „Natürlich. Ich werde alles vorbereiten.“   Nagi beschloss, dass er genug gehört hatte. Ihn brauchte hier im Moment niemand mehr. Leise verließ er den Raum und trat in den Flur hinaus. Auch dort waren noch einige Wachen unterwegs. Anscheinend neigte sich das Spiel dem Ende entgegen. Er fragte sich, was wohl aus den zwei verbliebenen Weiß-Mitgliedern geworden war. 'Ich hoffe, sie verrotten irgendwo.' Möglichst unauffällig schlich er den Gang entlang, öffnete eine der Türen und schlüpfte in den Raum, in dem Nanami immer noch bewusstlos gehalten wurde. Er wusste, dass Masafumi sie zwischendurch hatte aufwachen lassen. Es war kein schönes Erlebnis gewesen. So, wie sie jetzt war, ging es ihr besser. Hoffte er zumindest. Er ließ sich auf einem Stuhl neben dem Krankenbett nieder und betrachtete die entspannten Gesichtszüge des Mädchens. Sie war hübsch, das hatte er zuvor schon bemerkt. Helle, makellose Haut, ein kleiner Schmollmund, ein zartes Kinn, fein geschwungene Augenbrauen im gleichen, schimmernden Blau wie ihre Haare. Ihre ausdrucksvollen Augen waren jetzt natürlich geschlossen, aber er wusste, wie sie aussahen, wenn sie sich groß und bewundernd auf ihn richteten. Obwohl er jetzt gerade nicht unbedingt das Gefühl hatte, Bewunderung zu verdienen. Wie hatte sein Plan nur einen so gravierenden Fehler aufweisen können? Wieso hatte Schuldig sich geopfert? Und warum so sinnlos? Hatte er wirklich geglaubt, gegen Farfarello gewinnen zu können? Dann war er dümmer, als Nagi angenommen hatte. Er hatte sehen wollen, wie Schuldig litt, aber nicht dass er … Er würde verdammte Schwierigkeiten deswegen bekommen. Obwohl es nun wirklich nicht seine Schuld war, dass sich die beiden anderen Schwarzmitglieder an die Kehle gegangen waren. Und wäre es nicht Crawfords Aufgabe gewesen, so etwas vorauszusehen? Was hätte er schon tun können, als Schuldig beschlossen hatte, sich für seinen Liebhaber buchstäblich ins Messer zu werfen. „Dämlicher Idiot“, fluchte er und wusste nicht so recht, wen er eigentlich damit meinte. Er legte die Arme auf den Rand der Liege und bettete seinen Kopf darauf. Mitternacht musste mittlerweile längst vorbei sein und der lange Tag begann, seinen Tribut zu fordern. Langsam aber sicher drifteten Nagi die Augen zu.     Er schrak auf, als sich die Tür des Krankenzimmers öffnete. Chizuru und zwei Männer kamen herein. Sie lösten die Verankerung des Bettes und schoben es aus dem Raum. Auf Chizurus Gesicht lag ein zuversichtliches Lächeln. „Es ist soweit“, sagte sie und nickte Nagi zu. Er erhob sich und folgte dem kleinen Trupp in eine große Laborkammer, die er bisher noch nicht gesehen hatte.   Große Teile des Areals lagen im Dunkeln. Nagi vermutete, dass es sich um eine alte Lagerhalle handelte. Auf einer kleinen, beleuchteten Empore in der Mitte des Raumes standen vier Behandlungsstühle, an die allerlei Gerätschaften mit blinkenden Monitoren angeschlossen waren. Über den Kopflehnen waren stählerne Hauben angebracht, die Nagi an einen Friseursalon denken ließen. Auf einem der Stühle war die fremde Frau festgeschnallt, die Nagi bereits bei seinem ersten Besuch hier gesehen hatte. Ihre Augen waren geöffnet, aber der Blick, mit dem sie an die kahle Decke starrte, war vollkommen leer. Sie bewegte sich nicht. Die schöne Karen nahm unter Masafumis Anleitung gerade auf einem weiteren Stuhl Platz. „Und das ist auch wirklich ungefährlich?“, fragte sie und runzelte die Stirn. Masafumi lächelte. „Mach dir keine Sorgen, ich habe alles geprüft. Die Essenz des Jungen wird dir deine Schönheit und Jugend zurückgeben. Für immer.“ Karen sah ihn an und in ihren Augen schimmerten dankbare Tränen. „Oh Masafumi. Wenn das wahr wäre ...“ „Es wird wahr werden. Wir haben die Evolution in unserer Hand. Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten.“ Er nahm eine Spritze von einem Tablett, das Chizuru ihm reichte, und injizierte den Inhalt in einen Tropf, den er an Karens Arm befestigt hatte. „Du musst dich jetzt entspannen. Die Veränderung wird einige Zeit in Anspruch nehmen, aber danach wirst du dich großartig fühlen.“ Masafumi wiederholte die Prozedur bei der katatonischen Frau und schließlich auch bei Nanami. Als sie vor dem letzten Stuhl standen, sah er Chizuru an. „Ich möchte, dass du es bist, die die Früchte unserer gemeinsamen Arbeit als Erste genießen kannst.“ „Aber Masafumi!“ Chizuru schwankte zwischen Verwirrung und verhaltener Freude. „Wir hatten doch beschlossen, dass du es sein würdest, der ...“ „Ich weiß.“ Er drückte sie sanft auf den Stuhl. „Aber ich möchte es so. Du solltest Teil dieses Projekts sein. Für mich werden wir später noch genug Serum gewinnen können. Zumal du ohnehin nur eine kleine Dosis benötigst. Einige kleinere Anpassungen, ein paar zusätzliche Fähigkeiten. Ich möchte, dass du die Veränderungen genauestens protokollierst. Wenn wir auf zerebraler Ebene Erfolg haben, können wir später noch weitere physiologische Modifikationen vornehmen.“ Mit einem Lächeln setzte er die letzte Spritze direkt an Chizurus Arm, nickte ihr noch einmal zu und stieß die Nadel durch ihre Haut. Sie zuckte nicht einmal, denn ihre Augen waren unverwandt auf sein Gesicht gerichtet. Die glühende Hingabe, die Nagi darin sah, ließ ihn sich abwenden. Irgendwie hatte er das Gefühl, ein Eindringling zu sein. Sein Blick irrte durch das Labor und blieb an der Gestalt hängen, die im Hintergrund in einem Metallrahmen hing. Es war Fujimiya. Langsam ging Nagi näher und betrachtete ihn. Der junge Mann war an den Handgelenken gefesselt worden, die jetzt, da er bewusstlos war, sein ganzes Gewicht tragen mussten. Blaue Flecken und Kratzer bedeckten seinen bloßen Oberkörper. Die eine Schulter war blutverkrustet und die linke Seite seines Gesichts angeschwollen. Die Stellen, die nicht durch den Kampf mit Farfarello verletzt worden waren, wiesen Spuren von Masafumis Arbeit auf. Markierungen, Einstichstellen, Kanülen. An einer Stelle war ein rechteckiges Stück Haut herausgeschnitten worden. Die Wunde nässte und war nicht verbunden worden. Sie war das einzige Zeichen, das überhaupt noch Leben in dem geschundenen Körper steckte. Nagi spürte eine eigenartige Befriedigung in sich aufsteigen. Er trat hinter das Gestell und sah, dass auch hier gearbeitet worden war. Im unteren Rücken steckte eine weitere Kanüle, aus der helle Flüssigkeit in einen Auffangbehälter tropfte. Fasziniert beobachtete er, wie sich langsam ein weiterer Tropfen sammelte. Bevor er in den Behälter fallen konnte, streckte Nagi den Finger aus und fing die klare Flüssigkeit auf. Er verrieb sie zwischen den Fingerspitzen und meinte, ein eigenartiges Kribbeln zu spüren. Bevor er das Phänomen weiter untersuchen konnte, trat Masafumi neben ihn. „Er war kein besonders williges Testobjekt.“ Es klang fast wie eine Anschuldigung. „Zum Glück hat er irgendwann das Bewusstsein verloren. In diesem Zustand wird er uns sicherlich noch für ein paar Wochen erhalten bleiben.“ Ein paar Wochen. Gebunden, gefoltert, künstlich am Leben erhalten, um Material für Masafumis Forschung zu liefern. Ein Schauer lief über Nagis Rücken. Ob vor Ekel oder Genugtuung wusste er selbst nicht genau. „Und wird es funktionieren?“ Die Zeit, die Masafumi brauchte, um zu antworten, schien sich zu Stunden zu dehnen. Stunden atemloser Anspannung und fiebriger Erwartung. Endlich würde Nagi erfahren, ob sich sein Verrat an Schwarz auszahlen würde. „Aber natürlich wird es das.“ Masafumis Raubvogelaugen funkelten. „Komm mit und sieh sie dir an. Die ersten vier wunderbaren Geschöpfe, die ich erschaffen habe. Du sollst die Ehre haben, sie als Erster mit mir zusammen begrüßen zu dürfen.“   Als sie wieder zu der Empore traten, begannen die vier Frauen sich gerade wieder zu regen. Eigenartigerweise war es die Fremde, die zuerst erwachte. Sie hob den Kopf und ihr Blick suchte Masafumi. Als sie ihn erblickte, lächelte sie. „Meister.“ Das Wort kam rau über ihre Lippen, als hätte sie ihre Stimme eine Ewigkeit lang nicht benutzt. Sie versuchte sich aufzusetzen, aber die Fesseln hinderten sie daran. Unwillig lehnte sie sich gegen die breiten Bänder auf. „Komm, lass mich dir helfen.“ Masafumi trat zu ihr und öffnete die Schnallen. Er reichte ihr seine Hand und sie erhob sich, als hätte sie nicht die letzten Wochen bewegungslos auf einem Krankenbett gelegen. Im Gegenteil wirkte sie kraftvoll, energiegeladen, selbstsicher. Und vollkommen loyal. „Komm, wir holen die anderen, Neu.“ Die Frau sah ihn einen Augenblick lang an, dann nickte sie. „Ja, Masafumi.“ Sie drehte sich zu dem Stuhl herum, auf dem Nanami lag. Ohne zu zögern löste sie hier die Haltegurte, wie es Masafumi zuvor bei ihr getan hatte. Das Geräusch des aneinander klingenden Metalls weckte das Mädchen auf. Sie blinzelte und Nagi hielt den Atem an. Würde sie wieder anfangen zu schreien? „Papa?“ Verschlafen rieb Nanami sich die Augen und gähnte zierlich. Dann hüpfte sie plötzlich aus dem Stuhl und streckte sich ausgiebig. „Oh, das war wundervoll. Tot hat geschlafen und so schöne Dinge geträumt. Aber jetzt ist sie wieder wach.“ Ihr Lachen hallte durch das Labor. Es klang auf surreale Weise fehl am Platz. „Schön, erhebe dich.“ Masafumi war an Karens Stuhl getreten, wo die blonde Frau in diesem Moment die Augen aufschlug. Nagi konnte keinen Unterschied zu vorher erkennen und doch schien sich etwas verändert zu haben. Sie strahlte Masafumi an und fiel ihm um den Hals. Chizuru war die letzte, die wieder zu sich kam. Sie bewegte vorsichtig Arme, Beine, Zehen und Finger, bevor sie ihre Brille zurechtrückte. „Erstaunlich“, sagte sie, erhob sich und wippte ein paar Mal auf und ab. „Das Wissen, das wir transferiert haben, verändert meine Körperwahrnehmung vollkommen.“ Sie holte plötzlich mit dem Fuß aus, drehte sich einmal um die eigene Achse und landete einen Kopftreffer an einem nicht existenten Gegner. „Wirklich beeindruckend. Die motorischen Reflexe sind ausgezeichnet. Ich muss das sofort aufschreiben.“ Auch sie suchte Blickkontakt mit Masafumi und ihr begeisterter Ausdruck spiegelte sich in seinem Gesicht. Er breitete die Arme aus. „Hell.“ Sie trat zu ihm und ließ sich in eine Umarmung ziehen. „Ich wusste, dass es funktionieren würde.“ „Du bist brillant“, hauchte sie und legte den Kopf an seine Schulter. Die anderen Frauen schlossen sich der Umarmung an und Nagi spürte einen Stich der Eifersucht in seiner Brust. Einmal mehr hatte er das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Es war ziemlich offensichtlich, dass Masafumi nicht vorhatte, seine Position mit jemandem zu teilen. Und Nagi hatte sicherlich nicht vor, sich in eine hirnlose Marionette verwandeln zu lassen, die sich ihm an den Hals warf. Wenn das der Preis war, den er für übermenschliche Fähigkeiten bezahlen musste, dann verzichtete er lieber. Enttäuscht wandte er sich zum Gehen. „Aber, aber Nagi. Wer wird denn so schnell aufgeben. Hattest du nicht so einen tollen, ausgereiften Plan?“ Nagis Kopf ruckte nach oben und Crawford trat in sein Gesichtsfeld. Aber es war nicht Crawford, der gerade gesprochen hatte. Es war der Mann, der im Halbdunkel hinter ihm stand. Nagi fühlte Schwindel in sich aufsteigen. Er machte einen Schritt rückwärts. Der Mann trat aus den Schatten und grinste ihn an. „Wo ist er?“ Nagi brauchte nicht zu fragen, um wen es ging. Ohne hinter sich zu blicken, hob er den Arm und deutete auf das Gestell, in dem Fujimiya hing. Der Mann nickte ihm zu, legte grüßend zwei Finger an die Stirn, drehte sich um und ging in die angegebene Richtung davon. Nagi wurde kalt. Unsicher sah er Crawford an. Was würde jetzt geschehen? Crawford musterte ihn einen Augenblick lang durch die Gläser seiner randlosen Brille, bevor er sich umdrehte und langsam in Richtung Ausgang zurückging. Nach ein paar Schritten hob er die Hand und winkte Nagi, ihm zu folgen. Erleichtert ließ Nagi die Luft entweichen, die er die ganze Zeit angehalten hatte, und beeilte sich zu Crawford aufzuschließen. Er hielt den Kopf gesenkt und presste die Lippen aufeinander, obwohl ihm tausend Fragen auf der Zunge brannten.   Kurz bevor sie die Tür erreichten, wurde diese aufgestoßen und ein Wachposten kam hereingestürmt. Er war vollkommen außer Atem und auf seiner Stirn glänzte der Schweiß. „Sie haben … Hirofumi Takatori, er ist … Sie sind alle ...“ Crawford brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Dort hinten finden Sie seinen Bruder. Am besten überbringen Sie ihm die schlechte Nachricht. Und sagen Sie ihm, dass die Attentäter auf dem Weg hierher sind.“ Der Posten stammelte etwas Unzusammenhängendes, bevor er salutierte und weiter stürmte. Hinter ihnen wurden entsetzte Stimmen laut. Nagi wagte es kurz aufzusehen und ihm entging der zufriedene Ausdruck auf Crawfords Gesicht nicht. Anscheinend hatte das Orakel all das hier bereits vorausgesehen. Vielleicht hieß das ja, dass er … „Glaub nicht, dass du straflos davon kommst, Nagi. Du hast dein Team verraten und das wird nicht ohne Konsequenzen bleiben.“ Er senkte den Kopf wieder. „Natürlich, Crawford. Ich …“ „Ich werde dich für einige Zeit nach Deutschland schicken. Dort wirst du ausgebildet werden.“ Nagi riss die Augen auf, wagte aber nicht zu fragen. Er sah auf seine Finger hinab und meinte wieder, das eigenartige Kribbeln zu spüren. Er lächelte nicht, beschleunigte aber seine Schritte, um an Crawfords Seite zu bleiben, der nun endgültig dem Ausgang entgegenstrebte. Deutschland. Das konnte eigentlich nur eines bedeuten. Nagi fühlte, wie sein Herz anfing schneller zu klopfen.   Kapitel 24: Herz aus Eis ------------------------ Schmerz. Seine Welt bestand nur noch aus Schmerz. Sein Körper, alle Muskeln darin, jede Faser, jeder Nerv schrie und wollte sich zu einem gequälten Ball zusammenrollen. Einzig die Fesseln, die ihn banden, hinderten ihn daran. Es war nicht nur der körperliche Schmerz, der jetzt, da sein Bewusstsein langsam wieder an die Oberfläche trieb, klopfend, brennend und schneidend die Aufmerksamkeit an sich riss. Es war auch das Echo der vergangenen Schmerzen, die in ihrer überwältigenden Heftigkeit immer noch durch sein Bewusstsein hallten und ihn davor zurückschrecken ließ, wieder ganz zu sich zu kommen. Er fühlte Schwindel und Übelkeit, die sich seines zitternden Körpers bemächtigen wollten, ihn dazu bringen, sein Innerstes nach außen zu kehren. Er schluckte, versuchte es zumindest, aber seine Kehle war wie ausgedörrt. Unzusammenhängende Laute drangen an sein Ohr. Stimmen, fern wie summende Bienen, das leise Klirren von Ketten und ein kaum vernehmbares Stöhnen, das, wie er feststellen musste, aus seinem eigenen Mund stammte. In diesem Moment wollte er sterben. Einfach aufgeben und die Dunkelheit gewinnen lassen. Aber etwas zog an ihm, zwang ihn, immer weiter in die wirkliche Welt zurückzukehren, bis er schließlich scharf einatmete. Die unwillkürliche Bewegung ließ ihn erneut darum ringen, sich nicht zu übergeben. Der reißende Schmerz, der durch seine Arme fuhr, raubte ihm fast den Verstand und er wusste, dass er sie entlasten musste. Er musste auf die Füße kommen, doch die tauben Glieder gehorchten ihm nicht. Wieder und wieder zwang er sich, gegen den Schmerz anzuatmen. Etwas schabte über rauen Stein, während die Agonie drohte, die Oberhand zu gewinnen und ihm erneut das Bewusstsein zu rauben. Aber er durfte nicht aufgeben. Er musste … musste ... „Ah, sieh an, unser Dornröschen hat seinen Schönheitsschlaf beendet.“ Die Stimme war nah und seltsam bekannt. Aya versuchte trotz der Schmerzen, den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen. Bei einem gelang es ihm nicht, das andere jedoch ließ Millimeter für Millimeter diffuse Bilder hindurchströmen. Eine Silhouette tanzte vor seinem Gesicht hin und her, unstet, unscharf, im Gegenlicht kaum zu erkennen. „Mhm, sie haben dich ja ganz schön zugerichtet. Lass mich dir helfen.“ Ein weißer Dolch fuhr in seinen Kopf und ließ ihn aufstöhnen. Er fühlte heiße Galle in seiner Kehle aufsteigen, konnte ihre Bitterkeit schon schmecken, als sich die Klinge wieder zurückzog und ihn ermattet aber klarer zurückließ. Er atmete, kämpfte sich strauchelnd in die Höhe, ignorierte die pochenden Schmerzen in seinem Knöchel und öffnete endlich die Augen. Der Umriss seines Gegenübers wurde klarer, vertraute Konturen bildeten sich und dann … „Tim!“ Der Name fiel von seinen aufgesprungenen Lippen und rollte unbeachtet zu Boden, wo er zitternd und taumelnd liegenblieb, bis sein Echo ungehört verschwand. Aya konnte es nicht glauben. Er hatte gelitten, als Tim in seinen Armen starb und doch stand er nun vor ihm. Aufrecht und lebendig, gekleidet in einen langen, grünen Mantel, die kupferfarbenen Haare von einem gelben Band zurückgehalten, auf dem eine Sonnenbrille saß. Seine blauen Augen funkelten spöttisch. Er grinste. „So sieht man sich wieder. Aber ich glaube, wir beide sind uns noch nicht vorgestellt worden. Wenn ich so frei sein darf? Mein Name ist Schuldig.“ „Schu...“ Ayas geschwollene Zunge kämpfte mit dem ungewohnten Wort. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Nichts ergab einen Sinn. Was war hier los? Warum lebte Tim? Wer hatte ihn gefangen und gefesselt? Was wollten sie von ihm? Wie kam er hier wieder raus? Tim/Schuldig schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Na na, eins nach dem anderen, Kätzchen. Wir wollen doch nicht, dass du gleich einen Herzinfarkt bekommst. Wo ich dich doch gerade erst wieder ins Land der Lebenden zurückgeholt habe.“ Er trat vor und strich langsam die Strähnen zurück, die Aya ins Gesicht hingen. Der zuckte zusammen und sog scharf die Luft ein, als die Finger über die verletzte Seite glitten. „Uh, da hat Farfarello aber ganz schön hingelangt. Hoffentlich hinterlässt das keine Narben. Wäre doch schade um dein hübsches Gesicht.“ „Farf...“ Wieder ein Wort, das sich um seine Stimmbänder wand wie eine giftige Schlange. Erneut glitt die Hand zu seinem Gesicht und er hätte sich am liebsten in die Berührung gelehnt, die Augen geschlossen und alles um sich herum vergessen. Aber er durfte jetzt nicht schlafen. Er musste wach bleiben und herausfinden, was hier vor sich ging. Mühsam fokussierte er seinen Blick. Seine Augen blieben an der Narbe hängen, die kurz über dem Handgelenk des Mannes prangte, der sich Schuldig nannte. Er kannte diese Narbe, hatte Tim immer mal fragen wollen, was es damit auf sich hatte. Er war nie dazu gekommen. Sein Gegenüber lachte leise, aber es war kein angenehmes Geräusch. „Vielleicht hättest du ihn fragen sollen. Er hätte dir bestimmt eine schöne Geschichte dazu erzählt. Du mochtest es doch, wenn er dir Geschichten erzählt hat, nicht wahr? Ich habe gesehen, wie du ihn dabei angehimmelt hast. Es war wirklich zum Kotzen.“ Die warme Hand tätschelte grob Ayas Wange und ein rotes Schmerzgewitter brach über ihn herein. Sein Sichtfeld wurde an den Rändern dunkel und flimmerte. Er kämpfte mit dem aufsteigenden Brechreiz „Aber ich muss dir sagen, dass nichts von dem, was er dir erzählt hat, die Wahrheit war. Oder vielleicht doch, wie man es nimmt.“ Der Mann, der behauptete nicht Tim zu sein, sah nachdenklich auf sein Handgelenk. Er bewegte ein wenig die linke Schulter und die Muskeln in seinem Gesicht zuckten. Sein Mund verzog sich zu einer Grimasse. „Sieht so aus, als hätte Farfarello ein zweites Mal seine Spuren auf meinem Körper hinterlassen. Vielleicht stellt ihn das ja dieses Mal nun endgültig zufrieden.“ Er sah auf und grinste Aya an. „Du verstehst es immer noch nicht, oder?“ „Wer ...“ Aya schluckte, versuchte die Worte sorgfältig zu formulieren. „Wer Farfarello ist?“ Schuldig lachte wieder. „Nun, dir wurde er unter dem Namen Jei vorgestellt. Aber so nennt ihn eigentlich niemand. Es war eine Rolle, die er auf meine Bitte hin übernommen hat. Wir arbeiten zusammen. Ein kleiner Gefallen unter Kollegen.“ Das Grinsen auf seinem Gesicht wurde breiter. „Begreifst du es jetzt langsam? Es war alles nur Show. Nichts davon war echt. Tim hat es nie wirklich gegeben.“ Die Worte trafen Aya wie ein Faustschlag. Er sah Schuldig an und konnte es nicht glauben. Da stand er vor ihm, der Mann, denn er geliebt und verloren hatte und jetzt … jetzt sollte er niemals existiert haben? Ayas Verstand weigerte sich, das anzuerkennen. Das konnte nicht wahr sein. Das durfte nicht wahr sein. Schuldig beobachtete ihn mit einem verschlagenen Lächeln. Er bleckte die Zähne. „Wie es scheint, erkennst du langsam, in was für ein Spiel du hier hineingeraten bist. Sag mir, kleine Blume, was war schlimmer: Tim zu verlieren oder einsehen zu müssen, dass er nie existiert hat? Was davon schmerzt mehr?“ „Du lügst“, gelang es Aya hervorzuwürgen. Der Kosename, den Tim ihm gegeben hatte, klang in seinen Ohren nach wie die verzerrte Melodie eines alten Kinderliedes. Einst so süß und unschuldig, war sie jetzt rostig und grausam. „Du lügst.“ Er wiederholte es, obwohl er irgendwie wusste, dass zumindest ein Teil davon wahr war. Schuldig trat näher und Aya schloss gequält die Augen. Er sah genauso aus und er roch genau, wie Tim es getan hatte. Alles ihn ihm drängte danach, sich in dieses Gefühl fallen zu lassen. Aber Schuldig dachte nicht daran, ihm die Illusion auch nur eine Sekunde länger zu gönnen. Er fasste nach Ayas Kinn und hob es an. Aya wollte zurückzucken, aber Schuldig hielt ihn unbarmherzig fest. Die Berührung tat weh und der Schmerz ging tiefer als der Druck, den die kräftigen Finger auf seinem geschundenen Fleisch ausübten. „Da ist er ja wieder“, flüsterte Schuldig mit Verzückung in der Stimme. „Dieser Ausdruck vollkommener Verzweiflung, den ich schon einmal bei dir bewundern durfte. Du erinnerst dich vielleicht nicht daran. Es war an dem Tag, an dem deine Eltern gestorben sind. Ich war da, weißt du? Ich und Nagi. Wir waren es, die die Bomben gelegt haben. Wir waren es, die deine Welt in Schutt und Asche gelegt haben.“ „D-das kann nicht sein.“ Ein Prickeln in Ayas Nacken ließ ihn aufstöhnen. Er kannte dieses Gefühl. Die Erinnerung kam so plötzlich zurück, das er beinahe in die Knie gebrochen wäre. Schuldig griff ihm unter die Arme und hielt ihn fest. Sein Körper presste sich gegen Ayas, sein Mund war ganz nah an seinem Ohr. „Du hast es damals gespürt, nicht wahr? Du hast gemerkt, dass ich deine Gedanken gelesen habe. Es ist eine Fähigkeit, die du hast. Eine von zweien. Und du warst so ahnungslos. So unschuldig.“ Ayas Kehle wurde eng. Er spürte das Stechen in seinen Augen, kämpfte gegen die Tränen, die sich unaufhaltsam ihren Weg nach draußen bahnten. Da waren diffuse Bilder, eine verschwommene Gestalt, eine akzentlastige Stimme, die sich über ihn lustig machte. All das hatte er über die Zeit vergessen, verdrängt, aber jetzt stand es in aller Klarheit vor ihm. Er kannte die Stimme. Es war die gleiche, die ihm jetzt in sein Ohr wisperte. „Du hast es mir so einfach gemacht. Ich habe in dir gelesen wie in einem Buch. Du wolltest so stark sein, aber unter der Oberfläche war so viel Schmerz, so viel Einsamkeit. Wie verzweifelt du warst und wie hoffnungsvoll. Wie willig. Ich gab dir, wonach dein Herz sich sehnte, und du hast alle meine Lügen geschluckt. Das und anderes. Es hat dir gefallen, oder? Sag mir, ob es dir gefallen hat, kleine Blume.“ „Hör auf!“ Aya wollte den Kopf abwenden, aber Schuldigs Griff war unbarmherzig. Seine Fingernägel bohrten sich in Ayas Flanken. Aya stöhnte auf. „Mhm, das weckt Erinnerungen, nicht wahr? Nackte Haut und gestohlene Küsse. Dein Schwanz in seinem Arsch. Er hat sich von dir ficken lassen, die kleine Made. Weil er wusste, dass du das willst. Weil er wusste, dass du dem nicht widerstehen könntest. Wie eine dreckige, kleine Hure hat er für dich die Beine breit gemacht und du hast es genossen.“ „Nein!“ Die Bilder in seinem Kopf waren seine Erinnerungen, aber die Art und Weise, wie sie an die Oberfläche befördert wurden, war brutal und schmerzhaft. Er sah Tim durch seine eigenen Augen und doch war da etwas Fremdes, Widernatürliches, das ihm die Luft abschnürte und ihn panisch werden ließ. Er musste hier weg, musste weg von diesem … Schuldig. Diesem Mann, der aussah wie Tim und behauptete, Gedanken lesen zu können. 'Oh, es ist viel mehr als das. Dank dir ist es inzwischen viel mehr als das.' Die Stimme war nicht in seinem Ohr. Sie war in seinem Kopf, dröhnte durch seinen Geist, ließ ihn in seinen Grundfesten erzittern. Er zerrte an seinen Fesseln, ignorierte den Schmerz, wollte sich nur diese Stimme aus dem Kopf kratzen, die lachte und lachte und lachte. Schuldig ließ ihn so plötzlich los, dass er gefallen wäre, wenn die Fesseln ihn nicht aufgehalten hätten. Ein scharfer Schmerz zuckte durch seinen Arm, er schrie auf, ohne es verhindern zu können. Tränen des Schmerzes schossen in seine Augen und mischten sich dort mit denen der Trauer und der Wut. Zitternd hing er für einen Augenblick in den Ketten und kämpfte gegen die Ohnmacht an, die versuchte, sich seiner zu bemächtigen. Aber wieder ließ Schuldig das nicht zu. Ein Impuls wie ein Blitzschlag jagte durch seine Gedanken und klärte den roten Nebel, der seine Sicht bewölkte. „Hey, nicht umkippen.“ Lange Finger schnippten vor seinem Gesicht, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. „Ich bin noch nicht fertig mit dir. Das hier ist noch nicht vorbei.“ Aya ließ den Kopf hängen. Er spürte ein Lachen seine raue Kehle empor kriechen. Das hier war alles so unwirklich. Ein Zerrbild der Realität betrachtet durch einen beschlagenen Spiegel. Was sollte ihm jetzt noch passieren? Was wollte Schuldig ihm jetzt noch wegnehmen, dass er nicht schon längst verloren hatte. Er hörte Schuldigs Grinsen mehr, als das er es sah. „Was ich dir noch wegnehmen kann? Oh, mein kleiner Samurai, du hast ja keine Ahnung.“ Er kam wieder näher und hob Ayas Kinn mit einem Finger an. Sein Gesicht war eine Maske des Spottes. „Du hast wirklich so überhaupt keine Ahnung, zu was ich alles fähig bin.“ Minutenlang sahen sie sich nur an. Aya versuchte immer noch, einen Sinn in all das Gehörte zu bringen, und Schuldig gewährte ihm diese Zeit. Es war unübersehbar, dass er es genoss. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Aya seine Stimme wieder so weit unter Kontrolle, dass er die alles entscheidende Frage stellen konnte. „Warum? Warum ich?“ Schuldig zuckte mit den Schultern. „Mir war langweilig, du kamst mir gelegen. Das war alles.“ „Lügner!“ Aya spuckte das Wort in Schuldigs Gesicht, wo es für einen Augenblick kleben blieb, bevor es zu Boden tropfte. Schuldigs Mundwinkel kräuselten sich. „Dumm bist du nicht“, sagte er leise und wirkte dabei auf Aya wie eine gereizte Katze. Da war ein gut verborgenes Knurren, ein kaum sichtbares Zucken des Schwanzes, das ihren Unmut verriet, von dem sie sich nicht die Blöße geben wollte, ihn offensichtlich werden zu lassen. Aya beschloss, noch weiter zu bohren. „Wenn ich nur ein Zeuge gewesen wäre, hättest du mich einfach umbringen können.“ „Oh bitte, ich muss doch nicht jeden umbringen, der mir im Wege steht. Du warst nicht mehr als ein kleiner Junge, der Glück gehabt hatte.“ „Das war ich vielleicht einmal, aber jetzt bin ich es nicht mehr.“ Eine gleichgültige Geste antwortete ihm. „Und wenn schon. Ein Junge mit einem Schwert. Auch das ist keine Bedrohung für mich. Ich war lediglich neugierig.Wollte sehen, was du so treibst, bevor ich dich aus dem Weg räume.“ „Aber das hast du nicht.“ Wenn sein Pfeil dieses Mal das Ziel traf, zeigte Schuldig es nicht. Unverwandt sah er Aya an. „Das stimmt, denn als ich mich dir näherte, fand ich heraus, dass du noch eine zweite Gabe hast. Du spürst nicht nur, wenn jemand außergewöhnliche Fähigkeiten hat.“ Er machte eine Pause und ein grausames, kleines Lächeln umspielte seine Lippen. „Du verstärkst sie auch. Das allein war der Grund, warum ich dich noch ein bisschen länger am Leben gelassen habe. Ich und Crawford wollten diesen Umstand für uns nutzen. Nicht mehr und nicht weniger.“ Er grinste. „Ich höre, was in deinem hübschen Köpfchen vorgeht. Du denkst gerade: 'Was?Crawford also auch?' Oh ja, natürlich er auch. Er ist in der Lage, die Zukunft vorauszusehen. Bei dem netten Abendessen, das wir organisiert haben, hast du durch deine Anwesenheit seine Gabe um ein Vielfaches verstärkt. Ich bin sicher, wenn er hier wäre, würde er dir dafür auf seine eigene Art und Weise danken.“ Schuldig deutete mit Daumen und Zeigefinger eine geladene Waffe an und hielt sie direkt an Ayas Stirn. „Ihm bedeutet ein Menschenleben noch weitaus weniger als mir.“ Aya versuchte, gleichmäßig zu atmen. Ein und aus. Nicht die Kontrolle verlieren. Ihm war übel und er spürte die ersten Anzeichen einer erneuten Ohnmacht heranschleichen wie ein hungriges Raubtier. Entschlossen drängte er sie zurück. Er würde jetzt nicht aufgeben. Schuldig betrachtete ihn amüsiert und nahm endlich seine Hand runter. „Du bist verdammt stur, weißt du das?“ „Eine meiner besseren Eigenschaften.“ Schuldig lachte auf und Aya versuchte verzweifelt, an nichts bestimmtes zu denken und gleichzeitig seine Gedanken zu ordnen. Die Tatsache, dass Tim nie existiert haben sollte, wollte ihm einfach nicht in den Kopf. Natürlich bemerkte er jetzt, da er genauer hinsah, die Abweichungen zu vorher. Der grausame Zug um Schuldigs Mund, die Kälte in seinem Blick, die Körpersprache, die sich so völlig von dem unterschied, was er von Tim gewohnt war. Es war, als hätte er einen anderen Menschen vor sich. Trotzdem hatte er Zweifel. Es hatte sich so echt angefühlt. Er konnte nicht glauben, dass jemand sich so komplett verstellen konnte. Und noch dazu hinterher so abfällig über das Ganze zu sprechen, als wäre er selbst nicht daran beteiligt gewesen. Es passte einfach nicht zusammen. Die Puzzleteile, die Schuldig ihm hingestreut hatte, ergaben kein vollständiges Bild. Irgendein entscheidendes Detail verschwieg ihm der Gedankenleser. „Wenn ihr hattet, was ihr wolltet, warum habt ihr mich dann nicht aus dem Weg geräumt? Warum die ganze Sache mit dem Hotel und alles? Warum es nicht beenden, solange ich noch ahnungslos war?“ Er versuchte, die aufkommenden Erinnerungen an sein Zusammensein mit Tim nicht zu nahe an die Oberfläche driften zu lassen. Ein Blick in Schuldigs Gesicht zeigte ihm, dass er nicht sehr erfolgreich damit war. Dessen spöttischer Gesichtsausdruck sprach Bände. „Oh, keine Ahnung. Vielleicht hat es mir einfach gefallen, zu sehen, wie weit du dich treiben lässt. Deine geraubte Unschuld ist doch eine schöne Trophäe, findest du nicht?“ Einen Augenblick lang war Aya kurz davor, seine Contenance zu verlieren. Aber er hatte nicht vor, dieses Spiel nach Schuldigs Regeln zu spielen. „Ganz schön viel Aufwand für einen kleinen Fick. So was kannst du doch bestimmt einfacher haben. Oder brauchst du auch im Bett einen Verstärker für deine Fähigkeit?“ Im nächsten Moment flog sein Kopf zur Seite und sein Schädel dröhnte von der Ohrfeige, die Schuldig ihm verpasst hatte. Er schmeckte Blut in seinem Mund und spuckte es aus. Seine Lippen verzogen sich zu einem wissenden Lächeln, als der andere ihn am Kragen packte und ihn wütend anfunkelte. „Nur weil sich der kleine Pisser von dir hat rannehmen lassen, heißt das nicht, dass das auch für mich gilt. Ist das klar? Wenn es nach mir gegangen wäre ...“ Ayas blutverschmiertes Grinsen wurde breiter. „Aber das ging es nicht, oder? Du konntest es nicht. Du hast die Kontrolle verloren.“ Es war ein Schuss ins Blaue. Er hatte keine Ahnung, wie Telepathie funktionierte, aber etwas sagte ihm, das Schuldig nicht ohne Grund von Tim sprach, als wäre es eine zweite Person. Schuldigs Blick flackerte kurz, bevor er sich wieder in der Gewalt hatte. Er gab ein abfälliges Geräusch von sich und ließ ihn los. Aya sackte in sich zusammen und kämpfte erneut mit einer Ohnmacht. Hinter seinen Schläfen pochte es. Schuldig wandte sich ab, seine Hände waren zu Fäusten geballt. Trotzdem lachte er. „Du willst also wirklich die ganze Geschichte wissen? Fein. Es macht sowieso keinen Unterschied.“ Er drehte sich wieder herum und sein Gesicht zeigte nicht mehr als Arroganz und Spott. „Ja, du hast es durchschaut. Die zweite Identität, die ich erfunden hatte, um dich um den Finger zu wickeln, hat sich ein wenig verselbstständigt. Durch das Zusammensein mit dir, hat diese Rolle ein eigenes Bewusstsein entwickelt. Ich habe ihn machen lassen. Wollte wissen, wie weit das Ganze gehen würde. Aber Farfarello ist dahinter gekommen. Er hat gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist, und hat mir ein Ultimatum gestellt, die Sache zu beenden. Ich bin zu deiner Wohnung gefahren und wollte Tim einen Schlussstrich ziehen lassen. Stattdessen hat er sich dir an den Hals geworfen und sich dadurch noch mehr von mir gelöst. Das hatte allerdings den Vorteil, dass ich nun endlich wieder die Kontrolle über meinen Körper übernehmen konnte, ohne dass er etwas davon mitbekam. Hat ihm ein paar nette Gedächtnislücken beschert, dem kleinen Schwanzlutscher. Ich wusste bereits, dass Nagi euch in eine Falle locken wollte, habe dieses Wissen aber vor ihm verborgen. Als du dann aufgetaucht bist, ist Tim losgelaufen, um dich zu retten. Er wusste ja nicht, dass er damit sein eigenes Todesurteil unterschrieben hat.“ Schuldig grinste höhnisch. „Es war wirklich ganz einfach. Erst habe ich den kleinen Bombay unschädlich gemacht, ihm ein bisschen von seiner eigenen Medizin zu kosten gegeben. Anschließend habe ich Farfarello in meinen Plan eingeweiht, mich umzubringen. Natürlich nicht in echt. Es war ein Trick, eine Illusion. Er hat mir lediglich eine hübsche Schnittwunde verpasst, um für ein bisschen Dramatik zu sorgen mit all dem Blut und so, bevor er die Klinge seines Rapiers hat einfahren lassen, um mich nicht wirklich zu durchbohren. Tim glaubte allerdings, dass er tatsächlich tödlich getroffen war. Es ist erstaunlich, dass man sein eigenes Ich so sehr betrügen kann. Ihr hattet eure schmalzige Abschiedsszene und dann ...“ Er machte eine Pause und seine Augen funkelten voller Schadenfreude. „Dann ist Tim gestorben. Tatsächlich gestorben. Die Verbindung, die zwischen euch bestand, ist gerissen und ich war endlich wieder frei.“ Er lachte auf. „Weißt du, dass ich gerade an Peter Pan denken muss? Die Sache mit den Feen, die sterben, wenn man nicht mehr an sie glaubt.“ Schuldig trat zu Aya, der unwillkürlich zurückweichen wollte und nur durch die Fesseln davon abgehalten wurde. Er fühlte Schuldigs Atem auf seinem Gesicht. „Diese kleine Fee allerdings wirst du durch alles Klatschen dieser Welt nicht mehr zum Leben erwecken. Sie ist fort und nicht einmal ich könnte etwas daran ändern, selbst wenn ich es wollte. Und ich will nicht. Ich genieße es, dass er weg ist. Die Welt ist so viel besser dran ohne ihn.“ Aya starrte Schuldig an. Die Geschichte, die er erzählt hatte, war zu fantastisch, um wahr zu sein. Und gleichzeitig war sie die einzige Erklärung, die Sinn machte. Er dachte an Schuldigs frühere Frage, was mehr geschmerzt hatte, und er wusste jetzt, was er antworten musste. „Ihn zu verlieren, hat mehr weh getan“, sagte er und wusste, dass Schuldig ihn verstand. „Denn er hat existiert. Er war real und daran kannst auch du nichts mehr ändern. Er war ein Teil von dir. Ein Teil, den du getötet hast.“ Sein Gesichtsausdruck war fest und obgleich der Tatsache, dass er verwundet und gefesselt war, fühlte er neue Stärke durch seine Adern kreisen. Er wusste jetzt, was passiert war. Es kümmerte ihn nicht, dass der Körper noch der gleiche war, denn die Person, die er geliebt und verloren hatte, war eine andere gewesen. Er würde um ihn trauern können, so wie er um seine Eltern getrauert hatte. Er würde darüber hinwegkommen. Schuldig beobachtete ihn und in seinem Blick lag etwas Lauerndes. Aya spürte das Kribbeln in seinem Nacken und verstand jetzt, dass es hieß, dass Schuldig seine Gedanken las. Aber sollte er ruhig. Aya hatte nichts zu verbergen. „Du glaubst, du hättest gewonnen, oder?“ Der Telepath schien die Situation trotz allem zu genießen. Aya ließ sich davon nicht beeindrucken. „Es gibt nichts, was du jetzt noch tun könntest. Außer mich zu töten. Also los, worauf wartest du? Bringen wir es endlich hinter uns.“ Schuldig sah ihn noch einen Augenblick lang an, bevor er in prustendes Gelächter ausbrach. Er lachte und lachte und wischte sich schließlich die Tränen aus den Augen. „Oh, Abysinnian in Bestform. Das kleine Weiß-Kätzchen steht mit dem Rücken zur Wand und zeigt trotzdem noch die Krallen. Es wäre tragisch, wenn es nicht so komisch wäre.“ „Freut mich, dass du dich amüsierst“, entgegnete Aya frostig. „Danke!“ Schuldig lächelte ihn an. „Du glaubst ja gar nicht, wie sehr du für mein momentanes Entertainment sorgst. Und vor allem ist es noch nicht vorbei. Das beste kommt eigentlich erst noch.“ Aya mochte den Tonfall nicht, in dem Schuldig das sagte. Dessen Augen wurden schmal und er hob den Kopf, als würde er etwas lauschen, das nur er hören konnte. Ein höhnischer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. „Oh wie schön, die Kavallerie ist im Anmarsch. Wie es aussieht, spielen sie erst noch eine Runde mit Schreient, aber ich glaube, sie haben trotz allem eine gute Chance, sich zu dir durchzuschlagen.“ „Schreient?“ Schuldig wedelte ungeduldig mit der Hand. „Masafumi hat mit Hilfe der Proben, die er von dir genommen hat, ein paar Frauen zu Elitekämpfern umgeformt. Sind ihm total ergeben und alles. Nett anzusehen auch. Ich mag sie irgendwie. Wäre schade, wenn ihr euch jetzt schon gegenseitig das Licht ausblast. Vor allem, weil ...“ Er schwieg und grinste. „Ach, diese Überraschung hebe ich mir für später auf. Wichtig ist nur, dass deine weißen Kumpels hier gleich reingeschneit kommen, um dich in höchst ritterlicher Weise zu befreien. Und weißt du was? Ich werde sie lassen. Ist doch nett von mir, oder?“ Aya glaubte, sich verhört zu haben. Schuldig wollte ihn freilassen? Einfach so? „Pff, natürlich nicht einfach so. Wo bliebe denn da der Spaß? Mein Spaß, versteht sich. Also pass auf, wir machen es so: Ich lasse dich gehen, aber ich werde dich im Auge behalten. Wenn du ihnen erzählst, was passiert ist, bringe ich sie um.“ Sein Ton war mit jedem Satz kälter geworden. Ein bedrohliches Schnarren wie von einem Dämon, der den dunkelsten Tiefen der Nacht entstiegen war. Er kam näher und sah Aya direkt in die Augen. „Ich lasse dich am Leben, aber du wirst dir jeden Tag wünschen, ich hätte es hier und jetzt zu Ende gebracht. Und falls du versuchen solltest, es selbst in die Hand zu nehmen, werde ich da sein und dich aufhalten. Glaub mir, du wirst dir noch sehr, sehr oft wünschen, du wärst an seiner Stelle gestorben.“ Plötzlich zierte wieder ein breites Grinsen sein Gesicht. Er hob die Augenbrauen und sah Aya aufgeregt an. „Aber das Beste kommt erst noch. Ich habe nämlich noch ein Geschenk für dich.“ „Ein Geschenk?“ Aya wusste nicht, ob er, was auch immer Schuldig ihm geben wollte, wirklich haben wollte. Schuldigs Grinsen wurde boshaft. „Das steht hier nicht zur Debatte. Außerdem geht es um deine Schwester. Du liebst deine Schwester doch, nicht wahr, mein kleiner Samurai? Was also würdest du sagen, wenn ich dir denjenigen nennen würde, der für ihren Zustand verantwortlich ist. Denn weißt du, ich habe mir die schlafende Prinzessin gestern mal genauer angesehen und was glaubst du, was ich herausgefunden habe?“ Aya wollte es nicht hören. Er wollte die Augen schließen und sich einfach der Schwärze ergeben, die am Rande seiner Wahrnehmung lauerte. Doch Schuldig ließ das nicht zu. Mit einem mentalen Stoß brachte er Aya wieder zurück. „Schön hierbleiben, Kätzchen. Wir wollen doch nicht, dass du den besten Teil der Vorstellung verpasst. Denn weißt du, derjenige, der deine Schwester ins Koma gebracht hat, warst niemand anderer als du selber.“ „Was?“ Aya riss die Augen auf. „Du lügst! Sie liegt im Koma, weil du und Nagi die Bombe gelegt habt. Sie hat ein Schädeltrauma erlitten und deswegen ...“ „Deswegen wacht sie nicht auf, obwohl organisch inzwischen wieder alles in Ordnung ist?“, unterbrach Schuldig ihn. „Deswegen stehen die Ärzte vor einem Rätsel, was ihren Zustand angeht? Nein, mein Lieber, die Erklärung ist viel komplexer. Sie liegt dort, weil sie versucht hat, dich zu retten. Fandest du es nicht sehr eigenartig, dass alle um dich herum schwer verletzt oder getötet wurden, während du nur mit einem Kratzer davongekommen bist? Sag mir, wie das passieren konnte. Wie konntest du so viel Glück haben, lucky boy?“ Er funkelte Aya belustigt an. „Ich werde es dir sagen, aber es wird dir nicht gefallen. Die Wahrheit ist, dass du eigentlich in dieser Explosion gestorben wärst. Ein Trümmerstück hatte deinen Brustkorb zerquetscht und du drohtest zu ersticken. Wie es der Zufall will, ist deine Schwester jedoch ebenfalls mit einer besonderen Fähigkeit gesegnet. Sie ist eine Heilerin. Ihre Gabe ermöglicht es ihr, körperliche Verletzungen binnen kürzester Zeit zu kurieren. Als sie begann, dich zu behandeln, hast du in deiner Panik deine eigenen Verstärkerkräfte aktiviert. Du hast die Kraft regelrecht aus ihr herausgesogen, bis sie schließlich ohnmächtig zusammenbrach. Der Stein, der sie am Kopf traf, hätte lediglich eine leichte Gehirnerschütterung verursacht. Ein paar Prellungen und blaue Flecke und sie wäre in ein paar Wochen wieder gesund gewesen. Aber dadurch, dass sie dich gerettet hat, wurde sie so sehr geschwächt, dass sie sich völlig in sich selbst zurückgezogen hat, um nicht von dir ausgelöscht zu werden. Du siehst also, dass derjenige, der für die Verdammnis deiner Schwester zuständig ist, niemand anderer als du selbst bist.“ „Das ist eine Lüge! Du lügst!“ Ayas Stimme überschlug sich, während er mit den Tränen kämpfte. Das konnte nicht stimmen. Aya, seine Aya, war doch nicht … sie war doch kein Freak so wie dieser rothaarige Bastard, der ihm jetzt offen ins Gesicht lachte. „Du vergisst, dass du ebenso ein Freak bist wie ich, mein Lieber. Wie ich und Crawford und Farfarello und seit Neuestem auch Nagi. Er wird dir so dankbar sein, wenn er von seiner Ausbildung bei Rosenkreuz zurückkommt. Sie werden ihn durch die Hölle jagen, aber danach wird er wieder an unserer Seite kämpfen. Du siehst also, du kannst nicht gewinnen. Ihr könnt nicht gewinnen. Niemals.“ „Ich werde dich umbringen“, presste Aya zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich werde dich umbringen für das, was du mir angetan hast.“ „A-a-a, mein lieber Abyssinian. Du vergisst dabei etwas. Und zwar, dass ich nicht nur derjenige bin, der dir die volle Wahrheit über den Zustand deiner geliebten, kleinen Schwester eröffnet hat. Ich bin vermutlich auch der Einzige, der sie daraus wieder befreien kann. Also: Willst du wirklich zur Befriedigung deiner Rachegefühle die einzige Chance deiner Schwester, jemals wieder aufzuwachen, vernichten? Und das, nachdem du sie überhaupt erst in diese missliche Lage gebracht hast. Du bist wirklich ein fürchterlicher, großer Bruder. Schämen solltest du dich.“ Er grinste und Aya hätte ihm dieses Grinsen am liebsten mit der Faust aus dem Gesicht gewischt. Aber es stimmte, er konnte nichts tun. Ihm waren wortwörtlich die Hände gebunden und selbst wenn er frei und unverletzt gewesen wäre, bestand immer noch die Chance, das Schuldig die Wahrheit gesagt hatte. Dass er tatsächlich Ayas einzige Chance auf Heilung war. Aya konnte nicht riskieren, das zu verlieren. Um die Schuld zu tilgen, die er auf sich geladen hatte, war er bereit, auch noch sein letztes bisschen Würde und Stolz zu opfern. „Was verlangst du dafür, dass du ihr hilfst?“ Schuldigs Augenbrauen wanderten nach oben. „Fragst du mich das gerade wirklich? Ich dachte, es wäre inzwischen offensichtlich, dass ich kein netter Mensch bin. Was also veranlasst dich dazu zu denken, dass ich dir tatsächlich helfen würde.“ „Du hättest mir all das nicht erzählt, wenn du nicht etwas von mir wollen würdest.“ Aus der Ferne waren jetzt Geräusche eines Kampfes zu hören. Er hörte spitze Schreie und ein Brüllen, das eindeutig von Ken stammte. Er konnte nicht verhindern, dass sich ein klein wenig Erleichterung in ihm breit machte. Schuldig sah in die Richtung des Lärms und trat dann ganz nah an ihn heran. Seine körperliche und geistige Präsenz ließen Aya schwindeln. „Ich sage dir, was ich von dir will“, wisperte er in Ayas Ohr und sein warmer Atem ließ Aya erschauern. „Ich will, dass du leidest. Für all die Zeit, die ich mich in deinem Bann befunden habe, sollst du leiden. Du wirst einsam sein. So einsam wie noch nie in deinem Leben. Eingesperrt in einem Gefängnis mit unsichtbaren Mauern. Und jeden, den du ins Vertrauen ziehst, werde ich ebenfalls bestrafen. Ich werde ihm wehtun und ihn vernichten, so wie ich Tim vernichtet habe. Körperlich. Geistig. Ich finde einen Weg. Das Böse findet immer einen Weg. Denn das Licht vergeht und nur die Dunkelheit währt ewig.“ Er lachte noch einmal und dann war er plötzlich fort. Aya hätte am liebsten geschrien, getobt, aber die vorangegangenen Strapazen hatten ihn endgültig an seine Grenzen gebracht. Er nahm nur noch vage war, wie jemand seinen Namen rief, wie sich eilige Schritte ihm näherten und warme Hände sich an seinen Fesseln zu schaffen machten. „Halte durch, Aya-kun. Wir holen dich da raus.“ „Diese Schweine, was haben die mit ihm gemacht?“ „Halt die Klappe, Ken, und halt ihn fest. Wenn ich die Schlösser geknackt habe, wird er uns sonst zusammenbrechen.“ Er wollte den Kopf schütteln, wollte sie fortschicken. Wollte sie warnen, dass sich Schuldig immer noch irgendwo hier aufhalten musste, aber er konnte es nicht. Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr und auch sein Bewusstsein driftete immer weiter in die lockende Schwärze ab. Die Dunkelheit währt ewig, hatte Schuldig gesagt und damit hatte er Recht gehabt. Es gab keinen Weg, die Dunkelheit zu besiegen. Am Ende war das Licht erloschen und alles, was blieb, war ewige und immer währende Finsternis. Es gab nichts mehr, was Aya dagegen tun konnte. Der bessere Lügner hatte gewonnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)