Lügner! von Maginisha ================================================================================ Kapitel 23: Ein neuer Gegner ---------------------------- Yoji wusste nicht, wie sich der Tod für die anderen anfühlte. Für Omi war es wahrscheinlich nicht mehr, als der Finger, der einen Abzug betätigte. Die Hand, die einen Pfeil in den Bogen spannte oder einen Dart in das bewegliche Ziel schleuderte. Für Aya war es der Griff nach der gleißenden Klinge, ein tödlicher Tanz, ein finaler Schlag und spritzendes Blut. Für Ken war es vielleicht das Gefühl, wenn das lebendige Fleisch unter seinen Krallen nachgab und sich die Klingen in den warmen Körper bohrten. Der Geruch von Blut und anderen Körperflüssigkeiten, die in Kaskaden zu Boden strömten. Der letzte Schrei seiner Opfer, der in seinen Ohren widerhallte, bevor sie in sich zusammensanken wie zerbrochene Puppen.   Für ihn war der Tod leise.   Omi hatte nur zum Teil recht gehabt, als er ihn einen Fernkämpfer nannte. Mit dem dünnen Draht, der in der Uhr an seinem Handgelenk verborgen war, war er durchaus in der Lage, jemanden aus der Distanz zu töten. Es machte die Aufgabe leichter, das Morden fast zu einem Job wie jeden anderen. Aber manchmal ... manchmal machten es die Umstände notwendig, dass er seinem Opfer ganz nahe war. Dann spürte er das Zucken, das verzweifelte Kämpfen um Luft, hörte das atemlose Röcheln, wenn sich die Schlinge um den verletzlichen Hals immer enger zog, das singende Geräusch des Drahtes in seinen Händen. Es war eine langsame, fast grausame Art zu töten. Eine intime Art. Eine silberne Verbindung zwischen ihm und dem Sterbenden, die erst wieder riss, wenn es vorbei war. Kein flüchtiger Kontakt, kein heroisches Henkersbeil, das sich als gerechte Strafe herabsenkte. Er hasste es und er genoss es in gleichen Zügen und manchmal fragte er sich, ob er auf seine Art nicht verrückter war als sie alle zusammen.   Sein Blick irrte durch den Raum, der mit toten Körpern übersät war. Mittendrin stand Ken, die blutbedeckten Krallen im Anschlag, den wilden Blick auf den letzten, noch stehenden Gegner gerichtet. Nun, vielleicht war er doch nicht der Verrückteste. „Ken, lass ihn laufen.“ „Aber ...“ Ken sah kurz zu ihm herüber und fixierte dann wieder den Mann, der in eine Ecke gedrängt stand. Er hatte abwehrend die Hände ausgestreckt, auf seiner Weste waren Blutspritzer, die Augen hinter seiner Brille weit aufgerissen. „Bitte, ich biete euch, was ihr wollt. Wollt Ihr Geld? Ihr könnt alles mitnehmen.“ Seine zitternden Finger wiesen auf den Haufen Scheine und Münzen, die zwischen ihn und Ken auf dem Boden verstreut lagen. Es war eine beträchtliche Summe. Kens Gesicht verzog sich verächtlich. „Uns kann man nicht kaufen.“ Er wandte sich an Yoji. „Wenn ich ihn laufen lasse, wird er Alarm schlagen. Besser, ich erledige ihn auch.“ „Er ist nicht unser Ziel.“ Yoji wusste, wen sie vor sich hatten. Es handelte sich um Hirofumi Takatori, Sohn von Reiji Takatori. Der Mann war lange nicht so bekannt wie sein Vater, aber eines ihrer Opfer hatte sich in seiner Todesangst an ihn gewandt und seinen Namen genannt. Es hatte sich angehört, als wäre er der eigentliche Drahtzieher hinter dieser Veranstaltung. Die Order, die sie von Perser erhalten hatten, waren offensichtlich falsch. Aber er war nicht in der Position, das zu entscheiden. Yoji wünschte sich, Omi wäre jetzt hier. Der Junge hätte gewusst, was zu tun war.   Sie zuckten alle drei zusammen, als aus den Lautsprechern plötzlich Gewehrschüsse drangen. Der riesige Bildschirm an der Wand zeigte in Großaufnahme, wie einer der Jäger einen Spieler niedermähte. Knochensplitter und eine zähe, rotgraue Masse tropften von einer Wand. „Kann man das nicht irgendwie abschalten?“ Yoji hatte für heute genug Leichen gesehen. Hirofumi deutete zögernd auf eine Tür an der Seite des Raums. „D-dort drin. Die Steuerung ist dort drin.“ Yoji öffnete die Tür und trat in einen kleinen Nebenraum. Auf einem Tisch stand ein Laptop; der Stuhl davor schief, ein Headset achtlos beiseite geworfen und zu Boden gerutscht. Er beugte sich zu dem kleinen Bildschirm herab und versuchte, aus den verschiedenen Anzeigen schlau zu werden, als es im Nebenraum laut wurde. „Hey!“, rief Ken und Hirofumi lachte. „Stirb!“ Ein Schuss krachte durch den Raum. Im nächsten Moment erklang das Geräusch, wenn Kens Krallen ihr Ziel fanden. Hirofumis Triumphgeheul ging in ein röchelndes Gurgeln über. Yoji stürzte zur Tür und konnte gerade noch sehen, wie er mit blutüberströmter Brust zu Boden sank. Über ihm stand Ken und hielt sich den linken Arm. Auch sein Ärmel färbte sich langsam rot. „Nur ein Streifschuss“, sagte er und schien kurz davor, dem Sterbenden noch einen Tritt zu versetzen. „Ich wusste, dass man ihm nicht trauen kann.“ Auf dem Bildschirm im Hintergrund schrie schon wieder ein Mann. Ken sah aus, als würde er sich gleich vollkommen vergessen. „Kannst du das endlich abschalten?“   Yoji nickte und ging zurück zu dem Laptop. Er fuhr mit dem Mauszeiger über die verschiedenen Regler und Anzeigen auf der Suche nach dem passenden Schalter, um die Übertragung abzubrechen, als er plötzlich ein kleines Fenster am Bildschirmrand bemerkte. Es war im Grunde unauffällig, denn es zeigte nur eine leere Gasse, während auf den anderen Screens Wachen, Spieler und Jäger zu sehen waren. Aber wo die anderen Kameras ihr Motiv wechselten – Yoji vermutete, dass sie an Bewegungsmelder gekoppelt waren – zeigte diese nur eine einzige Einstellung. Ihre beobachtende Linse war direkt auf einen dunklen Hauseingang gerichtet. Ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn. „Yoji! Stell das endlich ab!“ Ken erschien in der Türöffnung. Seine Nerven dünn, das Adrenalin in seinen Adern noch nicht vollständig abgebaut. Ein gefährlicher Zustand, aber Yoji konnte jetzt keine Rücksicht darauf nehmen. Sein Instinkt sagte ihm, dass er etwas Wichtigem auf der Spur war. „Sei still und setzt dich da hin. Ich muss das hier überprüfen.“ Ken klappte den Mund auf und wieder zu, bevor er sich mit einem Schnauben auf den Stuhl fallen ließ. Dass er seine Füße nicht auf den Tisch legte, war eine echte Überraschung. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ebenfalls auf den Bildschirm. „Und was gibt es da so interessantes zu sehen?“ „Das weiß ich noch nicht.“ Yoji vergrößerte den Bildausschnitt und sah, dass die Übertragung der Kamera aufgezeichnet worden waren. Er stoppte die Aufnahme und ließ den Kontrollknopf des Abspielbalkens zum Anfang zurückwandern. Anschließend drückte er auf 'Abspielen'.   Es dauerte einen Moment, bis sich etwas tat. Auf dem oberen Bildschirmrand tauchte eine Gestalt auf, die langsam näher kam. Yoji atmete scharf ein, als er sah, um wen es sich handelte. Auch Ken beugte sich nach vorn. „Omi? Hey, das ist Omi!“ Yoji erwiderte nichts, sondern beobachtete weiter die Aufnahme. Omi blieb jetzt stehen und drehte sich in Richtung des Hauses um, auf das die Kamera gerichtet war. Er schien etwas gehört zu haben und jetzt … „Nein, geh da nicht rein!“ Ken war völlig aus dem Häuschen. Yoji legte die Hand auf seine Schultern. „Das ist eine Aufzeichnung, Ken.“ Er deutete auf die Uhrzeit am oberen Bildschirmrand. „Das Ganze ist schon mehr als eine Stunde her.“ Ken schüttelte seine Hand ab. „Und warum gucken wir uns das dann jetzt an? Wir sollten hier verschwinden.“ „Ja, gleich.“ Yoji spürte Kens steigende Unruhe. Er selbst wollte auch nichts anderes, als endlich hier wegzukommen, aber er hatte das dringende Gefühl, dass sie sich das ansehen sollten. Irgendetwas daran war eigenartig. Warum hatte jemand das aufgenommen? Was war noch auf dem Video zu sehen? Omi war jetzt im Inneren des Gebäudes verschwunden. Die Minuten verstrichen, aber es geschah rein gar nichts. Yojis Finger wanderten schon zu dem Regler, der die Abspielgeschwindigkeit hinaufsetzte, als sich plötzlich etwas in der Türöffnung bewegte. Jemand verließ das Gebäude und es war nicht Omi. Yoji riss die Augen auf. Statt die Aufnahme schneller abzuspielen, stoppte er das Video und stierte völlig fassungslos auf das Gesicht, das jetzt auf dem Bildschirm zu sehen war. Neben ihm keuchte Ken auf. „Das ist doch ...“ „Ich weiß.“ Yojis Miene verdunkelte sich. „Los, nimm den Laptop mit. Wer weiß, was wir noch alles darauf finden. Danach suchen wir Omi.“ Er sah noch einmal auf die Gestalt auf dem Bildschirm. „Und Aya. Er muss wissen, was hier los ist.“       Um Nagi herum herrschte hektische Betriebsamkeit. Überall liefen Leute herum, Befehle schallten durch den Raum. Jeder schien ein Ziel zu haben, außer ihm. Einige der Wachen hatten Fujimiya geborgen und in den Laborbereich gebracht. Masafumis Adleraugen glühten auf, als er ihn zu Gesicht bekam. „Ah, da ist er ja. Ich bin schon sehr gespannt, ob er hält, was du versprochen hast.“ Nagi zog den Kopf ein und senkte den Blick. Das hier hätte die Stunde seines Triumphs sein sollen, aber es fühlte sich nicht so an. Chizuru schob ihre Brille auf der Nase nach oben. „Soll ich ihn sedieren?“ Masafumi schüttelte den Kopf. „Nein, das könnte die Proben verfälschen. Ich will sofort alles von ihm haben. Blut, Haut, Gewebe, Knochenmark. Aber keine Betäubung. Wir sollten eine Entnahme der Keimzellen in Betracht ziehen.“ Seine Assistentin nickte. „Natürlich. Ich werde alles vorbereiten.“   Nagi beschloss, dass er genug gehört hatte. Ihn brauchte hier im Moment niemand mehr. Leise verließ er den Raum und trat in den Flur hinaus. Auch dort waren noch einige Wachen unterwegs. Anscheinend neigte sich das Spiel dem Ende entgegen. Er fragte sich, was wohl aus den zwei verbliebenen Weiß-Mitgliedern geworden war. 'Ich hoffe, sie verrotten irgendwo.' Möglichst unauffällig schlich er den Gang entlang, öffnete eine der Türen und schlüpfte in den Raum, in dem Nanami immer noch bewusstlos gehalten wurde. Er wusste, dass Masafumi sie zwischendurch hatte aufwachen lassen. Es war kein schönes Erlebnis gewesen. So, wie sie jetzt war, ging es ihr besser. Hoffte er zumindest. Er ließ sich auf einem Stuhl neben dem Krankenbett nieder und betrachtete die entspannten Gesichtszüge des Mädchens. Sie war hübsch, das hatte er zuvor schon bemerkt. Helle, makellose Haut, ein kleiner Schmollmund, ein zartes Kinn, fein geschwungene Augenbrauen im gleichen, schimmernden Blau wie ihre Haare. Ihre ausdrucksvollen Augen waren jetzt natürlich geschlossen, aber er wusste, wie sie aussahen, wenn sie sich groß und bewundernd auf ihn richteten. Obwohl er jetzt gerade nicht unbedingt das Gefühl hatte, Bewunderung zu verdienen. Wie hatte sein Plan nur einen so gravierenden Fehler aufweisen können? Wieso hatte Schuldig sich geopfert? Und warum so sinnlos? Hatte er wirklich geglaubt, gegen Farfarello gewinnen zu können? Dann war er dümmer, als Nagi angenommen hatte. Er hatte sehen wollen, wie Schuldig litt, aber nicht dass er … Er würde verdammte Schwierigkeiten deswegen bekommen. Obwohl es nun wirklich nicht seine Schuld war, dass sich die beiden anderen Schwarzmitglieder an die Kehle gegangen waren. Und wäre es nicht Crawfords Aufgabe gewesen, so etwas vorauszusehen? Was hätte er schon tun können, als Schuldig beschlossen hatte, sich für seinen Liebhaber buchstäblich ins Messer zu werfen. „Dämlicher Idiot“, fluchte er und wusste nicht so recht, wen er eigentlich damit meinte. Er legte die Arme auf den Rand der Liege und bettete seinen Kopf darauf. Mitternacht musste mittlerweile längst vorbei sein und der lange Tag begann, seinen Tribut zu fordern. Langsam aber sicher drifteten Nagi die Augen zu.     Er schrak auf, als sich die Tür des Krankenzimmers öffnete. Chizuru und zwei Männer kamen herein. Sie lösten die Verankerung des Bettes und schoben es aus dem Raum. Auf Chizurus Gesicht lag ein zuversichtliches Lächeln. „Es ist soweit“, sagte sie und nickte Nagi zu. Er erhob sich und folgte dem kleinen Trupp in eine große Laborkammer, die er bisher noch nicht gesehen hatte.   Große Teile des Areals lagen im Dunkeln. Nagi vermutete, dass es sich um eine alte Lagerhalle handelte. Auf einer kleinen, beleuchteten Empore in der Mitte des Raumes standen vier Behandlungsstühle, an die allerlei Gerätschaften mit blinkenden Monitoren angeschlossen waren. Über den Kopflehnen waren stählerne Hauben angebracht, die Nagi an einen Friseursalon denken ließen. Auf einem der Stühle war die fremde Frau festgeschnallt, die Nagi bereits bei seinem ersten Besuch hier gesehen hatte. Ihre Augen waren geöffnet, aber der Blick, mit dem sie an die kahle Decke starrte, war vollkommen leer. Sie bewegte sich nicht. Die schöne Karen nahm unter Masafumis Anleitung gerade auf einem weiteren Stuhl Platz. „Und das ist auch wirklich ungefährlich?“, fragte sie und runzelte die Stirn. Masafumi lächelte. „Mach dir keine Sorgen, ich habe alles geprüft. Die Essenz des Jungen wird dir deine Schönheit und Jugend zurückgeben. Für immer.“ Karen sah ihn an und in ihren Augen schimmerten dankbare Tränen. „Oh Masafumi. Wenn das wahr wäre ...“ „Es wird wahr werden. Wir haben die Evolution in unserer Hand. Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten.“ Er nahm eine Spritze von einem Tablett, das Chizuru ihm reichte, und injizierte den Inhalt in einen Tropf, den er an Karens Arm befestigt hatte. „Du musst dich jetzt entspannen. Die Veränderung wird einige Zeit in Anspruch nehmen, aber danach wirst du dich großartig fühlen.“ Masafumi wiederholte die Prozedur bei der katatonischen Frau und schließlich auch bei Nanami. Als sie vor dem letzten Stuhl standen, sah er Chizuru an. „Ich möchte, dass du es bist, die die Früchte unserer gemeinsamen Arbeit als Erste genießen kannst.“ „Aber Masafumi!“ Chizuru schwankte zwischen Verwirrung und verhaltener Freude. „Wir hatten doch beschlossen, dass du es sein würdest, der ...“ „Ich weiß.“ Er drückte sie sanft auf den Stuhl. „Aber ich möchte es so. Du solltest Teil dieses Projekts sein. Für mich werden wir später noch genug Serum gewinnen können. Zumal du ohnehin nur eine kleine Dosis benötigst. Einige kleinere Anpassungen, ein paar zusätzliche Fähigkeiten. Ich möchte, dass du die Veränderungen genauestens protokollierst. Wenn wir auf zerebraler Ebene Erfolg haben, können wir später noch weitere physiologische Modifikationen vornehmen.“ Mit einem Lächeln setzte er die letzte Spritze direkt an Chizurus Arm, nickte ihr noch einmal zu und stieß die Nadel durch ihre Haut. Sie zuckte nicht einmal, denn ihre Augen waren unverwandt auf sein Gesicht gerichtet. Die glühende Hingabe, die Nagi darin sah, ließ ihn sich abwenden. Irgendwie hatte er das Gefühl, ein Eindringling zu sein. Sein Blick irrte durch das Labor und blieb an der Gestalt hängen, die im Hintergrund in einem Metallrahmen hing. Es war Fujimiya. Langsam ging Nagi näher und betrachtete ihn. Der junge Mann war an den Handgelenken gefesselt worden, die jetzt, da er bewusstlos war, sein ganzes Gewicht tragen mussten. Blaue Flecken und Kratzer bedeckten seinen bloßen Oberkörper. Die eine Schulter war blutverkrustet und die linke Seite seines Gesichts angeschwollen. Die Stellen, die nicht durch den Kampf mit Farfarello verletzt worden waren, wiesen Spuren von Masafumis Arbeit auf. Markierungen, Einstichstellen, Kanülen. An einer Stelle war ein rechteckiges Stück Haut herausgeschnitten worden. Die Wunde nässte und war nicht verbunden worden. Sie war das einzige Zeichen, das überhaupt noch Leben in dem geschundenen Körper steckte. Nagi spürte eine eigenartige Befriedigung in sich aufsteigen. Er trat hinter das Gestell und sah, dass auch hier gearbeitet worden war. Im unteren Rücken steckte eine weitere Kanüle, aus der helle Flüssigkeit in einen Auffangbehälter tropfte. Fasziniert beobachtete er, wie sich langsam ein weiterer Tropfen sammelte. Bevor er in den Behälter fallen konnte, streckte Nagi den Finger aus und fing die klare Flüssigkeit auf. Er verrieb sie zwischen den Fingerspitzen und meinte, ein eigenartiges Kribbeln zu spüren. Bevor er das Phänomen weiter untersuchen konnte, trat Masafumi neben ihn. „Er war kein besonders williges Testobjekt.“ Es klang fast wie eine Anschuldigung. „Zum Glück hat er irgendwann das Bewusstsein verloren. In diesem Zustand wird er uns sicherlich noch für ein paar Wochen erhalten bleiben.“ Ein paar Wochen. Gebunden, gefoltert, künstlich am Leben erhalten, um Material für Masafumis Forschung zu liefern. Ein Schauer lief über Nagis Rücken. Ob vor Ekel oder Genugtuung wusste er selbst nicht genau. „Und wird es funktionieren?“ Die Zeit, die Masafumi brauchte, um zu antworten, schien sich zu Stunden zu dehnen. Stunden atemloser Anspannung und fiebriger Erwartung. Endlich würde Nagi erfahren, ob sich sein Verrat an Schwarz auszahlen würde. „Aber natürlich wird es das.“ Masafumis Raubvogelaugen funkelten. „Komm mit und sieh sie dir an. Die ersten vier wunderbaren Geschöpfe, die ich erschaffen habe. Du sollst die Ehre haben, sie als Erster mit mir zusammen begrüßen zu dürfen.“   Als sie wieder zu der Empore traten, begannen die vier Frauen sich gerade wieder zu regen. Eigenartigerweise war es die Fremde, die zuerst erwachte. Sie hob den Kopf und ihr Blick suchte Masafumi. Als sie ihn erblickte, lächelte sie. „Meister.“ Das Wort kam rau über ihre Lippen, als hätte sie ihre Stimme eine Ewigkeit lang nicht benutzt. Sie versuchte sich aufzusetzen, aber die Fesseln hinderten sie daran. Unwillig lehnte sie sich gegen die breiten Bänder auf. „Komm, lass mich dir helfen.“ Masafumi trat zu ihr und öffnete die Schnallen. Er reichte ihr seine Hand und sie erhob sich, als hätte sie nicht die letzten Wochen bewegungslos auf einem Krankenbett gelegen. Im Gegenteil wirkte sie kraftvoll, energiegeladen, selbstsicher. Und vollkommen loyal. „Komm, wir holen die anderen, Neu.“ Die Frau sah ihn einen Augenblick lang an, dann nickte sie. „Ja, Masafumi.“ Sie drehte sich zu dem Stuhl herum, auf dem Nanami lag. Ohne zu zögern löste sie hier die Haltegurte, wie es Masafumi zuvor bei ihr getan hatte. Das Geräusch des aneinander klingenden Metalls weckte das Mädchen auf. Sie blinzelte und Nagi hielt den Atem an. Würde sie wieder anfangen zu schreien? „Papa?“ Verschlafen rieb Nanami sich die Augen und gähnte zierlich. Dann hüpfte sie plötzlich aus dem Stuhl und streckte sich ausgiebig. „Oh, das war wundervoll. Tot hat geschlafen und so schöne Dinge geträumt. Aber jetzt ist sie wieder wach.“ Ihr Lachen hallte durch das Labor. Es klang auf surreale Weise fehl am Platz. „Schön, erhebe dich.“ Masafumi war an Karens Stuhl getreten, wo die blonde Frau in diesem Moment die Augen aufschlug. Nagi konnte keinen Unterschied zu vorher erkennen und doch schien sich etwas verändert zu haben. Sie strahlte Masafumi an und fiel ihm um den Hals. Chizuru war die letzte, die wieder zu sich kam. Sie bewegte vorsichtig Arme, Beine, Zehen und Finger, bevor sie ihre Brille zurechtrückte. „Erstaunlich“, sagte sie, erhob sich und wippte ein paar Mal auf und ab. „Das Wissen, das wir transferiert haben, verändert meine Körperwahrnehmung vollkommen.“ Sie holte plötzlich mit dem Fuß aus, drehte sich einmal um die eigene Achse und landete einen Kopftreffer an einem nicht existenten Gegner. „Wirklich beeindruckend. Die motorischen Reflexe sind ausgezeichnet. Ich muss das sofort aufschreiben.“ Auch sie suchte Blickkontakt mit Masafumi und ihr begeisterter Ausdruck spiegelte sich in seinem Gesicht. Er breitete die Arme aus. „Hell.“ Sie trat zu ihm und ließ sich in eine Umarmung ziehen. „Ich wusste, dass es funktionieren würde.“ „Du bist brillant“, hauchte sie und legte den Kopf an seine Schulter. Die anderen Frauen schlossen sich der Umarmung an und Nagi spürte einen Stich der Eifersucht in seiner Brust. Einmal mehr hatte er das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Es war ziemlich offensichtlich, dass Masafumi nicht vorhatte, seine Position mit jemandem zu teilen. Und Nagi hatte sicherlich nicht vor, sich in eine hirnlose Marionette verwandeln zu lassen, die sich ihm an den Hals warf. Wenn das der Preis war, den er für übermenschliche Fähigkeiten bezahlen musste, dann verzichtete er lieber. Enttäuscht wandte er sich zum Gehen. „Aber, aber Nagi. Wer wird denn so schnell aufgeben. Hattest du nicht so einen tollen, ausgereiften Plan?“ Nagis Kopf ruckte nach oben und Crawford trat in sein Gesichtsfeld. Aber es war nicht Crawford, der gerade gesprochen hatte. Es war der Mann, der im Halbdunkel hinter ihm stand. Nagi fühlte Schwindel in sich aufsteigen. Er machte einen Schritt rückwärts. Der Mann trat aus den Schatten und grinste ihn an. „Wo ist er?“ Nagi brauchte nicht zu fragen, um wen es ging. Ohne hinter sich zu blicken, hob er den Arm und deutete auf das Gestell, in dem Fujimiya hing. Der Mann nickte ihm zu, legte grüßend zwei Finger an die Stirn, drehte sich um und ging in die angegebene Richtung davon. Nagi wurde kalt. Unsicher sah er Crawford an. Was würde jetzt geschehen? Crawford musterte ihn einen Augenblick lang durch die Gläser seiner randlosen Brille, bevor er sich umdrehte und langsam in Richtung Ausgang zurückging. Nach ein paar Schritten hob er die Hand und winkte Nagi, ihm zu folgen. Erleichtert ließ Nagi die Luft entweichen, die er die ganze Zeit angehalten hatte, und beeilte sich zu Crawford aufzuschließen. Er hielt den Kopf gesenkt und presste die Lippen aufeinander, obwohl ihm tausend Fragen auf der Zunge brannten.   Kurz bevor sie die Tür erreichten, wurde diese aufgestoßen und ein Wachposten kam hereingestürmt. Er war vollkommen außer Atem und auf seiner Stirn glänzte der Schweiß. „Sie haben … Hirofumi Takatori, er ist … Sie sind alle ...“ Crawford brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Dort hinten finden Sie seinen Bruder. Am besten überbringen Sie ihm die schlechte Nachricht. Und sagen Sie ihm, dass die Attentäter auf dem Weg hierher sind.“ Der Posten stammelte etwas Unzusammenhängendes, bevor er salutierte und weiter stürmte. Hinter ihnen wurden entsetzte Stimmen laut. Nagi wagte es kurz aufzusehen und ihm entging der zufriedene Ausdruck auf Crawfords Gesicht nicht. Anscheinend hatte das Orakel all das hier bereits vorausgesehen. Vielleicht hieß das ja, dass er … „Glaub nicht, dass du straflos davon kommst, Nagi. Du hast dein Team verraten und das wird nicht ohne Konsequenzen bleiben.“ Er senkte den Kopf wieder. „Natürlich, Crawford. Ich …“ „Ich werde dich für einige Zeit nach Deutschland schicken. Dort wirst du ausgebildet werden.“ Nagi riss die Augen auf, wagte aber nicht zu fragen. Er sah auf seine Finger hinab und meinte wieder, das eigenartige Kribbeln zu spüren. Er lächelte nicht, beschleunigte aber seine Schritte, um an Crawfords Seite zu bleiben, der nun endgültig dem Ausgang entgegenstrebte. Deutschland. Das konnte eigentlich nur eines bedeuten. Nagi fühlte, wie sein Herz anfing schneller zu klopfen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)