Lügner! von Maginisha ================================================================================ Kapitel 18: Zerreißprobe ------------------------ Schuldig verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Es fiel ihm schwer, einfach stillzustehen und den Sturm um ihn herum zu ertragen. Einen Sturm, den nur er wahrnahm.   'Dafür werden sie bezahlen! 'Wie kann er es wagen?' 'Ich habe schon so viel investiert. 'Es war nicht meine Schuld. 'Mein Werk mit Füßen getreten. 'Ich darf jetzt nicht scheitern.' 'Unfähige Nichtsnutze!' 'Die Arbeit von Monaten einfach vernichtet.' 'Ich wusste es vorher!' 'Wer wird mir den Schaden ersetzen?' 'Sie hätte sterben können.' 'Es ist immer das Gleiche.' 'Ich sollte sie alle umbringen.' 'Dieser dämliche Hund hat alles vermasselt.' 'Ich hasse es.' 'Warum sagt er denn nichts?'   Schuldig atmete hörbar aus. Er beneidete Farfarello, der in einer Ecke des Raums an der Wand lehnte und die Szene nur beobachtete, obwohl er einer der Gründe war, warum sie hier hatten aufmarschieren müssen. Der andere Grund, saß nass und frierend auf einem der Sessel zusammengesunken und versuchte, sein Zittern zu unterdrücken. Ihm gegenüber stand mit stoischem Gesichtsausdruck und verschränkten Armen Hirofumi Takatori, während sein Bruder Masafumi sich offensichtlich nur schwerlich zurückhalten konnte, sich erneut auf Nagi zu stürzen und ihn kräftig durchzuschütteln.   Ein Monstrum, das winselnd und blutend im strömenden Regen lag, in seiner Seite eine kindskopfgroße Wunde, die die panzerbrechende Munition gerissen hatte. Er beugte sich zu dem sterbenden Tier herunter, das Gesicht vor Wut verzerrt. „Du dämlicher Köter!“, schrie er und trat dem Tier gegen die Schnauze. Es jaulte auf und versuchte nach ihm zu schnappen, aber seine Bewegungen waren langsam und kraftlos. „Was fällt dir ein, die Hand zu beißen, die dich füttert. Du wertloses Stück Abfall." Er fuhr zu einer der Wachen herum und riss ihr den Revolver aus der Hand. Mit einem lauten Schrei eröffnete er dass Feuer und leerte das ganze Magazin in den zuckenden Körper des Tieres, bis es schließlich regungslos liegenblieb. Angewidert warf er die Waffe zur Seite und fuhr zu Nagi herum, der mit weit aufgerissenen Augen am Rand des Platzes kauerte. Mit langen Schritten ging er auf ihn zu und packte den Jungen am Kragen. Beginnende Kopfschmerzen und Schwindel ließen Schuldig schlucken. Seine Gabe geriet zusehends außer Kontrolle. Die in der Luft liegende Aggressivität suchte einen Auslass und er fühlte förmlich, wie sie in ihn hinein sickerte wie das Wasser aus Nagis Kleidung in den Bezug der teuren Polster.   'Wenn Crawford hier wäre, wäre ich schon längst auf dem Heimweg.'   Reiji Takatori. Der Magnat stand mit der rauchenden Zigarre in der Hand auf die Rückenlehne eines Sofas gestützt da, als wäre es ein Rednerpult. Sein Gesicht erinnerte Schuldig an das einer wütenden Bulldogge. „Schuldig!“, bellte er und verunstaltete den Namen dabei wieder einmal auf unangenehme Weise. „Wie lange soll diese Farce noch dauern? Das Projekt ist gescheitert. Wie immer, wenn meine untalentierten Söhne etwas in die Hand nehmen. Und siehe da, wenn sie zusammenarbeiten, ist der Schaden, den sie anrichten können, sogar noch größer!“ „Vater!“ Hirofumi war zunächst weiß und dann rot geworden. „Ich beschwöre dich, uns noch ein wenig mehr ...“ Takatori schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. „Genug! Ihr habt meine Zeit schon viel zu lange verschwendet. Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich von euren Kindereien aufhalten zu lassen.“ Etwas an Takatoris Gedanken alarmierte Schuldig. Er konnte zwar nicht die Zukunft voraussehen, aber er ahnte, dass, wenn er Takatori jetzt gehen ließ, dieser in seiner Wut den Vorfall an Eszett weitermelden würde. Man würde anfangen, Fragen zu stellen. Und wenn sie im Moment etwas nicht gebrauchen konnten, dann war das ein Untersuchungsteam, das seine Nase in Schwarz' Angelegenheiten steckte. Er musste das unbedingt verhindern. „Mister Takatori“, begann er und versuchte dabei den diplomatischen Ton zu treffen, den Crawford immer anschlug. „Ich glaube, dass es ein Fehler wäre, das Spiel schon aufzugeben. Die Reaktion Ihrer Gäste war äußerst positiv. Und würde es nicht zeigen, dass Sie in der Lage sind, auch schwierige Situationen zu meistern? Es würde Ihr Ansehen erhöhen.“ Takatori blieb stehen und paffte an seiner Zigarre. Schuldig konnte hören, wie er darüber nachdachte.   „Aber wie soll das gehen? Diese Idioten haben den besten Jäger ausgeschaltet. Er war mein Meisterstück!“ Masafumi. Natürlich. Er war der mit am schwersten zu kontrollierende Faktor in dieser Jongleursnummer. Im Gegensatz zu seinem Bruder, der das Ganze eher von einer kühlen, kalkulatorischen Seite betrachtete, nahm er den Verlust persönlich. Und er machte Schwarz dafür verantwortlich. „Er hat uns angegriffen“, fuhr jetzt Nagi auf. „Wenn er nicht ...“ „Halt den Mund, Nagi!“ Schuldigs Stimme war scharf und schneidend, aber der Junge hörte nicht zu. „Farfarello war derjenige, der ihn getötet hat. Ich hatte nichts damit zu tun.“ „Du hast zugelassen, dass Nanami dir folgt“, fauchte Masafumi. „Nur deinetwegen liegt sie jetzt mit schweren Bisswunden auf der Krankenstation. Sie ringt mit dem Tod!“ „Schuldig war derjenige, der sie aufs Spielfeld gehen ließ!“, rief Nagi und Schuldig wusste, dass er handeln musste. Der Junge würde die Stimmung zum Kippen bringen. Takatoris Gedanken begannen bereits, einen gefährlichen Unterton anzunehmen.   Mit einem schnellen Schritt war er bei ihm. Der unerwartete Faustschlag trieb die Luft aus Nagis Lungen und ließ ihn zusammenklappen. Schuldig fing ihn auf und gab Farfarello ein Zeichen. „Schaff ihn raus“, knurrte er und schubste den immer noch um Atem ringenden Jungen in seine Arme. „Wartet am Wagen.“ Farfarello nickte und zerrte den nur noch schwach protestierenden Nagi nach draußen. Schuldig atmete auf, als sich die Tür hinter ihnen schloss. Jetzt musste er nur noch mit den drei Takatoris fertig werden. Er setzte ein gewinnendes Lächeln auf und breitete die Hände aus. „Also wenn die Herren erlauben, hätte ich einen Vorschlag zu machen.“       Ärgerlich befreite sich Nagi aus Farfarellos Griff. „Lass mich“, knurrte er. „Ich kann laufen.“ Seine nächsten Schritte straften ihn Lügen. Er lehnte sich gegen die Wand und versuchte, seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er war müde, durchgefroren, nass bis auf die Haut. Farfarello betrachtete ihn teilnahmslos. „Das ist alles nur deine Schuld“, wiederholte Nagi seine Anschuldigung, aber er hätte genauso gut mit der Wand reden können. „Warum hast du nicht ...“ „Den Jäger dich umbringen lassen?“ Farfarello zuckte mit den Schultern. „Ich wusste nicht, dass das eine Option ist.“ „Nein, aber du hättest ihn irgendwie unschädlich machen können.“ „Es war effektiv ihn anzugreifen, als er es noch nicht erwartete.“ Nagi schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, mit Farfarello ein Gespräch führen zu wollen. Irgendwo in seinem Oberstübchen waren definitiv nicht nur ein paar Schrauben locker. „Du hättest sie retten können“, flüsterte er fast unhörbar. Das Bild, wie der riesige Hund seine Zähne in Nanamis Arm schlug, ließ ihn erneut schlucken. Sie hatte Glück gehabt, dass er ihr nicht sofort an die Kehle gegangen war. Aber da war so viel Blut gewesen ... Als er aufsah, hatte Farfarello anscheinend bereits jegliches Interesse an ihm verloren. Sein Blick klebte an der Tür, hinter der Schuldig mit den drei Takatoris zusammensaß. „Er hat Angst“, sagte er plötzlich ohne jeglichen Zusammenhang. Nagi stöhnte innerlich. Er würde nicht fragen, er würde nicht fragen, er würde … „Wer?“ „Schuldig.“ Die Antwort überraschte Nagi. Sollte das jetzt Farfarellos Art sein, den Telepathen in Schutz zu nehmen? „Angst? Schuldig?“ Er schnaubte. „Das glaube ich nicht.“ Farfarello antwortete nicht. Er fixierte weiter die Tür. Es erinnerte Nagi an einen Jagdhund, der vor einem Kaninchenbau ausharrte und darauf wartete, dass seine Beute herauskam.   Nagi richtete sich auf. In diesem Moment ruckte Farfarellos Kopf in seine Richtung. In seinem gelblichen Auge glomm etwas wie Gier. Nagi machte langsam einen Schritt rückwärts. Woher hatte Farfarello plötzlich das Messer? Das Bild des Monsterhundes schob sich vor Nagis inneres Auge. Nur keine Angst zeigen. „Sch-Schuldig hat gesagt, wir sollen am Auto warten.“ Keine Reaktion. Nur dieses irre Starren. „Ich … werde jetzt dorthin gehen.“ Langsam drehte er sich um. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, aber er zwang sich, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nicht laufen, nicht umdrehen, keine Angst zeigen. Panisch horchte er darauf, ob der Ire ihm folgte, aber er konnte nichts hören. Keine Schritte, kein Atmen, nichts. Nur die Geräusche, die sein eigener Körper machte und die ihm in der Stille des dunklen Ganges unnatürlich laut erschienen. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er blieb stehen und wappnete sich. Jeden Moment würde Farfarello ihn angreifen. Er spürte förmlich das Messer zwischen seinen Rippen. Zögernd drehte er den Kopf und sah über die Schulter zurück. Der Gang hinter ihm war leer. Nagi riss die Augen auf und sah sich nach allen Seiten um. Das war nicht möglich. Gerade hatte er doch noch hier gestanden. Aber der Platz vor der Tür war und blieb verwaist. Ein kalter Schauer lief über Nagis Rücken. Er legte die Arme um seinen Oberkörper und ging langsam rückwärts. Als er an ein Kreuzung kam, ließ er alle Vorsicht fahren, fuhr herum und stürzte die metallene Treppe hinab. Seine Schritte hallten wie Gongschläge durch das Treppenhaus. Weg. Er musste hier weg. So schnell wie möglich.           Aya fuhr noch ein letztes Mal mit dem Lappen über das Katana, bevor er ihn zur Seite legte und die Klinge im Gegenlicht betrachtete. Das Instrument, mit dem er Hibinos Leben beendet hatte, wies so gut wie keine Spuren mehr auf. Er ließ es in die Saya gleiten und stellte es wieder an seinem Platz im Wandschrank. Er faltete den Lappen, verstaute ihn zusammen mit den restlichen Putzutensilien wieder in der kleinen Kiste und legte sie in das oberste Bord des Schranks. Er schloss die Tür und verharrte davor, die Hände noch auf das hell gestrichene Holz gelegt. Normalerweise hätte an diesem Punkt des Rituals seine innere Ruhe wieder hergestellt und alle Spuren der Nacht getilgt sein sollen wie das braunrote Wasser, das den Abfluss hinabgeflossen war, als er sich und seine Kleidung gereinigt hatte. Aber er war nicht ruhig. Seine Finger krallten sich in die glatte Oberfläche, als würde ihm das irgendwie den verlorenen Halt wiedergeben können. Abrupt wandte er sich von dem Möbelstück ab und sah sich in seinem Zimmer um. Ihm war, als würde ihm die Luft zum Atmen fehlen. Ins Bett brauchte er sich gar nicht erst zu legen und das Buch, das auf seinem Nachtisch lag, würde ihm keine Ablenkung bieten. Ihm war nach ... er brauchte … er wusste nicht, was er brauchte. Der Raum schien sich um ihn zu drehen. Sein ganzes Leben drehte sich im Kreis. Ohne lange zu überlegen, stürmte er in Richtung Tür, schlüpfte in seine Schuhe und anschließend nach draußen. Dort hatte der Regen inzwischen ebenso plötzlich wieder aufgehört, wie er begonnen hatte. Die Luft war schwer von Feuchtigkeit und auch hier erschien ihm jedes Luftholen, als würde er versuchen, unter Wasser zu atmen. Er stützte sich schwer auf das Geländer der Galerie vor seiner Wohnung und sah auf die Straße hinunter. Sie war menschenleer, nichts bewegte sich. Als wäre die Welt gestorben. Sein Blick wanderte nach oben.   Kurz darauf stand er vor der Tür, die aufs Dach führte. Ein Schloss hing daran. Natürlich. Er wollte schon wieder umdrehen, als ihm auffiel, dass etwas damit nicht stimmte. Er griff zu und hielt es plötzlich in der Hand. „Es ist nicht abgeschlossen“, murmelte er und runzelte die Stirn. Wer konnte um diese Stunde dort oben sein? „Vermutlich niemand. Aber ...“ Im nächsten Moment schob er die Tür auf und setzte den Fuß auf die erste Stufe der kurzen Treppe, die ihn zum Dach brachte. Über ihm erstreckte sich ein sternenloser Himmel. Er war sich nicht sicher, ob es die Wolken waren, die ihm die Sicht nahmen, oder der Schein der riesigen Stadt, die sich um ihn herum erstreckte. In seiner unmittelbaren Nähe allerdings herrschte fast vollkommene Dunkelheit; ein schwarzes Viereck, an dessen Rand ein Fluss aus diesigem Licht träge dahinfloss.   Zögernd betrat er das unbekannte Areal. Unter seinen Füßen knirschten kleine Steine. Er trat instinktiv vorsichtiger auf, während er zwischen den Aufbauten und Leitungen hindurch zum Dachrand ging. Die breite Brüstung verhinderte, dass er die Straße direkt vor dem Haus sehen konnte. Stattdessen eröffnete sich ihm der Blick auf die hohen Häuser, die unzähligen Lichter, die selbst in der Nacht nicht erloschen. Hinter wie vielen von ihnen war wohl eine wache Seele verborgen? Ob es jemanden gab, der ebenso wie er nicht schlafen konnte? Er atmete ein und erstarrte. Dieser Geruch, das war … Er wirbelte herum. In der Dunkelheit vor ihm glühte ein orangeroter Punkt auf. Langsam schälte sich eine Gestalt aus dem Schatten. Eine Gestalt, die er kannte. Yojis Blick streifte Aya nur, als er neben ihn an die Brüstung trat. Er starrte in die Tiefe, die Zigarette zwischen den Lippen, als hätte er vergessen, dass sie da war. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht und bedeckten es fast vollständig. Aya bemerkte die Flasche in seiner Hand erst, als er einen tiefen Schluck daraus nahm. Yoji hielt sie ihm hin. „Willst du?“ Aya schüttelte den Kopf. „Ich trinke nicht.“ „Ist auch besser so. Trinken löst keine Probleme. Es macht sie nur etwas leichter zu ertragen. Für den Moment.“ Aya wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er drehte sich herum und sah wieder hinunter, wo irgendwo der nasse Asphalt im gelben Licht der Straßenlaternen glänzen musste.   Es dauerte nicht lange, bis Yoji wieder den Mund öffnete. „Glaubst du, wir kriegen den Auftrag?“ Aya machte ein fragendes Geräusch. „Takatori. Ken hat mir erzählt, was passiert ist. Aus dir war ja mal wieder nichts rauszukriegen.“ Aya überhörte den leichten Vorwurf hinter den Worten. „Ich will ...“ „Nicht darüber reden. Schon klar.“ Yoji winkte ab. „Ich eigentlich auch nicht. Obwohl, wer weiß. Vielleicht würde es helfen.“ Er nahm noch einen Schluck. „Ich vermisse sie“, sagte er leise. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. „Asuka. Manchmal erinnerst du mich an sie. Wenn du herumschnauzt, dass ich meinen faulen Hintern bewegen soll oder so. Sie hat das auch immer gesagt.“ Er wollte noch einen Schluck nehmen, aber der Alkohol war offensichtlich zur Neige gegangen. Er drehte die leere Flasche zwischen den Fingern hin und her. „Manchmal denke ich, dass ich es hätte sein sollen, den es erwischt. Aber dann fällt mir wieder ein, dass sie dann an meiner Stelle sein könnte und das wünsche ich keinem. Ein halbes Leben, gestohlene Zeit. Nicht wirklich am Leben, aber auch noch nicht tot.“   Aya presste die Kiefer aufeinander. Er wollte nichts sagen, aber schließlich brach es doch aus ihm heraus. „Erbärmlich.“ „Mhm?“ Yoji blinzelte ihn an. Es brachte Aya zur Weißglut. „Du! Du bist erbärmlich. Heulst hier rum, anstatt dankbar zu sein, dass du noch am Leben bist. Reiß dich zusammen.“ Yoji sah ihn immer noch an. Der Blick, mit dem er ihn musterte, gefiel Aya nicht. Und das nachsichtige Lächeln, das plötzlich seine Lippen umspielte, auch nicht. „Verstehe“, sagte Yoji schlicht und wollte sich wieder von ihm wegdrehen, aber Aya griff nach seinem Shirt und hielt ihn fest. „Was?“, schnappte er. „Was verstehst du?“ Yoji wich seinem Blick aus. Er drehte den Kopf zur Seite, atmete aus. Aya war kurz davor, ihn zu schütteln. Seine Hand ballte sich zur Faust. „Würde es dir was ausmachen, mich nicht ins Gesicht zu schlagen? Ich habe morgen ein Date.“ Yoji sah ihm jetzt wieder geradeheraus ins Gesicht. Er machte sich von Aya los, dessen Griff kraftlos geworden war, und schob sich trotz der Tatsache, dass es mitten in der Nacht war, eine Sonnenbrille auf die Nase. Er griff nach der Zigarettenschachtel und zündete sich eine an. Aya konnte den Rauch riechen. Er verzog das Gesicht. „Die Dinger stinken erbärmlich.“ Yoji lachte. „Ja, du hast wirklich viel mit ihr gemein. Allerdings hatte sie einen besseren Geschmack, was Männer angeht.“ Er grinste breit. Aya rollte mit den Augen. „Darüber will ich auch nicht mit dir sprechen.“ „Worüber möchtest du denn dann sprechen.“ „Über gar nichts.“ „Ach, und warum kommst du dann auf mein Dach?“ „Dein Dach?“ Jetzt war es an Aya, überrascht zu blinzeln. Yoji zuckte mit den Schultern. „Na klar. Ken und Omi wissen, dass ich immer nach einer Mission hier oben die Nacht verbringe. Ich kann dann ... nicht schlafen.“ Aya schwieg. „Du hast das nicht gewusst, oder?“ Jetzt sprach Yoji das Offensichtliche auch noch aus. „Auch nicht, dass Ken danach immer bis tief in die Nacht vor dem Fernseher hängt und Omi Videospiele spielt, bis ihm die Augen zufallen.“ „Ich dränge mich nicht in das Leben anderer Leute.“ Die Betonung machte klar, dass Aya fand, dass Yoji genau das tat und dass es ihm nicht gefiel. Yoji blies den Rauch in die Luft und sah zum Himmel hinauf, der langsam heller wurde. „Vielleicht tue ich das, weil ich immer noch auf der Suche nach der Hälfte meines Lebens bin, die ich verloren habe.“ Es hätte furchtbar kitschig klingen sollen, aber eigenartigerweise tat es das nicht. Und noch eigenartigerweise fühlte sich Aya gedrängt, etwas dazu zu sagen. „Du wirst … sicherlich wieder jemanden finden.“ Die Worte klangen selbst für ihn abgedroschen und hohl. Er war einfach nicht gut in so was. Yoji antwortete nicht. Er blickte in den Himmel, der jetzt ein dunkles Blau angenommen hatte. Nach einer schier unendlichen Weile, begann Yoji wieder zu sprechen. Seine Stimme klang merkwürdig rau und kratzig. „Und in welcher Hälfte meines Lebens sollte ich so jemanden unterbringen? In der, in der ich offiziell nicht mehr existiere, oder in der, in der ich nachts Leute umbringe?“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Für uns kann es so was wie Glück nicht mehr geben.“   Aya sagte nichts dazu. Was Yoji gerade ausgesprochen hatte, hatte ihm nur allzu deutlich gezeigt, was ihn unbewusst schon den ganzen Abend über umtrieb. Das Wissen darum, dass er die Wahrheit nicht auf ewig vor Tim würde verstecken können. Irgendwann würde es ihn einholen und das Konstrukt aus Halbwahrheiten und Lügen würde zusammenstürzen. Und wer wusste schon, was dabei zu Bruch ging. Er dachte an eine blutbedeckte Klinge und braunrotes Wasser im Abfluss. Birmans Worte geisterten durch seinen Kopf. Leute in deiner Umgebung könnten verletzt werden. Vielleicht war es tatsächlich besser, wenn er es jetzt beendete. Allein der Gedanke ließ seinen Hals eng werden.   Yoji zündete sich eine weitere Zigarette an. Der Himmel begann sich langsam zu lichten und das Dunkelblau wich einem helleren Grau, in das sich schon bald das erste Orange mischen würde. Trotzdem harrte Aya weiter aus, unfähig eine Entscheidung zu treffen. Er hörte, wie Yoji leise lachte. „Weißt du, was das Verrückte ist? Dass ich die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben habe. Ich habe mal gelesen, dass die Hoffnung das größte aller Übel sei, das die Götter den Menschen gegeben haben, weil sie einzig und allein dazu dient, unser Leiden zu verlängern. Und dennoch ...“ Er nahm einen Zug aus seiner Zigarette und schnippte sie dann über den Dachrand. Als er Aya ansah, waren seine Augen von einem eigentümlichen Glanz erfüllt. „Man hat Asukas Leiche nie gefunden. Manchmal frage ich mich, ob sie noch irgendwo da draußen ist.“           Nagi starrte auf die Frau, die in dem Krankenhausbett lag. Sie hatte die Augen geöffnet, aber ihr Blick ging ins Leere. Ihr Körper war mit langen Lederriemen festgeschnallt und um den Kopf trug sie eine ähnliche Apparatur wie Nanami sie gehabt hatte. Das und die Tatsache, dass auch sie blaue Haare hatte, hatten ihn zunächst glauben lassen, dass es das Mädchen war, das dort im Bett lag. Doch er hatte sich geirrt. Es war eine Fremde. Vage enttäuscht wandte er sich ab und verließ den kargen Raum wieder. Draußen im Gang blieb er unentschlossen stehen. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Auf seiner Flucht war er irgendwie in den Teil des ehemaligen Elektrizitätswerks geraten, den Masafumi in eine Art Forschungsstation verwandelt hatte. Er schauerte, als er an den ersten Raum dachte, in den er gekommen war.   Dort war es kalt gewesen. Sein Atem hatte sich in der eisigen Luft in kleine, weiße Wölkchen verwandelt. Auf einem Tisch hatte der Körper des getöteten Hundeführers gelegen. Wer auch immer ihn dorthin gebracht hatte, hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Messer aus seinem Kopf zu entfernen. Die geborstene, blutüberströmte Maske hatte immer noch den größten Teil seines Gesichts bedeckt und Nagi hatte sich abgewandt, bevor er noch mehr grausame Details erkennen konnte. Dabei war sein Blick zu einem Tank in einer Ecke des Raumes gewandert. Hinter der großen Glasscheibe hatte er unscharf einen menschlichen Umriss ausmachen können. Fast ohne sein Zutun war er näher heran gegangen, während alles in ihm danach geschrien hatte, die Beine in die Hand zu nehmen. Was er entdeckt hatte, hatte ihn selbst die Kälte vergessen lassen. In dem Tank war die Leiche eines weiteren Jägers aufbewahrt worden. Seine Gestalt war von Schuppen überzogen gewesen, das Gesicht eigenartig flach. Die Nase hatte nur noch aus zwei schlitzförmigen Löchern bestanden, die Augen waren weiß gewesen und aus dem Mund hatten eigenartig spitze Eckzähne herausgeragt. Es hatte Nagi einige Mühe gekostet, sich von dem widerlichen Anblick loszureißen und nur seine klappernden Zähne hatten ihn daran erinnert, dass es nicht ratsam war, noch länger in der Kühlkammer auszuharren.   Nun stand er wieder auf dem breiten Gang, von dem mehrere, graue Metalltüren abgingen. Es musste sich um Lagerräume handeln. Keine der bisher betretenen Kammern hatte Fenster gehabt und der Boden unter seinen Füßen war nackter Beton. Irgendwo weiter vorn gab es ein Tor, durch das es auf das Spielfeld gehen musste. Aus einer der Türen war er hierher gekommen, aber er fühlte wenig Motivation, denselben Weg wieder zurückzunehmen. Was, wenn Farfarello dort oben doch noch irgendwo auf ihn lauerte? Nein, er musste einen anderen Ausweg finden. Wenn es den denn gab.   Langsam begann er, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dabei lauschte er, ob er von irgendwo verräterische Laute hören konnte, aber außer einem beständigen Brummen, das vermutlich von den Generatoren herrührte, und seinem eigenen Atem war nichts zu hören. Vor einer der Türen blieb er stehen. Sie sahen ohnehin alle gleich aus. Warum also nicht diese hier probieren? Zögernd griff er nach der Klinke und drückte sie herunter. Die Tür schwang nach innen auf und um ein Haar hätte Nagi laut aufgeschrien. Das Gesicht eines weiteren Jägers starrte ihn an. Es war derjenige mit der Lanze. Nagi brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass es lediglich seine Rüstung war, die dort hing. Sie war fein säuberlich auf einem Ständer drapiert worden, sodass es so wirkte, als würde dort ein lebendiger Mensch stehen. Die überlange Lanze lehnte im Hintergrund an der Wand. Mit laut klopfendem Herzen schloss er die Tür wieder. Plötzlich hörte er Stimmen. Sie kamen näher.   Blitzschnell sah er sich um. Es gab hier keine Deckung, wenn man von einigen Fässern mit zweifelhaftem Inhalt ansah, die an einer Wand des Ganges standen. Schnell duckte er sich dahinter und drückte sich gegen das rostige Metall. Was auch immer sich in den Fässern befand, kitzelte in seiner Nase. Er verzog das Gesicht, um nicht niesen zu müssen. Die Stimmen kamen immer näher. Dazwischen erklangen klappernde Schritte.   „Das ist ja schrecklich“, sagte eine weibliche Stimme, die er nicht kannte. „Wird sie Narben behalten?“ Eine zweite, ebenfalls weibliche Stimme antwortete. „Wir gehen nicht davon aus. Die regenerative Komponente, die wir aus den Asterias rubens gewinnen konnten, scheint auch hier wieder gute Ergebnisse zu erzielen. Wir müssen nur noch die Nebenwirkungen unter Kontrolle bekommen, wobei das Überleben zunächst einmal Vorrang hatte.“ „Nebenwirkungen?“ Die erste Stimme klang ebenso fasziniert wie angeekelt. „Was für Nebenwirkungen?“ „Die neu gewachsene Haut verhärtet sich zunächst. Die Ergebnisse des ersten Testobjekts lassen jedoch annehmen, dass es sich nur um eine vorübergehende Komplikation handelt. Äußerlich wird sie wieder ganz die alte werden.“ Die Stimmen waren jetzt so nahe, dass Nagi glaubte, die beiden Frauen jeden Moment um die Ecke kommen zu sehen. Er hatte inzwischen erkannt, dass es sich bei einer von ihnen um Masafumis Assistentin handelte. „Also wird er sie retten können?“ Die zweite Stimme klang besorgt und gleichzeitig schwang dort ein Hauch Bewunderung mit, die sich offensichtlich auf Masafumi bezog. „Ich hoffe es. Bisher haben wir die Änderung im zerebralen Kortex und im Stammhirn leider nicht weitreichend genug verankern können. Wir müssen immer noch auf externe Stimulation zurückgreifen. Wie der Ausfall des Hundeführers gezeigt hat, ist aber auch die operative Anbringung einer solchen Stimulation nicht ohne Risiko.“ Die Assistentin seufzte. „Wir bräuchten einen Katalysator, um die genetischen Änderungen zu fixieren, die für eine dauerhafte Umprogrammierung notwendig sind. Dann könnte auch aus dem weiblichen Testobjekt ein völlig neuer Mensch werden und Nanami könnte endlich ohne Angst leben.“   Nagi biss sich auf die Lippen. Er dachte an Crawford, der ihn so unspektakulär im Stich gelassen hatte, nachdem er ihm klargemacht hatte, dass Nagis Wünsche ganz unten auf seiner Prioritätenliste standen. Er dachte an Schuldig, der ihn nach Lust und Laune aufhob und fallen ließ, als wäre Nagi sein persönliches Spielzeug. Der ihm Versprechungen machte, nur um sie im nächsten Moment wieder über Bord zu werfen. Der ihn belogen und ausgenutzt hatte. Er dachte an Farfarello, der ihn umbringen wollte, nur weil er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Er war in ihren Augen schlichtweg nicht wichtig genug, denn sie hatten etwas, das er nicht hatte. Er war austauschbar, ersetzbar, entbehrlich. Eben nur ein ganz normaler Mensch. 'Auf dieser Welt bekommst du nur dann einen Platz, wenn du etwas hast, was ein anderer haben will.' Nagi schloss die Augen und fasste einen Entschluss.   „Aoi-san?“ Masafumis Assistentin schrak sichtbar zusammen, als er sich hinter den Fässern heraus erhob. Die blonde Frau, die neben ihr stand, sah ihn aus großen Augen an. „Wer ist das?“, flüsterte sie und ihre rot geschminkten Lippen formten einen erstaunten Kreis. Nagi wartete die Antwort nicht ab. Er wappnete sich und straffte den Rücken. „Ich habe gehört, wie Sie über einen Katalysator für genetische Veränderungen sprachen. Ich denke, wir sollten uns unterhalten.“     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)