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Lügner!

von

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Erster Kontakt

Die Adresse, die Tim ihm geschickt hatte, stellte sich als ein ein wenig heruntergekommenes Gebäude mit abblätterndem Anstrich heraus. Es gab keinen Fahrstuhl, sodass sich Aya die hölzernen Treppen zu Fuß hinauf bewegen musste. Auch hier hätte den Wänden ein neuer Anstrich durchaus gutgetan. Die Stufen knarrten unter seinen Füßen. Im dritten Stock blieb er vor einer massiven Metalltür stehen und starrte auf den Klingelknopf. Noch vor wenigen Minuten war es ihm richtig vorgekommen, hierherzukommen, aber jetzt zögerte er. Er hatte lange überlegt, was er Tim sagen sollte. Die Wahrheit kam natürlich nicht infrage, doch gleichzeitig durfte es auch nicht zu weit von der Realität entfernt sein. Das Ergebnis dieser Überlegung war eine leicht wirre Geschichte, die Tim hoffentlich nicht hinterfragen würde. Aber wäre es nicht eigentlich viel richtiger gewesen, das Ganze für sich zu behalten? Allein eine Lösung zu finden?

 

'Nun, dafür ist es jetzt wohl etwas zu spät', dachte er bei sich und drückte mit zusammengebissenen Zähnen auf den Knopf neben dem Türrahmen. Es war kein Laut zu hören und für einen Augenblick fragte Aya sich, ob die Klingel wohl kaputt war, als plötzlich der Schlüssel in der Tür gedreht wurde und sie nach innen aufschwang. Von der anderen Seite grinste ihm Tim entgegen.

„Hey, da bist du ja. Komm rein.“

„Entschuldige bitte, dass ich störe."

Aya entledigte sich seiner Schuhe und stand im nächsten Augenblick in einem geräumigen Zimmer, das im Gegensatz zum schäbigen Treppenhaus modern und geschmackvoll eingerichtet war. Es gab eine Couchlandschaft, eine hohe Vitrine, ein Sideboard und einen Esstisch mit vier Stühlen. In einer Ecke des Raums war eine Küche durch einen kleinen Tresen abgetrennt, daneben führte eine Tür anscheinend in einen weiteren Raum. An den hellen Wänden hingen moderne Bilder, die kein bestimmtes Motiv zeigten, sondern eher durch ihre Farbgebung zur Raumgestaltung beitrugen. Neben dem Fenster stand ein Kleiderständer, an dem Aya einige der Sachen wiedererkannte, die er bereits an Tim gesehen hatte. Auf einem der Sessel lag sein Rucksack.

„Willkommen in meinem bescheidenen Reich“, grinste Tim und breitete die Arme aus. „Naja, so in etwa zumindest. Mein Mitbewohner ist gerade nicht da. Er schläft im Raum nebenan; da ist auch das Badezimmer. Ist ein bisschen umständlich, aber dafür ist es bezahlbar und ich habe nachts eine Doppelcouch ganz für mich allein. Obwohl ich nicht ganz so viel Platz mit der richtigen Begleitung vorziehen würde.“ Er grinste wieder und zwinkerte Aya zu.

Der atmete tief ein und spürte die Hitze, die seinen Hals empor kroch. So ganz hatte er sich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass er jetzt mit einem Mann ... Tim betrachtete ihn mit einem hungrigen Blick und im nächsten Moment lagen seine Lippen auf Rans.

„Entschuldige“, murmelte er in den Kuss. „Aber du bist absolut unwiderstehlich, wenn du rot wirst. Ich habe keine Ahnung, wie ich da meine Finger von dir lassen soll.“

 

Ran schloss ergeben die Augen und genoss die Berührung, die Hände, die über seinen Körper wanderten, die Liebkosung der warmen Lippen. Er tauchte ein in das Gefühl der festen Muskeln unter seinen Fingern, den Geruch von Tims Haaren, die Ran an der Nase kitzelten, die weiche Textur seines T-Shirts und der glatten Haut, die er erspürte, als er den Stoff ein wenig nach oben schob. Es war wie Feuer, wie kleine Stromstöße, die ihn am ganzen Körper elektrisierten, ein Kribbeln, das vom Kopf bis in die Zehenspitzen reichte und seinen Atem schneller werden ließ. Es bedurfte seiner ganzen Beherrschung, sich irgendwann aus dem Kuss zu lösen und Tim ein Stück weit von sich zu schieben. Blaues Feuer bohrte sich in seine Augen und ließ seine Knie weich werden. Wie konnte man nur so verrückt nach jemandem sein?

Tims Zeigefinger strich sanft über seine Wange. „Ich bin unmöglich“, sagte er leise. „Deine Nachricht klang dringend und ich falle hier so über dich her. Komm, setz dich und erzähl mir, was los ist. Möchtest du etwas trinken?“

Ran schüttelte den Kopf und ließ sich von Tim zum Sofa führen. Er war dankbar dafür, dass der andere am gegenüberliegenden Ende Platz nahm und ihn von dort aus aufmerksam musterte. Trotzdem musste er erst seine Gedanken ein wenig sortieren, bevor er anfangen konnte zu sprechen.

„Ich … hab Scheiße gebaut.“

„Woah, was ist denn jetzt kaputt? Seit wann flucht meine kleine Blume so?“

Bei der Frage machte Tim ein so aufgesetzt empörtes Gesicht, dass Ran lachen musste. Der Bann, der ihn eben noch gefangen gehalten hatte, war gebrochen.

„Ich habe heute Morgen einen Anruf von meinen Eltern bekommen. Meine Schwester ist von einem Auto angefahren worden und liegt im Krankenhaus. Sie hat einiges abgekriegt und ich mache mir natürlich Sorgen um sie.“

„Verständlich. Ich hoffe, es geht ihr bald besser. Aber warum hast du dann Mist gebaut?“

Ran atmete tief durch. „Weil ich deswegen so durch den Wind war, dass ich einen meiner Kollegen total runtergemacht habe. Und anstatt mich zu entschuldigen, bin ich einfach abgehauen. Jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll. Er war echt fertig.“

„Hast du ihm eine reingehauen oder sein Auto angezündet?“ Die Frage klang todernst.

„Nein, natürlich nicht.“ Ran schüttelte irritiert den Kopf. „Er hat auch gar keins. Ist erst 16. Ich … war echt gemein. Er hat fast angefangen zu heulen.“

Tim lächelte und in seinem Blick lag eine Wärme, von der Ran nicht das Gefühl hatte, dass er sie verdient hatte. Immerhin hatte er Omi echt verletzt.

„Warum gehst du nicht einfach zu ihm und erklärst ihm, warum du dich so aufgeführt hast? Wenn er kein totales Arschloch ist, wird er es verstehen. Und wenn nicht, kann es dir auch egal sein.“

„Ja aber ...“ Ran rang mit den Worten. „Das reicht doch irgendwie nicht. Ich habe das Gefühl, ich müsste irgendetwas tun. Ihm … keine Ahnung. Eine Art Friedensangebot machen.“

Tims Lächeln wurde breiter und frecher. „Ah, ich verstehe. Du willst den Drachen füttern.“

Ran blinzelte verblüfft. „Was?“

Tim grinste jetzt über das ganze Gesicht. „Das hat meine Mama immer gesagt, wenn ich was ausgefressen hatte und anschließend mit einer Schachtel ihrer Lieblingspralinen angeschlichen kam, um mich zu entschuldigen. 'Du willst wohl den Drachen füttern?' hat sie immer gesagt und mir mit ihren spitzen, roten Fingernägeln in die Brust gestochen. Dann mussten wir beide lachen und es war alles wieder okay.“

Ran runzelte die Stirn. „Und du meinst, ich sollte Omi Schokolade mitbringen?“

„Ja, oder was anderes, was er mag. Er ist 16, sagst du? Dann besorg ihm ne Zeitschrift über Computerspiele. Oder einen Porno. Je nach Vorliebe.“

Ran hätte sich beinahe an seiner eigenen Spucke verschluckt. „Einen … was?“

„Porno. Nix extremes, aber was mit ein bisschen nackter Haut, ein paar Brüsten und so. Glaube mir, so was hat jeder Junge in dem Alter irgendwo versteckt. Aber ranzukommen ist gar nicht so einfach, weil das ja bedeutet, dass man das Ding irgendwann auf den Ladentisch legen und bezahlen muss. Die Hölle, wenn du mich fragst. Ich bin die ersten Male fast gestorben vor Angst, dass der Kassierer mich anspricht oder mich gar nach meinem Ausweis fragt.“

Tim verstummte plötzlich und sah ihn etwas verschämt an. „Du musst mich für einen totalen Lüstling halten. Ich weiß auch nicht, warum ich da momentan ständig dran denken muss. Obwohl das natürlich was mit dir zu tun haben könnte.“

Er grinste und ließ seinen Blick ziemlich schamlos über Rans Körper wandern. Dabei stieß er ein Geräusch aus, das irgendwo zwischen einem Schnurren und einem Knurren lag.

Ran lachte auf. „Was jetzt? Willst du mich auffressen?“

„Nein, dann hätte ich ja nichts mehr von dir. Aber ich überlege mir gerade, mein Sofa umzudekorieren. Ein neuer Bezug, ein paar bunte Kissen und vielleicht einen halbnackten, rothaarigen Samurai, der mir, wenn mir danach ist, zu Diensten sein muss.“

„Samurai?“ Ran hob fragend eine Augenbraue.

Tim leckte sich über die Lippen und fing an, sich wie eine Raubkatze an ihn heranzupirschen. Er glitt auf seinen Schoß und ließ seinen Unterleib dabei wie zufällig über Rans Schritt gleiten. Die Bewegung ließ heißes Blut in seine Lenden schießen.

„Na klar oder ist das da unter mir etwa kein Schwert?“ Tim wackelte vielsagend mit den Augenbrauen.

Für einen kurzen Augenblick sandten diese Worte einen kalten Schauer über Rans Rücken. Bilder seines Katanas, besudelt mit dem Blut seiner Gegner, blitzten durch seinen Geist. Er schnappte hörbar nach Luft. Tim schien davon nichts bemerkt zu haben. Seine Lippen streiften Rans Hals.

„Mhmmm“, machte er. Die Vibration des Tons übertrug sich auf Rans ganzen Körper und riefen eine Gänsehaut hervor. Ganz automatisch griff er nach Tims Hüfte und ließ seine Finger daran entlang gleiten. Heißer Atem strich über sein Ohr.

„Ich stelle mir gerade vor, wie es wäre, wenn wir beide nicht so viel Stoff am Leib hätten. Haut an Haut, mit nichts zwischen uns als unserer eigenen Zurückhaltung. Ich fürchte nur, damit wäre es bei mir dann nicht mehr weit her.“ Tim biss in sein Ohrläppchen und begann, daran herumzuknabbern. „Ich will dich in mir spüren. Bald.“

Ran fühlte sein eigenes Stöhnen mehr, als dass er es hörte. Ein heißes, fast schmerzhaftes Ziehen raste durch seinen Unterleib und er presste seine Stirn an Tims Schulter, um irgendwie die Beherrschung nicht zu verlieren. Die Vorstellung, das mit Tim zu tun, war mehr, als er ertragen konnte.

„Hey, langsam, kleine Blume.“ Sanft massierten Finger seinen Nacken und glitten nach oben in seinen Haaransatz. „Vorher müssen wir erst noch mal einkaufen gehen. Ich habe nämlich nicht daran gedacht, Gleitmittel oder Kondome einzupacken. Hast du irgendwelche Wünsche? Mit Geruch? Geschmack? Karamell oder vielleicht Erdbeer?“

Ran öffnete die Augen wieder und wollte Tim gerade antworten, als ihm die Worte buchstäblich im Hals stecken blieben. Hinter Tim stand ein Mann, der ihn aus einem einzelnen, bernsteinfarbenen Auge musterte. Das andere, oder was davon übrig war, wurde von einer ledernen Augenklappe verdeckt.

 

Ayas Reflexe übernahmen automatisch die Kontrolle. Er stieß Tim beiseite, sodass dieser neben ihm auf dem Sofa landete und kam aus der gleichen Bewegung heraus auf die Füße. Sein Gegner machte einen Satz rückwärts und duckte sich zum Sprung. Der Fremde, dessen bloße Arme ebenso von Narben verunstaltet waren wie sein Gesicht, bleckte die Zähne und Aya erwartete fast, ein Fauchen zu hören. Eine beinahe körperlich spürbare Bedrohung ging von dem Eindringling aus und auch, wenn er momentan mit leeren Händen vom ihm stand, war sich Aya sicher, dass er mindestens eine wenn nicht sogar mehrere Klingen irgendwo an seinem Körper versteckt hatte. Unauffällig schob er sich ein Stück nach links, sodass er jetzt zwischen Tim und dem unheimlichen Fremden stand. Er lockerte die Beinmuskeln und ging leicht in die Knie, um einem Angriff möglichst flexibel begegnen zu können. Sein Gegenüber quittierte das mit einem heiseren Lachen. Das Geräusch sorgte dafür, dass sich die Haare in Ayas Nacken aufstellten.

„Sieh an, was die Katze hereingeschleppt hat“, sagte der Fremde in einem leicht akzentuierten Englisch. Seine Stimme klang wie Sand, der über glatten Marmor scheuerte.

„Jei!“ Tim hatte sich wieder aufgerappelt und trat neben Aya. Der konnte sich mit Mühe beherrschen, ihn nicht mit dem ausgestreckten Arm zurückzuhalten. „Ähm, Ran, das ist Jei, mein ... Mitbewohner. Jei, das ist mein Freund Ran.“

Er benutzte das englische Wort 'boyfriend', was Aya irgendwie aus dem Konzept brachte. Er hatte sich noch nicht wirklich Gedanken darüber gemacht, was das zwischen ihnen war, aber für Tim schien das vollkommen normal zu sein. Es war jedoch auch unverkennbar, dass Tim nervös war. Sein Blick war unstet und die Atemlosigkeit in seiner Stimme kam nicht allein von den Aktivitäten, in die sie beide gerade noch verwickelt gewesen waren. Er hatte einen Heidenrespekt vor dem weißhaarigen Mann. Unwillkürlich rückte Aya ein Stück näher an ihn heran. Tim warf ihm einen dankbaren Blick zu, schüttelte aber unmerklich den Kopf. Das hier war nicht die Zeit und der Ort, um einen Kampf zu provozieren.

„Die Milch ist alle.“ Die Stimme des Fremden hätte genauso gut verkünden können, dass er sie gleich aufschlitzen würde.

„Ich besorge neue“, versicherte Tim schnell und schob Aya in Richtung Tür. „Komm, wir gehen. Der Laden um die Ecke ist gar nicht weit.“

Aya öffnete den Mund, um zu protestieren, da klopfte es plötzlich an der Tür. Alle Anwesenden verharrten regungslos und starrten in Richtung des grauen Metallvierecks, von wo jetzt erneut ein ungeduldiges Klopfen kam.

„Wer ist das?“ Die Sand-Stimme klang misstrauisch. „Noch mehr, Freunde von dir?“ Aus seinem Mund klang das Wort eher wie Opfer.

„Ich ... ich weiß es nicht“, stotterte Tim, beeilte sich aber, die Tür zu öffnen. Als sie nach innen aufschwang, gab sie den Blick auf einen schmächtigen, japanischen Jungen frei.

„Nagi!“ Tim schien jetzt endgültig mit den Nerven am Ende zu sein. Er starrte den Jungen vor sich an, als wäre er so eben einem Raumschiff entstiegen. „Was tust du hier?“

„Du wolltest mich sprechen. Cr...“ Die Augen des Jungen weiteten sich, als er die Szene erfasste, die sich im Raum abspielte. Er öffnete den Mund um weiterzusprechen, aber Tim kam ihm zuvor.

„Ich glaube, wir sollten gehen. Jei hat uns gerade gebeten, neue Milch zu holen. Kommst du Ran? Dann können wir alles weitere draußen besprechen.“

„Jei?“ Der Junge hatte die Augenbrauen gehoben und sah Tim an, als wäre der nicht ganz bei Trost. Tim lachte gequält und schob ihn nach draußen.

Aya warf noch einen letzten, prüfenden Blick auf Tims Mitbewohner, der ebenso abschätzend zurückschaute. In Tims Interesse war klar, dass Aya hier den Kürzeren ziehen musste, aber das passte ihm gar nicht. Der Mann gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht. Er atmete tief durch und versuchte sich selbst zu beruhigen.

'Du bist nur ein Blumenhändler', betete er sich selbst vor. 'Du wirst dich jetzt einfach umdrehen und gehen und alles wird friedlich ablaufen'

Die Art, wie dieser Jei den Mund zu einem spöttischen Grinsen verzog, als Aya sich zum Gehen wandte, führte zwar fast dazu, dass er sich noch einmal umdrehte, um ihm noch eine zu verpassen, aber er riss sich zusammen und folgte Tim und dem Jungen nach draußen.

 

Er fand die beiden auf der Straße vor dem Gebäude wieder. Tim grinste ein wenig schief.

„Tja, äh, wie ich schon sagte. Mein Mitbewohner ist ein wenig eigenartig.“ Er hatte wieder ins Japanische gewechselt, vielleicht damit der Junge ihn besser verstand. Der musterte Aya unter seinem Pony heraus vorsichtig, so als wolle er abschätzen, ob Aya ebenso durchgeknallt war wie dieser Jei.

Aya zwang sich, seinen Körper zu entspannen und wieder aus der Kampfhaltung herauszukommen, in der er sich in den letzten Minuten befunden hatte. Dann legte er ein Lächeln auf sein Gesicht.

„War ja ganz schön dicke Luft da drinnen“, versuchte er einen Scherz. Nagi nickte nur, bevor er sich an Tim wandte.

„Crawford hat gesagt, dass du mich gesucht hast.“

„Dein Vater hat mich empfangen, als wir eigentlich zum Unterricht verabredet waren. Du erinnerst dich, dass ich dir Deutsch beibringen soll?“

Der Junge warf einen Blick auf Aya. „Natürlich erinnere ich mich. Wie sollte ich auch nicht? Aber ich hatte heute Morgen eine andere Verabredung.“

Tim lachte auf. „Hast dich wohl wieder mit deinen neuen Freunden rumgetrieben. Tja, was will man machen. Kinder!“

Er grinste Aya verschwörerisch an, während sich der Blick des Jungen in seinen Rücken bohrte. Anscheinend war Tim gerade dabei, sich es sich mit seinem Arbeitgeber zu verscherzen. Das durfte Aya nicht zulassen.

„Ich sollte gehen“, sagte er daher und deutete eine Verbeugung an. „Ich bedanke mich für deinen weisen Rat und werde mich daran halten. Du kommst mit diesem Jei klar?“

Tim blinzelte ein paar Mal, bevor er ein schiefes Lächeln aufsetzte. „Was ich? Ja, natürlich. Wenn ich die Milch besorgt habe, ist alles wieder in Butter. Ich … sehen wir uns bald wieder? Heute Abend?“

Aya schüttelte den Kopf. „Ich muss zunächst diese Sache mit Omi klären. Ich ruf dich an, wenn ich's überstanden habe.“

Der Ausdruck in Tims Gesicht, hätte Aya fast wieder einknicken lassen, aber er brauchte jetzt erst mal einen freien Kopf, um seine Angelegenheiten zu regeln. Außerdem wollte er Aya besuchen. Er hatte das Gefühl, es ihr schuldig zu sein, wenn er sie schon als Ausrede benutzte. Und dann war da immer noch dieser Unbekannte, der jetzt wusste, wo sie zu finden war. Vielleicht konnte er Birman erreichen und sie bitten, seine Schwester in ein anderes Krankenhaus zu verlegen. Irgendwohin, wo sie niemand finden konnte. Wenn sie in Sicherheit war, würde er sich wieder mit Tim treffen können, ohne sich ständig darüber Gedanken zu machen, ob sie in Gefahr schwebte. Aya lächelte Tim noch einmal an, dann drehte er sich entschlossen um und lief den Weg zurück, den er vor kurzem erst gekommen war.

 

 

 

Der rote Haarschopf, war kaum um die Ecke verschwunden, als Schuldig schon zu Nagi herumfuhr. Seine Augen sprühten Funken.

„Sag mal, hast du sie noch alle? Warum tauchst du hier so einfach auf?“

Nagi zuckte mit den Schultern. „Crawford hat gesagt, du suchst mich. Und da du nicht an dein Handy gegangen bist ...“

„Ach Scheiße! Das habe ich auf lautlos gestellt.“

Nagi sah noch einmal in Richtung Straßenecke. „War das Fujimiya?“

Schuldig rollte mit den Augen. „Nein, der Kaiser von China. Natürlich war er das.“

„Und was wollte er hier?“

„Geht dich nichts an.“

„Und was tut Jei hier?“ Der Spott in Nagis Stimme war unüberhörbar.

„Na der wohnt hier. Vorübergehend.“

„Und was habt ihr gemacht, als ich ankam.“

„Nicht, was du denkst!“

Schuldig raufte sich die Haare und fing an, ein Stück den Fußweg entlangzugehen. Er schien mit sich selbst zu reden. Nagi wartete ruhig ab. Eigentlich hatte er nicht herkommen wollen. Die Arbeit an Hirofumis Projekt war eine ziemliche Herausforderung, aber Nagi war sich sicher, dass er das hinbekam. Zumal er ein Team von drei weiteren Arbeitern hatte, das er nach Belieben herumscheuchen konnte. Aber er hatte auch eine Verpflichtung Schwarz gegenüber und wenn Crawford ihn anwies, sich bei Schuldig zu melden, dann tat er das.

 

Schließlich gab der Telepath seine Selbstgespräche auf und kam zu Nagi zurück. „Na wenn du jetzt schon mal hier bist, können wir auch anfangen zu üben.“

Nagi zögerte noch. Da war noch etwas, auf das er Schuldig nicht angesprochen hatte. Die Sache mit den Stimmen in seinem Kopf. Oder besser gesagt: Schuldigs Stimme. Ein Grinsen antwortete seinem Gedankengang.

„Komm schon Naggels, ich erkläre dir alles drinnen. Wenn Farfarello nicht vor lauter Aufregung die Wohnung in Schutt und Asche gelegt hat, versteht sich.“

Schuldig legte einen Arm um Nagi und der konnte nicht umhin zu denken, dass sich das irgendwie gut anfühlte. Er war noch nie bei Schuldig zu Hause gewesen und ein wenig wurmte es ihn, dass dieser dahergelaufene Weiß vor ihm hier gewesen war, aber immerhin hatte der jetzt das Feld geräumt und er, Nagi, war noch hier.

„Ich glaube, ich habe sogar noch Eiscreme im Kühlschrank.“

„Matcha?“

„Uh, nein, Vanille. Aber ich kann dir gerne einen Teebeutel darüber ausleeren, wenn du nicht ohne das Zeug kannst.“

Nagi lachte und ließ sich von Schuldig nach drinnen geleiten.

 

Während er darauf wartete, dass Schuldig irgendwie die Dose mit dem Eis aus dem völlig vereisten Gefrierfach bekam, wanderte Nagis Blick zu Farfarello. Er amüsierte sich gerade damit, ein neues Muster in Schuldigs Couchtisch zu schnitzen. Es sah verdächtig nach einem Katzenkopf aus.

„Ihr wohnt jetzt also zusammen?“, versuchte er ein Gespräch anzufangen.

Farfarello sah nicht von seiner Arbeit auf. „Ja.“

„Warum?“

Jetzt unterbrach Farfarello sein Tun doch und hob den Blick. „Weil er mich braucht.“

Die Antwort überraschte Nagi etwas. „Er braucht dich? Wofür.“

Farfarello zuckte mit den Schultern und machte sich wieder daran, das Holz zu bearbeiten. Nagi runzelte die Stirn. Anscheinend ging hier irgendetwas vor, dass er nicht verstand. Und das ihm keiner erklärte. Nagi konnte das nicht leiden.

 

Endlich kam Schuldig mit dem Eis. Und einem Teebeutel.

„Nur für alle Fälle“, grinste er und schob Nagi die randvoll gefüllte Schüssel über den Tisch. Nagi ignorierte sie.

„Was willst du von Fujimiya? Sex?“

Schuldig riss gespielt erstaunt die Augen auf. „Weiß Crawford, dass du von solchen Dingen weißt?“

„Verarsch mich nicht, Schuldig.“

„Und mit dem Mund küsst du deine Mutter?“

„Meine Mutter ist tot.“

Der Telepath ließ sich in einen Sessel sinken und seufzte übertrieben laut. „Na gut, ich erkläre es dir. Ich will an Fujimiya ran, weil er meine und Crawfords Fähigkeiten steigern wird. Exorbitant steigern. So sehr, dass wir ...“, er zögerte kurz, „dass wir in Zukunft vielleicht unabhängig arbeiten können.“

Nagi brauchte einen Moment um zu verstehen, was Schuldig meinte. Unabhängig so wie in 'losgelöst von Eszett'. Aber das würden die niemals zulassen.

Schuldigs blaue Augen glühten förmlich von innen heraus. „Manchmal lohnt es sich dafür zu kämpfen, was einem wichtig ist. Nur, weil wir eine längere Leine haben, sind wir trotzdem jemandes Hunde. Aber Hunde, die man zu oft tritt, fangen irgendwann an zu beißen.“

Nagi erschauerte. Das, von dem Schuldig da sprach, war eindeutig Verrat. Meuterei. Wenn jemand das herausbekam, würden sie nicht mehr lange zu leben haben. Keiner von ihnen.

„Deswegen wird es keiner herausfinden.“ Schuldigs Lächeln war ebenso freundlich wie verschlagen. „Niemand weiß von Fujimiyas Fähigkeiten und das soll auch so bleiben. Deswegen ist es wichtig, dass ich ihn unter Kontrolle behalte. Und dazu brauche ich dich, Nagi. Du bist ein wichtiger Teil meiner Tarnidentität. Oder glaubst du vielleicht, Fujimiya würde uns aus lauter Herzensgüte helfen? Wir haben immerhin seine Eltern auf dem Gewissen.“

Nagi erinnerte sich gut. Es war sein erster Außeneinsatz gewesen. Kurz vor der geplanten Explosion hatte Schuldig ihm auf einmal den Zünder in die Hand gedrückt und ihm erlaubt, die Bombe, deren Baupläne er ausgearbeitet hatte, selbst zu zünden.

„Ehre, wem Ehre gebührt“, hatte er gesagt und Nagi hatte sich nie besser gefühlt. Ganz im Gegensatz zu jetzt, wo sich sein Magen in einen schmerzenden Klumpen verwandelt zu haben schien. Mechanisch griff er nach der Schüssel mit Eiscreme und begann zu löffeln.

„Du bist der Sohn meines Arbeitgebers, gespielt von Crawford. Farfarello gibt meinen bösen Mitbewohner und ich bin der harmlose, deutsche Student, der hier nur eine gute Zeit verbringen will. Fujimiya wird von all dem nichts merken. Wir nehmen uns von ihm, was wir brauchen und verschwinden dann aus seinem Leben.“

Nagis Löffel schwebte über der Eiscreme. „Du meinst, er verschwindet dann aus unserem?“

Schuldig hob beide Hände mit den Handflächen nach oben. „Wenn dir das lieber ist, dann auch so. Ist vielleicht ohnehin besser, wenn wir uns seiner am Ende entledigen. Nicht, dass Eszett ihn doch noch in die Finger bekommt.“

„Das werde ich erledigen.“ Farfarello hatte seine Schnitzerei beendet und betrachtete sie mit einem schmalen Lächeln. „Ich habe schon lange keinen würdigen Gegner mehr gehabt. Es wird Spaß machen, mit dem Kätzchen zu spielen.“

Er hob die Hand mit dem Messer und ließ sie auf die Tischplatte niedersausen. Die Klinge blieb zitternd im linken Auge der Katze stecken. Nagi begann zu lächeln.

„Also bringst du mir jetzt wirklich Deutsch bei?“

„Natürlich.“ Schuldig holte ein gelbes Tuch aus seiner Tasche und band sich damit die Haare zurück. „Also los, sprich mir nach: Ich möchte diesen Teppich nicht kaufen.

„Was heißt das?“

„Das ist unwichtig. Hauptsache, Fujimiya denkt, dass es etwas zu bedeuten hat. Alles nur ein bisschen Augenwischerei, bis wir haben, was wir brauchen. Also bitte, konzentrier dich jetzt und iss dein Eis. Wir wollen doch nicht, dass es schmilzt.“

Nagi nickte langsam. „Nein, das wollen wir natürlich nicht.“

Gehorsam wiederholte er, was Schuldig ihm vorsagte. Den Gedanken, dass es ihm lieber gewesen wäre, wenn Schuldig sich wirklich Mühe bei der Sache gegeben hätte, vergrub er ganz tief in seinem Unterbewusstsein. Man musste nehmen, was man kriegen konnte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
"Jolene" - Dolly Parton Komplett anzeigen

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