Lügner! von Maginisha ================================================================================ Kapitel 7: Geheimnisse ---------------------- Schuldig lehnte sich zurück und legte das Handy auf den Tisch. Er wusste, dass Nagi viel zu beschäftigt war, um es zu bemerken. Der Junge löffelte gerade seine dritte Portion Eiscreme in sich hinein. „Man könnte denken, dass Crawford dir nichts zu essen gibt“, bemerkte Schuldig amüsiert. Nagi gefror in der Bewegung und sah ihn unter seinem Pony hervor schuldbewusst an. „Das stimmt nicht. Er kümmert sich um alles. Es ist nur ...“ „Er hat keine Ahnung, dass du ein absoluter Eiscreme-Junkie bist. Oder auch sonst alles inhalierst, was Zucker enthält.“ Nagi war die Richtung, in die das Gespräch ging, offensichtlich unangenehm. Schuldig nahm das Bedürfnis wahr, keinen schlechten Eindruck zu machen. Nagi legte betont langsam den Löffel beiseite. „Er macht manchmal Pancakes zum Frühstück.“ „Aber?“ Schuldig zog fragend die Augenbrauen hoch. Er merkte genau, dass Nagi krampfhaft versuchte, nicht an etwas zu denken. Er hätte es vermutlich herausfinden können, aber er zog es vor, den Jungen ein wenig schmoren zu lassen. Wenn das hier funktionieren sollte, musste Nagi ihm vertrauen. Nagi schluckte und starrte auf seine Hände, die in seinem Schoß lagen. „Der Sirup ist eklig“, murmelte er so leise, dass Schuldig es fast nicht hören konnte. „Voll bitter, das Zeug. Wie kann man das essen?“ Schuldig unterdrückte ein Grinsen. „Das sagst ausgerechnet du?“ Er wies auf die Schalen mit den grünen Eisresten. „Das ist was anderes“, grummelte Nagi. „Außerdem ist es ja nur ganz selten. Er sagt immer, ich müsse gesund essen. Oder er sagt es nicht, aber er kauft ein, also … was soll ich machen?“ „Ihm sagen, dass er gefälligst Erdbeersauce kaufen soll. Die schmeckt viel besser auf Pancakes. Wenn du willst, sage ich es ihm.“ „Nein!“ Nagi sah ehrlich entsetzt aus. „Ja. Ich meine … würdest du?“ „Kein Problem, Kleiner.“ Schuldig winkte der Bedienung, damit sie ihm die Rechnung brachte. Nachdem sie bezahlt hatten, trottete Nagi an seiner Seite zurück zum Auto, den Kopf gesenkt. „Wie ist das so, mit Crawford zusammenzuwohnen?“ Nagi zuckte mit den Schultern. „Ist okay. Wir sehen uns mehr bei der Arbeit als zu Hause. Er kauft ein und kocht, ich räume auf und kümmere mich um die Wäsche. Könnte schlimmer sein.“ Schuldig nickte verständig. „Stimmt. Du könntest mit Farfarello zusammenwohnen.“ Nagi blinzelte überrascht. „Du wohnst mit Farfarello zusammen?“ Jetzt musste Schuldig lachen. „Nein, bist du wahnsinnig? Da müsste man ja jede Nacht Angst haben, morgens mit einem Messer in der Brust aufzuwachen. Obwohl, jetzt wo du es sagst...“ Ein Plan begann in Schuldigs Kopf zu reifen. Ja, vielleicht ließ sich da etwas arrangieren. Immerhin hatte er Fujimiya erzählt, er wolle sich eine Wohngemeinschaft suchen. Und je unattraktiver seine eigene Wohnung war ... ja, das könnte funktionieren.   Das Handy in seiner Tasche gab einen Ton von sich. Er zog es hervor und öffnete die Antwort auf seine Nachricht. Der Chatverlauf war kurz aber aufschlussreich,   Ran: Das hier ist meine Nummer. Tim: Ja cool, dann kann ich dich ja jetzt jederzeit erreichen. Tim: Sag mal, hast du morgen Abend schon was vor? Ran: Nein, habe ich nicht.   Da spielte jemand den Unnahbaren. Schuldig lachte leise in sich hinein. Nur nicht das Gesicht verlieren. Typisch Japaner. Aber diese Nuss würde er schon noch knacken. Allein die kurze Antwortzeit zeigte ihm, dass er auf dem richtigen Weg war. „Denial is not just a river in Egypt, mein Freund. Aber keine Bange, das kriegen wir schon hin. Ich muss wohl einfach noch etwas deutlicher werden.“ Er tippte eine weitere Antwort.   Tim: Wollen wir dann was zusammen unternehmen?   Jetzt galt es abzuwarten, ob er noch ein weiteres zufälliges Treffen arrangieren musste, oder ob der Fisch bereits an der Angel hing. Schuldig war sich ziemlich sicher, dass das zweite der Fall war. Er warf einen Blick auf seinen Beifahrer. Nagi hatte sich in seinem Sitz zurückgelegt und wirkte zufrieden wie selten. Der Junge war ehrgeizig, das musste man ihm lassen. Er würde einen guten Schüler abgeben. Eine weitere Figur auf Schuldigs Schachbrett. Wenn man, so wie er, Einblick in die Gedanken der Menschen hatte, lernte man eines ziemlich schnell: Eine gute Lüge beinhaltete immer zwei Fingerbreit Wahrheit. Hielt man sich an diese Regel, war jeder bereit, sie zu schlucken, egal aus welchem Bullshit man den Rest zusammenmixte. Und die Leute waren immer geneigt, etwas zu glauben, das ihnen gefiel. Man musste nur die Werbung betrachten. 'Kauf dieses Produkt und du wirst besser sein als die anderen.' Es war ausgemachter Blödsinn, aber es funktionierte. Weil die Leute es glauben wollten. Dabei stammten sie alle aus demselben Sumpf, bereit rücksichtslos übereinanderzuklettern und die anderen in die Tiefe zu reißen, wenn sie nur selber einen Vorteil davon hatten. Selbst diejenigen, die sich für gute Menschen hielten, hatten solche Gedanken. Sie führten sie nicht aus, aber sie waren da und Schuldig konnte sie hören. Er konnte sie alle hören. Die Gedanken des Mannes, der das minderjährige Mädchen in der U-Bahn betrachtete und sich ausmalte, wie es aus tränenüberströmten Augen zu ihm aufsah, während es seinen Schwanz im Mund hatte. Die Gedanken der braven Ehefrau, die sich selbst ihren Mann mit einem Messer statt mit einem liebevoll gekochten Abendessen empfangen sah. Die Gedanken der Mutter, die ihr schreiendes Kind am liebsten aus dem nächsten Fenster werfen würde, damit es endlich still war. Sie alle bissen sich auf die Zunge, setzten sich auf ihre Finger, atmeten tief durch und spielten weiter das Schauspiel, das sie ihr Leben nannten. Und Schuldig lachte über sie alle.   Sie hatten Takatoris Hauptsitz kaum betreten, als Schuldigs Handy klingelte. Er runzelte die Stirn, als er Crawfords Nummer auf dem Display sah. „Ja?“ „Wo bist du? Und wo steckt Nagi?“ Crawford klang vage gestresst, aber das war bei dem Amerikaner eigentlich ein Dauerzustand. Vielleicht irgendetwas Genetisches. Fastfood und der legalisierte Verkauf von Schusswaffen konnten nicht der einzige Grund sein, dass so viele von seinen Landsleuten so früh ins Gras bissen. „Sind gerade wieder vom Mittagessen zurück. Ich hatte noch was in der Stadt zu erledigen und habe den Jungen mitgenommen.“ Nagi warf ihm einen Blick unter den langen Stirnfransen zu. Schuldig nahm wahr, wie er sich wünschte, jetzt über ein Supergehör zu verfügen. „Kommt rauf. Takatori hat für Morgen Abend einen Termin anberaumt. Wir müssen die Sache noch überprüfen.“ „Oha, hattest du einen schwarzen Hund in deinem Kaffeesatz?“ Schuldig grinste Nagi an. „Lass die Witze, Schuldig. Die Sache ist ernst.“ Crawford hatte diesen speziellen No-Nonsense-Ton drauf, der Schuldig alle Flachserei vergessen ließ. „Wir sind gleich da.“ Er legte auf. „Crawford erwartet uns.“ Nagis Ausdruck wurde ernst. „Takatori?“ „Jupp. Einsatz morgen Abend. Teambesprechung in fünf Minuten. Ich gehe mir nur noch einen Kaffee holen.“     Als Schuldig ankam, saßen Crawford und Nagi bereits über einer Karte. Crawford erklärte den Grundriss. „Es gibt Kameras auf dem ganzen Gelände. Ich will, dass du dir die Daten auf dein Laptop holst und selber überwachst. Wenn irgendwas aus dem Ruder läuft, gibst du sofort Bescheid. Takatori und ich werden hier sein. Schuldig übernimmt den Posten am Eingang.“ Er sah auf. „Du musst schon eine Stunde vorher da sein. Ich will, dass du alle abcheckst, die da rein- und rausgehen.“ „Wird gemacht, Boss“, antwortete Schuldig und ließ sich in einen Sitz fallen. „Aber dafür muss ich nicht früher da sein. Es reicht, wenn ich das mache, wenn wir kommen.“ Crawford öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Schuldig winkte ab. „Ich schaffe das, okay?“ Der Amerikaner schien nicht überzeugt, ließ das Ganze aber unkommentiert. Das mochte Schuldig so an Crawford. Der nahm seine Wahrheit lieber pur. Ohne Eis und sonstigen Schnickschnack.   Schuldig betrachtete die Karte und runzelte die Stirn. „Das ist das alte Gelände von Pangan Electricity. Was will Takatori da?“ „Sein Sohn Hirofumi hat dort ein Projekt aufgezogen und seinen Vater offensichtlich erfolgreich bekniet, sich das mal anzusehen. Morgen Abend ist eine Vorführung. Exklusives Publikum. Allerhand interessante Namen.“ Crawford reichte Schuldig eine Liste. Der warf einen Blick darauf und pfiff anerkennend durch die Zähne. „Ist ja so ziemlich alles dabei, was Rang und Namen hat. Hoffentlich lässt Watanabe seinen schießwütigen Bonzai-Gorilla zu Hause. Ich kann den Kerl nicht ab. Der meint immer, einen Schwanzvergleich mit mir machen zu müssen.“ „Schuldig!“ Crawford nickte in Nagis Richtung. „Was? Meinst du, der Kleine hat noch nie das Wort 'Schwanz' gehört? Hinter welchem Mond lebst du denn?“ Crawford sagte dazu nichts, aber Nagi grinste Schuldig dankbar an. Der zwinkerte zurück und meinte dann: „Ach übrigens, Nagi kann deinen dämlichen Ahornsirup nicht leiden. Du solltest ihm was anderes besorgen.“ Nagi quollen fast die Augen über und seine gerade noch so große Dankbarkeit kippte in das mentale Äquivalent eines gewaltigen Tritts gegen Schuldigs Schienbein. Der rieb sich die Schläfe und grinste nur umso breiter. Seine Lippen formten ein lautloses 'Gern geschehen'. Crawford beachtete sie nicht weiter. Er schob die Brille auf dem Nasenrücken nach oben und brummte: „Mache ich. Können wir jetzt bitte weiter arbeiten?“ Sie gingen noch weitere Details des Abends durch, bis Crawford endlich zufrieden war. Der Amerikaner hasste solche kurzfristigen Aktionen und war lieber auf alle Eventualitäten vorbereitet. Manchmal ersparte ihm eine Vision etwas Planungsarbeit, aber meistens blieb es komplett an ihm hängen, Takatoris Hintern in Watte zu packen. Eine Aufgabe, um die Schuldig ihn nicht beneidete.     Der Telepath leerte gerade den dritten Kaffeebecher, als sein Blick auf sein lautlos gestelltes Handy fiel, das auf dem Sitz neben ihm lag. Auf dem Display blinkte das Nachrichtensymbol. Er fluchte leise.   Ran: Wann und wo?   Die SMS war bereits zwei Stunden alt. Schuldig begann, auf seinem Handy herumzutippen.   Tim: Sorry, mir ist was dazwischen gekommen. Ich kann Morgen nicht.   Der Termin mit Takatori warf ihm den ganzen Plan durcheinander. Fujimiya war ein schwieriger Fang. Wenn er die Leine zu schnell einholte, sprang er ihm womöglich vom Haken. Das Gleiche konnte aber auch passieren, wenn er zu viel Leine ließ. Schuldig kniff die Augen zusammen und sah auf die Uhr. Vielleicht ...   Tim: Wie wäre es stattdessen mit heute Abend? Tim: Um halb acht im Ikeda? Ich schicke dir die Adresse.   Jetzt galt es abzuwarten. Halb zufrieden steckte er das Handy in die Tasche. „Ich muss los. Hab noch was vor.“ Crawford runzelte die Stirn. „Wir sind eigentlich noch nicht fertig. Ich wollte noch was anderes mit dir besprechen.“ „Muss warten. Ich bin an Fujimiya dran. Die Sache könnte sich zu was Größerem entwickeln.“ Crawford zögerte kurz, dann nickte er. „Okay, meinetwegen. Aber ich verlasse mich auf dich, Schuldig. Wenn das schiefgeht ...“ Der Telepath breitete entwaffnend die Arme aus. „Du kennst mich. Wenn ich Spaß an etwas habe, bin ich am besten.“ Ein schmales Lächeln umspielte Crawfords Lippen. „Ich erwarte, dass du mir das Ganze auf einem Silbertablett servierst.“ Schuldig erwiderte seine Gesichtsausdruck und wirkte dabei wie eine Katze, die gerade entdeckt hatte, dass der Käfig des Kanarienvogels offenstand. „Ich steck noch ein Petersiliensträußchen dran, wenn es dich glücklich macht. Und glaube mir, es wird dich glücklich machen.“         Aya konnte es kaum erwarten, dass es endlich Zeit wurde, das metallene Gitter herunterzulassen. Er wollte hier raus und ein wenig Abstand zwischen sich und seinen Fund im Keller bringen. Außerdem wollte er nachsehen, was Tim ihm geschrieben hatte. Momentan war das allerdings ein Ding der Unmöglichkeit, denn die Kunden schienen heute entschlossen zu sein, das Koneko bis auf den letzten Stängel leerzukaufen. Die Türglocke stand quasi seit über einer Stunde nicht mehr still und ungefähr genauso lange saß beziehungsweise stand Aya auch schon auf heißen Kohlen. Vielleicht kam er wenigstens vor dem Aufräumen dazu … „Aya, hilfst du heute mal bei den Pflanzen? Ich brauch eine Pause.“ Yoji drückte den Rücken durch und ließ den Nacken knacken. „Wirst wohl alt“, stichelte Omi und kassierte dafür beinahe einen Katzenkopf. „Pass auf, wen du hier alt nennst, du Zwerg. Dich stecke ich immer noch in die Tasche. Außerdem muss ich mich schonen. Ich habe heute Abend noch eine Verabredung. Und man weiß ja nie, wie lange die Dame gedenkt, mich heute auf Trab zu halten.“ Er zwinkerte Omi über den Rand der Sonnenbrille hinweg zu. Der überlegte einen Augenblick und lief dann bis über beide Ohren rot an, als er endlich verstand, was Yoji angedeutet hatte. „Wer feiert, kann auch arbeiten“, knurrte Aya und drückte dem verdutzten Yoji einen Besen in die Hand. „Los, saubermachen!“ „Hey, Aya! Sei doch nicht so kratzbürstig. Man könnte denken, du hättest heute auch noch was vor.“ Aya kniff die Lippen zusammen und versuchte, sich auf den Kassenabschluss zu konzentrieren. Nur nicht hinsehen. „Oh nein, das glaube ich jetzt ja nicht.“ Yoji blieb wirklich für einen Augenblick der Mund offenstehen. „Du hast heute noch was vor. Aya 'Rühr-mich-nicht-an' Fujimiya hat heute ein Date.“ „Ich habe kein Date“, fauchte Aya. Das fehlte ihm jetzt gerade noch, das Yoji seine spitze Nase in seine Angelegenheiten steckte. „Ich hoffe, du hast nicht vor, in den Klamotten da aufzutauchen. Wo wollt ihr denn hin? Hat er was gesagt?“ „Nein, hat er nicht.“ Aya erstarrte in der Bewegung. Eine Münze fiel aus seinen Händen zu Boden und rollte mit zielsicherer Genauigkeit dem breit grinsenden Yoji vor die Füße. Er bückte sich, hob das Geldstück auf und reichte es Aya über den Ladentisch. „Sie haben da was verloren, Herr Fujimiya.“ Er ließ seine Wimpern ein paar Mal auf und ab flattern. „Hatte ich erwähnt, dass ich ein Spitzen-Privatdetektiv war?“ „Gelegentlich“, knirschte Aya und ließ die Kasse so heftig zuschnappen, dass Yoji erschrocken zurückprallte. „Aber dieses Mal liegst du vollkommen falsch. Also nochmal zum Mitschreiben: Ich habe heute kein Date, verstanden? Nicht die klitzekleinste Verabredung. Ich bin einfach nur bereits, im Gegensatz zu anderen Anwesenden, den ganzen Tag auf den Beinen und will jetzt endlich Feierabend haben. Ist denn das zu viel verlangt?“ Aya war mit der Zeit immer lauter geworden. Yoji verschanzte sich instinktiv hinter seinem Besen. Ken tat höchst geschäftig mit einigen Pflanzen. Niemand sagte ein Wort, bis Omi sich schließlich räusperte. „Also … wir schaffen das heute bestimmt auch ohne dich, Aya-kun. Wenn du möchtest, kannst du ruhig gehen.“ Aya wollte zuerst erwidern, dass sich Omi seine Freundlichkeit sonst wohin stecken konnte, aber dann überlegte er es sich anders. Vielleicht war es ganz gut, wenn er jetzt einfach ging. Sollten die drei anderen doch sehen, wie sie ohne ihn zurechtkamen. Er band seine Schürze ab, knüllte sie zusammen und warf sie in eine Ecke. Sollten sie die doch auch gleich mit wegräumen. Ohne ein weiteres Wort des Grußes verließ er den Laden und ging straffen Schrittes die Straße entlang. Dabei holte er das Handy aus der Tasche. Drei Nachrichten. Er las die erste und wurde unwillkürlich langsamer. Tim hatte abgesagt. Er las die nächste Nachricht. Er wollte sich heute mit Ran treffen? Und das schon in einer halben Stunde?   Aya sah an sich herab. Eine schwarze, leicht verwaschene Hose und ein schwarzes T-Shirt. Yoji hatte gemeint, er könne so nicht zu einer Verabredung. Aber er hatte keine Zeit, um sich noch umzuziehen. Was sollte er tun? Absagen? In diesem Moment piepte das Handy wieder. Noch eine Nachricht! Tim: Ich weiß, es ist etwas kurzfristig. Wenn du möchtest, können wir auch etwas anderes abmachen.   Aya überlegte. Wahrscheinlich wäre es wirklich das Klügste, das Ganze zu verschieben. Doch bei der Erinnerung an die Szene im Laden regte sich Widerstand in ihm. Wer war er denn, dass er sich von irgendeinem dahergelaufenen Möchtegern-Cassanova erzählen ließ, wie sein Leben auszusehen hatte? Mit entschlossener Miene tippte er eine Antwort.   Ran: Nein, es passt mir. Ich komme allerdings direkt von der Arbeit.   Tim: Das macht nichts, ich auch. ^_~   Aya starrte auf den zwinkernden Smiley und fühlte ein Grinsen auf seinem Gesicht. Na also. Ein ganz normales Nach-der-Arbeit-was-Trinken-gehen. Dass er und Tim keine Kollegen waren, konnte man dabei sicherlich vernachlässigen. Immerhin arbeitete Tim ja noch nicht so lange in Japan. Es war also mitnichten ein Date, wie Yoji gemeint hatte. Es war nur … Egal, was es war, wenn er sich nicht beeilte, würde er zu spät kommen. Er steckte das Handy weg und sprintete in Richtung U-Bahn.       Das Ikeda war bereits gut besucht, als Aya leicht abgehetzt dort ankam. Er hatte die erste Bahn verpasst und dann zehn Minuten auf die nächste warten müssen, die in die richtige Richtung fuhr. Er spähte ins Innere der Bar, die an einer etwas ruhigeren Ecke des sonst recht belebten Stadtviertels lag. Der Laden war mit hellen Holzmöbeln eingerichtet und wurde von schmalen Hängelampen in unterschiedlicher Höhe ausgeleuchtet. Einige Grünpflanzen, von denen er sofort sah, dass sie aus Plastik waren, erzeugten einen Anflug von Heimeligkeit. Die Wand hinter der Bar bedeckte ein riesiger Spiegel, vor dem eine Auswahl von Flaschen stand, und an der Bar saß … Tim. Allein. Die Tische um ihn herum wurden von jeder Menge fröhlicher Menschen umlagert und auch an der Bar stand eine Gruppe von Gästen, die anscheinend keinen Sitzplatz mehr bekommen hatte. Tim saß ein wenig abseits und hatte ein Glas vor sich stehen, in dem er gedankenverloren herumrührte. Mit dem hellgrünen Hemd, das er heute trug, und den auffälligen, roten Haaren war er trotzdem nicht zu übersehen. Aya hielt einen Moment inne. Sollte er da jetzt wirklich reingehen? Zu all diesen normalen Leuten mit ihren normalen Leben? Was, wenn ihn jemand nach seinem Ausweis fragte? Er hatte keinen. Offiziell existierte er gar nicht. Er war ein Nichts, ein Niemand. Unwillkürlich machte er einen Schritt rückwärts, raus aus dem Licht wieder zurück in die Schatten, aus denen er gekommen war. Vielleicht sollte er doch lieber gehen. In diesem Moment sah Tim auf und ihm direkt in die Augen. Zumindest bildete sich Aya ein, dass es so war. Die Mundwinkel des jungen Deutschen hoben sich und er winkte Aya zu. Jetzt gab es kein Zurück mehr.   Aya atmete tief durch und fuhr sich noch einmal durch die Haare, bevor er an der ersten der doppelten Glastüren zog, die ihn nach drinnen führte. Nachdem er auch die zweite geöffnet hatte, schwappte ihm eine Welle von Gelächter entgegen. An einem Tisch wurde gerade eine neue Runde mit lautem „Kampai!“-Rufen eingeläutet. Alle erhoben ihre Gläser und prosteten sich zu, bevor sie einen großen Schluck nahmen. Derjenige, dessen Glas danach den niedrigsten Füllstand aufwies, wurde zum Sieger erklärt und durfte allen Anwesenden erneut einschenken. Danach ging es weiter. Aya ließ sie links liegen und ließ sich neben Tim auf einen Barhocker gleiten. „Tut mir leid, dass ich so spät bin“, sagte er statt einer Begrüßung. „Hab die Bahn verpasst.“ Tim drehte sich halb zu ihm herum. Seine blauen Augen funkelten amüsiert. „Keine Panik, ich habe doch jede Menge Unterhaltung. Bin auch gerade erst gekommen.“ Sein halbleeres Glas sprach eine andere Sprache, aber Aya wusste den Versuch, ihn nicht dumm dastehen zu lassen, zu schätzen. Der Barkeeper kam und musterte Aya für einen Augenblick, bevor er nach seinen Wünschen fragte. „Er nimmt das Gleiche, was ich habe“, bestimmte Tim und grinste Aya an. „Ich kann dich doch zu einem 'Safer Sex on the Beach' verführen, oder nicht? „Zu einem was?“, krächzte Aya. Er glaubte, sich verhört zu haben. „Ein Cocktail ohne Alkohol. Ich weiß ja nicht, wie das bei dir ist, aber ich hatte kein Abendessen, da vertrage ich noch nichts.“ „Ja, ich auch nicht“, log Aya und war froh, so um die Sache mit dem Ausweis herumgekommen zu sein. Wie alt mochte Tim wohl sein? „Hier, probier mal. Wenn's nicht schmeckt, nehme ich deinen und du kannst dir was anderes bestellen.“ Tim drückte ihm sein halbleeres Glas in die Hand. Aya starrte wie hypnotisiert auf den Strohalm. Aus dem hatte Tim schon getrunken. Sollte er jetzt …? Als hätte der andere seine Gedanken gelesen, grinste er plötzlich, nahm den Strohhalm und drehte ihn um. Dann drückte er das Glas in Richtung von Ayas Mund. „Nun stell dich nicht so an, Ran. Runter damit.“ Ach ja, er war jetzt Ran. Siedend heiß fiel ihm ein, dass er sich noch keine Geschichte ausgedacht hatte, die er Tim erzählen wollte. Das hieß, er hatte Ansätze einer Geschichte, aber noch längst nicht alle Details ausgearbeitet. Keine besonders gute Voraussetzung.   Tim legte den Kopf schief und musterte ihn nachdenklich. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Ist alles in Ordnung?“ Aya/Ran nickte und nahm schnell einen Schluck aus dem Glas. Es schmeckte gut, nach verschiedenen Säften, vornehmlich nach Ananas. Eher er sich versah, war das Glas ausgetrunken und der Strohhalm gab einen unanständigen Laut von sich. Zum Glück wurden gerade wieder Trinkrufe von einem der Tische laut. Tim grinste und nickte mit dem Kopf in Richtung der Trinkenden. „Die sind ja lustig drauf. Ist heute irgendein Feiertag?“ „Nein ... ja. Also.“ Ran/Aya atmete tief durch. „Heute ist der erste Tag des Obon, aber ich glaube nicht, dass diese Runde etwas damit zu tun hat. Sie werden sich einfach nach der Arbeit getroffen haben. Das ist hier so üblich. Die Kollegen, auch die höhergestellten, tauschen sich hier aus, während sie etwas trinken. Der Alkohol macht es leichter. Am nächsten Morgen wird dann nicht mehr darüber geredet, was in dieser Runde besprochen wurde.“ Tim zog die Augenbrauen hoch. „Na das sollten sie mal bei uns einführen. Aber was ist dieses Obon?“ Ran nahm dankend ein Glas entgegen, das der Barkeeper ihm reichte. Er brauchte etwas, an dem er sich festhalten konnte. Tim orderte gleich noch ein Mineralwasser. „Obon ist das Fest, bei denen die Toten aus ihrem Reich in die Welt der Lebenden kommen. Wir feiern in ihrem Beisein, bis sie dann am dritten Tag wieder mit leuchtenden Laternen zurück ins Jenseits geleitet werden. Dazwischen gibt es große Feiern, Tänze, Musik an den Schreinen. Es gibt sogar spezielle Tänze, die nur zu diesem Fest aufgeführt werden.“ Tim hörte ihm mit großen Augen zu. „Das klingt toll. Aber da darf man als Außenstehender doch bestimmt nicht hin.“ „Natürlich, die Tempel sind für alle offen.“ Tims Gesicht begann zu leuchten. „Würdest du da mit mir mal hingehen? Alleine würde ich mir da komisch vorkommen. Oder gehst du mit deiner Familie?“ Ran sah seine Chance kommen. „Meine Familie lebt nicht hier. Ich stamme ursprünglich aus Osaka. Mein Vater arbeitet dort in einer Bank. Wir sehen uns nur selten.“ „Und was tust du dann hier alleine?“ „Geld verdienen. Ich … wir sind nicht so gut miteinander ausgekommen, da bin ich ausgezogen. Tokio schien mir eine gute Idee zu sein.“ Tim nickte verständig. Die Ähnlichkeit zu seiner eigenen Geschichte war ihm anscheinend nicht aufgefallen. Ran fing an, sich ein wenig zu entspannen. Die erste Hürde war genommen. Er nippte an seinem Drink. „Also wenn du möchtest, können wir das Fest gerne besuchen. Es geht bis übermorgen.“ Tim nickte. „Gut, einverstanden. Das mit Morgen tut mir wirklich leid. Ich muss leider arbeiten. Babysitting für den Knirps. Seine Eltern sind auf irgendeinem Bankett und da haben sie mich gefragt, ob ich ihm Gesellschaft leisten würde. Er war ungefähr so begeistert wie ich, aber was tut man nicht alles.“ Tim lachte und Ran stellte fest, dass ihm das Geräusch einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Sein Magen begann leicht zu flattern. Er warf einen Blick in den Spiegel, der hinter der Bar hing. Sie gaben schon ein seltsames Paar ab, wie sie hier so an der Bar saßen und Fruchtsaft tranken, während um sie herum der Alkohol langsam, aber sicher die Gesichter rötete und die Lautstärke steigen ließ. „Wir sehen aus wie zwei Papageien in einer Schar voller Pinguine“, sagte Tim plötzlich und zwinkerte ihm zu. Er stieß mit Rans Glas an. „Kampei, kleine Blume.“ Ran grinste und stieß zurück. „Selber Kampei. Das bedeutet übrigens so viel wie 'leeres Glas'. Also runter damit.“ Sie grinsten beide und leerten ihre Getränke in einem Zug. Das hieß, Tim versuchte es, musste aber zwischendurch abbrechen, weil er sich so verschluckte. Ran widerstand dem Drang, ihm auf den Rücken zu klopfen. Er war sich Tims Gegenwart ohnehin schon zu sehr bewusst. Da waren diese kleinen Gesten, die Fast-Berührungen, die Blicke, die ihm direkt in den Magen fuhren und ihm ein Kribbeln über den gesamten Körper jagten. Wenn sich tatsächlich Alkohol in seinem Glas befunden hätte, hätte die Wirkung nicht verheerender sein können. Ran merkte, wie ihm langsam die Kontrolle entglitt.   Als er sich wieder gefangen hatte, drehte Tim sich um und lehnte sich mit den Ellenbogen auf die Theke. „Lass uns ein Spiel spielen“, schlug er vor. „Ein Spiel?“ Ran drehte sich ebenfalls herum und sah sich in der Bar um. „Ja, ein Spiel. Es heißt 'Märchenstunde'.“ Ran versuchte, das fremdartige Wort aus Tims Muttersprache nachzusprechen, scheiterte aber kläglich. Er schüttelte den Kopf. „Erklär mir lieber, wie das Spiel geht, sonst habe ich mir vorher die Zunge gebrochen.“ Tims Augen funkelten. „Es ist ganz einfach. Du suchst dir eine Person aus und denkst dir ein Geheimnis über sie aus. Wer das beste Geheimnis erfindet, hat gewonnen.“ Ran runzelte die Stirn. „Du fängst an“, legte er fest. Dieses Spiel wollte er sich erst einmal ansehen. Tim sah sich um und hatte schon bald sein erstes Opfer erspäht. „Siehst du den kleinen Dicken dahinten mit der Glatze? Ich sage dir, der sammelt kleine Porzellan-Einhörner. Außerdem schläft er in einem Schlafanzug mit kleinen Katzen drauf, den ihm seine Mama geschenkt hat.“ Ran prustete in sein Glas und Tim grinste ihn siegessicher an. „Na los, jetzt bist du dran.“ Ein junger Man erweckte Rans Aufmerksamkeit. Er war schon ziemlich betrunken und anscheinend kurz davor, von der Bank zu kippen, auf der er saß. „Der da träumt davon, ein berühmter Ramen-Koch zu werden, musste aber wegen eines eingewachsenen Zehennagels einen anderen Beruf ergreifen.“ Tim nickte anerkennend. „Nicht übel. Aber jetzt pass mal auf. Der, der neben ihm sitzt, hat sich in deinen Hobbykoch verknallt und überlegt gerade fieberhaft, wie er ihm das wohl beibringen soll.“ Tatsächlich lehnte sich der Banknachbar von Rans Kandidaten gerade sehr nahe herüber, sodass es fast aussah, als wolle er ihn umarmen. Aber dann griff er doch nur nach dessen Glas und füllte es erneut, bevor er es ihm in die Hand drückte. „Siehst du, er versucht ihn betrunken zu machen, damit es besser läuft. Aber er sollte aufpassen, sonst kotzt sein Angebeteter ihm heute Abend noch die Schuhe voll. Dabei hat er die doch extra auf Hochglanz poliert, um bei ihm Eindruck zu machen. Und jeden Tag kommt er bei ihm vorbei, um mit ihm Mittagessen zu gehen, aber dann traut er sich doch nicht in sein Büro und geht stattdessen mit der hässlichen Schrapnelle vom Empfang. Er weiß nämlich nicht genau, ob sein Schwarm auch auf Männer steht, und irgendwie verpasst er immer den Punkt, das mit ihm zu klären.“ Rans Blick wanderte zu Tims Schuhen. Er trug polierte, schwarze Halbschuhe. Tim hob fragend eine Augenbraue. „Und? Hat er Chancen?“ Rans Mund wurde plötzlich trocken und der Raum schien sich ein wenig um ihn zu drehen. Heißkalte Schauer liefen über seinen Rücken und der forschende Blick von Tims Augen wurde fast unerträglich. Er wollte … er konnte … er musste … „Ja“, flüsterte er so leise, dass Tim ihn unmöglich verstanden haben konnte. „Ja, hat er.“ So etwas wie Erleichterung glitt über Tims angespannte Züge. Er wandte sich plötzlich ab und sah wieder in Richtung der Feiernden. „Das ist gut“, hörte Ran ihn kaum vernehmbar sagen. „Ich steh nämlich auch auf ihn.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)