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A Cats' Fishing Ground

von
Koautor:  Caracola

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26. Kapitel

Eingehüllt in eine dicke Wolldecke, verpackt wie zu einem Kletterausflug ins Gebirge und mit einer heißen Wärmeflasche bewaffnet, starrte Viola ins Leere.

In der einen Hand hielt sie ihr aufgeklapptes Handy, in der anderen eine dampfende Tasse Tee. Die Füße hatte sie auf der Couch zusammengefaltet, um ihre eisigen Zehen irgendwie warm zu bekommen. Doch es war vergebens. Sie fror erbärmlich und konnte manchmal nicht einmal ein Wimmern unterdrücken.

Ihr tat alles weh. Am schlimmsten jedoch waren ihr Unterleib und die Kälte, die sich darin eingenistet zu haben schien.

Sie sollte ihn wirklich anrufen. Darum ja auch das Handy. Aber sie schaffte es nicht einmal, seine Nummer zu wählen.

Eine weitere Schmerzwelle überrollte sie; zwang Viola dazu die Augen zusammenzupressen und den Atem anzuhalten, ehe es wieder etwas nachließ.

Sie hatte keine andere Wahl. Ob sie nun mit ihm reden wollte oder nicht, sie musste ihn jetzt anrufen, um sich Klarheit über ihren Zustand zu verschaffen. Den Vater würde sie zwar niemals darum bitten, aber der Arzt konnte ihr vielleicht helfen.

Noch einen Moment der Überlegung. Noch eine weitere Schmerzwelle und sie tippte schließlich die Nummer ein, die sie nur im Kopf aber sicherlich nicht in ihrem Handy gespeichert hatte.

Es klingelte lange, bis sich endlich etwas in der Leitung tat.

Schon wollte Viola etwas sagen, keine Begrüßung, aber doch irgendetwas, da sprang auch schon der Anrufbeantworter an.

Sie legte auf.

So verzweifelt war sie noch nicht, dass sie ihm eine Nachricht auf seinem privaten AB hinterlassen würde. Niemals.

Ein tiefes Seufzen.

Viola wählte seine Praxisnummer.

Es klingelte nur einmal, dann meldete sich eine angenehme Frauenstimme. „Ordination Dr. Benedict Brown. Clara Wilson am Apparat, wie kann ich Ihnen helfen?“

Einen Moment lang fehlte ihr die Sprache. Violas Hals war wie ausgetrocknet, während ihr Herz ihr auf die Zunge springen wollte.

Doch gerade, als die Frau am anderen Ende der Leitung etwas sagen wollte, kam ihr Viola zuvor.

„Ja, hallo. Kann ich Dr. Brown sprechen? Es ist ... dringend.“

„Tut mir leid, er ist gerade in einer Teambesprechung. Kann ich ihm vielleicht etwas ausrichten? Oder möchten Sie etwas später noch einmal anrufen?“

Mit Müh und Not konnte Viola ein Schnauben unterdrücken, ehe sie mit zusammengekniffenen Lippen in ihren Becher starrte.

„Richten Sie ihm aus, dass Vi...“

Sie räusperte sich kurz vernehmlich.

„... dass Amber Brown ihn sprechen möchte und er mich sobald wie möglich zurückrufen soll. Mein Vater hat die Nummer.“

Sie legte einfach auf.

Mehrere Minuten starrte sie wieder in die Luft, während sich ihr Herzschlag kaum beruhigen wollte. Sie war total aufgeregt und das nur, weil sie versucht hatte, ihren Vater anzurufen. Der noch nicht einmal Zeit für sie hatte.

Obwohl, wenn man es genau nahm, sollte sie das kein bisschen wundern. Er hatte nie Zeit für sie gehabt. Und was die Sache mit ihrem Namen anging, so bereitete es ihr zumindest ein gewisses Maß an Genugtuung, dass er keine Ahnung hatte, wie sie jetzt wirklich hieß.

Eine Namensänderung war zwar aufwendig und kostete Geld, aber immerhin war sie diesen Ballast losgeworden.

Amber Brown Junior.

Diese Person hatte es nie gegeben und wenn doch, dann war sie inzwischen toter als tot. Sie war vernichtet.

Unvermittelt ging das Handy in ihrer Hand los und Viola hätte beinahe vor Schreck den ganzen Tee verschüttet. Hastig stellte sie den Becher ab, wischte sich etwas Flüssigkeit von der Hand, ehe sie einen Blick auf das Display warf.

Es war die Nummer, die sie gerade gewählt hatte, nur mit einer anderen Durchwahl.

Ihr Vater.

Scheiße.

Viola ließ es ein paar Mal läuten, ehe sie den Mut aufbrachte, um abzuheben und wenn auch nur aus Angst, dass er vorher die Geduld mit ihr verlor.

„Hallo, Ben.“
 

***
 

Sie hatten ihm zugehört. Zin hatte ausreden dürfen, seinen eigenen Plan darlegen, der weniger drastisch und auch sehr viel ungefährlicher war als alles, was bis jetzt auf den Tisch gelegt worden war. Er hatte es ihnen dargelegt. Er hatte es erklärt, argumentiert und ... verloren.

Der Plan sei schön und gut. Eine nette Idee, aber bei Weitem nicht ausreichend. Vielleicht konnte Zins Erfahrung mit Menschen in den Angriff mit einbezogen werden. Das hatte man sowieso vorgehabt. Aber allein das, was er sich da ausgedacht hatte? Beileibe nicht.

Eine Nacht und einen ganzen Tag später waren sie bereit. Zumindest so bereit, wie sie es je sein würden.

Seite an Seite, wie schon diese traurigen Wochen zuvor, rückten sie auf das Riff zu. Diesmal noch vorsichtiger, als bei ihrem ersten Angriff. Denn jetzt wusste man sicher, was das metallene Monster anrichten konnte. Welche Zerstörungskraft in den Gerätschaften der Menschen steckte. Es war noch erschreckender, wenn man bedachte, dass die Sprengung nicht einmal der Verteidigung gegolten hatte. Das Bohren allein hatte bloß nicht mehr ausgereicht. Sie waren nicht tief genug in das Plateau vorgedrungen. Die Sprengung hatte den Weg freiräumen sollen.

Das hatte sie auch.

Sie waren jetzt weniger Männer. Keine Frauen diesmal. Dafür war es zu gefährlich. Und obwohl das hieß, dass es in ihren Reihen an guten Kämpfern beider Geschlechter fehlte, machte es viele der Meermenschen ruhiger.

Sie wussten, dass zumindest ihre Familie in Sicherheit war. Im Kegel, wo ihnen keine direkte Gefahr drohte. Nicht, wie hier draußen, über den Überresten des Riffs.

Langsam, aufgeteilt in kleinere Grüppchen, arbeiteten sie sich vor. Immer Deckung suchend, die es kaum noch gab. Noch war das Ungetüm nicht zu sehen und doch warf es seine Schatten voraus.

Nebelige Schwaden an Benzinausdünstungen. Öl, das sich in schmalen Streifen ins Meer ergoss, es verklebte und verpestete. Jedes Molekül vibrierte unter der Anstrengung des Bohrkopfes, sich tiefer ins Gestein zu fressen. Hinab zu den Mineralienvorkommen. Hinab zum Geld.

Die Meermenschen schmeckten die Abwasser in ihren Kiemen, spürten das Metall in ihrem Mund.

Es machte sie nur wütender. Der Zorn und die Trauer trieben sie vorwärts. Immer weiter auf das Zentrum des Übels zu, das schon so viel zerstört hatte, was ihnen lieb und teuer war.

Sobald der Koloss in Sicht kam, löste sich jeweils einer aus den kleineren Gruppen. Der Rest blieb in einigem Abstand zurück, während die 'Spezialisten' sich weiter trauten. Es waren nur acht. Mutig und teilweise viel zu jung, um sich auf das Risiko einzulassen.
 

***
 

„Hallo, Amber.“

Viola schloss die Augen, während ein Zittern sie durchlief.

Es wäre so viel einfacher, diesen Mann zu hassen, wenn er nicht so eine tiefe, angenehme, Wärme vermittelnde Stimme besessen hätte und ihr das durch das Telefon nicht noch deutlicher auffallen würde.

„Es ist lange her, dass du dich bei mir gemeldet hast. Ist denn alles in Ordnung bei dir?“, fragte er, ohne die Sorge in seiner tiefen Stimme zu verbergen, nachdem sie nichts auf seine Worte erwidert hatte. Dabei klang er ganz und gar nicht wie der Arzt, der er war, sondern wie der Vater, der er nicht mehr für sie sein konnte, weil sie es nie zugelassen hätte.

Sie hatte vergessen, wie es war, wenn sie einmal seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit besaß.

Einen Augenblick lang war Viola tatsächlich versucht, sich von ihm den Schutzmantel herunter reißen und seine Fürsorge zuzulassen. Doch sie hatte nicht vergessen, wie er sie weggeschickt hatte, weil er nicht mehr mit ihr klargekommen war.

Sie hatte nicht vergessen, wie er sie bei ihrer lieblosen Mutter gelassen hatte, während andere Menschen ihm wichtiger als sein eigenes Kind gewesen waren.

Nein, sie würde diese Schwäche niemals zulassen. Daher war ihre Stimme auch kühl und distanziert, als sie gleich zum Punkt kam.

„Wie du weißt, benutze ich seit Jahren die Pille und die damit einhergehenden Zwischenblutungen werden von Mal zu Mal stärker und die Schmerzen unerträglicher. Sag mir: Ist das normal, oder stimmt etwas nicht?“

Schweigen kam durch die Leitung.

Vermutlich kramte er gerade wieder den Arzt hervor und steckte den nichtvorhandenen Vater zurück in den Keller.

Langsam wurde die Stille belastend und Viola begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen.

„Hast du schon einmal überlegt, die Pille abzusetzen?“, wollte er schließlich von ihr wissen.

„Das beantwortet nicht meine Frage!“

Viola fuhr ihn so abrupt an, dass es sie selbst überraschte, weshalb sie etwas ruhiger hinzufügte: „Nein, warum sollte ich? Ich bin absolut nicht scharf drauf, einen Eisprung zu haben. Du wirst ja wohl am besten wissen, was das mit einer Frau unserer Art anstellt.“

Wieder ein kurzes Schweigen.

„Ein Eisprung ist nicht so schlimm, wie du denkst, Amber.“

Sie schnaubte leise.

Versuchte er sie gerade ernsthaft davon zu überzeugen?

Als würde sie auf seine bloßen Worte etwas geben.

„Ach ja? Bilde ich mir das nur ein, oder warst es nicht du selbst, der mir damals zur Pille geraten hat, weil ich mich dann leichter im Griff hätte? Erzähl mir also nichts darüber, dass es nicht schlimm wäre!“

"Das war damals etwas anderes. Für junge Frauen in der Pubertät ist ein Eisprung etwas völlig anderes, als für eine erwachsene Frau, die mit dieser Verantwortung umgehen kann und sich bereits selbst gut genug kennt. Es wäre auf keinen Fall mehr vergleichbar und ich bin mir sicher, dass du jetzt damit umgehen kannst. Daher würde ich dir nahelegen, die Pille abzusetzen und es mit nicht hormonellen Verhütungsmethoden während dieser Phase zu versuchen.“

Viola starrte fassungslos ihr Handy an, ehe sie es wieder zurück an ihr Ohr setzte. Was war denn jetzt los?

„Rätst du das allen Frauen, oder nur mir?“, wollte sie schließlich bissig wissen.

„Ich meine, versteh mich nicht falsch, aber du hast mich damals dazu gedrängt, die Pille zu nehmen. Ja, mich beinahe dazu gezwungen und jetzt willst du sie mir mit allen Mitteln ausreden? Was ist denn so schlimm daran, dass ich keinen Eisprung und somit nicht schwanger werden will? Hast du ein Problem damit? Oder bist du einfach scharf darauf, dass dir bald ein paar Enkelkinder am Rockzipfel hängen könnten? Denn wenn das so sein sollte, dann kannst du das vergessen. Du würdest sie nie zu Gesicht bekommen!“

Ein langes, schweres Seufzen erklang durch die Leitung und das Knarzen eines ledernen Bürosessels. Vermutlich lehnte er sich gerade in seinem Stuhl zurück und kniff sich in den Nasenrücken, so wie er es bei ihr oft getan hatte, wenn sie unsäglich lästig geworden war und er nicht mehr weiter wusste.

„Amber ...“, begann er erneut und voll Geduld.

Sie hasste es.

„Ich möchte dir deshalb zur Pille abraten, weil sie für Frauen unserer Art auf Dauer nicht gut ist. Alle künstlich zugeführten Hormone tun uns nicht gut und der Körper beginnt nach und nach, sich dafür zu rächen. Du musst keine Angst haben, dass sonst etwas mit dir nicht stimmen könnte. Wir können keinen Krebs bekommen oder andere Krankheiten. So viel kann ich dir versichern. Aber ich rate dir wirklich, die künstlichen Hormone abzusetzen, damit dein Körper wieder ins Gleichgewicht kommt. Ansonsten wird es nur noch schlimmer werden.“

Schlimmer? Nein, oder? Bitte nicht!

Sie ertrug es doch jetzt kaum noch und ohne die Schmerztabletten könnte sie vermutlich nicht einmal geradestehen. Wie sollte sie eine noch schlimmere Variante davon ertragen?

„Aber ich hasse meinen Eisprung!“, protestierte Viola beinahe atemlos, weil sie kurz vorm Durchdrehen war.

Wieder einmal drohte das ganze Gefühlschaos, in dem sie sich befand, über ihr zusammenzubrechen und sie wollte bestimmt nicht, dass ihr Vater das alles mitbekam.

Scheiße ...

„Am. Ich kann dir versprechen, dass es nicht mehr so schlimm ist, wie damals, als du noch mitten in der Phase zum Erwachsenwerden warst. Ganz im Gegenteil. Viele Frauen, die meine Praxis besuchen, haben mir versichert, dass sie diese Phase ihres Lebens ganz besonders genießen. Natürlich ist das eine Phase, in der man große Verantwortung beweisen muss, aber wie gesagt, ich bin mir sicher, dass du das kannst und es ist auf jeden Fall erträglicher, als die Schmerzen die du vermutlich jetzt hast.“ Da war natürlich etwas Wahres dran.

„Und außerhalb dieser Phase musst du dir auch weiterhin keine Gedanken machen, schwanger zu werden. Im Gegensatz zu menschlichen Frauen wirst du ganz genau wissen, wann du aufpassen musst und wann nicht.“

"Wie?“, hauchte sie nur noch leise in ihr Handy. Viola wollte wirklich nicht Mutter werden. Davor hatte sie vermutlich sogar die schlimmste Panik.

„Erfahrungsgemäß nimmt ein paar Tage vor der fruchtbaren Zeit dein Sexualtrieb zu. Dein Körper wird sich leicht verändern. Du wirst einen intensiveren Körpergeruch verströmen, um damit mehr weibliche Anziehungskraft auf Männer bewirken. Glaub mir, das wird dir auf keinen Fall entgehen, und wenn das beginnt, solltest du dich entweder zurückhalten oder Kondome verwenden.

Ich würde bei den ersten Anzeichen für einen Eisprung, verhüten. Du weißt ja, dass Spermien ein paar Tage im weiblichen Körper überleben können. Daher –“

„Ja, ich weiß!“

Langsam wurde Viola rot. Nicht wegen des Themas, sondern wegen der Person, mit der sie es besprach. Ob sie nun wollte oder nicht, Ben blieb trotzdem ihr Vater und mit ihm hatte sie schon immer ungern gesprochen, doch auf seinen ärztlichen Rat konnte man sich verlassen. Das wusste sie.

„Hast du denn sonst noch Fragen?“

Viola überlegte nicht lange. Er hatte ihr gesagt, was er zu sagen hatte und damit wäre dieses Gespräch dann auch schon beendet, denn über andere Dinge würde sie mit ihm sicherlich nicht sprechen.

„Nein.“

Es klang fast trotzig. Wie eigentlich immer, wenn sie sich länger mit ihm beschäftigen musste. Dafür konnte sie nichts. Das war einfach schon immer so, seit er sie weggeschickt hatte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie inzwischen erwachsen geworden war.

„Wie geht es dir sonst so?“, wollte er nach längerem Schweigen schließlich wissen. Als ob ihn das tatsächlich interessieren würde.

Nur wollte sie darauf nicht antworten. Aber einfach so auflegen konnte sie auch irgendwie nicht. Da war noch etwas. Etwas das sie ihn fragen wollte. Ihr Gefühl sagte es ihr ganz deutlich, doch es wollte ihr einfach nicht mehr einfallen.

Nachdenklich zupfte sie am Saum der Wolldecke herum, erleichtert darüber, dass sie nicht mehr so erbärmlich fror und auch erleichtert darüber, dass das Gespräch mit ihrem Vater ihr wenigstens ein bisschen geholfen hatte.

Sie wusste jetzt, was sie tun würde. Es würde zwar sicherlich nicht leicht werden, aber sie würde es schaffen. War nur die Frage, wie Zin ...

Ihre Hand erstarrte.

Plötzlich brannten erneut Tränen in ihren Augen, nachdem sie es geschafft hatte, eine ganze Weile nicht mehr zu weinen. Aber die Tatsache, dass sie Zin nie wieder so nahe kommen würde, so dass das Thema Verhütung aktuell werden könnte, war einfach so ... so niederschmetternd.

„Amber?“

Scheiße, sie hatte doch nicht etwa geschluchzt, oder?

„Ben ...“

„Nenn mich bitte nicht so.“

„Na gut, Dad. Ich weiß, das ist nicht dein Spezialgebiet, aber kannst du mir verraten, warum manche Menschen Angst vor Wasser haben?“

Es war ihr wieder eingefallen. Zin war der Auslöser gewesen und dass sie keine Möglichkeit hatte, ihm zu folgen. Nicht nur wegen der fehlenden Kiemen, sondern auch, weil sie eine Scheißangst vor Wasser hatte und ihm somit niemals folgen könnte. Nicht einmal mit voller Tauchermontur, was ja noch eine Alternative dargestellt hätte. Er war also tatsächlich unerreichbar fern für sie und das machte sie wahnsinnig.

Selbst wenn sie wie eine anhängliche Freundin vor ihm auf den Knien rutschen müsste, um ihn wieder zu haben. Verdammt, sie würde es tun und noch sehr viel mehr als –

Plötzlich fiel ihr das eisige Schweigen in der Leitung auf. Noch nicht einmal ein Atemzug war zu hören.

„B– ... Dad? Bist du noch dran?“

Ein Räuspern.

„Ja.“

Das klang nicht gut. Den Tonfall hatte er für gewöhnlich drauf, wenn einem Patienten nicht mehr zu helfen war, oder er der Familie mitteilen musste, dass jemand gestorben sei. Es war absolut kein beruhigender Tonfall.

„Und? Weißt du, warum Menschen Angst vor Wasser haben könnten?“

Das erneute Schweigen teilte ihr nur zu gut mit, wie er offenbar mit sich rang. Nein, das klang ganz und gar nicht gut.

„Ein Trauma. Schlechte Erfahrungen zum Beispiel“, sagte er schließlich, wenn auch merkwürdig entrückt. So als wäre er nicht ganz da.

„Aber wenn man keine schlechten Erfahrungen, also kein Trauma hat, woran könnte es dann liegen?“

Viola musste einfach nachbohren. Sie hatte einen ziemlich guten Riecher, wenn es darum ging, dass man ihr etwas vorenthielt und er könnte tatsächlich eine Lösung für sie bereithalten. Eine Lösung, die ihr Zin näherbringen könnte.

„In deinem Fall ist es aber ein Trauma, Amber.“

Was?

„Nein. Ist es nicht!“, fuhr sie ihren Vater entschieden an. Das wüsste sie schließlich!

„Doch ist es!“

Auch er konnte stur sein und er beharrte darauf. Ebenfalls energisch, wenn auch mit einem traurigen Unterton.

„Aber ... Ich kann mich an keines erinnern!“, beharrte Viola weiter und wedelte nachdrücklich mit ihrer Hand, obwohl er die Geste natürlich nicht sehen konnte.

„Und überhaupt. Wer redet denn hier von mir persönlich. Ich hab die Frage allgemein gestellt.“

Jetzt wurde sie zickig. Das war zwar ziemlich blöd von ihr, aber sie wollte vor ihrem Vater keine Schwäche zeigen. Auf keinen Fall wollte sie das.

Allerdings war er wiederum ziemlich gut darin, über solche Dinge einfach hinwegzugehen. Speziell in ihrem Fall.

„Du warst zu klein damals und du standest unter Schock. Natürlich kannst du dich nicht daran erinnern.“

Natürlich nicht, dachte sie sarkastisch und war auch nicht weniger freundlich, als sie laut fragte: „Ach, hat mich Mom etwa in der Badewanne absaufen lassen, oder was?“

Er antwortete nicht.

...

Warum antwortete er nicht?

Plötzlich begann ihr Herz zu rasen und das Blut schoss ihr nur so an den Ohren vorbei. Ein Gefühl von kalter Panik stieg in ihr hoch, zwar nur schwach, aber das Schweigen ihres Dads machte ihr eindeutig mehr Sorgen, als es sollte.

Was zur Hölle ist denn nun wirklich passiert?

„Du warst damals noch nicht ganz zwei Jahre alt und gerade in einer Phase, wo du ständig die Gestalt gewechselt hast. Egal wer dabei war oder wo du dich befunden hast. Wenn du Lust dazu hattest, gabst du dem einfach nach.“

Zu spät bemerkte Viola, dass sie die Frage wohl laut ausgesprochen hatte.

„Wir wohnten damals in einer menschlichen Siedlung. Wir konnten dich also nur selten rauslassen. Es war an einem Tag, als ich Überstunden machen musste und deine Mutter war zu dem Zeitpunkt ... unaufmerksam.“

Soll wohl heißen, sie hat gerade den Handwerker gefickt.

„Irgendwie bist du in deiner Tiergestalt nach draußen gekommen. Vermutlich wolltest du einfach nur etwas den Garten erkunden. Die Nachbarsjungen müssen dich dort aufgegriffen haben. Ich bin mir sicher, sie wussten damals nicht, dass du ihre Nachbarin warst ... Jedenfalls steckten sie dich in einen Sack und ...“

Viola umklammerte ihr Handy so fest, dass das Gehäuse hörbar protestierte. Sie konnte sich nicht daran erinnern. Weder an die Nachbarsjungen, noch an den Sack, aber kaltes Grauen überkam sie. Das war mehr, als sie wissen wollte, trotzdem sprach ihr Vater weiter.

„Die Regentonne stand hinterm Haus. Ich habe nur noch das Gejohle der Jungen gehört, als ich nach Hause kam.“

Nun begann er in kurzen, abgehakten Sätzen zu sprechen. So als müsse er es einfach loswerden. Als könne er es nicht länger für sich behalten. Genauso wenig, wie Viola sich der Wahrheit verschließen konnte.

„Sie sind weggerannt, als sie mich sahen. Zuerst wusste ich nicht, was sie bei der Regentonne wollten. Dann sah ich den silbernen Schimmer und dann den Sack. Dein schwarzes Haar, wie es an der Wasseroberfläche trieb. Ich habe dich sofort rausgeholt. Die Reanimationsmaßnahmen eingeleitet. Trotzdem brauchtest du volle drei Minuten, bis du wieder einen Herzschlag hattest ... Danach sind wir weggezogen. Aber du warst nicht mehr dieselbe. Hast dich während Regen unter dem Bett verkrochen. Schriest wie am Spieß, wenn wir dich baden wollten und wenn wir versuchten dich abzuduschen, hast du dich wie wild gebärdet und uns gekratzt und gebissen. Es war nicht leicht. Für niemanden von uns. Aber für dich war es am Schlimmsten ...“

Er musste nicht weiter sprechen. Sie glaubte ihm und begann langsam eine Ahnung zu bekommen, warum bald danach ihre Mutter abgehauen war. Mit so einem Kind ...

„Und was soll ich deswegen machen?“ Ihre Stimme war brüchig und rau und voller ungeweinter Tränen. Gott, sie fühlte sich so allein gelassen. Selbst mit ihrem Vater am Ohr.

„Ich würde dir ja vorschlagen, zu einem Psychiater zu gehen, aber da du das sicherlich nicht tun wirst, kann ich dir nur raten, dass du dich deinen Ängsten stellst. Jetzt wo du alt genug bist, verstehst du vielleicht, dass nicht das Wasser dein Feind ist, sondern die Jungen, die es als Werkzeug gegen dich verwendet haben ... Es tut mir so leid, Amber.“

„Mir auch ... Dad.“

Viola legte auf. Schaltete das Handy aus und schrie so laut in die Wolldecke, bis ihr beinahe der Schädel platzte.
 

***
 

Das Metall fühlte sich kalt und rau an unter seinen Fingern. An vielen Ecken splitterte es, rieselte in kleinen Flöckchen Richtung Meeresboden, während er sich hinauf zur Wasseroberfläche zog. Weiter, Stück für Stück. Zuerst war es eine leichte Übung. Es glich mehr einem Hangeln als wirklichem Klettern. Ein Schwimmen zur Oberfläche. So, wie er es täglich ohne Mühe tun konnte. Das Einzige, was hier anders war, was ihn lähmte und langsam machte, waren die Dämpfe. Das Metall überall, der Gestank und der Lärm.

Ein paar Meter unter der Oberfläche veränderten sich die Geräusche. Es fiel nicht nur ihm auf, sondern auch den anderen, die über leise Klicklaute und gelegentliche Kontrollblicke miteinander Kontakt hielten.

Die Anspannung stieg.

Würde es an der Luft besser oder noch schlimmer werden?

Die Antwort bekamen sie Minuten später. Als ihre Körper durch die Oberfläche brachen, Wellen gegen sie schlugen und sie im Schatten des Kolosses mit Ausdrücken von Horror nach oben sahen. Die Plattform erhob sich Meter über ihren Köpfen. Dunkel und bedrohlich, wie eine schwarze Festung aus Metall. Sie ächzte und dröhnte, als würde wirkliches Leben in ihr stecken. Hungrig nach Zerstörung.

Es verursachte ihnen Übelkeit.

Und Angst.

Angst, die sie hinunter schlucken mussten.

Seine Hände legten sich fester um das Metall, ignorierten die Splitter, unter denen der Rost zum Vorschein kam und die ihm in die Schwimmhäute ritzten. Sie mussten nur ihrem Plan folgen. Dann würde auch dieses Ungetüm nicht mehr lange bestehen. Es würde untergehen, und wie ein riesiges Skelett dort enden, wo es bereits so viele Leichen hinterlassen hatte.

Ja, das gab Mut. Und Entschlossenheit.

Sie fingen an zu klettern. An Stahlträgern und Ankerketten hinauf. Über metallene Vorsprünge, unauffällig vorbei an Luken und Bullaugenfenstern. Unter ihnen schlug das Meer gegen die Beine des Monsters. Es würde ihnen helfen. Der Ozean würde dafür sorgen, dass das Ungetüm fiel, sobald die Meermenschen es zum Wanken gebracht hatten.

Und das würden sie tun. Was auch immer es kostete.

Ihre nackten Fußsohlen berührten den kalten Boden. Die Letzten zogen sich über die Reling, während diejenigen, die sich als Erste auf die Plattform gewagt hatten, Wache hielten. Sie sahen sich nach Menschen um. Nach Patrouillen, die hier entlang kamen, um die Bohrinsel zu sichern.

Aber es war ... unheimlich still.

Wenn man einmal von dem dröhnenden Donnern der Motoren und dem Wummern des Bohrkerns absah, lag die Plattform ruhig da. Es war früher Abend. Gegen sechs Uhr und der Himmel färbte sich langsam grau. In einer oder zwei Stunden würde die Sonne untergehen.

Die kleine Gruppe wagte sich vorwärts, heraus aus den Schatten der Reling, hinein in Winkel und Verstecke, die Schlote und Maschinen auf Deck boten. Sie blieben außerhalb der Sichtweite des großen Aufbaus in der Mitte der Plattform. Dort würden die meisten Menschen zu finden sein. Dort mussten sie leben, wenn sie nicht hier draußen waren, um den Bohrer zu bedienen. Oder konnten sie das sogar ferngesteuert? Zin hatte so etwas erzählt.

Zin ... der sich jetzt aus der kleinen Gruppe von Meermännern löste, sich mit dem Rücken an eine Maschine gedrückt auf den großen, leeren Platz zwischen ihrem Versteck und dem Hauptgebäude zuschob.

Er hatte nicht mitmachen wollen. Eigentlich war er absolut dagegen gewesen, dass irgendjemand den oberen Teil der Plattform betrat. Und doch ... war er hier. Niemand sonst hätte tun können, was er tun würde.

Die Eindringlinge sahen ihm nach, wie er geduckt aus der Deckung zu ein paar großen Seiltrommeln hinüber sprintete. Das Tigermuster auf seinem Rücken hob sich dunkel gegen seine blasse Haut ab. Die Streifen und Punkte waren durchbrochen, zerrissen von großen, frischen Narben.

Er war schon immer risikobereit gewesen. Ein Abenteurer, wenn man den Geschichten glauben durfte. Manche davon waren bestimmt übertrieben. Aber ... er war angeblich bei den Menschen gewesen. Das war mehr, als die Meisten behaupten konnten.

Und er kannte sich mit Strom aus.



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